Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. April 2005
 

4.7. Die Frau als Ort der Kulturbegegnung / The Woman as the Place of Cultural Encounter
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Kathleen Thorpe (Johannesburg)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Gescheiterte Begegnungen nicht nur weißer Frauen und schwarzer Männer in Wolfgang Koeppens Nachkriegstrilogie

Undine Weber (Rhodes University, Südafrika)

 

In Wolfgang Koeppens sog. Nachkriegstrilogie spiegelt sich eine Gesellschaft von Verzweifelten wider - die Deutschen inmitten eines "Pandämoniums" (Koeppen 1995: 23) der Ausweglosigkeit. Alte Ordnungen sind wenig wert, neue sind keineswegs in Aussicht. Das Verhältnis der Geschlechter ist zum Teil noch bestimmt von Konventionen, aber gerade in der Darstellung der Liebesbeziehungen (oder oftmals: gescheiterten Liebesbeziehungen) zeigt sich die fundamentale existentielle, auch existentialistische Krise der 50er Jahre (s. Quack 1997: 169-87), und so sind Koeppens drei Nachkriegsromane, Tauben im Gras (1951), Das Treibhaus (1953) und Der Tod in Rom (1954) häufig als "Zeitromane" (u.a. Scherpe 1987: 235; von Einsiedel 1976: 33) bezeichnet worden, wobei in diesem Zusammenhang auch poetologische oder existentialphilosophische Dimensionen und Aspekte in diesen Werken untersucht worden sind (s. Eisele 1987: 258-274; Scherpe 1987: 233-257).

Ich möchte mich auf eine sozio-historische Komponente der Romane konzentrieren, nämlich inwiefern die Darstellung der Frauenfiguren und ihrer Beziehungen ein fiktionalisiertes Bild der damaligen sexuellen, emotionalen und zum Teil auch transnationalen Situation zeichnen.

In Tauben im Gras, das am 20. Februar 1951 in München spielt, begegnen wir (neben einigen deutschen) auch zwei deutsch-amerikanischen Paaren: Der amerikanische schwarze GI Washington Price ist schon länger in München stationiert und mit Carla liiert, die von ihm schwanger ist. Ein anderer schwarzer amerikanischer Soldat, namens Odysseus Cotton, trifft an jenem Tag in München ein, durchlebt, wie sein Name verspricht, eine wahrhafte Odyssee und verbindet sich am Ende des Tages mit einer Deutschen namens Susanne.

Die beiden GIs werden afrikanisiert; aus den multiplen Erzählerperspektiven gesehen spielt ihre amerikanische Staatsangehörigkeit nur insofern eine Rolle, als sie im Vergleich zu den Deutschen relativ wohlhabend sind. Eine größere Rolle spielt ihre Hautfarbe, was freilich ein bestimmtes kulturelles Bewusstsein der 50er Jahre in Deutschland reflektiert - man afrikanisiert alle Menschen dunkler Hautfarbe, seien sie nun Afro-Amerikaner oder Afrikaner (vgl. Albrecht 2001: 2). Koeppens Darstellung schwarzer Amerikaner in Deutschland ist eine von wenigen der damaligen Zeit, und leicht lässt sich auf die Darstellung von Rassenproblemen in der deutschen Literatur anwenden, was Schildt über sie in der Amerika-Literatur der damaligen Zeit sagt:

[Sie sind] Randthema der Amerika-Literatur in den 50er Jahren. [...] Die Einbeziehung von politischen und sozialen Problemfeldern bedeutete im überwiegenden Teil der Amerika-Literatur nicht viel mehr als eine leichte Irritation des Bildes von der auf höherem Niveau als die westdeutsche angesiedelte "nivellierte Wohlstandsgesellschaft." (Schildt 1995: 413)

Vergleicht man die beiden schwarzen Figuren miteinander, dann ist Washington Price hier der vermenschlichte Wilde (vgl. Ashcroft et al. 1998: 210), Odysseus der entmenschlichte: die Figur des Odysseus wird nicht weiter ausgeführt - ganz klischeehaft bleibt er der kindliche, kugeläugige, triebgesteuerte Schwarze, und so wird Cottons Rücken "schwarz" genannt, obwohl er doch eine Uniform trägt (Koeppen 1986: 41); in seiner Rolle als Angehöriger der Siegermacht wird er angebettelt, wegen seiner Hautfarbe verachtet, ja: als Unmensch, gar tierisch unberechenbar gesehen (vgl. Koeppen 1986: 41; 112). Während Odysseus Cotton zwar eine Verbindung zum mythischen Odysseus und zum Joyceschen Ulysses darstellt und in seiner Irrfahrt durch das Nachkriegs-München eine Welt bereist, die Parallelen zu Homers Eingang zur Unterwelt aufweist, und er somit einige Abenteuer bestehen muss, so bleibt er doch eine Randfigur im Pandämonium. Washington Price hingegen wird etwas deutlicher gezeichnet und der Leser erhält einen Einblick in seine Gedanken und Gefühle. Price, dessen Namen einerseits einen Wert andeutet, andererseits Assoziationen zu einem zu zahlenden Preis hervorruft, will seine Freundin heiraten, sie und das ungeborene Kind sozusagen ehrbar machen. Er ist entsetzt, als er herausfindet, dass sie das Kind nicht will, gar eine Abtreibung plant, und er versucht von seinen Eltern Geld angewiesen zu bekommen, damit er Carla heiraten kann. Nach Albrecht könnte man annehmen, es gehe Koeppen darum, durch die unterschiedliche Darstellung der beiden schwarzen Soldaten "alternative Möglichkeiten der Darstellung schwarzer Romanfiguren ins Spiel zu bringen" (Albrecht 2002: 4), mit Odysseus als stereotypisierter und afrikanisierter "Projektionsfigur" (ibid.) und Washington gewissermaßen als anständigem Menschen, der zwar den gleichen Vorurteilen seitens der deutschen (und im weiteren Sinne der weißen Bevölkerung im Allgemeinen) wie Odysseus unterworfen ist, von dem es aber doch im Gegensatz zum "King Kong" Odysseus (Koeppen 1986: 30) heißt: "er war ein Mensch, wenn auch ein Neger" (Koeppen 1986: 82).

Das Stigma, das Carla als "Fräulein" anhaftet, schwanger von einem Afro-Amerikaner zudem, ist für sie (und ihre Mutter) unerträglich. Von Washington Price wird behauptet: "Er war für ein glückliches Familienleben geboren" (Koeppen 1986: 84), doch Carla kann und will es ihm nicht geben. Sie zeigt ihm, wie "unwürdig das alles für sie sei, und das hieß unausgesprochen, wie sehr sie sich verschenke, wie tief sie sich herablasse, tief zu ihm, und daß er durch immer neue Liebe, neue Geschenke, neue Aufopferung es ein wenig gutmachen müsse [...]." (Koeppen 1986: 84) Carla fürchtet "aus dem Paradies der automatischen Küchen und der Pillensicherheit" (Koeppen 1986: 63) vertrieben zu werden, denn: "Weiße unerwünscht, Schwarze unerwünscht, es traf sie beides [...]. Unerwünscht war ihr das neue Kind, das dunkle, das gesprenkelte, in seiner Höhle noch ahnungslos, daß es Wildfrucht sein sollte, verworfen vom Gärtner, mit Schuld und Vorwurf beladen [...]" (Koeppen 1986: 63). Carla ist sich selbst nicht sicher, ob sie Washington liebt (vgl. Koeppen 1986: 49), kann sich aber eine materiell gesicherte Zukunft mit ihm vorstellen und will ihm auf Grund dessen treu bleiben. Was Carla sich mit Skepsis kaum zu erhoffen wagt, formuliert Axel Schildt bezüglich des Amerikabildes der 50er Jahre folgendermaßen:

[Mit den USA] wurde die vage Vorstellung von einer Gesellschaft verbunden, in der, negativ betrachtet, alles käuflich, warenförmig zuging, der technisch-zivilisatorische Fortschritt und wachsende Wohlstand mit kultureller Verflachung erkauft worden sei. In positiver Hinsicht stellte die US-Gesellschaft eine "neue Welt" dar, in der traditionelle Klassenschranken nicht mehr zählten, in der die Menschen ungezwungener und weniger voreingenommen miteinander umgingen. (Schildt 1993: 398)

Ganz anders sieht es bei der Figur des Odysseus Cotton aus, der zum Abend jenes Februartages hin mit Susanne zusammenkommt. Susanne wird von vornherein unbeschönigt als Gelegenheitsnutte charakterisiert; ebenso klar ist dem Leser, dass sie Odysseus bestiehlt - was bei Carla und Washington Price unter dem Deckmantel einer Beziehung geschieht, ist hier ein rein funktionales Verhältnis. Susanne sieht Odysseus weder als "geilen Neger" (Koeppen 1986: 84) noch als "minderwertige[n] Kerl[ ]" (Koeppen 1986: 41), hat allerdings einmal Probleme ihn zu finden, da "alle Neger sich ähnlich sahen" (Koeppen 1986: 188). Das Kristevasche Fremde, das Andere, das viele der Figuren fürchten, zieht Susanne an, da sie ihre Position als die einer Ausgestoßenen, Missbrauchten sieht (vgl. Koeppen 1986: 188).

Das neue starke Wesen, die "tanzende Schlange", die Susanne und Odysseus abends zu Musik im Jazzclub bilden, oder auch: die (Über-)Lebensfähigen, weil sich immer Erneuernden, haben keinen Platz in Koeppens Romanwelt, in der die Unfähigkeit thematisiert wird. Gerade diese Beziehung ist eine, die eine neue Stärke demonstriert - und deshalb aus dem Romankontext ausscheidet: Odysseus und Susanne, in deren Gestalt angeblich Kirke, Nausikaa und die Sirenen schlummern, verlassen in der Tat durch eine Hintertür eines Lokals die Erzählung. Gibt es auch den Anschein einer Zukunft für Carla und Washington, sowie für ihren Vater und seine tschechische Geliebte Vlasta, die meist nur "Tschechenmädel" genannt wird, so denken doch alle vier an jenem Abend: "‘Wir verkehren miteinander, weil wir alle deklassiert sind’" (Koeppen 1986: 195). Hier herrschen noch Klassenvorstellungen, Wertvorstellungen, von denen Susanne nicht betroffen zu sein scheint - nicht nur weil sie (vermeintlich oder real) ausgestoßen wurde, sondern auch, weil sie sich selbst außerhalb der Gemeinschaft gestellt hat. Odysseus Cotton lässt sich anders als Washington Price auf keinen Opferstatus ein, wohingegen Price an seinem Schicksal in den Gesellschaften, in denen er lebt und leben will, nur sehr begrenzt aktiv teilnehmen kann, oder mit Gegebenheiten kämpft, die Lévi-Strauss folgendermaßen darstellt:

[M]an is like a player who, as he takes his place at the table, picks up cards which he has not invented, for the cardgame is a datum of history and civilization. Second, each deal is the result of a contingent distribution of cards, unknown to the players at the time. One must accept the cards which one is given, but each society, like each player, makes its interpretations in terms of several systems.These may be common to them all or individual: rules of the game or rules of tactics. And we are well aware that different players will not play the same game with the same hand even though the rules set limits on the games that can be played with any given one. (Lévi-Strauss 1966: 95)

Sowohl Cotton als auch Susanne nehmen sich selbst aus den Systemen, die von ihren Gesellschaften determiniert wurden, heraus und werden dadurch stark. Price und Carla können sich nicht von diesen sie determinierenden Faktoren lösen, bleiben in ihnen gefangen und spielen ein Spiel mit unerwünschten Karten und ungewissem Ausgang, dabei sind die Sozialsysteme ihrer Gesellschaften alles andere als für sie günstig: Dadurch, dass der Afro-Amerikaner Odysseus Cotton primitivisiert wird, während er mit seinem Schlager-spielenden Kofferradio unbekümmert durch München zieht, und durch seine und Washington Prices kulturelle Verhaftung und Gleichgültigkeit der deutschen Kunst und Geschichte gegenüber zeigt sich, dass das, was von den Deutschen als amerikanische Unkultur und rassische Unterlegenheit empfunden wird, in seinem Hochmut der deutschen Unkultur der Zeit in nichts nachsteht, ja, es wird geradezu offen gelegt (u.a. durch das Nicht-Überleben der Figur des Dichters Edwin, eines Vertreters des humanistischen Bildungsgedankens, wie er von Thomas Mann oder T.S. Eliot vertreten wurde), dass das althergebrachte abenländische Ideal sich gänzlich überlebt hat.

In Koeppens zweiten Nachkriegsroman, Dem Treibhaus, ist die zentrale Frauenfigur, sofern man bei Koeppen, dessen Frauen immer im Schatten männlicher Protagonisten stehen, überhaupt davon reden kann (vgl. Haas 1998: 36), Elke, die Frau des Abgeordneten Felix Keetenheuve. Die Erzählung setzt ein, als Keetenheuve von ihrer Beerdigung zurück kommt und schuldvoll resümiert:

Er ließ sie fallen. Ihm war ein Mensch überantwortet, und er ließ ihn fallen. [... Es] war ganz überflüssig, dass er in den Ausschüssen agierte, er würde für niemand was erreichen, aber er reiste hin und her und ließ Elke, das einzige Wesen, das ihm anvertraut, das seine Aufgabe war, in Verzweiflung verfallen. [...] Das Bier tötete sie. Einige Drogen kamen hinzu. Aber eigentlich hatte sie die Verlassenheit erstickt. (Koeppen 1986: 236)

Der Leser lernt Elke nur aus Keetenheuves Retrospektive kennen; wir erfahren, dass er, Mitte Dreißig, sie, damals 16, aus den Trümmern zu sich gelockt hat. Was als erotische Anziehung beginnt (Keetenheuve hat "nach langem Fasten Appetit auf Menschenfleisch, eine Formulierung, die Novalis für die Liebe gebraucht" (Koeppen 1986: 227)), entwickelt sich für den Mann zu einer Bindung, die er sich leisten kann, denn er hat auch noch andere Lebensschwerpunkte, für die junge Frau jedoch zu neuen Abhängigkeiten - nicht nur zu der der materiellen Art, sondern auch zu einer sexuellen, emotionalen und - für die schulisch kaum Gebildete - zu einer intellektuellen. Für den vielbeschäftigten Abgeordneten gilt die Entschuldigung:

Elke liebte ihn, aber er reiste mit dem Freifahrschein [!] der Parlamentarier Phantomen nach, dem Phantom der Freiheit, vor der man sich fürchtete und die man den Philosophen zu unfruchtbarer Erörterung überließ, und dem Phantom der Menschenrechte [...] (Koeppen 1986: 233).

Der Erzähler vermittelt durchaus Keetenheuves Schuldbewusstsein, aber dass die Liebe "zu spät zu ihm gekommen" (ibid.) sei, klingt klischeehaft lahm und handlungsscheu. Elke läßt sich mit "der Wanowski" ein, einem Mannweib "mit ihren breit gepolsterten Schultern, eine[r] pervertierte[n] Frauenschaftsführerin" (Koeppen 1986: 234) - es wird eine Verbindung hergestellt zwischen dem an sich perversen Faschismus und sogenannter pervertierter lesbischer Liebe, und solchermaßen fühlt Elke sich an das nazistische Elternhaus erinnert und geborgen (vgl. ibid.). Die Wanowski wird mehrfach "Tribade" genannt (Koeppen 1986: 234; 235), die Elke vor allem, wofür Keetenheuve steht, schützt: "vor der Ewigkeit, da wurden einfache Worte gesprochen, keine Abstrakta geredet, da war nicht die entsetzliche, die bedrückende, fließende, springende, sprudelnde, nie zu fassende Intellektualität Keetenheuves der sie geraubt hatte als sie schwach war [...]" (ibid.). Zu der eigenen körperlichen Befriedigung sucht die Wanowski (die keinen Vornamen erhält) eine Form der emotionalen Befriedigung zu erreichen, indem sie aus Verachtung der Männer andere "Jüngerinnen zum unheiligen Vestalinnendienst" (Koeppen 1986: 235) wirbt. Eine reine Frauengemeinschaft, so wird dem Leser weiterhin nahe gelegt, hat etwas Bedrohliches. Hier wird also (körperliche) Liebe zwischen Frauen als "unheilige" Tat zwischen zur Keuschheit oder zur Verbindung mit einem Manne bestimmten Menschen dargestellt. Das Wort "Jüngerinnen" gemahnt freilich an das Christentum; hier jedoch trägt es die Konnotation des Sektierertums und religiösen Kultes, des Abtrünnig-Seins. Die Wanowski ist ein

Oger des Geschlechtsneides, eine bös und dick gewordene Penthesilea der Budiken, die ihren Achill versäumt hatte. Was die Wanowski Elke bot, war eine unwiderstehliche Bestechung, war Zweisamkeit und Bier. [...] Im Zimmer stank es nach Weiberschweiß, nach fruchtloser Erregung, sinnloser Ermattung und nach Bier Bier Bier. (Koeppen 1986: 235)

Alles an dieser Frau wird dem Leser als verabscheuenswert und pervertiert präsentiert, sie ist physisch und charakterlich abstoßend gezeichnet. Der Geruch nach Schweiß im Zimmer, in das Keetenheuve aus Bonn zurückkommt, wird geschlechtsspezifisch differenziert, und die homosexuelle Liebe ist nicht nur fruchtlos (eine Tatsache), sondern auch sinnlos (eine Wertung) und übelriechend. Elke scheint sich nur mittels Alkohol und ihrer Verlassenheit wegen auf das lesbische Abenteuer eingelassen zu haben, und sie lallt Keetenheuve entgegen, sie liebe nur ihn (Koeppen 1986: 235). Diesem Unterscheiden zwischen tatsächlichen, und somit verdammenswerten Lesbierinnen wie der Wanowski, und "accidental lesbians" wie Elke begegnet der Leser zum Ende des Romans hin erneut, wenn Keetenheuve mit Gerda und Lena zu tun hat (vgl. Koeppen 1986: 384-389).

Bald langweilt sich Elke allein in Keetenheuves Wohnung und sie und Keetenheuve lassen sich trauen, da sie feststellen, dass ihre Freundschaft im Schwinden begriffen ist. Keetenheuve glaubt, dass er sich mit der Ehe auf eine Erfahrung eingelassen hatte, "die ihm nicht bestimmt war und die ihn überflüssig belastete" (Koeppen 1986: 229-30), und weiß, dass er Elke keine Stütze im Leben ist, doch gleich darauf heißt es: "Aber erst mal stillte er seinen Appetit." (Koeppen 1986: 231) Elkes Anspruch auf Orientierung wird weggefegt von Keetenheuves sexuellen Ansprüchen. Ihr sexuelles Experimentieren wird als Verzweiflungstat und als nicht eigentlich so gemeint "entschuldigt", da sie ganz offensichtlich nicht dem Klischee der "wahren" Lesbierinnen entspricht.

In der jungen Elke zeigt sich, dass sie, kaum der Nazi-Unkultur des Elternhauses entkommen und nun mit dem links-liberalen Intellektualismus Keetenheuves konfrontiert, nicht mehr weiß, wo ihr Platz, was ihre Rolle ist.

Sowohl Elke als auch die eingangs besprochene Carla finden sich also plötzlich in einer Situation wieder, in der die vormaligen Werte und Maßstäbe nicht mehr gültig sind und in der ein Mann, dessen Ziele sie nicht teilen oder gar verstehen, ihrem Leben eine neue Wendung gibt. Keine der beiden Frauen findet sich zurecht in der Umkehrung ihrer Welt. Deutsche Arroganz den Andersfarbigen und angeblich defizitären Afro-Amerikanern gegenüber erweist sich als ebenso fruchtlos wie Keetenheuves anti-faschistische (um-) erzieherische Bestrebungen Elke gegenüber.

Einer, der es schafft, sich neu zu orientieren und sich gänzlich von der Nazi-deutschen Vergangenheit abzuwenden, ist der homosexuelle Protagonist von Koeppens drittem Nachkriegsroman, Den Tod in Rom, Siegfried Pfaffrath. Er ist "ästhetischer, ethischer und intellektueller" als Elke und schafft es vielleicht, sich von der "Gefahr fleischlicher Zeugung und der Familiengründung" fernzuhalten (beides Koeppen 1986 (2): 198) - er hat Deutschland, das er einige Jahre nach Kriegsende auch weiterhin mit dem Nationalsozialismus in Verbindung bringt, den Rücken gekehrt, komponiert nicht leicht zugängliche Zwölftonmusik, will von Rom aus weiter nach Afrika, um von dort Inspiration für seine neue, "schwarze Symphonie" zu gewinnen. Siegfried schafft den totalen Bruch mit seiner Gesellschaft, versucht sich radikal aus seinem System zu befreien, was ihm bis zu einem gewissen Grad auch gelingt.

Die Schlussfolgerung aus alledem ist nicht die, dass Koeppen die rassistischen Tendenzen in Nachkriegsdeutschland aufzeigen wollte (sie passen aber in das Gesamtbild, das er von der deutschen Gesellschaft zeichnet), auch nicht, dass lesbische Liebe verdammenswürdig, schwule noch akzeptabel sei oder dass eine Verbindung, die auf Ungleichheit altersbedingter, intellektueller, rassischer und nationaler Elemente beruht, zum Untergang verdammt wäre, sondern dass jegliche konventionelle Verbindung zum Untergang verdammt ist. Koeppens Anti-Helden sind einsam; scheinbar glückliche heterosexuelle Verbindungen wie die der Kürenbergs im Tod in Rom, mythisch starke wie die Susannes und Cottons oder des Kapellmeisters Behrend und seines "Tschechenmädels" in Tauben im Gras sind weder von Dauer noch ungetrübt: Ilse Kürenberg stirbt, Susanne und Odysseus Cotton verschwinden, Kapellmeister Behrend weiß, dass er durch seine Liason "deklassiert" ist.

Es gibt keine Darstellung "gelingender" Sexualität in [Koeppens] Werk, Liebe ist zum Scheitern verurteilt oder sie ist blinder Vollzug eines Naturgesetzes, das das Leben sinnlos perpetuiert, es gibt fast nur den Ekel vor der Nähe des anderen, vor allem vor dem Körper der Frau [...]. (Hielscher 1988: 15)

Generelle Lebensfeindlichkeit, eine Feindlichkeit dem Fleischlichen gegenüber (vgl. Haas 1998: 40) korrespondiert mit dem Bild der verkommenden und verkommenen westlichen Gesellschaft. Und somit sind es diejenigen, die es schaffen, sich radikal aus den Konventionen zu befreien, die dem circulus vitiosus der "Reproduktion von Gewalt, Militarismus, anti-demokratischer Gesinnung, Standesdünkel und Nationalismus" (Hielscher 1988: 19) entkommen.

© Undine Weber (Rhodes University, Südafrika)


LITERATUR

A. Quellen

Koeppen, Wolfgang 1986. Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. Reich-Ranicki, Marcel. Frankfurt am Main. Suhrkamp. [Tauben im Gras. Erstmals erschienen: Stuttgart: Scherz & Goverts. 1951. Das Treibhaus. erstmals erschienen: Stuttgart: Scherz & Goverts. 1953. Der Tod in Rom. Erstmals erschienen: Stuttgart: Scherz & Goverts. 1954. Alle in: Band 2.]

Koeppen, Wolfgang 1986 (2). "Die Beschwörung der Liebe" (1980). In: Koeppen, Wolfgang 1986. Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. Reich-Ranicki, Marcel. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 196-203. Band 6.

Koeppen, Wolfgang 1995. "Werkstattgespräch. Horst Bienek im Gespräch mit Wolfgang Koeppen" (1962). In: Treichel, Hans-Ulrich (Hrsg.) 1995. "Einer der schreibt." Gespräche und Interviews. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

B. Sekundärliteratur

Albrecht, Monika 2001. "‘Schwarzer Engel, schwarzer Teufel’. Wolfgang Koeppens Roman Tauben im Gras aus postkolonialer Sicht." 55 th Annual Convention of the Rocky Mountain Modern Language Association in Vancouver, B.C. Vortrag wurde mir von der Autorin übersandt.

Ashcroft, Bill, Griffiths, Gareth, Tiffin, Helen 1998. Key Concepts in Post-Colonial Studies. London and New York: Routledge.

Eisele, Ulf 1987. "Odysseus trinkt Coca-Cola. Wolfgang Koeppens ‚Tauben im Gras’." In: Oehlenschläger, Eckart (Hrsg.) 1987. Wolfgang Koeppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 258-274.

Haas, Christoph 1998. Wolfgang Koeppen: Eine Lektüre. Würzburg: Ergon.

Hielscher, Martin 1988. Wolfgang Koeppen. München: C.H. Beck.

Lévi-Strauss, Claude 1966. The Savage Mind . Chicago: University of Chicago Press. Erstmals erschienen als: Lévi-Strauss, Claude 1962. La pensée sauvage. Paris: Librairie Plon.

Quack, Josef 1997. Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit. Würzburg: Königshausen & Neumann.

Scherpe, Klaus 1987. "Ideologie im Verhältnis zur Literatur: Versuch einer methodischen Orientierung am Beispiel von Wolfgang Koeppens Roman ‚Tauben im Gras’". In: Oehlenschläger, Eckart (Hrsg.) 1987. Wolfgang Koeppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 233-56.

Schildt, Axel 1993. Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre. Bonn: Dietz.

Schildt, Axel 1995. Moderne Zeiten. Freizeit, Massenbedien und "Zeitgeist" in der Bundesrepublik der 50er Jahre. Hamburg: Christians.

von Einsiedel, Wolfgang 1952. "Ein dichterischer Zeitroman." In: Greiner, Ulrich (Hrsg.) 1976. Über Wolfgang Koeppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 33-5


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For quotation purposes:
Undine Weber (Rhodes University, Südafrika): Gescheiterte Begegnungen nicht nur weißer Frauen und schwarzer Männer in Wolfgang Koeppens Nachkriegstrilogie. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/04_07/weber15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 21.4.2005     INST