Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Mai 2004 | |
3.1. Exil und Migration | Exile
and Migration | Exil et migration Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Yasemin Dayioglu-Yücel (Göttingen)
Über Franz Werfel in Wien zu sprechen ist etwas Besonders. Hier wurde sein erstes Gedicht veröffentlicht. Hier lernte er nicht nur Robert Musil und Karl Kraus kennen, sondern auch seine spätere Frau Alma Mahler. Nach seinem Tod im kalifornischen Exil, wurde er in einem Wiener Ehrengrab beigesetzt. Um einen Roman, den Werfel vor seiner Exilerfahrung schrieb, ja noch bevor die ganze Grausamkeit des Nazi-Regimes sich entfaltete, handelt es sich bei Die vierzig Tage des Musa Dagh, die 1933 erschienen.(1) Vielfach wird der Roman als Vorausdeutung auf das jüdische Schicksal gelesen. Andere Autoren, die in der Tradition Werfels die Armenierdeportationen im Ersten Weltkrieg zum Thema haben, sind Edgar Hilsenrath(2) und der türkisch-deutsche Autor Zafer Senocak. Bei letztgenanntem wird die Analogie zwischen jüdischem und armenischem Schicksal ebenso deutlich wie die Parallele zwischen deutscher und türkischer Täterrolle - was den Protagonisten anbetrifft nicht zuletzt durch die deutsch-jüdisch-türkische Abstammung.
Sowohl Werfels Romanheld Gabriel Bagradian als auch Sascha Muhteschem, der Protagonist der Gefährlichen Verwandtschaft(3) (diese erschien 1998), stammen aus wohlhabenden Familien, deren Vermögen ihnen ein Leben als Schöngeister ermöglicht. Beide haben mehrfache kulturelle Zugehörigkeiten, sind, um mit Rachel Kirby zu sprechen "culturally complex individuals"(4). Während Gabriel Bagradian jedoch gezwungen wird, sich als Armenier zu identifizieren, scheint Sascha Muhteschem ganz postmodernes Subjekt und kann zwischen den ihm zur Verfügung stehenden Teilidentitäten wählen. Und nicht zuletzt sind beide um die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung ihrer Integrität bemüht. In einem Vergleich der beiden Hauptfiguren möchte ich aufzeigen, auf welche Art und Weise sie ihre Integrität wahren.
Gabriel, ein in Frankreich lebender Armenier, wird zunächst als "Franzose" (MD11) und "Europäer" (MD13) eingeführt, der in seinem in Armenien lebenden Bruder einen "Orientalen" (MD 13) sieht. Der westlich akulturierte Gabriel entwickelt sich im Laufe des Romans immer mehr zu einem Armenier, der von der Überlegenheit seiner Rasse überzeugt ist. Diese Entwicklung, gerade in Hinblick auf die antinationalistische Tendenz des Romans, ist oft kritisch betrachtet worden.(5) Über den geschichtlichen Hintergrund soll aufgrund der Fülle des Materials, das sich sowohl mit der Faktenlage, als auch mit dem Anteil von Fakten und Fiktion bei Werfel auseinandersetzt, an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.(6) Die historische Haupthandlung, um die sich der Roman aufbaut, lässt sich knapp vermitteln: Im Ersten Weltkrieg bezichtigen die Jungtürken die Armenier, gegen sie zu kämpfen und beschließen, sie in die syrische Wüste zu deportieren. Eine Gruppe von Armeniern widersetzt sich dem Deportationsbefehl und verschanzt sich auf dem Moses-Berg (dem Musa Dagh), kann mehrere Angriffe abwehren und wird schließlich von einem französischen Schiff gerettet.
Fiktion ist vor allem die Geschichte des Gabriel Bagradian, der mit seiner Frau Juliette, einer Französin, und dem gemeinsamen Sohn Stephan nach Armenien reist, um sich um die Geschäfte des verstorbenen Bruders zu kümmern. Als der Familie die Pässe abgenommen werden und ihnen die Deportation droht, leitet Gabriel Bagradian die Armenier in seiner Umgebung zum Widerstand auf dem Mosesberg und führt sie somit in die Freiheit.
Obwohl schon Gabriel ein Produkt der Vermischung von französischer und armenischer Kultur ist, wird im Roman stark zwischen der europäischen Welt Juliettes, in die Gabriel gezogen wird (MD 11) und der armenischen Welt Gabriels, in die Juliette eingeht (MD 54), unterschieden. Gabriel ist keine hybride Figur, immer scheint die eine oder die andere Teilidentität die Oberhand zu haben. Seine Integrität kann er nicht durch die Integration beider Teilidentitäten aufrechterhalten.(7) Allerdings geschieht Bagradians Konzentration auf seine armenische Teilidentität nicht zufällig. Er wird von den machthabenden Jungtürken darauf reduziert, Armenier zu sein. Weder die Leistungen seiner Familie, noch seine Ausbildung, sein Dienen in der osmanischen Armee, sein früheres Sympathisieren mit den Jungtürken oder andere Beziehungen können sein Schicksal abwenden. Gabriel wird ebenso wie andere Armenier (auch seine Frau, die durch die Heirat als Armenierin betrachtet wird) Opfer einer Integritätsverletzung aufgrund seiner Volkszugehörigkeit. Ihnen wird sowohl das Recht aberkannt, als "vollwertiges Mitglied eines Gemeinwesens an deren institutioneller Ordnung gleichberechtigt"(8) zu partizipieren, als auch ihre leibliche Integrität verletzt, d.h. ihnen wird die "freie Verfügung über [ihren] Körper gewaltsam entzogen".(9)
Gabriel bleibt keine andere Wahl, als sich mit dem, wozu er gemacht wird, zu identifizieren. Carolin Emcke, die sich u.a. mit diesem Phänomen in ihrer Arbeit zu kollektiven Identitäten beschäftigt, zitiert Hannah Arendt: "Man kann sich nur als das wehren, als das man angegriffen worden ist."(10) Emcke unterscheidet zwischen "intentionaler, aktiver Reproduktion" von Praktiken und Bedeutungen, die ein Kollektiv teilt, und einer "passiven, erzwungenen, externen Reproduktion" einer kollektiven Identität.(11) Im Sinne Manuell Castells kann im Fall der Armenier von einer resistance identity gesprochen werden: resistance identities werden aufgebaut, wenn die eigene Person oder Gemeinschaft von der dominanten Gruppe stigmatisiert wird:
"Resistance identity [is] generated by those actors that are in positions/conditions devalued and/or stigmatized by the logic of domination, thus building trenches of resistance and survival on the basis of principles different from, or opposed to, those permeating the institutions of society (12).
Gabriel Bagradians Integrität ist genauso gefährdet wie die seines Volkes. Um sie dennoch wahren zu können, d.h. um die Autonomie und eigene Handlungsfähigkeit bis zum Ende zu verteidigen, entschließen sich die Musa Daghler zu kämpfen. Sie widersetzen sich aktiv dem Deportationsbefehl, anstatt sich vollkommen fremd bestimmen zu lassen. Gabriels Identität wird ihm zwar aufgezwungen, er ist aber bis zu seinem Tode darum bemüht, um seine Integrität zu kämpfen - nicht um seine Identität. Das ist ein Unterschied, der in Identitätsdebatten oft übersehen wird. Die Identität wird je nach Art des Feindbilds oktroyiert. Daraus resultiert die Schwierigkeit sowohl für als auch gegen die eigene Identität eintreten zu mFCssen. Dies relativiert die Rassenmetaphorik, lässt den Protagonisten - anders als Sascha bei Senocak - aber auch zu deren Opfer werden.
Dadurch, dass Gabriel zum Feindbild stilisiert wird, hat auch er einen klaren Feind vor sich (nämlich seine ehemaligen Verbündeten, die Jungtürken). Die Rassen- und Blutmetaphorik des Romans, die Polarisierungen von Europa und Orient haben darin ihre Begründung. Da wird "das angeborene Talent des armenischen Volkes" gelobt (MD 70) und konstatiert, dass aus Juliettes Freude an der Gartenarbeit ihr "Väterblut" spreche: "Steckt nicht in jedem Franzosen ein erblicher Gärtner und Obstzüchter?" Immer wieder wird Rekurs auf physiognomische Merkmale genommen, die als Rassenzeichen charakterisiert werden. Die "großen Augen", die mit der Geschichte des armenischen Volkes verbunden werden, sind das eklatanteste Beispiel.(13) "Armenieraugen sind fast immer groß, schreckensgroß von tausendjährigen Schmerz-Gesichten" (MD 76). Die Augen habe Stephan vom Vater, während die von der Mutter geerbte "spitze, schmale Nase" "fremd" sei. Im Bazar erscheinen Gabriel die armenischen Händler fremd(14), und er fragt sich, was er mit ihnen zu tun habe, "er, der noch vor wenigen Monaten im Bois spazierenfuhr, die Vorlesungen Bergsons besuchte, Gespräche über Bücher führte und in preziösen Kunstzeitschriften veröffentlichte" (MD 46). Wenig später zählt er sich zu einer Gemeinschaft mit denselben: "Was sind wir nur für ein Volk, daß wir alles schweigend hinnehmen?" (MD 46) [Hervorhebung Y.D.]. Kritik an dieser Rassenmetaphorik ist durchaus berechtigt, denn während angeprangert wird, dass die Jungtürken sich den Armeniern überlegen fühlen und von nationalistischen Gefühlen getrieben handeln, wird die 'Armenierrasse' selber als überlegen gepriesen.
Die Hinwendung zum Armeniertum und die Abwendung vom Europäertum - die im Musa Dagh als Wurzel von Nationalismus und Atheismus betrachtet wird(15), aktualisiert sich in der Entfremdung von Gabriel und Juliette. Gabriel meint, dass Juliette ihn nicht verstehen könne:
"Was sich tatsächlich verändert hat, ist vielleicht sehr wenig. Aber das kommt plötzlich wie ein Wüstensturm. Die Väter in mir, die namenlos gelitten haben, spüren es. Der ganze Lebensstoff spürt es. Nein, das kannst du nicht begreifen, Juliette. Wer niemals um seiner Rasse willen gehaßt worden ist, kann das nicht verstehen." (MD 67)
Verstanden fühlt sich Gabriel von der Armenierin Ishuki, mit der ihn eine platonische Liebe verbindet - auch hierin lässt sich die Blutmetaphorik erkennen: Gabriel und Ishuki sind ,vom gleichen Blut'. Eine körperliche Verbindung wäre deswegen inzestuös.(16)
Phantasien dieser Art erübrigen sich unter der Annahme einer reflektierten, lebbaren Mehrfachzugehörigkeit. Abgesehen davon gibt es zwischen dem Musa Dagh und der Gefährlichen Verwandtschaft aber auch noch den Unterschied der temporalen Distanzierung.
Im Fall der Gefährlichen Verwandtschaft ist der Holocaust bereits in die Geschichte ein- und Sascha Muhteschem als komplexes Produkt aus dieser hervorgegangen. Seine Mutter, Deutsch-Jüdin, lernt den türkischen Vater im Istanbuler Exil kennen. Nach dem Krieg zieht die Familie nach Deutschland, wo Sascha ,deutsch' erzogen wird - das heißt, er bekommt keinen Kontakt zu jüdischer oder türkischer Kultur und Sprache. Nach dem Fall der Mauer, so Saschas Beobachtung, beginnt seine Umgebung Probleme damit zu haben, dass Sascha "keine Identität" im Sinne einer klaren Zugehörigkeit habe. In die gleiche Zeit fällt der Antritt des Erbes der Tagebücher des Großvaters, der 1915 ein Verantwortlicher bei der Erstellung von Deportationslisten war. Sascha beginnt sich mit dieser Vergangenheit und der Übertragbarkeit von Schuld auseinander zu setzen. Ganz im Gegensatz zu Gabriel Bagradian, dem nichts anderes übrig bleibt als zu akzeptieren, dass in ihm vor allem der Armenier gesehen wird, entscheidet Sascha sich aus freien Stücken für die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten seiner Vergangenheit. Der Repräsentation der jüdischen Opferseite steht er kritisch gegenüber, und er kann sich mit denjenigen, die "aus ihrer jüdischen Identität einen Beruf" machen (GV 60), nicht identifizieren:
"Sie redeten. Das Gewissen der Deutschen musste immer ansprechbar bleiben und belastet werden. Sie reisten von Gedenkort zu Gedenkort, hielten Reden, sammelten Menschen um sich. Erinnerung war die Lingua franca, die sie alle verband." (GV 60)
Und dennoch lässt Sascha sich von dem Identifikationswahn, der nach der Öffnung der Mauer im wiedervereinigten Deutschland ausgebrochen zu sein scheint, einholen und erkennt einen Weg des Wieder-Dazugehörens zur deutschen Gesellschaft in der Auseinandersetzung mit dem Schuldkomplex. Dies ist ein durchaus ironischer Zugang, was in der Forschung leider oft übersehen wird. Nur als Teilhaber am Schuldkomplex, so glaubt er, wird er in der deutschen Gesellschaft als gleichwertiges Mitglied geachtet und wird im Sinne Honneths seine Integrität gewahrt. Honneth nennt als dritte Form der Integritätsverletzung die Herabwürdigung bestimmter Lebensweisen. Die Mehrfachzugehörigkeit ohne einschränkende P (arteinahme wäre, folgt man der Gefährlichen Verwandtschaft, eine solche Lebensweise.(17)
Wofür er sich entscheidet, steht Sascha frei, entscheiden muss er sich aber. Dieses Verhalten deckt sich mit Anthony Giddens' Beobachtung bezüglich des modernen Menschen. Die einzige Wahl, die modernen Individuen verwehrt bleibe, sei die, nicht zu wählen: "in conditions of high modernity, we all not only follow lifestyles, but in an important sense are forced to do so - we have no choice but to choose."(18) Die getroffenen Entscheidungen seien gleichzeitig eine Entscheidung darüber, wer man sein wolle:
All such choices [...] are decisions not only about how to act but who to be. The more post-traditional the settings in which an individual moves, the more lifestyle concerns the very core of self-identity, its making and remaking.(19)
Sascha selbst ist es, der seine Identität manipuliert:
"Ich muss mich für nichts entschuldigen, ich kam später dazu. Ich bin nichts Ganzes. Mir fehlt eine Hälfte, um für ganz genommen zu werden. Ich ersetze die andere Hälfte mit einer prothesenartigen Identität, etwas Geborgtem, das ich je nach Zeit und Ort wechseln kann." (GV121)
Beispielsweise kauft Sascha alten Damen Dokumente aus der Nazizeit ab und täuscht dabei einen nationalsozialistischen Hintergrund vor.
Senocak spielt mit den Möglichkeiten, die neuere Theoriediskussionen eröffnen. Ihm geht es um das Spiel mit Identitäten, die Darstellbarkeit von Geschichte, den Zusammenhang von Rekonstruieren und Erfinden. Der Autor selbst spricht sich gegen das Verallgemeinern von individuellen Positionen und persönlichen Geschichten aus. Senocak kritisiert, dass "aus persönlichen Biographien Gruppenidentitäten konstruiert [werden], die keineswegs mit der Wirklichkeit, mit unserer komplexen Wirklichkeit korrespondieren, bestenfalls holzschnittartige Vereinfachungen dieser Wirklichkeit sind"(20). Die Besonderheit jeder Individualbiographie müsse beachtet werden.(21)
Sascha könne man schwer "einstufen, einkasteln oder eingrenzen"(22). Diese Kritik muss übrigens auch als Kritik an den vielfachen Kategorisierungsversuchen Senocaks als türkischer, deutscher oder aber Migrationsautor gelesen werden.
Katharina Hall sieht in der Hervorhebung der Individualbiographie von Sascha Muhteschem gerade eine Stellungnahme gegen Essentialisierung. Sascha stehe nicht stellvertretend für eine Gruppe, die Gefährliche Verwandtschaft verwehre sich gerade einer solchen Leseweise. Brunner stellt in seiner Dissertation aus dem Jahre 1955 in Bezug auf den Musa Dagh eine gegensätzliche Beobachtung auf:
"Die Massen der Armenier und Türken, die im historischen Dokument lediglich in der Abstraktion eines mehrstelligen Zahlbegriffs figurieren, müssen gestaltet, veranschaulicht werden. Werfel [...] individualisiert und differenziert einen begrenzten, überschaubaren Teil und substituiert ihn für das Ganze. Er lässt das Schicksal der Massen sich im Schicksal einer Einzelperson spiegeln, die eingehend profiliert wird. Er erzählt das Kollektivschicksal der armenischen Dorfschaften an Hand einiger Einzelschicksale."(23)
Diese Erklärung scheint für den Musa Dagh zuzutreffen. Dass in einem Fall das Individuum stellvertretend für ein Kollektiv gesehen wird und im anderen gerade die Individualität betont und eine Verallgemeinerung abgelehnt wird, ist typisch für die Entstehungszeit der Romane.
Die Gefährliche Verwandtschaft, ebenso wie der
Musa Dagh, verbinden - ganz im Sinne dieser Konferenz -
Kulturen, in dem sie die historischen Querverbindungen zwischen
diesen aufzeigen: Deutsch-türkische Kollaboration im Ersten
Weltkrieg, jüdisches Exil in der Türkei im Zweiten Weltkrieg
und Parallelen in der Verfolgung von Minderheiten. Insofern sind
sie "touching tales", um mit Leslie Adelsons Worten
zu sprechen.(24) Sascha
Muhteschem spiegelt nicht nur ein modernes Kosmopolitendasein,
er ist auch ein Produkt historischer Verbindungen, was sich nicht
zuletzt in der bikulturellen Ehe mit seiner deutschen Frau Marie
zeigt. Aber auch diese Verbindung scheitert ähnlich wie die
Gabriel Bagradians. Der Grund liegt in diesem Falle nicht in der
unterschiedlichen Herkunft der Partner, sondern in ihrer Arbeitsweise.
Während Marie an einer Dokumentation über Talat Pascha
- einem der Hauptverantwortlichen bei den Deportationen - arbeitet,
will Sascha die Geschichte seines Großvaters, der Deportationslisten
aufgestellt hat, neu erfinden. Ähnliches widerfährt
den Protagonisten also in ihren Partnerschaften, aber in den Gründen
für die Entfremdung der Paare spiegelt sich die Entstehungszeit
der Romane. Die vierzig Tage des Musa Dagh entstanden in
der Gründungszeit weiterer Nationalstaaten, die Gefährliche
Verwandtschaft zu einer Zeit, als bereits ihr Ende beschworen
wurde. Die Gefährliche Verwandtschaft wird zur Väterliteratur,
neuerdings sogar zum Genre der Großväterliteratur(25) gezählt, weil sie
sich mit der Übertragbarkeit von Schuld auf die Nachkommen
der Täter beschäftigt. Und sie stellt - im Bewusstsein
der postmodernen Debatten - die Darstellbarkeit von Geschichte
in Frage(26): auf gewisse
Weise also auch den Musa Dagh, der ein historischer Roman
ist. Der Musa Dagh ist trotz seines antinationalistischen
Projekts ein Kind seiner Zeit so wie es auch die Gefährliche
Verwandtschaft ist. Individuen kämpften und kämpfen
aufgrund ihrer Zugehörigkeit bzw. Nichtzugehörigkeit
zu bestimmten Gruppen zu allen Zeiten um ihre Integrität.
Die beiden hier behandelten Romane weisen darüber hinaus
auf shared histories(27)
und gemeinsame, teilweise unentwirrbare Wurzeln hin. Das Augenmerk
auf diese Verbindungen zu richten, kann von der Fixierung auf
oktroyierte Identitäten ab- und auf die integrale Behandlung
von kulturell komplexen Individuen hinlenken.
© Yasemin Dayioglu-Yücel (Göttingen)
ANMERKUNGEN
(1) Franz Werfel: Die vierzig Tage des Musa Dagh. Frankfurt/Main: Büchergilde Gutenberg, 1990.
(2) Edgar Hilsenrath: Das Märchen vom letzten Gedanken. München: Piper, 1989. Für einen Vergleich mit Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh siehe: Norbert Otto Eke: Planziel Vernichtung. Zwei Versuche über das Unfaßbare des Völkermords: Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933) und Edgar Hilsenraths Das Märchen von letzten Gedanken (1989). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997) H.4. S. 701-723.
(3) Zafer Senocak : Gefährliche Verwandtschaft. München: Babel, 1998.
(4) So der Titel von Kirbys Untersuchung zu Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh: Rachel Kirby: The Culturally Complex Individual. Franz Werfel's Reflections on Minority Identity and Historical Depiction in The Forty Days of Musa Dagh. Cranbury: Associated University Press, 1999.
(5) Vgl. Lionel Abel in "The Nation", CXXXIX, 12. Dezember 1934: "Werfel ... pits against the mechanized nationalism of the Turks a mystic nationalism, a call of the blood, an inexplicable union with race and God. Gabriel Bagradian becomes symbolic of the symbolic nationalism of which Werfel approves. So that the issues of the contemporary world find their way into this ,incomprehensible' story of the Armenian nation, and thus found, have a confused, contradictory, and reactionary form ... Any celebration of race ... is bound to have a confusing and finally a reactionary effect."
(6) Als ausführlichste Arbeit, auf die sich die Forschung bezieht, ist die von Schulze-Behrend zu nennen: George Schulze-Behrend: Sources and Background of Werfel's Die Vierzig Tage des Musa Dagh. In: Germanic Review 26 (1951) H. 2. S. 111-123.
(7) Vgl. Damian Cox, Marguerite La Caze und Michael Levine: Integrity. In: Edward N. Zalta (Hg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Sommer 2001.
(8) Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994. S. 215f.
(9) Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 214.
(10) Zitiert in Carolin Emcke: Kollektive Identitäten. Sozialphilosophische Grundlagen. Frankfurt/New York: Campus, 2000. S. 240.
(11) Vgl. Emcke: Kollektive Identitäten. S. 18. Vertreter für die erste Position seien Rawls, Kymlicka und Taylor, für die zweite werden Sartre, Young und Foucault genannt.
(12) Manuel Castells: The power of identity. Cambridge: Blackwell, 1997. S. 8.
(13) Vgl. auch Werfel. S. 38: "ein echtes Armeniergesicht".
(14) Vgl. Werfel. S. 32.
(15) Im Roman wird dieses Thema von Agha Rifat Bey angesprochen, der den aus Europa importierten Atheismus und Nationalismus als Grund für den Krieg und die Probleme des türkischen Reiches interpretiert. Vgl. Werfel, S. 39.
(16) "Vielleicht war es die unbekannte Liebe der Blutsverwandtschaft, die ihn durch Ishukis Blick wie ein mystisches Quellwasser erquickte, nicht der Wunsch, eins zu werden in der Zukunft, sondern die Gewißheit, in der Vergangenheit eins gewesen zu sein." (MD 94). Vgl. dazu auch Franz Brunner: Franz Werfel als Erzähler. Zürich: Buchdruckerei Neue Zürcher Zeitung, 1955. S. 92.
(17) Vgl. Honneth: Kampf um Anerkennung. S. 217.
(18) Anthony Giddens: Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age. Cambridge: Polity Press, 1991. S. 81.
(19) Giddens: Modernity and Self-Identity. S. 81.
(20) Zafer Senocak : Zungenentfernungen. Bericht aus der Quarantänestation. München: Babel, 2001. S. 47.
(21) Ebenfalls in diesem Sinne liest Katharina Gerstenberger die Gefährliche Verwandtschaft. Vgl.: Katharina Gerstenberger: Difficult Stories: Generation, Genealogy, Gender in Zafer Senocak 's Gefährliche Verwandtschaft and Monika Maron's Pawels' Briefe. In: Stuart Taberner (Hg.): Recasting Identity in Contemporary Germany. Columbia: Camden House, 2002.
(22) Senocak, zitiert in Katharina Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Senocak 's Gefährliche Verwandtschaft. In: German Life and Letters 56 (2001) H. 1. S. 75.
(23) Brunner: Franz Werfel als Erzähler. S. 91f.
(24) Vgl. Leslie Adelson: Touching Tales of Turks, Germans, and Jews: Cultural Alterity, Historical Narrative, and Literary Riddles for the 1990s. In: New German Critique 80 (2000).
(25) Vgl. Hall: Turkish, Jewish and German Identity in Zafer Senocak's Gefährliche Verwandtschaft. S. 80. Zur Großväterliteratur zählt Hall neben der Gefährlichen Verwandtschaft Werke wie Gert Hofmanns Der Kinoerzähler und Rachel Seifferts The Dark Room.
(26) Vgl. zu diesem Komplex Kerwin Lee Klein: On the Emergence of Memory Discourse. In: Representations 69 (2000).
(27) Vgl. Horst Turk: Philologische Grenzgänge. Zum Cultural Turn in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003. S. 234ff.
3.1. Exil und Migration | Exile and Migration | Exil et migration
Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections
Inhalt | Table of Contents | Contenu 15 Nr.
For quotation purposes:
Yasemin Dayioglu-Yücel (Göttingen): Kulturelle Komplexität
und Integrität: Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh
und Zafer Senocaks Gefährliche Verwandtschaft im Vergleich.
In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/03_1/dayioglu15.htm