Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2005
 

1.4. The image of the "Other" in the contacts of Europe, Asia, Africa and America
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Agata S. Nalborczyk (Warsaw)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


"Amerika, Du hast es besser!"
Altes Europa und Neues Amerika. Kulturelle Imaginationen zwischen Stereotyp und Utopie

Michael Niedermeier (Berlin) (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften)

 

Altes Europa und Neues Amerika. Kulturelle Imaginationen zwischen Stereotyp und Utopie Nicht erst nach den heftigen verbalen Konfrontationen zwischen den USA und dem "Alten Europa" im Zusammenhang mit dem Irakkrieg ist die Dichotomisierung, die Entgegensetzung der beiden Kontinente, ein immer wiederkehrendes Argumentationsmuster. Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden immer wieder Zuschreibungen in der Art gemacht, daß die USA mit Attributen wie "neu", "modern", "innovativ", "unternehmerisch", "frei", "liberal" oder "zukunftsorientiert", Europa hingegen mit Charakteristika wie "alt", "vergangenheitsbezogen", "rückwärtsgewandt", "konservativ" oder "beharrend" belegt wurden. Im Folgenden will ich am Beispiel Goethes zeigen, wie stark sein Bild der Neuen Welt vom Blick auf den alten Kontinent vorgeprägt war. Gleichzeitig aber soll skizziert werden, wie er ausgehend von Berichten deutscher Reisender oder der Lektüre von Schriften Thomas Jeffersons oder Benjamin Franklins ein Bild von Amerika entwickelte, das die Stereotype, wie wir sie haben, deutlich unterläuft.

Bevor ich aber zu Goethes Sicht auf das "Alte" Europa und das "Neue" Amerika komme, muß ich zunächst skizzieren, wie das Europa zur Zeit Goethes aussah und wie es wahrgenommen wurde.

Zunächst einmal bestand das sogenannte Alte Reich bekanntlich aus vielen Klein- und Kleinststaaten, die über dynastische Verbindungen eng miteinander verwoben waren. Militärbündnisse oder eine geschickte Heiratspolitik stellten da für viele mindermächtige Staaten die geeignete Möglichkeit dar, den immer bedrohten eigenen Stand im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation zu erhalten, ja gegebenenfalls zu verbessern. Der Verkauf von Landeskindern nach Amerika - wir erinnern uns an die Kammerdienerszene aus dem 2. Akt von Schillers Kabale und Liebe - bildete für die deutschen Fürstentümer nicht nur eine lukrative Einnahmequelle. Hessen-Kassel etwa war durch den Übertritt des späteren Landgrafen Friedrich II. zum Katholizismus und die daraufhin von England erzwungene Separierung von der Gattin Maria, einer Schwester des englischen Königs, gleichsam dazu gezwungen, zur neuen Großmacht Großbritannien ein gutes Verhältnis zu erhalten. 12 000 Landeskinder wurden an die Engländer nach Amerika verkauft.

Und, wie gesagt die Heiratspolitik: Das deutsche Fürstenhaus der niedersächsischen Welfen (Braunschweig-Lüneburg bzw. Hannover) saß durch den "Act of Settlement" (1701) seit 1714 als protestantische Dynastie auf dem englischen Thron und war damit auch Gebieter über Teile Amerikas. Das Haus Oldenburg herrschte über den Gesamtstaat Dänemark, Zar Peter III., der aus der Linie Oldenburg-Gottorp stammte, herrschte in Rußland, später nahm mit Katharina eine Anhalt-Zerbster Prinzessin den russischen Thron ein. Eine Österreicherin war französische Königin, ein Lothringer König von Österreich usf.

Heiratspolitik war Politik. Und auch die kleinen thüringischen Fürstenhäuser wie Sachsen-Weimar oder Sachsen-Gotha verheirateten ihre Töchter erfolgreich auf europäische Throne. Die Mutter von Georg III. stammte beispielsweise aus dem Fürstentum Sachsen-Gotha-Altenburg, das wie Sachsen-Weimar zu den ernestineschen Fürstentümern gehörte. Kurz: Europa und die Kolonie Amerika besaßen noch kein nationalstaatliches Ordnungsgefüge wie im späten 19. Jahrhundert. Feudale Strukturen und dynastische Verbindungen beherrschten das Alte Europa. Wechselnde politische Bündnisse charakterisierten die Politik, die europäischen Großmächte suchten je nach Interessenlage die kleineren Territorien und Staaten des Alten Reiches zu strategischen Allianzen zu bewegen.

Es gab im Alten Reich kein eigentliches nationales Gemeinschaftsinteresse, wie ein anonymer Autor einer Denkschrift über den deutschen Fürstenbund 1785 schrieb: Nationalgeist könne nicht entstehen, wenn ein Herrscher gleichsam willkürlich auf den Thron komme. Wichtig für die Bürger ganz Europas sei lediglich, "wo wir billigere und aufgeklärtere Gesetze, mildere Steuern, menschlichere Pfleger, zahmere Beamte, duldsamere Pfaffen, mäßigere Zölle und Mauthen, weniger Frohnden, und Wildprät finden möchten." Ob nun ein Deutscher, Russe oder Welscher auf dem Thron sitze, sei letztlich gleichgültig.

Obgleich oder weil Goethe in einem mitteldeutschen Kleinstaat lebte, dachte er politisch, wissenschaftlich und kulturell nicht in deutsch-patriotischen Kategorien. Das "gelehrte Europa" oder später das "gebildete Europa" galt ihm als der Bezugspunkt kollektiven Bewußtseins. Amerika war demgegenüber zunächst "das Eldorado derjenigen, die in ihrer augenblicklichen Lage sich bedrängt fanden."(1)

Und tatsächlich orientierte sich Goethe - wie die Spitze der deutschen Intellektuellen auch - nicht an "nationalstaatlichen" Grenzen, er richtete sich, obgleich oder weil er in einem Kleinstaat lebte, an der internationalen, d.h. europäischen Spitze aus, in Naturwissenschaft, Literatur, Technik, Kunst und Kultur. So war er Mitglied von mehr als einem Dutzend europäischer wissenschaftlicher Akademien, er kannte die Größen der europäischen Wissenschaft, der Kultur, der Kunst und der Politik. Er interessierte sich für die Lyrik der Serben wie für die orientalische Literatur. Es gab im Grunde für ihn keine Grenze. Und doch dachte er gleichzeitig auch in den Grenzen seines Kleinstaates. Sie kennen das Gedicht Goethes:

Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine;
Kurz und schmal ist sein Land, mäßig nur, was er vermag.
(...)
Hat mich Europa gelobt, was hat mir Europa gegeben?
Nichts! Ich habe, wie schwer! meine Gedichte bezahlt.
Deutschland ahmte mich nach, und Frankreich mochte mich lesen.
England! freundlich empfingst du den zerrütteten Gast.
Doch was fördert es mich, daß auch sogar der Chinese
Mahlet, mit ängstlicher Hand, Werthern und Lotten auf Glas?
Niemals frug ein Kaiser nach mir, es hat sich kein König

Um mich bekümmert, und Er war mir August und Mäcen.

Wenn Goethe einerseits ganz weltläufig war, dachte er politisch zuerst und zunächst daran, was dem kleinen Fürstentum, in dem er lebte und wirkte, nutzte. Und Goethe spürte genau wie andere Zeitgenossen auch, daß sich tiefgreifende soziale Umbrüche ankündigten. Das Erdbeben in Lissabon war für Goethe früh ein Zeichen tiefer Umwälzung, die sein Leben prägen und überschatten sollten.

Unter der Oberfläche des Alten Europa formierten sich gleichsam als eine andere Öffentlichkeit jenseits der herkömmlichen ständischen Strukturen Geheimbünde wie die Strikte Observanz oder die Illuminaten Geheimorden, denen auch Goethe angehörte. Sie versuchten, durch Tugendprogramme, gegenseitige Unterstützung und geheime Zielvorstellungen, auf eine Elite zu wirken, um darüber einen Umbau hin zu einer alternativen, oft auch gerechteren Gesellschaft zu bewirken. Und für Goethe wurde mit der Turmgesellschaft der Wilhelm-Meister-Romane eine solche Gruppierung der illuminatisch- freimaurerischen Eingeweihten zum Antrieb für Wilhelms Kunst-, Welt- und Naturverständnis. Das in den Lehr- und Wanderjahren sich die Gruppe der Auswandernden nach Amerika unter der Führung von Mitgliedern dieser logenähnlichen Gruppe formierte, spiegelte sehr genau Goethes eigene Lebenserfahrungen wider. Diese Geheimgesellschaften wirkten ebenfalls international und nicht auf einzelne Staaten eingeschränkt. Fast die ganze Gründergeneration der amerikanischen Unabhängigkeit waren Freimaurer. George Washington schwor seinen Eid als erster Präsident auf die Bibel seiner Loge.

Aus England kommend, hatte die Freimaurerei eine eigene internationale Genealogie behauptet, die über das Geheimwissen der ägyptischen Priester, die Mysterienvorstellungen der Griechen, über die keltischen und germanischen Druiden, die mittelalterlichen Tempelritter, die mittelalterlichen Bauhütten bis hin zu den pansophischen Lehren eines Comenius oder Andreae reichten und schließlich das Geheimwissen sowie die Aufgabe charakterlicher wie auch sittlicher Vervollkommnung von Elite an Elite weitergab. Diese Logen und Geheimbünde bildeten letztlich den Rahmen für die Frage, wie man stände- und religionsübergreifend an der durch eine auserwählte Führerschaft geleiteten Verbesserung der Gesellschaft wirken könne. Der Geheimbund der Strikten Observanz, dem Goethe seit 1780 angehörte und in dem er 1782 zum Meister geweiht wurde, hatte sich zum geheimen Ziel gesetzt, über die Freimaurer an Geld heranzukommen um dann in Nordamerika eine Art freie Ritterrepublik nach polnischem Vorbild aufzubauen. Auch die Illuminaten, denen sich Herzog Carl August und Goethe 1783 angeschlossen hatten, versuchten eine Elite aus Staatsbeamten, Pädagogen, aufgeklärten Adligen und Fürsten in einen konspirativem Bund zu einen, in dem die Leitung und Erziehung zu Tugend, Naturwissenschaft und Weisheit den Übergang in einen von den Fesseln feudaler Beschränkung befreiter Bürger münden sollte. Die Anzahl der Mitglieder wird Hermann Schüttler und Le Forestier auf immerhin rund 2500 geschätzt. Die Mitgliederlisten lesen sich stellenweise wie das Who is Who der Aufklärung. Das ganze Tugend- und Bildungsprogramm sollte letztlich Europa in Gänze und dann auch Amerika, ja die gesamte Welt ergreifen.

Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha, Herzog Carl-August von Sachsen-Weimar und mit ihm auch Goethe versuchten zunächst den sich im Untergrund formierenden Fürstenbund kleinerer Fürsten, der gegen Habsburger und Friderizianische Übergriffe auf die Reichsverfassung konspirativ organisiert wurde, mit Hilfe des Illuminatenbundes zu steuern. Der Versuch, den Thronfolger des Preußenkönigs, den Prinzen Friedrich Wilhelm für den Fürstenbund zu gewinnen, war damit verbunden, ihn gleichzeitig durch die stufenweise Einweihung in die Ziele des Illuminatenbundes für die sittlichen und aufklärerischen Aufgaben vorzubereiten. Das an einer pansophischen Naturanschauung orientierte Programm der Illuminaten zielte letztlich auf eine herrschaftsfreie, an der Natur und ihren Prozessen orientierte Gesellschaftsutopie. Dieser riskante Versuch, den zukünftigen Preußenkönig für die Ziele zu gewinnen, mißlang, weil bereits der gegenaufklärerische Geheimbund der Gold- und Rosenkreuzer um Wöllner und Bischoffwerder den Thronfolger in seinen Bann gezogen hatte. Als die Revolution über Frankreich hereinbrach, die sich ja zunächst auch aus logenähnlichen Tugendzirkeln heraus artikuliert und positioniert hatte, wollte der Illuminatenbund durch das steuernde Eingreifen der sittlichen Elite den friedlichen Prozeß in Deutschland garantieren. Als Verschwörungslegenden in Bayern und Österreich und die gegenaufklärerischen Tendenzen in Preußen den Geheimbund schließlich mehr und mehr in den Untergrund drängten, planten einige ihrer führenden Mitglieder, wie etwa der mit Goethe sehr gut bekannte Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha bis in die Details die Übersiedelung nach Amerika. Diesen Erfahrungshintergrund spiegelte Goethe in seinen Wilhelm-Meister-Romanen genauestens ab, sogar die Gothaer Herzogin Marie Charlotte Amalie, astronomiebesessen wie ihr Mann, tauchte als mit dem Sonnensystem in naturmagischem Verhältnis stehende Makarie im zweiten Teil der Wanderjahre wieder auf.

Jarno, eines der Mitglieder der geheimnisvollen illuminatischen Turmgesellschaft, wollte wie Herzog Ernst, der Kopf der Illuminaten in Oberdeutschland, im Auftrag der Verbindung nach Amerika gehen. Der Plan des Herzogs war 1794 gefaßt, das 7. Buch der Wanderjahre entstand fast zeitgleich, die Parallelen sind kein Zufall.

"Wenn Sie unsern Plan ganz kennen, versetzte Jarno, so werden Sie ihm einen bessern Namen geben, und vielleicht für ihn eingenommen werden. Hören Sie mich an! Man darf nur ein wenig mit den Welthändeln bekannt sein, um zu bemerken, daß uns große Veränderungen bevorstehn, und daß die Besitzthümer beinahe nirgends mehr recht sicher sind. (...) aus unserm alten Thurm soll eine Societät ausgehen, die sich in alle Theile der Welt ausbreiten, in die man aus jedem Theile der Welt eintreten kann. Wir assecuriren uns unter einander unsere Existenz, auf den einzigen Fall, daß eine Staatsrevolution den einen oder den andern von seinen Besitzthümern völlig vertriebe. Ich gehe nun hinüber nach Amerika, um die guten Verhältnisse zu benutzen, die sich unser Freund (Lothario) bei seinem dortigen Aufenthalt gemacht hat. Der Abbé will nach Rußland gehn, und Sie sollen die Wahl haben, wenn Sie sich an uns anschließen wollen, ob Sie Lothario in Deutschland beistehn, oder mit mir gehen wollen."

Goethes ästhetische Auffassungen waren stets von der Überzeugung geprägt, daß echte Kunst nur das verarbeiten könne, was vorher in der Wirklichkeit wahrgenommen worden sei. Goethes Literatur ist in einem solchen Sinne welthaltig, er hat, wie er einmal sagte, die Welt immer für klüger gehalten, als sich selbst. Er wollte nicht erfinden, sondern das Gesehene gestalten. Und auch sein Bild vom Alten Europa und vom Neuen Amerika war geprägt davon.

"Amerika, du hast es besser!" Diese Zeile aus Goethes Gedichtsammlung "Zahme Xenien" von 1827 ist sicher auch heute noch, da die allgemeine Kenntnis klassischer Literatur generell zurückgegangen ist, den meisten vertraut, faßt sie doch etwas prägnant zusammen, was seit dem 18. Jahrhundert immer wieder als Stoßseufzer Europamüder gemeint war: Amerika war ihnen eben als das glückliche Gegenbild zum alten Kontinent erschienen, gerade weil der Neuen Welt praktisch das erspart blieb, was hier auf den Menschen lastete.

Das Gedicht: "Die Vereinigten Staaten", Goethe verwandte schon damals die USA synonym mit Amerika, faßte lakonisch, was am "alten Europa" problematisch schien.

Den Vereinigten Staaten.

Amerika, du hast es besser
Als unser Continent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit

Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Goethe faßte hier durchaus mit einem deutlichen Schuß Ironie die Dinge zusammen, die er in Amerika sehsuchtsvoll erblickte, in Europa aber vermißte. Mit dem Bezug auf den Basalt, den es - so die damalige Forschungslage - angeblich in Nordamerika nicht gegeben habe, machte er auf eine grundsätzliche Unterscheidung nicht nur im geologischen Bereich aufmerksam. Goethe nahm noch an, daß es zumindest auf dem nördlichen Teil des Kontinents keine Vulkane gegeben hätte. Die Vulkanisten nämlich, allen voran Alexander von Humboldt, hatten sich Mitte der 1820er Jahre in ihrer Deutung durchgesetzt, daß die Gesteinsbildung des Basalts durch Vulkane erfolgte und nicht - wie die sogenannten Neptunisten um Abraham Gottlob Werner behaupteten - ein Abscheidungsprodukt des Meeres darstelle.(2) Basalt stand daher für Goethe als das Symbol des Gewaltsamen, Revolutionären, satanisch-chaotischen. Die Granitfindlinge, von denen Goethe - gegen die wissenschaftliche Lehrmeinung - immer wieder behauptete, daß sie nicht durch Eiszeitgeschiebe gewaltsam aus dem Skandinavischen Raum nach Mitteleuropa gebracht worden seien, sondern Reste eines ursprünglichen Urgebirges darstellten, waren Symbol für das Althergebrachte, das - wie die Könige durch die Revolutionen - nun in Europa von der "subalternen Gebirgsart" Basalt bedrängt würde. Aus der Alten Welt, "wo nichts mehr auf festem Fuße zu stehen scheint"(3) , richtete Goethe seinen Blick auf das Wunschbild Nordamerika, das "kein unnützes Erinnern", "keine Ahnen"(4) und keinen "klassischen Boden", aber auch keinen "vergeblichen Streit" auf einem basaltisch-"untreuen"(5) Boden mehr kenne. Goethe verstand in seiner universalistischen Weltsicht Natur und soziale Verhältnisse in einem engen Wechselverhältnis, und stellte in seinen naturwissenschaftlichen Schriften, aber auch in seinen poetischen - ich denke hier insbesondere an seinen "Faust" (I. und II. Teil) - stets eine Verknüpfung der geologischen Grundlagen mit den politischen und kulturellen her. Mit dem Hinweis auf die "Ahnen" und den "klassischen Boden" sah er einerseits, daß die Geschichte mit ihrer alles durchdringenden Memoria und durch althergebrachte Feudalrechte gelähmten Gesellschaft dem langsam und friedlich verlaufenden Entwicklungsgang Hindernisse in den Weg stellte, die zu Verkrustungen führten und nun durch Eruptionen, ja Revolutionen aufgebrochen würden, die aber nicht in erster Linie ruhige Bildung, sondern Verwerfungen und Unruhe mit sich brächten. Der vulkanische Basalt war dementsprechend Symbol solch eruptiver Kräfte.

Wenn Goethe später mit großem Interesse nach Amerika blickte, dann nicht zuletzt wegen der im restaurativen Europa nach den Befreiungskriegen erstarkenden nationalen und rückwärtsgewandten christlich-romantischen Zeitströmungen. Doch gab sich Goethe nicht mit dem ironischen Entwurf einer Gegenutopie zufrieden, sondern er analysierte sehr genau neben den verlockenden Möglichkeiten eines Neuanfangs ohne "Basalte...verfallene Schlösser...unnützes Erinnern" auch die Widersprüche der Neuen Welt.

In seinem Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" erscheint Europa im Gegensatz zu Amerika von einem weiteren Übel verfolgt: dem vordringenden Maschinenwesen, der drohenden Industrialisierung, die die Kunst und die auf ihr beruhende handwerkliche Fertigkeit - die "mechanischen Künste" - bedrohte. Seit dem ersten Weimarer Jahrzehnt wuchs bei Goethes zunehmend die Einsicht in die notwendige Beschränkung des einzelnen Menschen auf ein ‘Handwerk’ sowie die gleichnishafte Übertragung der handwerklichen und freimaurerischen Ausbildungsgrade (Lehrling, Geselle, Meister) auf Entwicklungsstufen des Lebensganges überhaupt. Die Tendenzen beliebiger technischer Reproduzierbarkeit hat Goethe vor dem zeithistorischen Hintergrund des aufkommenden Industrie- und Maschinenzeitalters als bedrohlich angesehen, ja er machte die Mechanisierung sogar für den Niedergang der Kunst verantwortlich. Goethe sah im Niedergang des Handwerks, das die Voraussetzung für jede Kunstproduktion sei, den Verlust von Arbeitsplätzen, aber auch die Zentralisierung und Konzentration in Großstädten und damit den Verlust von funktionierenden sozialen Strukturen als aufkommende Gefahr.

Die intensive Beherrschung des Handwerks in einem ganz ursprünglich individuell-sinnlich begreifbaren Verständnis sah Goethe als Voraussetzung für eine über einfache Modetendenzen hinausgehende Kunstleistung an. "Vom Handwerk kann man sich zur Kunst erheben. Vom Pfuschen nie."(6) Erste theoretische Auseinandersetzungen kann man schon in der Sulzer-Rezension, im Baukunst-Aufsatz (1772 u. 1773) erkennen, später, etwa im Aufsatz über die Einfache Nachahmung, Manier, Stil, in Der Sammler und die Seinigen, den Meister-Romanen usw.

Goethe war überzeugt von einem unmittelbaren Hineinwirken der künstlerischen Tätigkeit in das Leben, wobei ihm Kunst und Handwerk als mögliche Mittel galten, den sozialen und kulturellen Gefährdungen der Zeit steuernd entgegenzuwirken. Eine latente Arbeitslosigkeit gab es auch schon in den vormodernen Wirtschaftsgefügen der mitteldeutschen Kleinstaaten. Der Bau von Armenhäusern, etwa in Dessau, in Gotha oder das Falksche Institut in Weimar zeigten Versuche, wie man unter den kleinabsolutistischen Bedingungen das Elend der Unterschichten mildern, das Armenwesen mit aufklärerischen Mitteln in den Griff zu bekommen suchte. Die Gothaer, Weimarer und Dessauer Fürsten suchten, die Armen durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Lohn und Brot zu bringen, sie gegebenenfalls dazu zu zwingen.

Goethe hingegen hielt an der Glückseligkeitstheorie, wie sie auch noch von Adam Smith und Sartorius vertreten wurde, fest, und hatte immer den Wohlstand des Werktätigen als die ökonomische Triebkraft im Auge. Zu Bertuch und seiner Überzeugung, daß man ein Heer an Armen brauche, um die Löhne im Interesse der Fabrikanten zu drücken, hielt Goethe auch aus diesem Grunde Distanz. Die allmähliche Mechanisierung, die Goethe in den Papier- und Walkmühlen, in Schleifmühlen, im Bergbau oder in der unter Bertuchs Leitung stehenden herzoglichen Porzellanfabrik in Ilmenau wahrnahm, wurde für ihn erst in den 90er Jahren zum Ausdruck einer gewissen Tendenz. Die Dampfmaschine spielte dabei noch keine wesentliche Rolle.

Die mitteldeutschen Kleinstaaten, das erkannte Goethe in den 90er Jahren zunehmend, mußten ein eigenes Konzept der Modernisierung entwickeln, wenn sie der Konkurrenz der effektiver agierenden Großfabrikationen etwas zum Nutzen der eigenen Landesökonomie und -politik entgegenstellen wollten.

Goethe setzte dabei auf das Handwerk, das mit Wissenschaft und Kunst verbunden werden müsse, um Produkte zu entwickeln, die wegen ihres hohen künstlerischen und praktischen Gebrauchswertes, wie wir heute sagen würden, der Fabrikware überlegen wären. Durch diese Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft mit dem Handwerk könne das Produkt den Modetendenzen und dem damit verbundenen moralischen Verschleiß entgehen. (Ein Gedanke, der im 20. Jahrhundert im Bauhaus, das sich ja in Weimar und Dessau ansiedelte, wieder aufgenommen wurde.)

"Und so fördern die verschiedenen Zweige der Wissenschaften einander, wie denn auch die verschiedenen Zweige der Kunst einander fördern." Nach einer Zeit des Niederganges von Kunst und Handwerk, wie er es für die Zeit im Umfeld der Befreiungskriege beobachtete, müßten Kunst und Wissenschaften "endlich Technik und Handwerk zu Hülfe rufen und auch diese veredeln"(7). Jeder Künstler müsse, so riet Goethe es dem Berliner Künstler Christian Daniel Rauch für die Ausbildung seiner Schüler, lernen, "daß Technik und Handwerk dem höchsten Gedanken des Künstlers zuletzt erst die Wirklichkeit verleihen"(8). Goethe, der sich ansonsten wenig für das Schulwesen und die zeitgenössischen pädagogischen Projekte der Aufklärung interessierte, weil er den Bezug zur Praxis vermißte und die durchgängige Didaktisierung des Lebenszusammenhanges für schädlich hielt, engagierte sich aus eben den genannten Gründen für Bildungseinrichtungen, die die Verbindung von Handwerk und Kunst vorantreiben sollten. Beispiel waren die Freie Zeichenschule in Weimar, Eisenach, Buttstädt sowie in Dessau die Chalkographische Gesellschaft, die Freie Gewerkschule Weimar, die "Sonntags-Nachhilfs-Vorbereitungs-Schule ...zugunsten jüngerer Handwerker" usw.(9)

Goethe fürchtete, daß die massenweise technische Reproduzierbarkeit von Kunst- und Handwerksprodukten nicht nur eine Verflachung der Kultur bedingen würde, sondern auch eine massenhafte Arbeits- und Perspektivlosigkeit und den Verfall ganzer Landschaften nach sich ziehen werde. Die Auswanderungsbewegungen nach Rußland oder die amerikanischen Auswanderungs- und Sondierungsbestrebungen, wie sie der Herzog von Gotha schon in den 1790er Jahren oder Herzog Bernhard von Weimar dreißig Jahre später wieder unternahmen, beobachtete er mit großem Interesse. Die Überlegungen der ernestineschen Fürsten spiegeln sich auch in den politischen Konzepten der Wanderjahre. Aufmerksam verfolgte Goethe die Entwicklung der amerikanischen Brüdergemeinde, die noch innigen Kontakt nach Herrnhut und Dietendorf bei Gotha unterhielt, die sich angesiedelten Wiedertäufer, die Schweizer Mennoniten, die württembergische pietistische Harmony-Gesellschaft um Georg Rapp mit ihren amerikanischen Gründungen Harmony und Economy, die Goethe vor allem durch Lord Byrons Don Juan und Herzog Bernhards Reisebericht Reise Sr. Hoheit des Herzogs Bernhard ... durch Nord-Amerika kannte. Der Reisebericht des Herzogs hatte Goethe derart beeindruckt, daß er den Historiker Heinrich Luden eindringlich bat, die Schriften zu überarbeiten und herauszubringen. Die Hoffnung der Auswanderer in den Wanderjahren, die vor dem heranrückenden Maschinenwesen in Amerika eine neue Existenz gründen, fußte auf der Idee von auf Handwerk und kommunaler Gemeinschaft basierenden Kolonistendörfern. Und diese Idee war nicht aus der Luft gegriffen. Aus dem Reisebericht wußte er von dem auf Gleichheit des Besitzes und Gemeineigentum beruhenden utopischen Projekt von Robert Owen in New Harmony, dem Herzog Bernhard sogar ein eigenes Kapitel gewidmet hatte und dessen Verfassung er übersetzte und abdruckte. (Im Gegensatz zu den aus Württemberg stammenden Rappisten war Robert Owen ein Feind aller religiösen "Sekten".) Owen erklärte dem Herzog selbst, daß er alle Zäune in der von Rapp angelegten Siedlung niederreißen wolle: "Das Ganze sollte einem Parke gleichen, in welchem die einzelnen Häuser zerstreut ständen."(10) Musik, Kunst und Wissenschaft würden die bildenden Unterhaltungen während der Freizeit sein. Hier sollte das Handwerk dominieren, mit einem genauen Zeitregime wollte er die während seiner Abwesenheit eingerissene Anarchie beseitigen. Die Mädchen und Jungen wurden nach einem ausgeklügelten halbmilitärischen, auf Garten- und Feldarbeit basierenden Erziehungskonzept durch den Pädagogen Neef aus dem Elsaß erzogen. Reine Fabrikarbeit sollte wegen der gesundheitsschädlichen Wirkung zurückgedrängt werden, und zwar zugunsten einer "Verbindung von Ackerbau und Manufacturen"(11). Maschinenarbeit und wissenschaftlicher Fortschritt wurden ausdrücklich dazu angewandt, ungesunde und monotone Arbeitsabläufe abzuschaffen. Handarbeit sollte nur mehr eine "gesunde und angenehme Leibesübung"(12) sein. Robert Owens Vertraute, Miss Wright, widmete sich auf ihrer erworbenen Plantage dem "philanthropischen Geschäfte der Emancipation der Neger"(13). Bernhard von Sachsen-Weimar besuchte auch andere Erziehungsanstalten, so das Taubstummeninstitut des "philanthropischen Quäkers" Robert Vaux in Philadelphia, das den Zöglingen eine umfassende Handwerksausbildung angedeihen ließ.(14)

Goethe nahm ebenfalls die Lebensweise der Quäker oder der Schäker(15) mit Interesse zur Kenntnis. Kurz, er suchte wie der Herzog, angesichts der Krisenerfahrungen in Europa, herauszufinden, mit welcher Lebensweise man die Probleme der Modernisierung auf dem neuen Kontinent besser in den Griff bekam.

Das lakonische "Amerika, du hast es besser" ließ den alten Geheimrat vom neuen Kontinent schwärmen, 1819 bekannte er sogar, daß er, wenn er zwanzig Jahre jünger wäre, auswandern würde. Friedrich von Müller berichtete später: "Goethe schilderte uns sehr launig Amerika und die dortige Colonisirung, so daß Julie v. Egloffstein nicht übel Lust verspürte, dahin auszuwandern."(16) Eine Tagebucheintragung aus dem Jahre 1826 über Betrachtungen der "Kunst und Technik diesseits und jenseits des Meeres"(17) zeigt, daß Goethe die Entwicklungen dort wach zur Kenntnis nahm. In Herzog Bernhards Reisetagebuch wurden Dampfmühlen, eine Eisengießerei, mit Wasserkraft betriebene, ansehnlich gestaltete Gewehrfabriken mit hoher handwerklicher Ausrichtung (Springfield, Harpersferry), Dampfboote, Kohlegruben, Werften, das Patent office in Washington mit einer Maschinenausstellung, Rapps Union rolling mill genannte, vor der Stadt liegenden Eisenwerke, aber auch immer wieder Dampfmaschinen beschrieben.(18)

Auffällig ist dabei aber, daß die besichtigten Manufakturen meist eigene Kolonien mit eigenen Schulen bildeten und in ihrem Mechanisierungsgrad nicht den Ängstlichkeit erzeugenden Eindruck der englischen Fabriken jener Zeit hervorriefen. So wurden die Maschinen der modernen Gewehrfabrik in Springfield in einzelnen Häusern untergebracht und mit Wasserkraft angetrieben. Auch schlossen sich an diese Manufakturen schöne Landsitze und reizvolle Parkanlagen an. Überhaupt wirkte das relativ gut besiedelte Massachusetts, aber auch das von vielen Deutschen geprägte Pennsylvania ländlich, durchsetzt von Landwirtschaft, Obstgärten, herrlichen Waldlandschaften usw.(19)

Der Weimarer Herzog bemerkte durchaus aufgeschlossen die Abneigung der demokratischen Patrioten gegen große Fabriken, weil diese nach Rousseauschen Prinzipien, das gesellschaftliche demokratische Gleichgewicht in Gefahr brächten. "Die strengen Republikaner sind eifersüchtig auf das Etablissement grosser Fabriken, weil sie fürchten, dass einzelne Staatsbürger durch ihr Vermögen einen zu grossen Einfluß auf eine grosse Masse der niedern Volksclasse bekommen werden; ich möchte aber glauben, dass die Republik von dieser Seite Nichts zu fürchten habe, da dem Einfluss Einzelner die gute Erziehung der niedern Volksclassen das Gegengewicht halten dürfte."(20)

Herzog Bernhards Beschreibung der amerikanischen Zustände sticht sehr deutlich von seiner Wahrnehmung der Industrielandschaften in England ab, die er erneut auf seiner Rückreise besuchte. Über die Gegend zwischen Wolverhampton und Birmingham schrieb er: "Auf einer ansehnlichen Strecke war nichts von Cultur zu erblicken: man sah nur Kohlen- und Eisenwerke mit Dampfmaschinen mit colossalen, obeliskenförmigen Oessen, und hohen brennenden Öfen. Diese Gegend sah aus wie die Ruinen einer eingeäscherten Stadt, in der noch einige Häuser brennen. Der hier herrschende Kohlen- und Schwefeldampf benimmt einem in der That den Athem."(21)

Herzog Bernhard wurde von Quincy auch in die Erziehungsanstalten und höheren Schulen geführt, besuchte viele Bildungsanstalten, Jugendbesserungsanstalten usw., die ihn wegen der Ordnung, der Disziplin, aber auch des dort vermittelten Wissens tief beeindruckten. Ausführlich beschrieb er die "polytechnische" Kadettenanstalt von Westpoint. Das Erziehungsinstitut in Northampton/Mass. mit seinem Turnplatz im Wald zeigte deutliche Parallelen zu philanthropischen Anstalten der Illuminaten wie Salzmanns Erziehungsanstalt Schnepfenthal bei Gotha, für die die Gründer Bancroft und Cogswell schwärmten.(22) So erwähnte der Herzog anerkennend die kostenlose Schulbildung für Kinder aller Klassen in Massachusetts und die anderen New-England-Staaten.(23) Der Herzog besuchte Universitäten, Gefängnisse, Armen- und Witwenhäuser, Hospitäler, botanische Anlagen und pharmazeutische Institute, Museen, Büchereien, u.s.w. Nicht wenig dürfte Goethe gerührt gewesen sein, als er lesen konnte, daß Herzog Bernhard, als er zufällig in New York die deutsche lutherische Kirche betrat, ein Lied seines Vorfahren Wilhelm von Sachsen-Weimar hörte, von einem Wirt in Virginia durch eine Bibel mit Kupfern der Ahnen - Herzog Wilhelms und Herzog Bernhards - überrascht wurde oder in Philadelphia in der Masonic Hall, der Halle der Freimaurer, von der erlauchten Universitätsgesellschaft Hochrufe auf "Weimar das Vaterland der Wissenschaften"(24) erklingen hörte. Überhaupt lobte Bernhard, der Pennsylvania den gepriesenen "Zufluchtsort für unglückliche Deutsche" nannte, die große religiöse wie konfessionelle Toleranz und Harmonie.

Wie die Verarbeitung des Amerikathemas in den Wanderjahren zeigt, ist Goethe nicht entgangen, daß es in den Flächenstaaten der USA weit bis ins 19. Jahrhundert Überlegungen und Konzepte gab, nicht auf Fabrikstädte und Metropolen zu setzen wie in England. Da sich Goethe sehr genau in Geschichtswerken, Reisebeschreibungen, amerikanischen Journalen, aber auch aus Benjamin Franklins und Thomas Jeffersons Schriften informierte, ist ihm nicht die kritische Distanz der Amerikaner zu dem sich alles unterwerfenden Maschinenwesen verborgen geblieben. Schon in den Notes on Virgina(25), in den 1780er Jahren in englisch und französisch erschienen, gab der spätere Präsident Thomas Jefferson der USA eine genaue geographische, zoologische, botanische und ökonomische Beschreibung seines Staates.(26) Hier entwickelte Jefferson schon die Theorie der landwirtschaftlich orientierten Homeproduction der Farmerrepublik, die den Familien- und Community-Verband produktiver ansah als die Industriestädte des alten Kontinents: eine These, die er weiter ausbaute und die auch in sein Planungskonzept der Stadt Washington einfloß.(27) Jefferson lehnte grundsätzlich die großen Fabriken ab und meinte noch 1816, daß man in Amerika auf Großindustrie verzichten könne. Nicht nur die Monarchie, auch die Großindustrie sollte im alten, ungesunden Europa bleiben. Die Kultur und Ökonomie in Amerika sei vom selbständigen, auf dem eigenen Land lebende Farmer bestimmt. Liberty-Property-Virtue-Happiness (Freiheit, Landeigentum, Tugend und Glück) waren für Jefferson die Schlüsselbegriffe für ein amerikanisches Goldenes Zeitalter. Der eifrige Farmer verkörperte für Jefferson den von Gott auserwählten Berufsstand, weil er für Nahrung sorge, als patriarchaler Hausvater über die tugendhafte Familie wache und fern der großen Städte die eigentlichen Werte schaffe.(28) Gegenüber James Madison äußerte er die rousseauische Auffassung: "Ich glaube, daß wir so lange tugendhaft bleiben, so lange die Landwirtschaft unsere hauptsächliche Grundlage ist, und das wird so bleiben, weil wir in Amerika so viel unbesiedeltes Land besitzen. Wenn wir aber wie in Europa in großen Städten aufeinander hocken, dann werden wir genauso lasterhaft und verdorben wie die Menschen dort und werden einander auffressen, wie sie es dort tun."(29) Und selbst 1812 noch meinte er, daß man die Maschinen in Amerika nur kleiner bauen müsse, so könnte man auf jeder Farm Selbstversorger werden und von Europa unabhängig bleiben. Es war dies eine Sichtweise, die auch Herzog Bernhard noch reflektierte, der Amerika, trotz mancher Makel, die er in seiner Beschreibung nicht aussparte (verlotterte, missionierte Indianer, Sklaverei in den Südstaaten etc.), als ein "glücklich aufblühendes Land" beschrieb. Zwar sah Herzog Bernhard mit Boston, Montreal, Philadelphia oder New York (damals die größte Stadt der USA mit 170 000 Einwohnern) auch relativ große Städte, sie wirkten aber auf den Herzog nicht wie Fabrikmetropolen, sondern wie Handels-, Kultur- und Verwaltungsstädte, die durch ein blühendes Handwerk gekennzeichnet waren. Selbst New York beschrieb er als ländliche Siedlung, wo die Schweine noch auf der Straße liefen sowie schöne Landhäuser und Gärten den Hudson säumten. Da auch das Land so unendlich groß schien, war die Möglichkeit von alternativen Kommunen, wie die von Rapp oder Owen mit einer die Arbeitsteilung überwindenden, das Maschinenwesen integrierenden Lebens- und Arbeitsform denkbar, die Gesundheit und Bequemlichkeit der Handwerksarbeit betonte Herzog Bernhard immer wieder.(30) Herzog Bernhard ließ sich sogar von den Rappisten bereden, ein eigenes Eisenwerk an der Ostküste der USA auf zu bauen. Der Herzog zeigte offen seine Sympathie, aber auch eine gewisse Skepsis gegenüber solchen Weltverbesserungssystemen eines Rapp oder Owen. Vor allem dachte er über konkrete Fehler im Vorgehen nach. Eine prinzipielle Kritik an ihren Systemen äußerte er allerdings nicht. Auch Goethe hat sich in seiner Bewertung noch offen gehalten. Auf das einigende Band der Religion wollte er für die normalen Menschen - und hier stand er, wie Herzog Bernhard, Adam Rapp näher als Robert Owen - nicht verzichten.

An solchen philanthropischen Auffassungen hat sich Goethe bei seiner Idee der Auswanderer in den Wanderjahren orientiert. Allerdings blieben auch seine Hoffnungen, die er auf Amerika gesetzt hatte, in seinen letzten Lebensjahren nicht von einer immer stärker werdenden allgemeinen Skepsis verschont.(31)

Spätestens mit der Erkenntnis dieser ersten Krisen verspürte Goethe, wie seine Helden in den Wanderjahren (1821-29), eine "große Abneigung gegen das Maschinenwesen"(32). Lenardo schreibt bezüglich der Schweizer Spinn- und Webfabrikation in sein Tagebuch, "das Maschinenwesen vermehre sich immer im Lande und bedrohe die arbeitsamen Hände nach und nach mit Unthätigkeit"(33). Susanne spricht gar von dem "überhand nehmenden Maschinenwesen"(34), das sich geradezu mit Naturgewalt heranwälze. Goethe reflektierte hier die Zwickmühle, die sich allmählich mit der herannahenden Industriegesellschaft auftat. Er sah wie sein Held Wilhelm, daß mit dem Maschinenwesen, das man nicht "aus der Welt bannen"(35) könne, Arbeitslosigkeit einherging, die Arbeitsteilung und damit die Entfremdung rigoros einsetzte(36). Möglichkeiten, den drohenden Gefahren des beginnenden Maschinenwesens gegenzusteuern, sah er in den "Wanderjahren" in der wohltätigen Wirkung des eingeschworenen Bundes der Entsagenden. Der Schirrfasser und der Faktor Susannes verschwägern sich und bauen auf Susannes Besitz eine Fabrik, wobei nun keine Rede mehr davon ist, daß die Gebirgsbewohner dadurch arbeitslos würden. Auf einem von "Mißbräuchen" freien Weg der Industrialisierung, wie es in Anlehnung an L.H. von Jacobs Grundsätze der Nationalökonomie, die in Kunst und Alterthum angezeigt wurden, heißt, werden sie "auf eine andere, lebhaftere Weise beschäftigt"(37). Und der Amtmann, bei dem die Auswanderungswilligen sich versammelt hatten, konnte den "brauchbarsten Handwerkern" Arbeit in einer "Meubelfabrik" beschaffen. Dabei ist interessant, daß es sich hier offenbar noch um eine Handwerksmanufaktur handelte, denn er stellte nur das Arbeitsmaterial zur Verfügung, "Frauen, Raum und Verlag gaben die Bewohner"(38). Den Hauptausweg aus dem Dilemma der industriellen Moderne sah Goethe im Roman jedoch im vom Bund der Entsagenden gesteuerten Auswandern der Handwerker nach Amerika, wo sie in einer nach dem Vorbild etwa von Georg Rapps Harmony-Society eingerichteten religiösen Kommune ein unentfremdetes und glückliches Leben führen sollten. Voraussetzung war dabei aber in diesen Zeiten der "Einseitigkeiten" das Erlernen eines Berufs und die Unterwerfung unter ein strenges Regime der Zeitökonomie, auch die Anlegung von Fabrik- und Bergbaubetrieben war dabei mit einkalkuliert. Deren schädliche Wirkung sollte aber im neuen, an christlich-pietistischen Brüderschaftsbildern orientierten Kommunebereich gebändigt werden.

Wir können also feststellen, daß Goethe mit Nordamerika nicht das Klischee des modernen Industriestaats verband, sondern die "Segnungen" der Industrialisierung auf Europa beschränkt sah. Immer orientiert am neuesten Informationsstand, konnte er doch nicht in die Zukunft schauen. Vielleicht wirkt deshalb auch sein Amerikabild heute so fremdartig, weil es keines der gängigen Stereotype bedient. Die Lektüre seiner Romane ermöglicht aber andererseits die Rekonstruktion einer Zeitsicht, in der über die Jahrhunderte hinweg ein Zustand von Wirklichkeit eingeschrieben blieb.

Letztlich gestand sich Goethe ein, daß "Dampfmaschinen" insgesamt nicht "zu dämpfen"(39) waren und er froh wäre, daß er persönlich in einem Alter war, wo ihn die anstehenden "Segnungen" des aufkommenden Industriezeitalters bald nicht mehr tangieren würden.

"Von diesen und vielen andern Dingen mag ich gerne schweigen, aber ich empfinde tief das Glück dessen, der sich zu bescheiden und alles von ihm irgend Entdeckte zu irgend einem praktischen Lebensgebrauche hinzulenken weiß; wie denn die Engländer hierin unsre unnachahmliche Muster sind. Man erinnere sich nur, was seit Boulton und Watt von Kräften entdeckt und angewendet worden, bis Perkins auf das Gränzenlose gelangt ist. Ich habe nichts dagegen, daß man hier auch berechnet, aber zuletzt werden doch alle diese Maschinen nur organisch durch den praktischen Menschengeist, der zur Wirkung und Richtung nur durch Mäßigung sich befähigt."(40)

Er fügt in seiner Redaktion des Lobgedichts Johann Andreas Stumpffs über die Dampfmaschine (1831), in dem die Freude des Forschers über die Funktionsweise der Maschine zum Ausdruck kommt für Ottilie Goethes Zeitschrift Chaos einen Vierzeiler an. Er wollte das Gedicht aber nicht so optimistisch wie Stumpff aufklingen lassen, so verzichtete er bewußt auf die definitive Aussage, daß die Maschine auch ein Segen für die Menschheit sei.(41)

Ökonomisch setzte er im Gegensatz zur maschinellen Massenproduktion auf die Herstellung von Kunstwerken und von auf Dauerhaftigkeit und wirkliche Bedürfnisbefriedigung ausgelegte Handwerkskunst. An Zelter, den Künstler und Handwerker, schrieb er im Bewußtsein, daß sie beide einer zuende gehenden Periode angehörten: "Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten der Communication sind es worauf die gebildete Welt ausgeht..." Es sei dies eine Zeit der "Mittelmäßigkeit", der "mittleren Cultur", der Verflachung.

Von einem resignierten Urteil der Entgültigkeit scheut er sich aber ebenso: "Laß uns so viel als möglich an der Gesinnung halten in der wir herankamen, wir werden, mit vielleicht noch wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt."(42)

Goethe irrte sich auch in bezug auf den Gegensatz zwischen Europa und Amerika: Basalte gab es auch in Amerika, Gespenstergeschichten und soziale Konflikte ebenso, und die Industrialisierung machte vor Nordamerika keineswegs halt. Amerika hat es auch nicht besser.

© Michael Niedermeier (Berlin)


ANMERKUNGEN

(1) Goethes Werke. Weimarer Ausgabe. Weimar 1889-1919. 4 Abteilungen (=WA). WA I, 29, S. 156.

(2) Übrigens ist jener Welttheil glücklich zu preisen, daß er vulkanische Wirkungen entbehrt, wodurch denn die Geologie der neuen Welt einen weit festern Charakter zeigt als der alten, wo nichts mehr auf festem Fuße zu stehen scheint.(Über: Beiträge zur Mineralogie und Geologie des nördlichen Amerika's, von Herrn Staatsrath v. Struve. Hamburg 1822). WA II., Bd. 10, 273.

(3) WA II, 1, S. 250.

(4) "Nord Amerikaner glücklich keine Basalte zu haben. Keine Ahnen und keinen klassischen Boden.() " WA II, 13,314.

(5) WA II, 1, 60.

(6) WA I, 47, S. 325.

(7) 15.1.1816; WA I, 26, S. 221.

(8) 11.3.1828; WA IV, 44, S. 22.

(9) 23.10.28; Goethes Gespräche, 10, S. 169f. An anderer Stelle heißt es: "Jede Anstalt, die auf allgemeine Bildung und Industrie einen bedeutenden Einfluß hat, verdient zur Kenntnis des grössern Publikums zu gelangen." (Max Morris, Verschollenes bei Goethe: Morgenblatt für gebildete Stände, 5.12.1807. In: Euphorion, 9 Jg., 1902, S. 658).

(10) Reise seiner Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, T. 2, S. 137. Vgl. auch Michael Niedermeier, Natur - Ökologie - Sexualität. Philanthropen zwischen Paradies und Plantage (1770-1815). In: Mit den Bäumen sterben die Menschen. Zur Kulturgeschichte der Ökologie. Hrsg. von Jost Hermand. Köln-Weimar-Wien 1993, S. 25-80.

(11) Reise seiner Hoheit, T. 2, S. 311.

(12) Ebenda, T. 2, S. 314.

(13) Ebenda, T. I, S. 140.

(14) Ebenda, T. II, S. 228f.

(15) Goethe WA IV, 41, S. 93. Vgl. auch: Ebenda, T. I. S. 173ff.

(16) Goethes Gespräche, 3, S. 314.

(17) Goethe WA III, 10, S. 270.

(18) Reise seiner Hoheit des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, z.B. T. I. S. 25, 186, 284, 313, T. II, S. 210 ff. u.ö. Mit genauso großem Interesse erläuterte der für Mathematik begeisterte Herzog auch die Wirkungsweise der Kempelenschen Schachmaschine und andere mechanische "Automaten" des Mechanikers Maelzel aus Wien, die dieser in New York vorführte. (Ebenda, T. 2, S.254f.)

(19) Ebenda, T. I, S. 94ff.

(20) Ebenda, T. I, S. 106.

(21) Ebenda, T. II, S. 286.

(22) "Beide Herren sind enthusiastisch für Deutschland und für die dortige Erziehung eingenommen, und wollen Alles bei sich nach diesem System einrichten." (Ebenda, T. I, S. 107)

(23) Ebenda, T. I, S. 97f.

(24) Ebenda, T. I, S. 247.

(25) Herzog Bernhard zitierte daraus ausführlich (T. I, S. 283f., 290).

(26) Herzog Bernhard hatte den 86jährigen, sehr munteren Jefferson auf seinem landesverschönerten und ökonomisch genutzten berühmten Landsitz Monticello aufgesucht und war sehr von ihm angetan. Er hatte auch John Adams und John Quincy Adams besucht. Den neunzigjährigen John Adams besuchte Herzog Bernhard auf seinem Landsitz in Quincey, zehn Meilen von Boston entfernt. Diese Gegend war ländlich geprägt und Herzog Bernhard lobte die Güte der Bewirtschaftung und das geschmackvolle Aussehen der Häuser. Er besuchte Mount Vernon, das Landgut George Washingtons, des "grössten Mannes seiner Zeit", als "heiligen Ort" (T. I, S. 273). Wie auch die anderen Gründerväter der USA waren sie alle kenntnisreiche Farmer, Grundbesitzer, Gärtner und Home- Manufacturisten.

(27) Frederick Doveton Nichols/Ralph E. Griswold, Thomas Jefferson Landscape Architect. Charlottesville (Virginia) 1978, S. 39ff.; Saul K. Padover, Thomas Jefferson and the National Capital. Washington, D.C., 1946. vgl. auch: Denis E. Cosgrove, Social Formation and Symbolic Landscape. Tatowa, New Jersey 1984, S. 174ff. Jefferson war ganz eigentlich Farmer, der in sein Gardenbook ganz im Sinne der Bibel schriebt: "Den größten Dienst, den man seinem Vaterland erweisen kann, ist, nützliche Pflanzen zu kultivieren." Zit. nach: The Garden and Farm Books of Thomas Jefferson. Hrsg. von Robert C. Baron. Fulcrum (Colorado) 1987, S. 45.

(28) An John Jay schrieb er 1785: "Diejenigen, die den Boden kultivierten sind die wertvollsten Bürger überhaupt. Sie sind die tatkräftigsten, unabhängigsten und tugendhaftesten. Sie hängen am stärksten an ihrer Heimat und sind am meisten an ihre Freiheit und ihre Interessen gebunden. In: Writings of Thomas Jefferson. Monticello Edition. Hg. v. Andrew A. Lipscomb/Albert E. Bergh. 20 Bde. Washington, DC, 1903-05, Bd. 5., S. 93f.

(29) Ebenda, Bd. 6, S. 385.

(30) Vgl. Reise des Herzogs Bernhard zu Sachsen-Weimar-Eisenach, T. 2, S. 141, 146f., 205ff.

(31) "Aber, wie gesagt, ich danke dem Himmel, daß ich jetzt, in dieser durchaus gemachten Zeit, nicht jung bin. Ich würde nicht zu bleiben wissen. Ja selbst wenn ich nach Amerika flüchten wollte, ich käme zu spät, denn auch dort wäre es schon zu helle." Goethe: 1824; Goethes Gespräche, 5, S. 21.

(32) WA I, 25II, S. 252.

(33) WA I, 25I, S. 111.

(34) WA I, 25I, S. 249.

(35) WA I, 24, S. 184.

(36) WA I, 25, S. 106. Vgl. schon "Kunst und Handwerk"[1797]; WA I, 47, S. 55-59).

(37) WA I, 25, S. 275.

(38) WA I, 25, S. 289.

(39) Maximen und Reflexionen; Goethe. WA I 42/2, S. 172.

(40) 1827; Goethe WA IV, 43, S. 187.

(41) Alfred Zastrau, Technik und Zivilisation im Blickfeld Goethes, S. 139f.

(42) 6.6.1825; WA IV, 39, S. 216.


1.4. The image of the "Other" in the contacts of Europe, Asia, Africa and America

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  15 Nr.


For quotation purposes:
Michael Niedermeier (Berlin): "Amerika, Du hast es besser!". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/01_4/niedermeier15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 19.9.2005    INST