Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Juni 2004 | |
5.11. Das Schreiben in der
Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Klaus-Dieter
Ertler (Universität Kassel/Graz)
[BIO]
Das literarische System der vorwiegend frankophonen Provinz Québec war während des 20. Jahrhunderts mehrmals einem tiefgreifenden Wandel unterworfen. Sprache und Literatur waren eng mit dem politischen Ausdifferenzierungsprozess verbunden und das gesellschaftliche Projekt der Fortführung französischer Kultur in Nordamerika wurde mit den damit einhergehenden Lebens- und Ausdrucksformen verknüpft. In diesem Zusammenhang nimmt es nicht wunder, dass der erste bedeutende Roman der Provinz Maria Chapdelaine gerade aus der Feder eines französischen Schriftstellers stammte. Der Text Louis Hémons wurde frühzeitig zum Bestseller.(1) Maria Chapdelaine wurde als emblematische Heldin aus dem Seengebiet des oberen Saguenay sowohl in Frankokanada wie auch in Frankreich selbst zur Kultfigur des literarischen Systems. In systemtheoretischer Hinsicht kam es erstmals zu einer effizienten Rückkoppelungsschleife, die den kulturellen Wirkungszusammenhang der Provinz förderte und einen Integrationspunkt lieferte, auf den sich die folgende Produktion stützen konnte. Der literarische Schreib- und Leseprozess der frankophonen Provinz wurde erstmals auf breiter Ebene von einem französischen Migranten dynamisiert.
Um die zentrale Systemstelle, die der Roman einnimmt, kristallisierten sich in den folgenden Jahrzehnten Texte mit katholisch-nationalistischer Ausrichtung. Sie waren von einem klar umrissenen Werteschema geprägt und suchten über das Erzählen ein ungetrübtes Bild von einem vitalen Wir-Gefühl zu vermitteln. Texte wie Un homme et son péché von Claude-Henri Grignon oder Trente arpents (1938) von Ringuet zeugen von dieser Intention.(2) Modernes Leben galt gemeinhin als fremd und wurde mit Literatur diskursiv aus dem nationalen katholischen Zusammenhang gedrängt. Weitere Beispiele für die Thematisieung dieser Problematik finden sich in Le Survenant von Germaine Guèvremont oder Au Cap Blomidon von Alonié de Lestres (Lionel Groulx). Renate Hildebrand und Clément Moison bezeichnen diese Epoche, die sie erst mit 1937 einsetzen lassen, als "unikulturell".(3)
Der zweite Einschnitt erfolgte im Jahre 1959, als das frankokanadische Kultursystem mit dem Tod seines katholisch-nationalistischen Premiers Maurice Duplessis eine neue Entwicklung erfuhr. Es war dies die turbulente Zeit der Révolution tranquille, die im Vorfeld der 68er-Bewegung eine Erneuerung der nationalistischen Führung forderte und auch einen radikalen Eingriff in die traditionellen Erzählstrukturen bedeutete. Wiederum lag der Schwerpunkt auf der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Ablösung Frankokanadas von der anglophonen Kultur, wenngleich dies mit anderen Mitteln und über andere Wege erfolgen sollte. Die Provinz nannte sich nun Québec und sollte mit moderneren Institutionen zur Förderung von frankophoner Sprache und Kultur ausgestattet werden. Das Diskurssystem schöpfte aus den Ressourcen nationaler Geschichtsschreibung, richtete seine Ziele allerdings auf ein laizistisches Québec mit wirksamen Strukturen aus. Charles de Gaulles berühmt gewordenes Diktum "Vive le Québec libre" aus dem Jahre 1967 wirkt symbolisch für diesen Weg. Immigranten aus unterschiedlichen Ländern schienen dieser Entwicklung mit Interesse zu folgen. Clément Moisan und Renate Hildebrand sprechen von plurikulturellem und multikulturellem Schreiben, das sie in den zeitlichen Rahmen von 1960 bis 1974 stellen. Modernisierung und Internationalisierung wurden zu den neuen Schlagworten der fortschrittlich anmutenden Provinz.
Mitte der siebziger Jahre zeichnete sich eine Umstellung des Diskurssystems von einem multikulturellen auf ein interkulturelles Paradigma ab, und die ersten Vorzeichen einer Schreibweise kündigten sich an, die die nationale Diskursivik von außen her subvertierten und als alternative "Erzählungen" die historischen Zusammenhänge in den Hintergrund treten ließen. Moisan und Hildebrand setzen für diesen Abschnitt die Jahre zwischen 1975 und 1985 an und verstehen darunter die Gegenüberstellung zweier unterschiedlicher Seiten des québécischen Literatursystems: Sie unterscheiden das Schreiben ansässiger Autoren von jenem der immigrierten Autoren, eine Trennung, die in der Folgezeit überwunden werden sollte.
Die vierte Phase, die als transkulturelle definiert wird, liegt zwischen den Jahren 1986 und 1997. Die binären Oppositionen wurden im kulturellen Feld überwunden, so dass nicht mehr der Kulturkonflikt im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sondern die Überlappung der einander gegenüberliegenden Semantiken. Erst ab diesem Zeitpunkt soll von Migration und nicht mehr von Immigration die Rede sein:
Le déplacement dont il s'agit n'implique plus la question d'un ailleurs, d'un lieu à atteindre, de personnes à mettre en contact, de rapports conflictuels ou non lors de ces rencontres, mais d'efforts et d'effets plus profonds de l'ordre de la transposition, de la transmutation, voire de la transcription, tous ces termes en "trans" indiquant à la fois le passage et le changement d'un lieu, d'un état ou d'un moment, à un autre. Les mots transposition et transcription s'appliquent sans doute davantage au sujet de cette dernière partie où il sera surtout question d'écriture et de son déplacement qui peut aller dans un sens très large, mais très restreint, celui où les écrivains s'échangeraient des signes d'un système d'écriture.(4)
Moisan und Hildebrand gehen nicht darauf ein, dass es innerhalb dieses zeitlichen Abschnittes zu einem gegenkulturellen Entwurf kommt. Als die Immigranten in großem Ausmaß französische Texte zu publizieren begannen, ließen sich ihre Texte nicht mehr in die seit den sechziger Jahren dominierende Selbstbeschreibung der "Nation" einreihen. Das binäre Schema der Texte orientierte und definierte sich neu: Die erzählten Geschichten handeln nun von anderen, fremden Kulturen und tragen wenig zum Fortbestand der québécischen Kollektivsymbolik bei, womit sie unter den Vertretern der politisch-kulturell ambitionierten Autoren mitunter heftige Kritik hervorriefen. Als Autoren wie Sergio Kokis, Ying Chen, Émile Ollivier oder Marco Micone um die Mitte der neunziger Jahre renommierte Literaturpreise erhielten, die bislang mit dem nationalen Projekt der québécischen Unabhängigkeit verbunden waren, wurden Stimmen unter den einheimischen Intellektuellen laut, die auf die neuen "Missstände" hinwiesen. Man denke an die von Monique Larue vom Zaun gebrochene Polemik über den Status der "écritures migrantes" in Québec, die - wie es heißt - von den literarischen Jurys bevorzugt würden.(5)
Ein unglückliches Wort des Premiers Jacques Parizeau brachte das Fass zum Überlaufen, als er den negativen Ausgang des Referendums über die künftige Unabhängigkeit der Provinz mit den Stimmen der Immigranten in Zusammenhang brachte.
Mit dem Paradigmenwechsel von 1989 war es unmöglich geworden, sich über manichäistische Schemata zu definieren oder auf solche Distinktionsmechanismen zurückzugreifen. Dass sich dies auch über das Medium der Immigrantenliteratur manifestierte, zeigte sich in der Vorstellung der Beobachtersperspektive von einer binär angelegten "Interkulturalität" auf eine dem neuen Paradigma entsprechende "Transkulturalität". Im Zusammenhang mit dem literarischen System bedeutet dies ebenso eine markante Verschiebung: Hatten die Migrantentexte von Ying Chen, Sergio Kokis, Émile Ollivier oder Marco Micone in den frühen neunziger Jahren noch das Konzept einer klar umrissenen Ausgangs- und Zielkultur vor Augen, überlappten sich die Oppositionen im Laufe der Dekade und lassen heute transkulturelle Phänomene erkennen. Romane oder Erzähltexte wie Les Lettres chinoises, Le pavillon des miroirs, Passages oder Le figuier enchanté legen ein beredtes Zeugnis davon ab.(6)
In all diesen Texten liegt noch eine unüberbrückbare Kluft zwischen Ausgangs- und Zielkultur, und es werden binär konfigurierte Rückblenden in die Zeit der Kindheit manifest.
In weiteren Werken geraten diese kulturellen Oppositionen nicht mehr miteinander in Konflikt, sondern zeigen lose Formen der Kopplung und weniger scharf umrissene Grenzen. So erweisen sich spätere Werke derselben Autoren weniger als interkulturell, sondern vielmehr als transkulturell: Die neueren Romane von Ying Chen, Sergio Kokis und Émile Ollivier - Immobile, Le Maître de jeu und Mille eaux - kultivieren den Prozess von Metamorphosen geradezu, ohne das Augenmerk auf die Ausgangskultur und die Zielkultur zu richten.(7)
Phänomene des Übergangs, der Veränderungen in Wandlungsprozessen lenken den narrativen Diskurs, wobei der "polyplastischen" Ausprägung der Erinnerung eine besondere Bedeutung zukommt. Dissemination, Rhizombildung, Fragmentarisierung, Diaspora-Phänomene, Hybridisierungen und Mestizierungen charakterisieren das Schreiben der rezenten "littératures migrantes", während Termini wie Identität oder archetypologische Konstanten in den Hintergrund treten.
L'Expérience interdite von Ook Chung: ein Paradigma von Transkulturalität?(8)
Als Paradigma des neuen Schreibens der Migranten lässt sich der Roman L'Expérience interdite von Ook Chung lesen. Der Autor wurde in Japan als Sohn koreanischer Eltern geboren und wuchs später in Kanada auf. Seine frankokanadische Sozialisation und die Verwendung der französischen Sprache tragen zu einer vielfältigen kulturellen Schattierung in seinem Erzählen bei, die herkömmliche Erzählformen transzendiert und transkulturelle Dimensionen freilegt.
Sein neuester Roman zeugt auf allen narratologischen Ebenen von der Thematik der Transformation bzw. der Verwandlung. Im paratextuellen Bereich ergibt die Kombination des fernöstlichen Namens und des französischen Titels eine Vektorialität, die sich von vornherein in eine inter- oder transkulturelle Dynamik einschreibt. Am deutlichsten wird die Autorintention im Epigraph, wo ein Zitat aus Ovids Metamorphosen die Leserschaft auf das "verbotene Experiment" einstimmt: "Et ignotas animum dimittit in artes (" ... et tourna son esprit vers l'étude d'un art inconnu"). Ein Rückgriff auf Kafkas Verwandlung schwingt im Intertext mit.
Der Roman besteht aus vier Teilen und einem Epilog, wobei der erste Teil ebenso als Vorwort gesehen werden kann. Im gesamten Werk liegen mehrere Beobachtungsebenen vor, die vor allem über eingeschobene Briefe konstituiert werden. So kommt es zur Aufnahme mehrerer Stimmen, die sich frei und ungezwungen über die erzählten Ereignisse äußern. In kultureller Hinsicht treffen mehrere unterschiedliche Kulturen wie die nordamerikanische, australische, japanische, philippinische aufeinander.
Die erzählte Geschichte handelt von einem sonderbaren Experiment, das ein amerikanischer Staatsbürger namens Bill Yeary auf einer verlassenen Insel der Philippinen durchführt. Er versucht auf ungewohnte Weise Literatur zu produzieren, um in die literarische Spitzenklasse vordringen zu können.
Produziert werden sollen Texte von einzelgängerischen, eigenbrötlerischen Ghost Writern, die er aus der ganzen Welt auf die Philippinen lockt und in Käfige sperrt. Er erwartet sich einen hohen Produktionsgrad, denn die Regelmäßigkeit und Eintönigkeit des Gefängnisses sollte sich auf den Schreibprozess fruchtbar auswirken. Die gefangenen Individuen hätten darüber hinaus die Möglichkeit, ihrer unbefriedigenden Existenz über den Eskapismus des Schreibens zu entgehen. Der Erfolg sollte sich darin niederschlagen, dass Bill Yeary mit diesen Texten sämtliche renommierten Literaturpreise gewinnen würde. Manche Schriftsteller werden mit großem Profit an reiche Geschäftsleute verkauft, andere wiederum verschleudert er als billige Auslaufmodelle.
Im Laufe der Jahre werden Tausende von Schriftstellern zu Gefangenen des amerikanischen Unternehmers. In Käfigen vegetieren sie dahin und konzentrieren sich auf das Schreiben. Einige unter ihnen haben sich schon immer gerne von ihrer Umwelt abgeschottet, so dass ihnen die neue Existenz nicht so unerträglich scheint. Nun sitzen sie in übereinander gestapelten Käfigen, die Bill Yeary in einer Grotte verborgen hält. Regelmäßig sammelt er die Manuskripte seiner Gefangenen ein und macht ihnen deutlich, wie wichtig das Schreiben für den Lebensunterhalt sei. Über die literarischen Konzentrate seiner Häftlinge ist der Meister immer sehr erfreut:
La fente dans la porte souleva sa paupière métallique, et un manuscrit assez épais se fraya un chemin difficile et dolent à travers l'ouverture, rencontrant un écueil par en haut, ce qui ébouriffa au passage le coin supérieur qui correspondait, à cause de la manière dont la liasse était pliée, aux dernières pages, puis tomba par terre comme une chiure. Le manuscrit était retenu par un élastique transparent comme de la soie de ver, mais celui-ci était trop mince et souple pour empêcher les feuillets de reprendre leur position naturelle; on sentait qu'il servait uniquement à empêcher les feuillets de s'éparpiller en tous sens en cours de chute. La page frontispice était ainsi révélée, où on lisait, écrite d'une main si maladroite et fébrile qu'on aurait dit des caractères gothiques: Le Testament de Tokyo.(9)
Regelmäßig sammelt der große Meister die Manuskripte ein und leitet sie an die literarischen Institutionen weiter. So stehen die Gefangenen unter ständigem Produktionsdruck, um ihrem Herrn Genüge zu tun.
Der Roman kann als Metaphorisierung des leidenden und sich in Abkehr von der gesellschaftlichen Umgebung quälenden Schriftstellers gedeutet werden. Das Manuskript entspricht einem Tauschwert, der in der Welt außerhalb der Grotte gemessen wird und dem Meister zukommt. Dahinter steht auch das Bild des Schriftsteller im globalisierten Kunstsystem und nicht so sehr seine Verflochtenheit mit einer spezifischen Nation.
Hin und wieder deuten Vermisstenanzeigen auf die verschollenen Romanschreiber hin. Im zweiten Abschnitt des Romans gibt die Protagonistin, eine australische Schriftstellerin namens Deborah, ihre Erfahrungen unter der Rubrik Notes d'une caverne wieder. Beschrieben werden die Leiden, die sie in der Isolation zu ertragen hat und die den Nährboden für das Entstehen des Ästhetischen darstellen:
Souvent, là-haut, j'entends des chants... C'est la fête. Et on boit, et on chante, et on danse... et moi, je crève de jalousie, je crève de rage, je... crève dans ma pourriture. Autrefois, je me posai souvent la question, pourquoi suis-je dans cette cage? pourquoi est-ce qu'il y a des gens dehors, qui dorent au soleil, alors qu'on m'enferme ici... pourquoi on ne me laisse pas être un de ceux-là... Mais maintenant, je ne me pose même plus cette question, de toute façon, si je me mets à y penser, je deviens fou et je n'ai d'autre remède que de me cogner le crâne contre les barreaux, jusqu'à la calvitie. J'ai fini par penser, moi aussi, que c'est à ça que je sers, à fabriquer ce miel amer dont d'autres se repaîtront en buvant du nectar au banquet de la vie. Je me dis que mon miel de sang est apprécié, c'est au moins ça, même si moi, je n'en connaîtrai jamais la saveur.(10)
Deborah macht sich Gedanken über die Produktion des literarischen Werkes. Sie denkt, dass der in seinem Käfig gefangene Schriftsteller am Genuss, den der Leser am Werk empfindet, nicht teilhaben kann. Zwischen der Produktion und der Rezeption sei eine unüberbrückbare Kluft enstanden, für deren metaphorische Veranschaulichung sich Chungs Text gut eignet: "Et je ne parle pas des choses culinaires seulement, je parle des hautes nourritures intellectuelles aussi. Aujourd'hui, on lit tel ou tel auteur supplicié comme on croquerait une friandise."(11) Das Schriftstellertum wird auf diese Weise zur Leidensgesellschaft stilisiert, weil es sich über die Abstinenz von Kommunikation definiert und der Leserschaft - gewissermaßen über den Markt vermittelt - Konsumgüter liefert. Der Schriftsteller wird zur vernachlässigten Funktionsstelle im literarischen System, unterliegt einem ständigen Produktionszwang und gerät auf diese Weise in eine Dynamik, für deren Verfänglichkeit das Gefängnis Bill Yearys auf den Philippinen als bloße Metapher steht. Je größer die Schmach, die die Protagonistin erlebt, um so stärker entwickelt sich bei ihr das Schreiben, um so größer wird die Produktion. An ihren Haftgenossen beobachtet sie, wie unterschiedlich die Schreibgewohnheiten der Menschen sind:
Chacun a sa façon d'écrire. Il y en a un qui adopte la position du lotus, un autre la position de la ,momie', c'est-à-dire qu'il reste allongé comme un mort, les yeux fermés, et tout à coup, lorsqu'une idée jaillit, il se dresse sur son séant, comme un vampire qui se réveille dans son cercueil: c'est drôle, je trouve, ces longues périodes d'immobilité, et brusquement ces cinq à trente minutes de gribouillage frénétique.(12)
Die schrecklichen Haftbedingungen bewirken Schreibprozesse, deren ästhetische Produkte gleich einer Massentierhaltung vom Besitzer regelmäßig abgezogen werden und schließlich in das literarische System einfließen. Auf diese Weise fiktionalisiert der Roman die industrielle Erzeugung von Literatur und deren tauschwertorientierte Vermarktung. Der unter schwierigen Bedingungen hervorgebrachte Text wird zum unabhängigen Marktartikel.
Im Roman dominiert die metaliterarische Dimension in dem Maße, als die gefangene Beobachterin auch eine Innensicht anbietet, die den Kommunikationszusammenhang in seiner ganzen Komplexität aufzeigt. Der Beobachter könne sich damit zum Beobachteten wandeln, sogar der Schriftsteller könne auf diese Weise selbst zur Erfindung eines anderen Kollegen werden:
Ce qui me fascine, c'est que chaque habitant de chacune de ces cages contient en lui-même une caverne avec d'autres pyramides d'encagés, et ainsi de suite, à l'infini. Chacun d'eux a un nom que je ne connaîtrai jamais, chacun d'eux est porteur d'un univers aussi vaste que le mien, chacun abrite une caverne intérieure peuplée d'autres encagés, et même si ces encagés-là sont imaginaires, dans leur univers mental, qui peut dire qu'ils sont moins réels que nous? Et qui sait, peut-être suis-je moi-même un personnage inventé par un autre et tout cela, cette caverne, ces rangées de cages, ces habitants obscurs, seraient l'intérieur du cerveau d'un Autre qui lui-même serait un personnage inventé par un autre cerveau ...(13)
Die imaginäre Einrichtung eigener Zellen innerhalb jeder wirklichen Zelle verweist auf die bildhaften Konstruktionen der Komplexitätstheorie. Die explizite Einbeziehung des Beobachters in den Beobachtungsprozess und dessen Rückwirkung auf die Wirklichkeit erreicht in diesem Kapitel einen unerwarteten Höhepunkt. Plötzlich wird die Wirklichkeit ihrer realen Dimension entledigt, während Fiktion einen Wirklichkeitsstatus erreicht, der die Umwelt wie auch die Rezipienten in das Geschehen mit einbezieht.
Der dritte Teil erzählt die Wirklichkeit aus der Sicht des amerikanischen Unternehmers. Dieser hatte einst in Japan seine Geliebte auf tragische Weise verloren, worauf er sich der Perlenzucht widmete. Er entdeckte deren Raffinessen im Mikimoto-Museum und entwickelte daraus sein Lebensprojekt: Er wollte menschliche Perlen züchten, wusste aber nicht, wie er dies in seiner Spannung zwischen Philanthropie und Misanthropie anstellen sollte. Sollte er ein Luxushotel als Paradies für Schriftsteller einrichten? Doch seine Erfahrung hat ihn gelehrt, dass ein Leben in Luxus der poetischen Kraft zuwiderläuft:
Ils écrivent de moins en moins bien à mesure que leur indice de confort augmente. La célébrité, les émissions de télévision, les interviews leur montent à la tête, et ils préfèrent passer leur temps à commenter leurs _uvres plutôt qu'à en produire de nouvelles. [...] Or, il suffit de penser aux écrivains qui vivent dans la misère pour constater que ce sont souvent eux, les chantres de la solitude et de la souffrance, qui produisent la meilleure littérature.(14)
Auf diese Weise rechtfertigt der angehende Unternehmer die üblen Lebensbedingungen, die er seinen "Gästen" bietet und gewinnt daraus die raffinierte Essenz des literarischen Texts nach dem Modell der japanischen Perlenzucht. Zur Umsetzung seines ambitionierten Projektes benötigt er Kapital, das er aus dem Handel mit dem kostbaren Stoff der Bärengalle bezieht. Als er eines Tages die in Käfigen gefangenen Bären erblickt, deren Gallen auf grausame Weise entnommen werden, gebiert er die Idee für sein Schreibprojekt.
Im vierten Teil wird vom Aufstand der inhaftierten Opfer erzählt, denen nach jahrelanger Haft die Flucht aus dem Gefängnis mit Hilfe eines Affenweibchens gelingt, das den Meister ständig begleitet.
Gerahmt wird die gesamte Erzählung von dem Tagebuch des vor langer Zeit lebenden Eismenschen Yéti, der die Einsamkeit als anthropologische Konstante deutet und darauf verweist, wie tief die Misanthropie im Menschen verwurzelt ist. In dieser Auffassung liegt auch ein argumentatives Grundschema zur Erklärung des sozialen Geflechts. Der Roman vollzieht die Problematik auf globaler Ebene nach. Auch wenn die asiatischen Dimensionen überwiegen, distanziert er sich von den hehren Idealen einer nationalistischen Bewegung und nähert sich den Archetypen der "République mondiale des lettres": "La forêt, c'est le règne animal. La lisière, c'est la frontière entre la captivité de la peur, du réflexe, et le geste libre. C'est un lieu archétypal, et c'est presque toujours là que les sauvages et les civilisés se rencontrent pour la première fois."(15)
Es stellt sich hier die Frage, inwieweit die Symboliken und Archetypen der Migrantenliteratur auf unikulturelle bzw. auf transkulturelle Zusammenhänge bezogen werden können. Im vorliegenden Fall driftet der Text von der Typologie des frankokanadischen Schreibens in einen globalen Bereich ab, stellt jedoch grundlegende Fragen an die Rolle des Schriftstellers und dessen systemische Eingebundenheit. Die Frage nach der gesellschaftlichen Position des Schriftstellers und seiner Abkoppelung vom Alltagsdiskurs trifft diese Problematik im Kern.
Die intertextuellen Parallelen zur Funktion der literarischen Produktion in Québec sind offensichtlich. Man erinnere sich an die ideologisch gefärbte Polemik, die die Migrantenliteraturen im frankokanadischen Zusammenhang Mitte der neunziger Jahre auslösten. Stand es den Einwanderern zu, mit fremder Symbolik die Nationalisierungsbestrebungen zu unterwandern? Wie die neueren Untersuchungen der Kulturwissenschaft erkennen lassen, ist die Verwendung kollektiver Vektoren und Erzählungen für die Ausbildung eines nationalen Zusammenhangs von grundlegender Bedeutung. Dazu kommen Formen der kommunikativen wie kulturellen Erinnerung, die das Gemeinschaftsgefühl stärken und auf neue Projekte ausrichten. Dass die Literatur und ihre Institutionen daran maßgeblich beteiligt sind, geht aus diesen Untersuchungen hervor.(16)
Für einen Teil der québecischen Intellektuellen wirkte der Einbruch des fremden Schreibens in das zur Stabilisierung der eigenen Kultur eingerichtete System wie eine existentielle Bedrohung. Wenn man die Geschichte der Provinz kennt, weiß man, unter welch schwierigen Bedingungen die Verwendung des Französischen in Nordamerika fortbestehen konnte und wie sensibel die sprachliche Situation in der Provinz war. Insofern nehmen die Literaturpreise eine wichtige kulturfördernde Funktion ein, um deren Erhaltung man bemüht ist.
Wie der Roman Ook Chungs erkennen lässt, ist das Phänomen der Transkulturalität inzwischen zum integrativen Bestandteil der zeitgenössischen Diskursivik geworden. Sie manifestiert sich nicht nur in literarischen Texten, sondern auch in sämtlichen Formen des sozialen Diskurses. So nimmt es nicht wunder, dass sich auch das wissenschaftliche Beobachtungsinstrumentarium kultureller Ausdrucksformen auf die Veränderungen einstellt und mit interdisziplinären Ansätzen das Erfassen eines breiten Spektrums von Ausdrucksformen anstrebt.
Die "écritures migrantes" haben im frankophonen Kontext eine Situation verdeutlicht, die sich aus der großflächigen Auseinandersetzung zwischen "französisch-kartesianischer" Universalität und "englisch-pragmatischer" Globalisierung ergab. Es ist verständlich, dass sich der Konflikt gerade an den Schnittstellen beider Kulturbereiche ergab und daraus ein aufschlussreiches Analysemodell für den externen Beobachter resultiert. Das literarische System der kanadischen Provinz ist aus dieser Polemik nicht unbedingt geschwächt hervorgegangen. Im Gegenteil, die frankophone Selbstbeschreibung wurde frühzeitig auf die neue Gemengelage aufmerksam und konnte sich auf die Implosion einstellen. Heute suchen québécische Schriftsteller nach Anknüpfungsmöglichkeiten an diese Konjunktur, indem sie ihrerseits ein besonderes Augenmerk auf die Fiktionalisierung von Migration richten. Sie tun es nicht vergeblich, denn insofern als sich "Francophonie" per definitionem über die Randlage gründete, werden die "écritures migrantes" weiterhin eine wichtige Erinnerungsfunktion bei der Umstellung des Paradigmas einnehmen.
© Klaus-Dieter Ertler (Universität Kassel/Graz)
ANMERKUNGEN
(1) Louis Hémon: Maria Chapdelaine. Récit du Canada français. Montréal: Fides 1946 [1914]. Der Text erschien 1914 vorerst als Feuilleton in der Paris Zeitung Le Temps, 1916 als Band bei Parizeau in Montréal. Zum Bestseller wurde der Roman im Jahre 1921, als er in Paris bei Grasset in der Reihe "Les Cahiers verts" verlegt wurde.
(2) Claude-Henri Grignon: Un homme et son péché. Montréal: Édition du Totem 1933 [1986]. Ringuet: Trente arpents. Paris: Flammarion 1938.
(3) Germaine Guèvremont: Le Survenant. Paris: Plon 1954 [1945]. Alonié de Lestres [Lionel Groulx]: Au Cap Blomidon. Montréal: Librairie Granger 1932. Moisan und Hildebrand setzen den Beginn der Unikulturalität etwas willkürlich mit dem Jahr 1937 an. Als Kriterium dient ihnen die von Radio Canada in Serien ausgestrahlte Radiosendung Rue principale Édouard Baudrys, der aus Frankreich immigriert war. Vgl. Clément Moisan und Renate Hildebrand: Ces étrangers du dedans. Une histoire de l'écriture migrante au Québec (1937-1997). Québec: Nota bene 2001, S. 59f.
(4) Moisan/Hildebrand 2001, 208.
(5) Vgl. Monique Larue: L'arpenteur et le navigateur. Montréal: Fides 1997, S. 7.
(6) Ying Chen: Les Lettres chinoises. Montréal: Leméac 1993. Sergio Kokis: Le pavillon des miroirs. Montréal: XYZ 1994. Émile Ollivier: Passages. Montréal: L'Hexagone 1991. Marco Micone: Le figuier enchanté. Montréal: Boréal 1992.
(7) Ying Chen: Immobile. Montréal: Boréal 1998. Sergio Kokis: Le Maître de jeu. Montréal: XYZ 1999. Émile Ollivier: Mille Eaux. Paris: Gallimard 1999.
(8) Ook Chung L'Expérience interdite. Montréal/Paris: Boréal/Le Serpent à Plumes 2003.
(9) Chung 2003, S. 39.
(10) Chung 2003, S. 54.
(11) Chung 2003, S. 55.
(12) Chung 2003, S. 71.
(13) Chung 2003, S. 75.
(14) Chung 2003, S. 107.
(15) Chung 2003, S. 174. Vgl. die kulturrelativistische Erklärung des Archetyps bei Durand: "Ce qui différencie précisément l'archétype du simple symbole, c'est généralement son manque d'ambivalence, son universalité constante et son adéquation au schème [...] C'est qu'en effet les archétypes se lient à des images très différenciées par les cultures et dans lesquelles plusieurs schèmes viennent s'imbriquer." Gilbert Durand: Les structures anthropologiques de l'Imaginaire. Paris: Dunod 1984, S. 63.
(16) Vgl. Benedict Andersen: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt am Main: Campus 1988. Eric Hobsbawm: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt am Main: Campus 1991. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 42002. Markus Fauser: Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003.
5.11. Das Schreiben in der Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania
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