Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | August 2004 | |
3.7. In/visible communities
at and across borders Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Axel Borsdorf [BIO] und Vera Mayer (Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien und Universität Innsbruck)
Seit Jahrzehnten findet Städtewachstum nicht mehr in den Kernstädten statt, sondern in den Außenzonen. Im Rahmen dieses Prozesses werden heute nicht mehr - wie noch zu Beginn der sogenannten "Suburbanisierung" - nur Wohnfunktionen von der Innenstadt an den Stadtrand verlagert. Längst hat die zentripetale Funktionswanderung auch den sekundären Sektor, insbesondere aber den hochrangigen tertiären und quartären Wirtschaftssektor erfasst. In den städtischen Randzonen entstehen Einkaufszentren, Büroquartiere und Industrieparks, und viele Bewohner von Randgemeinden großer Städte suchen die Kernstadtbereiche - einstmals Areale höchster "Zentralität" - nur noch selten auf. Sie arbeiten, versorgen, bilden und erholen sich innerhalb der Randzonen der Städte. Diese Zonen sind nicht mehr als "suburban" zu bezeichnen. Als strukturstarke Standorte treten "periphere" Funktionseinheiten in Konkurrenz zu den traditionellen Einrichtungen, woraus eine Schwächung der gewachsenen, durch ein Kern-Rand-Gefälle gekennzeichneten Siedlungsstrukturen resultiert. Die traditionellen räumlichen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Stadt und Land verlieren ihre Gültigkeit.
Mit einer Vielzahl an Begriffen haben Forscher versucht, die neuen funktionalen und physiognomischen Raumeinheiten am Rand europäischer Städte zu kennzeichnen. Neben dem Begriff Suburbanisierung sind es Begriffe wie Peripherie, Stadtumland, Stadtrand, Outskirts, periurbaner Raum, Urban Sprawl, Stadtland, Urbanscape, Netzstadt, Patchwork-Stadt und nicht zuletzt der laut Priebs (2001: 7 f.) "terminologische shooting star" der letzten Jahre, der Begriff "Zwischenstadt", der auf Sieverts (1999) zurückgeht. Neuerlich macht ihm ein weiterer aus Amerika übernommener Terminus, die "Postsuburbia", Konkurrenz.
Im amerikanischen Diskurs finden wir dennoch die meisten und vielfältigsten Bezeichnungen für die neuen metropolitanen Regionen ("multinucleated metropolitan region"). Alan A. Loomis (1999) listet für die neuen Raumeinheiten am Rande amerikanischer Städte insgesamt mehr als 50 Grundbegriffe auf. Diese Bezeichnungen bieten sich für die Analyse und Charakterisierung der Randzonen direkt an. Es befinden sich darunter zunächst Begriffe, die auf die räumlich-funktionalen Charakteristika - auf das Verhältnis zwischen Kernstadt und Randzonen sowie auf die neuen Qualitäten von Randzonen - hinweisen, wie z.B. die Ausdrücke Suburban Cities, Suburban Downtowns, Urban Cores, Edge Cities, Outer Cities, Outtown, Centerless Cities, Peripheral Cities, Perimeter Cities und Antipolis. Auf die Vermischung städtischer und ländlicher Phänomene und neue Qualitäten dieser Räume zwischen Stadt und Land weisen Begriffe wie Urban Villages, Middle Landscapes oder Semi Cities hin. Der Begriff Urban Villages ruft dabei Howards Konzept der Gartenstadt in Erinnerung.
Mehrere Begriffe bringen soziokulturelle Charakteristiken der neuen Raumeinheiten zum Ausdruck. Ein beinahe poetischer Begriff "City Of Realms" deutet auf den Reichtum der Randzonen hin, wo wohlhabende Bevölkerungsschichten wohnen und sich florierende Industrien, Dienstleistungsunternehmen und exklusive Shopping Malls befinden. Im Deutschen ist hierfür der Begriff "Speckgürtel" geprägt worden. Die Randzonen sind gewiss Orte, in denen die neuesten Technologien, Industrien und Dienstleistungen angesiedelt sind: Satellite Sprawl, Technoburbia, Silicon Landscapes und Service Cities.
Die Randzonen entwickeln sich sehr dynamisch. In diesem zukunftsträchtigen Raum entsteht stets etwas Neues: New Cities (britisch New Towns), Tomorrowland, Growth Corridors. Die Mobilität spielt dabei eine wichtige Rolle: Mobility Cities. Der Ausdruck McUrbia ist ein Inbegriff für die kulturellen Verhaltensmuster und Essgewohnheiten der jungen Generation, die gerne die neuen Freizeit-, Einkaufs- und Unterhaltungszentren am Stadrand (Mega Centers) frequentiert. Der "fetzige" Ausdruck "pepperoni-pizza cities" für "multi-nucleated metropolitan regions" deutet auf die einer belegten Pizza ähnliche Fragmentstruktur der neuen Kulturlandschaften hin.
Diese Vielzahl der Begriffe in den USA, verglichen mit den zwar auch zahlreichen, im Vergleich jedoch weniger vielfältigen Termini im deutschsprachigen Raum ist ein Hinweis auf die räumlich, quantitativ und qualitativ unterschiedlichen Stadien und Qualitäten dieser Stadtentwicklungsprozesse in Nordamerika und Europa, auf ihre unterschiedliche Wahrnehmung durch die Gesellschaft und durch die Forschung. Eine unkritische Übernahme der für amerikanische Entwicklungen geschaffenen Terminologie wird daher als problematisch angesehen (Burdack & Herfert 1998). Für Priebs (2001: 7 f.) bleibt z.B. die Frage offen, ob und in welchem Ausmaß die "Amerikanisierung unserer Siedlungsstruktur" stattfinden wird. Kann man die Randzonen österreichischer Städte bereits als "Edge Cities" bezeichnen? Diese Frage muss noch verneint werden, wenn man der Definition von Garreau (1992) folgt. Dennoch: Ein wichtiges Kennzeichen der nordamerikanischen Entwicklung kann im Wiener Umland bereits beobachtet werden, da dort nämlich Edge-City-typisch junge, neue Unternehmen aus dem Boden sprießen. Die Suburbanisierung war dagegen noch durch Betriebsverlagerungen aus der Kernstadt in die Randzonen charakterisiert. Die Größenordnungen nordamerikanischer Edge Cities werden freilich noch lange nicht erreicht. Diese weisen mindestens 465.000 m² Bürofläche, 56.000 m² Einzelhandelsfläche und 24.000 Arbeitsplätze auf, wobei diese die Zahl der am Ort wohnenden Personen übersteigen. Die zwei Gebäudekomplexe des neuen Büroparks in Brunn am Gebirge - Campus21 - weisen z.B. nur eine Fläche von 51.500 m² auf, in die nicht nur die Büros, sondern auch Archive, Geschäfte, Gastronomie, Werkstätten, Ausstellungsräume und Parkdecks eingeschlossen sind (CAMPUS 21 2004). Andererseits übertrifft die GLA (General Leaded Area) der Vösendorfer Shopping City Süd die Vorgabe der Edge-City-Definition bereits.
Wie viele andere auch ist Priebs der Meinung, dass Europa und Deutschland noch ein gutes Stück von nordamerikanischen Raummustern entfernt seien. "Anders als in den Randzonen vieler amerikanischer Städte, hat schon die klassische Suburbanisierung nicht auf einer freien Fläche stattgefunden, sondern hat die bestehenden Siedlungen überformt, zumindest teilweise aber auch deren Individualität erhalten. Dadurch ist der suburbane Raum in den europäischen Städten viel differenzierter struktuiert und weist ein breites Spektrum selbstbewusster Kommunen auf, deren Schicksal allerdings - und das halte ich für entscheidend - eng mit demjenigen der Kernstädte verknüpft ist" (Priebs 2001: 7 f.).
Die vielfältigen Bezeichnungen sind auch ein Hinweis darauf, dass die Kulturlandschaften in den städtischen Randgebieten in ihrer Komplexität sehr schwer erfassbar sind, unter anderem auch deswegen, weil sie sich in einem permanenten, intensiven Umwandlungsprozess befinden. Während viele der nordamerikanischen Termini eine eher positive Bewertung dieser Entwicklungen vermitteln, werden die veränderten Qualitäten in den Randzonen europäischer Städte - die dort die vorhandenen räumlichen Strukturen und Lebenswelten überlappen und verdrängen - immer noch als problematisch angesehen. Diese Entwicklungen werden oft als Verlust an Lebenswelten, aber auch als eine Einbuße an Lebensqualität empfunden. Der Raum zwischen Stadt und Land - früher als "Umland" der Städte bezeichnet - bleibt für viele daher nur schwer verständlich. Die Vermischung des Städtischen und des Ländlichen - der Einfamilienhaussiedlungen mit den Shopping Malls und alten Dorfkernen, Autobahnen und Alleen, Gewerbe- bzw. Büroparks und landwirtschaftlichen Flächen, Golfanlagen und Weingärten, Villen und Bauernhöfen, von Flughafen und Bahnstationen, Bade- und Ziegelteichen, grasenden Kühen und jugendlichen Scatern, Erlebnisparks und Schutzgebieten, inszenierten Wohnwelten und Authentizität - dies alles ist nicht überschaubar und wird daher als chaotisch empfunden. Es verwundert kaum, dass diesem Phänomen daher auch unter Zugrundelegung chaostheoretischer Ansätze (Frankhauser 2003) nachgegangen wird. Scheinbares Chaos, Unübersichtlichkeit, Mischstrukturen und Unausgewogenheit prägen die Kulturlandschaft in den Randzonen und verursachen bei manchen Zeitgenossen schieres Unbehagen. Der schon alte Begriff vom "urban sprawl" bringt diese Wucherungen am Ortsrand treffend zum Ausdruck. Im Laufe der Zeit hat diese Bezeichnung eine negative Konnotation erfahren und wird daher heute in der ernsthaften Diskussion immer weniger verwendet.
Welche Auswirkungen haben diese Entwicklungsprozesse auf die Lebensstile der Bewohner? Oder, anders gefragt: Wie haben die sich wandelnden Lebensstile der Menschen die Kulturlandschaft im Stadt-Land-Verbund verändert? Noch fällt es schwer, sachliche Antworten auf diese Fragen zu finden. Vielfach schleichen sich tradierte Wertungen ein. So meint Fischer (2001: 35) etwa, dass "die Verländlichung der Stadt und die Verstädterung des Landes einen neuen Bürger hervorgebracht haben. Mit Zweitwohnsitz und Drittarbeitsplatz, ein nomadisierter Bürger, der die dörfliche Beschaulichkeit und großstädtische Betriebsamkeit gleichzeitig sucht und sich dabei eingebunden weiß in ein globales Netzwerk von Informationsströmen und Kommunikationslinien. Die Auflösung von Arbeitszeit und Freizeit hat die Einfamilienhausweiden und Gewerbegebietswüsten ununterscheidbar gemacht, der anästhetische Zeitgeist erfreut sich mittlerweile an dem allgegenwärtigen Vorstadt-Chaos. Es gilt nicht nur ,big is better', mehr noch: ,brutto è bello'." Die Lust an Kulturkritik im Sinne des "Untergangs des Abendlandes" ist bei vielen Autoren tief verwurzelt.
"Einzelhausweiden und Gewerbegebietswüsten" - der Ideologiegehalt wird allein schon aus den nicht stimmigen Metaphern deutlich. Ganz anders die in der Schweiz entwickelte Terminologie der "UFOs", "Clones", "Ribbons" und der DNA-Analyse (vgl. Schumacher & Koch 2004). Die postmoderne Terminologie wird offenbar dem Gegenstand gerechter als die aggressive Wortwahl von Traditionalisten, die der Moderne verpflichtet sind.
Prigge (1998: 96) spricht in diesem Zusammenhang von der Banalität des Peripheren. Das moderne Alltagsleben in der Peripherie ist zerstreut in Raum und Zeit, zwischen "Neuer Heimat, U-Bahn, City und zurück". Er sieht aber diese Gegensätze, die "fragmentierte Vielfalt städtischer und ländlicher Lebenswelten" als eine neue "zweite Chance, die Moderne im Städtischen zu transformieren". Um konkrete Visionen der "Stadt von morgen" am Stadtrand freizusetzen, darf weder den Leitbildern der Investoren noch jenen der Ökologie blindlings gefolgt werden. Bei diesem Autor begegnet uns ein weiteres typisches Phänomen in der Bewertung der "Postsuburbia": Kritiksucht und Kritikscheu verbinden sich zu einem Konvolut schwer verständlicher Substantive, die einer kritischen Sprachanalyse kaum standhalten. Für eine ausgewogene und nüchterne Bewertung scheint es - das zeigen diese wenigen Beispiele - noch zu früh zu sein. Dies kann kaum verwundern, da es noch keineswegs ausgemacht ist, ob die Moderne bereits von der Postmoderne abgelöst wurde oder - wie Prigge meint - immer noch als solche transformierbar sei.
So bleibt auch die Frage noch offen, ob die Innovationsträger, die diese neuen Strukturen der Zwischenstadt schaffen, sich der Handlungsfolgen bewusst und auch bereit sind, sich dazu zu bekennen.
Allerdings bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Akteure dazu bereit sind, sich am Stadtrand zu dieser neuen Urbanität zu bekennen. Steiner (1998: 14) formuliert in diesem Zusammenhang: "Die Peripherie wurde zum Topos des ,modernen Begehrens'. In Wahrheit ist das, was als Peripherie bezeichnet wird, längst die alltägliche Lebenswirklichkeit der Mehrheit der Europäer". Man könnte hinzufügen: Es ist nur fraglich, ob ihnen das auch bereits bewusst ist
Für die Wahrnehmung der Randgebiete war bis in die 1980er Jahre charakteristisch, dass das Stadtumland als ein vom Stadtkern abhängiger Raumkörper angesehen wurde. Das Umland als ein Anhängsel der Stadt, ein Ausweichort für Industrie, Handel und Wohnen, ein Freizeit-und Erholungsquartier für die geplagten Städter. Trotz seiner scheinbaren Abhängigkeit hat dieser Raum zugleich aber auch von der Stadtnähe profitiert, sei es als Zulieferer von Lebensmitteln und frischem Gemüse für die Stadt, durch die Entstehung neuer Arbeitsplätze, durch Baulandspekulation oder durch sozioökonomisches Upgrading.
Die einseitige Perspektive aus der Sicht der Stadt prägte auch die Perzeption der Wissenschaft. Als sich die Erkenntnis durchsetzte, dass der einstige Stadt-Land-Gegensatz (Dichotomie) aufgelöst war, sprach man vom Stadt-Land-Kontinuum, das gleichwohl durch Analysemodelle in Ringe unterschiedlicher Dichte, Funktionalität und Verflechtung - also Hierarchiesysteme - gegliedert wurde (in Deutschland und Österreich beispielsweise im Modell der Stadtregion). Auch wurden Stadt-Land-Modelle ausgearbeitet, die die Übernahme städtischer Muster (kulturelle Phänomene, Bau- und Wohnformen, Bekleidung) im ländlichen Raum abbildeten. In den Kulturwissenschaften hat die Diffusionsforschung der städtischen, bürgerlichen Kultur die Rolle des Innovators eingeräumt und die ländliche Kultur aufgrund der Übernahme diverser bürgerlicher Kulturmuster lediglich als eine rezipierende Kultur verstanden. Die These vom "Ende des alten Dorfes" (Wehling 1980) ist ja nicht per se falsch, wohl aber der Umkehrschluss von der Ursurpation durch das Städtische. Dies müsste längst klar geworden sein, als Forscher mit kaum verhohlenem Entsetzen das Phänomen schrumpfender Städte (shrinking cities) und städtischer Krater (urban craters) wahrnahmen.
Die Frage, ob das Umland nicht doch eine eigene Identität besitzt, als Träger von Innovationen wirken könnte oder gar einen der Gegenwart angepassten Lebenstil ermöglicht, der sich zumindest in der Gegenwart als durchsetzungsstärker erweist als der von Dorf- und Stadtenthusiasten propagierte Siegeszug des Urbanen, wurde dagegen selten diskutiert. Lediglich im Rahmen des Regulationsansatzes wird die großstädtische Peripherie als ein dynamischer, innovativer Ort behandelt (Burdack & Herfert 1998). Ursache für die wissenschaftliche Vernachlässigung der kulturellen Wertigkeit der urbanen Peripherie ist vermutlich die noch unzureichend entwickelte Identifikation der Bewohner mit ihrem Wohnumfeld. Das städtische Umland hat nie versucht, sich als ein eigenständiger Raumkörper zu deklarieren, zu stark unterschiedlich waren und sind die Interessen einzelner Randgemeinden. Erst im Zuge neuer Regionalisierungstendenzen werden etwa auch im Umland von Wien neue Formen der Zusammenarbeit zwischen den benachbarten Kommunen initiiert. Als Gegentrend zu den Globalisierungstendenzen und teils infolge der EU-Regionalpolitik entwickelt sich dort langsam ein neues regionales Selbstbewusstsein. Die Hegemonie der großen Zentren gibt es nicht mehr. Neue Impulse können heute überall entstehen - auch in der Peripherie. Vielfach ist gar zu beobachten, dass diese Impulse in erster Linie von dort kommen: Neue Geschäftsideen, innovative Branchen, die Avantgarde der Kunst, das Aufkommen neuer Lebensstile - das sind vielfach nicht mehr Kennzeichen des urbanen Kerns, sondern der multifunktionalen postsuburbanen Peripherie.
Aus all diesen Gründen haben Stadtrandgebiete in der Stadtforschung heute Konjunktur. Noch stehen einander ideologische Lager gegenüber: Stadtromantiker und Arkadienjünger, Anti- und Philoamerikaner, Traditionalisten und (Post)modernisten. Die Argumente kommen vielfach aus dem gleichen zwar ebenfalls ideologisch besetzten, aber gleichwohl von allen akzeptierten Reservoir: Die einen argumentieren mit Landverbrauch und hohen Mobilitätskosten, die anderen mit der ökologischen Durchlässigkeit und der reduzierten Mobilität. Es bleibt zu hoffen, dass über kurz oder lang auch die Menschen, ihre Bedürfnisse, Hoffnungen, Träume, ihre Handlungsspielräume und Raummuster ins Zentrum des Interesses rücken und Ideologien durch Humanismus abgelöst werden.
Noch existiert kein allgemein anerkanntes, konsistentes theoretisches Gerüst für die Erfassung der Entwicklungen in städtischen Randgebieten. Dies zeigt nicht zuletzt die Tatsache einer enormen Begriffsvielfalt in den diversen Definitionsversuchen. Im Folgenden wird die Bezeichnung "Randgebiete" verwendet, wobei das Präfix ausschließlich auf die Lage, nicht aber auf funktionale Verflechtungen zu den Kernstädten abzielt. Eine COST-Aktion (C 10), die dieses Phänomen interdisziplinär und international untersucht hat, bezeichnete die Randzonen der Städte wertneutral als "Outskirts" (vgl. Borsdorf 2004). Als Randzonen bzw. Outskirts, werden gemäß dieser Arbeitsdefinition räumliche Bereiche der Städte bezeichnet, die sich außerhalb der dicht bebauten Kernstadt befinden. Zu den Randzonen gehören daher im Großraum Wien die äußeren Stadterweiterungsgebiete (Teile des 10., 11., 20. bis 23. Bezirks) und das Umland von Wien - die suburbanen Zonen sowie die sich im Umland befindlichen kleineren urbanen Zentren.
Im deutschsprachigen Raum haben sich mit den Randgebieten bisher vor allem die wissenschaftlichen Disziplinen der Geographie, Soziologie und Ökonomie, bezogen auf die wirtschaftlichen Strukturen, die Mobilität und den Verkehr sowie die Einkaufs- und Freizeiteinrichtungen, und dies vor allem im Rahmen der Suburbanisierungsforschung, beschäftigt. Auch die Architektur und Raumplanung setzen sich intensiv mit den Fragen der Peripherie auseinander.
Die Kultur- und Geschichtswissenschaften haben dagegen diesem Thema bisher nur wenig Augenmerk gewidmet. Dies ist umso verwunderlicher, da etwa für die Europäische Ethnologie (Volkskunde) die Regionalisierung der Kulturen zu einem der wichtigsten Forschungsansätze gehört. Die Europäische Ethnologie verabsäumte es aber, die Stadt-Land-Forschungsansätze systematisch zu verfolgen. Die Bemühungen von Wiegelmann (1991), für die Stadt-Land-Problematik ein theoretisches Grundgerüst zu schaffen, wurden nicht weiterentwickelt. Auch die Kulturgeographie hat sich bisher mit den soziokulturellen Phänomenen in den Randzonen kaum beschäftigt.
Die folgenden Beiträge können natürlich die Defizite der Sozial- und Kulturwissenschaften im Rahmen der Erforschung von Randzonen nicht beseitigen. So wird das Ziel bescheidener gesteckt. Es geht um die Überwindung der traditionellen Vorstellungen von "Stadt" und "Land" und um die Entwicklung neuer Forschungsfragen. Typische Fragen lauten daher: Wie steht es um die Kultur in den Randgebieten? Inwiefern determinieren gesellschaftliche und bauliche Entwicklungen neue spezifische Lebensweisen und umgekehrt? Der dabei zugrundegelegte Kulturbegriff beruht auf einer erweiterten Auffassung von Kultur, befreit von der ausschließlichen Gebundenheit an die Spitzenleistungen in Wissenschaft und Kunst sowie an die Institutionen der Kultur und orientiert sich an der breit gefassten Alltagsperspektive. Neu ist das nicht, denn die Kulturgeographie und die Europäische Ethnologie haben ihr Erkenntnisobjekt seit jeher so definiert. Kultur wird demnach als etwas Umfassendes, als "Gesamtheit aller Lebenserscheinungen und Lebensbedingungen" aufgefasst, und es kann kaum verwundern, dass sich Nachbarwissenschaften diesem Konzept annähern (siehe dazu auch Weber 1988; Uhl 2004).
Gesellschaftliche Diversifizierung und Vereinheitlichung, kulturelle Gemeinsamkeit und kulturelle Abgrenzung - dieses zum Teil widersprüchliche Bild ist ein getreues Abbild unserer Gesellschaft und als "Gesamtheit aller Lebenserscheinungen" eben auch ein Abbild der Kultur. Die Randzonen der Städte - das Gebiet zwischen Kernstadt und ländlichem Raum - sind Kulturlandschaft. Und Kulturlandschaft ist nichts anderes als die Materialisation von Geisteshaltung, ist, wenn man so will "geformter Geist" (Schwind 1932). Das provoziert geradezu die Frage, ob die Randzonen neben ihren ökonomischen Qualitäten auch kulturelle entwickeln können? Welche Elemente der räumlichen, sozialen, kulturellen, politischen oder ökonomischen Realität der Randzonen sind identitätsstiftend und sinngebend für die Bewohner? Gibt es Veränderungen der traditionellen Kultur und gehen vielleicht von Kultureinrichtungen der Randgebiete besondere innovative Impulse aus? Ist die Innovation nicht, wie noch Borcherdt (1961) meinte, eine "agrargeographische Regelerscheinung", sondern eine kulturgeographische, deren aktuelle Fruchtbarkeitszellen in den Randzonen liegen? Wie werden regionale Identitäten, Entwurzelungsphänomene und Lebensqualität durch die neuen Entwicklungen beeinflusst?
Die Beiträge der Sektion "Konvergenz und Divergenz der Kulturen in den Randzonen der Städte" spannen in ihrer Annährung an diese Fragestellungen einen weiten Bogen: Nach einer geistig-kulturellen Annährung an die neuen Raumeinheiten am Rand der Städte - die Postsuburbia - durch Axel Borsdorf werden von Christoph Gollner und Hannes Wimmer die neuen Wohnbauvorhaben am Stadtrand von Wien und die Steuerungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand vorgestellt. Der Beitrag von Walter Rohn beschäftigt sich mit den neuen Kultureinrichtungen an der Wiener Peripherie. Von Walter Trübswasser wird der Wandel eines traditionellen Brauchtums in der Umlandgemeinde Perchtoldsdorf analysiert. Hermann Steininger beschäftigt sich mit den zwischenmenschlichen Beziehungen am Beispiel der Interaktion zwischen den "Alteingesessenen" und "zugewanderten Städtern". Dem Wertewandel in ehemaligen Dörfern im Umland von Bratislava (heute ein Teil des Stadtgebiets) ist der Beitrag von Zuzana Beòusková gewidmet.
Die abschließenden Beiträge geben Einblick in das derzeit am Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführte Projekt "Struktur und Dynamik des Wohnwesens im Umland von Wien". Vera Mayer setzt sich mit dem Wandel der Wohnbauformen im Wiener Umland auseinander. Die neue Wohnbauentwicklung und die aktuelle Problematik des Flächenrecyclings werden von Elisabeth Irschik am konkreten Beispiel der Gemeinde Brunn am Gebirge analysiert. Anschließend beschäftigt sich Kurt Raunjak mit der Diskussionskultur bei diversen Bauvorhaben im Umland von Wien.
Der ganze Facettenreichtum der Fragestellung öffnet sich bei der Lektüre der Beiträge. Dennoch bleibt am Ende die Frage nach den Konvergenzen und Divergenzen der Kulturen offen. Dies ist beileibe kein Makel, denn Fragen zu stellen ist wertvoller als Antworten zu geben. Antworten und Patentlösungen - darauf werden wir in Bezug auf die sich immer mehr verselbständigenden Randzonen noch lange warten müssen, und das ist auch gut so. Was "not tut" sind erhellende Forschungen.
Dank gebührt dem Veranstalter der Konferenz, vor allem aber auch allen Referenten. Bedanken wollen wir uns auch bei Herrn Josef Kohlbacher für das Lektorat und Elisabeth Irschik für die Mitarbeit an der Redaktion.
© Axel Borsdorf und Vera Mayer (Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien und Universität Innsbruck)
LITERATUR
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