Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | August 2004 | |
5.3. I First Learned about
Russia from Dostoievski. Literature as an Imaginary Way of
Understanding Another Country Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Peter Horn (INST/University of Cape Town) [BIO]
Wenn wir durch eine unbekannte Stadt gehen, dann fallen uns hier und dort Gebäude und urbane Landschaften, Parks und offen Plätze, Statuen und Skulpturen auf. Manches empfinden wir als schön, auch wenn wir nicht wissen, was es bedeuten soll, manches als fremd, manches als häßlich. Aber eine Bedeutung bekommen alle diese visuellen Informationen erst durch Geschichten.
In Der Idiot kehrt der Fürst Lew Nikolajewitsch Myschkin aus der Schweiz zurück und hofft bei seiner sehr entfernten Verwandten in St. Petersburg, der Generalin Jepantschina, ein Unterkommen zu finden. Über ihren Mann erfahren wir folgendes:
General Jepantschin wohnte in seinem eigenen Haus etwas abseits von der Litejnaja, näher zur Verklärungskirche. Außer diesem vorzüglichen Hause, von dem fünf Sechstel vermietet waren, hatte der General noch ein riesiges Haus in der Sadowaja, das ihm ebenfalls sehr viel einbrachte. Außer diesen beiden Häusern hatte er noch dicht bei Petersburg ein sehr einträgliches großes Landgut; ferner hatte er im Landkreis Petersburg noch eine Fabrik. (Dostojewskij 22)
Damit man so wohnen kann, braucht man natürlich ein entsprechendes Einkommen, und das hat der General, wie wir erfahren:
In früheren Jahren war General Jepantschin, wie allgemein bekannt war, an der Branntweinpacht beteiligt gewesen. Jetzt war er an mehreren soliden Aktiengesellschaften beteiligt und hatte einen recht bedeutenden Einfluß im Aufsichtsrat. Er galt als ein Mann mit großen Geldmitteln, weitem Wirkungskreis und besten Beziehungen. (Dostojewskij 22)
Ein Roman ist kein Reiseführer und kein Reisebericht. "Die Personen sind Fiktion. Städte und Lokalitäten entsprechen einer Vorstellung des Autors." (Fries 232) Er erzählt eine Stadt nicht von außen, führt uns nicht zu den Sehenswürdigkeiten, nicht zur Eremitage, zum Newskij Prospekt oder zu der Peter und Paul Festung. Die Namen "Litejnaja", "Verklärungskirche", und "Sadowaja" sind für den Leser, der Petersburg kennt, nicht so sehr Ortsnamen als vielmehr soziale Markierungen - die Jepantschins sind wohlhabend. Sie sind aber auch gesellschaftliche Aufsteiger:
Manchenorts hatte er sich ganz unentbehrlich zu machen gewußt, unter anderem auch in seinem eigentlichen Amte. Und dabei war es doch bekannt, daß Iwan Fjodorowitsch Jepantschin ein Mann ohne Bildung und der Sohn eines einfachen Soldaten war; das letztere konnte ihm sicher nur zur Ehre gereichen, [...] und viele schätzten ihn gerade wegen seiner Schlichtheit, gerade deshalb, weil er immer genau wußte, wo er hingehörte. (Dostojewskij 22)
Warum interessiert uns das? Warum beschäftigen wir uns mit völlig unbekannten, dazu noch fiktiven Gestalten wie dem General Iwan Fjodorowitsch Jepantschin oder dem Fürsten Lew Nikolajewitsch Myschkin? Lesen wir gern Klatsch? Dostojewskij macht sich in einem Abschnitt über den gesellschaftlichen Klatsch lustig:
Solche allwissende Herren [...] wissen alles, die ganze unruhige Neugier ihres Geistes und alle ihre Fähigkeiten sind rückhaltlos auf ein Ziel gerichtet, natürlich weil sie keine wichtigeren Lebensinteressen und Anschauungen haben, wie ein moderner Denker sagen würde. (Dostojewskij 13)
Aber was ist schließlich ein Roman, als ein solcher, wenn auch fiktiver und imaginärer gesellschaftlicher Klatsch.
Unter dem Wort allwissend muß man übrigens ein ziemlich beschränktes Gebiet verstehen: wo dieser und jener dienstlich tätig ist, mit wem er verkehrt, wieviel Vermögen er besitzt, wo er Gouverneur war, wer seine Frau ist, wieviel Mitgift sie gehabt hat, wer seine Vettern ersten und zweiten Grades sind und so weiter, und dergleichen mehr. (Dostojewskij 13)
Gerade das sind die Dinge, die wir von einem Roman erwarten: wir wollen wissen, wie andere Menschen, auch Menschen in anderen Ländern leben. Es geht auch gar nicht darum, daß wir in einem Roman nur ganz außergewöhnliche und interessante Menschen kennenlernen wollen.
Es gibt Menschen, von denen man nur schwer etwas sagen kann, das sie ganz und mit einem Zug in ihrer typischsten und charakteristischsten Gestalt darstellen könnte; das sind die Leute, die man meist als 'Durchschnittsmenschen', als »Masse« bezeichnet und die in der Tat die große Mehrheit in jeder Gesellschaft ausmachen. (Dostojewskij 549)
Der Gesellschaftsroman, der fiktionale Klatsch, beschäftigt sich mit solchen Menschen:
Man ist reich, aber nicht wie Rothschild; man gehört zu einer ehrlichen Familie, die sich aber nie in irgendeiner Weise hervorgetan hat; man hat ein anständiges Äußeres, das aber sehr wenig ausdrückt; man hat eine gewisse Bildung, weiß aber nicht, wie man sie verwerten soll; man hat Verstand, aber keine eigenen Ideen; man hat Herz, aber keine Großmut, und so weiter in allen Beziehungen. Solcher Menschen gibt es auf der Welt ungeheuer viel, sogar weit mehr, als man glaubt. (Dostojewskij 551)
Es entsteht so eine gewisse Spannung zwischen unserem Bedürfnis, durch den literarischen Klatsch mit den Menschen bekannt zu werden, wie sie nun einmal sind, also meist durchschnittlich und scheinbar uninteressant, und unserem Bedürfnis, etwas Aufregendes, wenn möglich Skandalöses zu erfahren.
was soll der Romanschriftsteller mit den Alltagsmenschen anfangen, den ganz 'durchschnittlichen', wie soll er sie darstellen und für den Leser einigermaßen interessant machen? Sie in der Erzählung ganz zu übergehen, ist unmöglich, denn die alltäglichen Menschen sind alle Augenblicke und in der Mehrzahl der Fälle ein notwendiges Bindeglied bei der Verknüpfung der Ereignisse; übergehen wir sie, so verstoßen wir gegen die Wahrscheinlichkeit. Den Roman mit lauter Typen oder auch, um des Interesses willen, bloß mit sonderbaren und ungewöhnlichen Menschen anzufüllen, wäre unwahrscheinlich und am Ende nicht einmal interessant. (Dostojewskij 550)
Sicher, wir, die wir eine Wissenschaft aus diesem fiktionalen Klatsch gemacht haben, "laufen [...] mit durchgeriebenen Ellbogen herum und beziehen ein Gehalt von siebzehn Rubel monatlich" (Dostojewskij 13), aber wir sind "über diese Kenntnisse, die für [uns] eine ganze Wissenschaft bedeuten, wahrhaft beglückt, [wir] glauben [uns] auf Grund ihres Wissens sehr hochschätzen zu dürfen und gelangen sogar oft zu tiefster seelischer Befriedigung." (Dostojewskij 13) Dostojewskij, der uns ja dazu verführen will, weiterzulesen, weiß allerdings: "Diese Wissenschaft hat auch tatsächlich etwas Verführerisches. Ich kannte Gelehrte, Schriftsteller, Dichter, Politiker, die in dieser Wissenschaft ihre höchsten Ziele und ihr größtes Glück fanden, ja nur durch sie Karriere gemacht hatten." (Dostojewskij 13)
Klatsch, auch der literarische Klatsch des Romans, erfüllt eine ganz wichtige gesellschaftliche Funktion: er ermöglicht uns uns in unserer eigenen und in fremden gesellschaftlichen Umgebungen zurechtzufinden, denn "Nein, in die Seele eines anderen kann man nicht hineinsehen", und Myschkin, für den Rußland nach seinem sehr langen Aufenthalt in der Schweiz fremd ist, meint: "Es ist schwer, neue Menschen in einem neuen Lande zu durchschauen." Und Dostojewskij meint: "die russische Seele vor allem ist für viele ganz undurchdringlich." (Dostojewskij 273) Der Klatsch ist die Form der Kommunikation, die uns über unsere Nachbarn und Kollegen auf dem Laufenden hält, durch den Klatsch gewinnen wir eine soziale Kompetenz: man kennt sich aus, man weiß, was läuft, wer wer ist.
Welchen Wert aber hat ein solches "Wissen"? Wenn wir "wissenschaftlich" und "genau" wissen wollen, wie andere Menschen sich verhalten, dann wenden wir uns an die Soziologie und, wenn es sich um "fremde" Völker handelt, an die Anthropologie oder Ethnologie. Die Wissenschaft der Ethnologie ist in der Aufklärung geboren, im Zeitalter des Imperialismus zur Reife gekommen. Auf der Suche nach Sinnzusammenhängen im Verhalten der Völker, die sie regierten oder zum Christentum zu bekehren versuchten, sammelten sie Daten, um sie sodann in Büchern und Aufsätzen zu analysieren.
Die Ethnologen sind angeblich die einzigen, die ohne Absicht, irgendwelchen Wandel in Gang zu setzen, sich lange Zeit am entlegensten Ende der Welt in den letzten Refugien kultureller Fremdheit aufhalten. Diese Frauen und Männer sind "da" gewesen. "Dort" haben sie mit Geduld die Barriere zum Anderen durchbrochen und sich selbst in die Lage versetzt, eine alternative Lebenswelt zu erfahren. Die Ethnologen wären somit die letzten wirklich in die Fremde Reisenden. Doch eine solche Ethnologie verhält sich gegenüber der von ihm studierten Gesellschaft unbedingt konservativ. Rousseaus nostalgische Vision vom edlen Wilden ist immer noch sehr lebendig. Sie symbolisiert immer noch in verdeckter Weise die Selbstkritik der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft, dargestellt in einem Mythos in tropischer Szenerie. Es ist die Unschuld der "Eingeborenen", die nicht nur die Ethnologen in die letzten bereits von Zerstörung bedrohten Urwälder und Wüsten treibt. Einzig eine unschuldige Gemeinschaft, einzig eine auf wenige Dimensionen beschränkte Gemeinschaft, einzig eine nicht-gewalttätige und freizügig lebende Mikro-Gesellschaft, kann noch als Gegenbild zur verfahrenen Lage der globalisierten Welt dienen.
Die überseeischen Imperien Europas sind längst aufgelöst, und mit ihnen verschwanden auch die Posten der Kolonialbeamten. Die Schriften der Ethnologen haben die Dimension einer ethisch-moralischen Autorität verloren, die aus der von den Forschern angemaßten Vormundschaft für diejenigen kolonialen Untertanen entstand, deren eigene Stimmen im Zeitalter des Imperialismus zumeist unbeachtet blieben.
Wie also? Wissenschaft oder Klatsch, Ethnologie oder Fiktion? In jedem interkulturellen Kontext, der sich ernst nimmt, steht ganz am Anfang die Frage nach der Bedingung unseres Fragens, denn "Fragen" ist ein konsistenter Akt im Denken nach Art eines Okzidentalen, d.h. mit pragmatischem, teleologischem (zweckrationalem) Interesse. Unser Fragen ist ausgerichtet auf die Beherrschung der Natur, der Gesellschaften und des Bewußtseins. Denken ist handeln und voraussehen, indem man handelt. Daß es auch andere Formen des "Fragens" gibt, ist uns zwar bewußt, doch wenn wir ein Forschungsprojekt vorstellen, ist jede andere Form des Fragens unzulässig. Dennoch ist die Frage nach der Bedingung solchen Fragens diesem Projekt nicht äußerlich: denn eben in einer Situation, wo wir uns anschicken, uns einen interkulturellen Diskurs vorzustellen, können wir die Frage nach einer anderen Form des Fragens nicht aus der Fragestellung des Projekts ausschließen, ohne uns sofort vorwerfen zu lassen, wir dächten und handelten wieder einmal zugunsten der anderen, für sie oder in ihrem Namen. Voraussetzung jeder Form der Interkulturalität ist dagegen eben die Möglichkeit in einem Polylog vieler Stimmen, auch derer, die wortlos gemacht wurden, die Grundlagen unseres Denkens selbst "in Frage" zu stellen.
Die anthropologischen Implikate literarischer Fiktionalität haben bislang nur eine vergleichsweise geringe Beachtung gefunden. (Iser 1993: 145) Der Anthropologe beschreibt eine Wesenheit: die Russen oder die Zulus sind so, sie verhalten sich so, ihre Religion ist so usw. Eben diese Hypostase neigt dazu, fremde Völker als zeitlose und unveränderliche Wesenheiten zu sehen. Der Roman Dostojewskis dagegen sagt nicht: die Russen, sondern diese Russen in St. Petersburg im 19. Jahrhundert könnten dies tun oder sagen. Er erzählt Geschichten.
Geschichten aber laufen in der Zeit ab: sie haben die Struktur ... und dann ... und dann. Die wissenschaftliche Praxis dagegen ist derart »entzeitlicht«, daß sie sogar die Vorstellung dessen, was sie ausschließt, auszuschließen trachtet: Weil die Wissenschaft möglich nur ist in einem Bezug zur Zeit, der sich von dem der Praxis absetzt, versucht sie, von der Zeit abzusehen, und reifiziert darin ihrer Tendenz nach die Praxisformen. Die totalisierende Auffassung setzt eine grundlegend durch ihre Reversibilität bestimmte objektive Struktur an die Stelle einer ebenso objektiven Aufeinanderfolge von Akten. Die systematische Einheit des Bewußtseins und die Integration von allem, was Anders ist in das eine System und in die zeitlose Gegenwart ist ein Kennzeichen europäischer Philosophie seit Platon (Levinas 1999: 12). Die Zeitstruktur, von der der Objektivismus absieht und die er abschafft, ermöglicht allererst die Koexistenz zweier entgegengesetzter Wahrheiten, die wiederum erst die Aktion in ihrer ganzen Wahrheit bestimmt.
Sobald von der Struktur der Sprache oder Kultur auf die Funktion, die sie erfüllt, d.h. auf die Verwendungen, die die Individuen real mit ihr machen, übergegangen wird, zeigt sich deutlich, daß die bloße Kenntnis des Codes allein die praktisch vollzogene Interaktion nur mangelhaft zu beherrschen gestattet; tatsächlich hängt die Bedeutung eines linguistischen Elements zumindest ebenso von außer- wie innerlinguistischen Faktoren ab, d. h. vom Kontext und von der Situation, in der es zur Anwendung kommt.
Um zu begreifen, was Praxis ist - und im besonderen, worin die Eigenschaften bestehen, die der Tatsache geschuldet sind, daß sie sich in der Zeit vollzieht -, heißt es also verstehen, was Wissenschaft ist - und im besonderen, was in der spezifischen Zeitlichkeit der wissenschaftlichen Praxis impliziert ist. Das Ausklammern der Zeit stellt einen der Effekte dar, den die Wissenschaft hervorbringt, wenn sie vergißt, was sie den in der Zeitdauer eingeschriebenen Praxisformen antut. Dieser Effekt wirkt sich am stärksten dann aus, wenn er bei Praxisformen zur Anwendung kommt, in deren Bestimmung ihre zeitliche Struktur, also ihre Ausrichtung und ihr Rhythmus konstitutiv eingehen. Es gilt die Tatsache ernstzunehmen, daß Handlungssequenzen, die vom Beobachter als reversibel wahrgenommen werden, von den Handelnden selbst als irreversibel gelebt werden; und daß die Reversibilität wie die Irreversibilität gleichermaßen der objektiven Wahrheit dieser Praxis eingeschrieben sind. Am Anfang des europäischen Denkens steht eine Anstrengung, die bis heute nachwirkt, die Anstrengung, hinter dem empirischen Werden und Vergehen ein Bleibendes zu entdecken, ein "Sein", das außerhalb jeder Zeit sich selbst gleich bleibt. Es geht um die "Erkenntnis des immer unveränderlichen Seins" und nicht "des in der Zeit etwas Werdenden und wieder Vergehenden?" (Platon 1940: Bd.2, 268) Im Kratylos meint Sokrates: "Wie könnte nun das überhaupt ein bestimmtes Sein haben, das niemals sich gleichmäßig verhält? Denn wenn es sich je gleichmäßig verhält, so verändert es sich offenbar in jener Zeit nicht. Wenn aber etwas immer sich gleichmäßig verhält und dasselbe ist, - wie sollte das sich verändern oder in Bewegung sein, da es doch nie aus derselben Gestalt heraustritt?" (Platon 1940: Bd.1, 615)
Wissenschaft und ihre Sprache sind in diesem Paradigma der Zeitlosigkeit befangen. Es stellt sich daher heute die Frage, ob die Welt nur durch Fachsprachen zu erfassen sei, die immer von dem sich Verändernden und der Zeitlichkeit abzusehen versuchen, und warum gerade die Kulturwissenschaft und die Ethnologie ästhetische Möglichkeiten der Kommunikation und der Wissensgewinnung übersieht. Gibt es eine Möglichkeit das "Fremde" poetisch freizulegen, ohne es zu "poetisieren"? Gibt es für den Kulturwissenschaftler die poetisch komponierte Aussage?
Im Jahre 1987 haben George Marcus und Michael Fischer ihre Anthropology as Cultural Critique veröffentlicht. Marcus, der zusammen mit Dick Cushman schon 1982 Unzufriedenheit mit der "realistischen" Ethnographie verkündete, proklamierte die Notwendigkeit einer heteroglossischen Ethnographie, die versucht, die Arroganz einer vermeintlichen wissenschaftlichen Metasprache zu verbannen, um an ihre Stelle den dem Anderen Respekt bezeugenden ethnographischen Dialog zu setzen, wobei das Objekt der Untersuchung in ein zweites Subjekt umgewandelt wird.
Die Ethnologin Elizabeth Bowen (Bohannan) hat im Roman Return to Laughter die vielfältigen Dimensionen der Ambivalenzen und Mißverständnisse interkultureller Begegnungen bei der Feldforschung beschrieben, und Robert Brains hat im Kolonialagent versucht, die tragischen Konsequenzen der frühen Kontakte eines deutschen Kolonialagenten mit den Kameruner Bangwa zu beschreiben. Umgekehrt haben europäische Schriftsteller mehrfach Versuche unternommen, ihre persönlichen Begegnungen mit dem kulturell Anderen in einer literarischen Form ethnologisch zu deuten. Hubert Fichte, Bruce Chatwin und Uwe Timm zum Beispiel bedienen sich der Methoden und Hypothesen der Ethnologie, um den kulturell Anderen verstehen zu können. Keiner von ihnen hat jedoch Sozialanthropologie formell studiert. Keiner von ihnen hat beabsichtigt, die Sozialanthropologie allein durch eine Ethnographie, eine Untersuchung der Institutionen und Verhaltensweisen der Mitglieder einer geschlossenen Kultur zu bereichern. Hubert Fichte ist ein Reisender. Ihm ist die der Ethnologie eigene stationäre Feldforschung kein Ziel. Unstet verbringt er kürzere Aufenthalte an mehreren Orten auf zahlreichen Inseln der Karibik oder in Süd- und Zentralamerika. Fichte lehnt ein die Vielfalt und den Reichtum seiner Daten umfassendes und sie reduzierendes Theorem ab. Er klagt über den Mangel an Phantasie, der die heutigen ethnographischen Veröffentlichungen kennzeichnet, sowie über die »Käuflichkeit« der Forscher selbst. Fichte klagt mit Verachtung das geschriebene Wort in dieser Wissenschaft an, "die uns an jeder Ecke die Realität und die Wirklichkeit verstellt, redundant, pompös, feige, feinsinnig".
Hubert Fichtes Absicht ist es, die immense Vielfalt, aber gleichzeitig auch die enge Verwandtschaft der ursprünglich aus West- und Zentralafrika von schwarzen Sklaven über den Atlantik mitgebrachten afrikanischen Religionen zu erforschen und zu vergleichen, deren Inhalt sich vor allem in den letzten etwa einhundertfünfzig Jahren mit Symbolen und Kulthandlungen des Christentums wie auch - in vielen Fällen - mit den religiösen Vorstellungen der Ureinwohner des Kontinents synkretistisch verschmolzen hat: Condomble, Macumba, Voudou. Seine Forschungsmethode besteht - wie etwa bei den europäischen Forschungsreisenden des neunzehnten Jahrhunderts - aus der Vielfalt seiner Eindrücke, die er in scheinbar kurzen Befragungen kumulierend zusammenträgt. Die ästhetische Einstellung, die Produktionen eines künstlerischen Feldes erheischen, ist nicht zu trennen von einer besonderen kulturellen Kompetenz.
Genau wie man in der Literatur Stile oder Schreibweisen unterscheidet, kann man beim Laufen, Lesen, Produzieren und Sprechen Stile erkennen. Diese Aktionsstile regulieren ein Feld auf der ersten Ebene, können aber von denen, die in diesen Stilen kompetent sind, ständig auf einer zweiten Ebene modifiziert werden, wenn es darum geht, sich besondere Vorteile zu verschaffen. Es ist diese Kompetenz, die ein über eine bloße Regelkenntnis hinausgehende kulturelle Kompetenz ausmacht. Und es ist diese Kompetenz, die wir durch realen und fiktionalen Klatsch erwerben.
© Peter Horn (INST/University of Cape Town)
LITERATUR
Beer, Gillian 1983. Darwin's Plots. Evolutionary Narrative in Darwin, George Eliot and Nineteenth-Century Fiction (London)
Dostojewskij, Fjodor M. o.J. Der Idiot. Edition Weltliteratur. Stuttgart/München: Deutscher Bücherbund
Fries, Fritz Rudolf 1975. Der Weg nach Oobliadooh. Frankfurt am Main.
Iser, Wolfgang 1993. Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main.
Levinas, Emmanuel 1999. Alterity and Transcendence. Translated by Michael B. Smith. London.
Möller, Horst 1980. "Epoche - sozialgeschichtlicher Abriß". In: Alexander von Bormann und Horst Albert Glaser (Hg.), Weimarer Republik - Drittes Reich: Avantgardismus, Parteilichkeit, Exil. (= Horst Albert Glaser (Hg), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Reinbek bei Hamburg, Bd.9)
Platon [1940]. Der Staat, Sämtliche Werke. Berlin: Lambert Schneider.
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For quotation purposes:
Peter Horn (INST/University of Cape Town): Rußland lernte
ich zuerst bei Dostojewskij kennen. Literatur als imaginäre
Landeskunde . In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_03/horn_peter15.htm