Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Juni 2004 | |
5.11. Das Schreiben in der
Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Hans Felten (Aachen)
Wer in Wien von Pietro Metastasio, dem poeta cesario unter Karl VI., Maria Theresia und Josef II., sprechen will, der handelt sich leicht den Vorwurf der Naivität ein, den Vorwurf, Eulen nach Athen tragen zu wollen. Und dies nicht nur, wie Pietro Metastasio mehr als ein halbes Jahrhundert in Wien gelebt und gearbeitet hat, sondern auch weil sein Werk und ebenso die Libretto-Literatur des 18. Jahrhunderts allgemein bevorzugte Forschungsfelder Wiener Romanisten sind. Ich erinnere nur an die einschlägigen Arbeiten von Erika Kanduth, Manuela Hager, Alfred Noe oder an den im Jahre 2000 von Andrea Sommer-Mathis und Elisabeth-Theresia Hilscher herausgegeben Sammelband mit dem programmatischen Titel: Pietro Metastasio uomo universale(1). Wenn man Wien ein Zentrum der Libretto-Forschung nennen darf, dann wäre im deutschen Sprachraum auch noch Albert Gier mit seinem Bamberger Zentrum für Libretto-Forschung zu erwähnen. Und das wäre es wohl auch schon, denn die Libretti im besonderen und die italienische Literatur des Settecento im allgemeinen stehen, so kann man wohl behaupten, nicht gerade im Zentrum des Interesses der deutsch- sprachigen Romanisten., wenngleich wir nicht soweit gehen wollen wie Reinhart Meyer(2), der in seiner Besprechung des von Claudio Sartorio erarbeiten Katalogs der gedruckten Libretti italiani vor wenigen Jahren noch apodiktisch konstatieren konnte: "Das Libretto ist ein von den Philologen und Interpreten längst aufgegebenes oder nie in Besitz genommnes Genre"(p.208). Die Verhältnisse scheinen sich indes zu bessern: noch Anfang Oktober dieses Jahres gab es in Amiens eine internationale wissenschaftliche Tagung zur Libretto-Literatur, deren Akten im kommenden Jahr erscheinen sollen.
Doch unser Thema ist nicht die wissenschaftliche Rezeption der italienischen Libretto-Literatur im allgemeinen und der Libretti des Pietro Metastasio im besonderen, sondern die Situierung seines Schreibens im interkulturellen Kontext unter besonderen Berücksichtigung der Migration. Der in Italien geborene Metastasio, der seine Jugendzeit vor allem in Rom verbrachte und seine ersten Erfolge in Neapel feierte, der im Jahre 1729 einen Ruf nach Wien erhielt und bis zu seinem Tode im Jahre 1782 dort arbeitete und seine Texte in italienischer Sprache schrieb, ist er im modernen Sinn eine Emigrant, ein Literat, der sein Leben im Exil verbrachte? War Voltaire im Exil, als er einige Jahre in Potsdam weilte und natürlich auf französisch weiter schrieb oder gar Goethe, als er ein paar Jahre in Rom lebte und arbeitete? Die Fragen scheinen absurd. Es käme wohl niemand auf den Gedanken, Voltaire oder Goethe als Emigranten oder Exilanten zu bezeichnen. Der eine machte eine Bildungsreise, und der andere folgte einer Einladung des preußischen Königs. Der Fall des Vittorio Alfieri, des um eine Generation jüngeren Zeitgenossen Metastasios, ist da schon etwas komplizierter. Der Adlige aus dem Königreich Piemont-Sardinien käme dem modernen Begriff des Emigranten schon näher. Folgt man seiner berühmten Autobiographie, der Vita, in der er sich als Liberaler und zugleich als melancholisches Genie zu stilisieren pflegt, dann hat er sein eigenes Land, das antiliberale Piemont, unter dem Zwang der Verhältnisse verlassen und sich bis zu den ersten Exzessen der Französischen Revolution, als er fluchtartig Paris verließ, häufig in Frankreich aufgehalten und natürlich weiter italienisch geschrieben.
Wenn wir einmal vorsichtig, ohne gleich auf die umfangreiche Forschungsliteratur rekurrieren zu wollen, Literatur im Exil als Texte von Literaten definieren wollen, die freiwillig oder unter Zwang ihren eigenen Sprachraum verlassen haben, die in einer sprachlich fremden Umwelt in ihrer eigenen Sprache weiterschreiben, die mit ihren Texten auf den von ihnen verlassenen Sprachraum einwirken wollen, einen Sprachraum, den sie als eine Nation verstehen und auf den sie politisch, ideologisch oder ästhetisch Einfluss nehmen wollen und in dieser Einwirkung ihre Mission oder ihr Engagement sehen, dann könnte man vielleicht Vittorio Alfieri einen Emigranten oder Exilliteraten nennen. Er verließ sein Land zwar freiwillig, aber immerhin unter der Zwangsvorstellung, dass das von preußisch-militärischer Mentalität bestimmte Piemont seiner intellektuellen und literarischen Entfaltung nur abträglich sein könnte. Er schrieb durchweg - wenn auch nicht ausschließlich - in einem nicht italienisch geprägten Umfeld, und er sah seine Mission, seine ästhetische Mission, darin, die Gattungsform der Tragödie in Italien zu erneuern und in seiner Person dem Italien des Settecento den großen Tragödiendichter zu schenken. Mit diesen Attributen würde Vittorio Alfieri durchaus die Kategorien erfüllen, die wir soeben unserer Definition des Emigrantenliteraten zugrunde gelegt haben. Aber Metasasio? War auch er ein Migrant oder Emigrant oder gar ein Exilierter? Diese Frage ist gleich in mehrfacher Hinsicht zu verneinen. Politisch gesehen hat der junge Literat bei seiner Berufung von Neapel nach Wien sein Land überhaupt nicht verlassen. Er ist nur aus der Provinz in die Hauptstadt gezogen, denn Neapel war im frühen 18.Jahrhundert nach dem spanischen Erbfolgekrieg eine österreichisch-habsburgisch verwaltete Provinz. Auch in sprachlicher Hinsicht bedeutete der Wechsel von Neapel nach Wien kein Aufgeben des vertrauten Umfeldes. Nicht nur, dass der habsburgische Herrschaftsraum mehrsprachig war. Der Arbeitsbereich Metastasios - die Welt der Oper des 18. Jahrhunderts mit ihren Musikern, Sängern, Librettisten - war bekanntlich eine italienische Welt, ein von italienisch-sprachigen Künstlern dominierter Raum. Nur eine Zahl in diesem Zusammenhang: Claudio Sartori kommt in seiner Bestandsaufnahme der im 17. und 18.Jahrhundert gedruckten und in den Bibliotheken noch nachweisbaren italienisch-sprachigen Libretti auf über 25.000(!) Drucke und auf circa 2800 Librettisten. Und Wien gehörte bekanntlich zu den Zentren der italienischen Oper. Angesichts dieses italienisch dominierten kulturellen Umfeldes kam Metastasios Umzug von Neapel nach Wien wohl kaum einer Reise in die Emigration gleich. Und wie steht es mit der Einwirkung Metastasios auf die heimatlichen Provinzen? Sie ging, wie uns die Kulturhistoriker wissen lasen, weit über die heimatlichen Provinzen hinaus. Der in Wien ansässige Librettist ist im 18.Jahrhundert eine international geschätzte, eine europäische Berühmtheit. Nach einer Hochrechnung, die Reinhart Meyer in dem schon genannten Sammelband Pietro Metastasio. uomo universale vorgelegt hat, kommt man für das "Gesamtwerk auf ca. 4.422 Textdrucke beziehungsweise Neuinszenierungen/Vertonungen in 1.518 europäischen Städten von 1.580 Komponisten. Nicht berücksichtigt sind dabei die Übersetzungen." (p.339). Dies ist nur die positivistische Seite der immensen Rezeption, die der poeta cesario im Settecento erfuhr. Die Reputation Metastasios und damit implizit seine Einwirkungsmöglichkeiten im europäischen interkulturellen Kontext reichen selbstverständlich auch in die ideologischen und ästhetischen Dimensionen. Als einen Literaten, der noch über Dante, Petrarca, Boccaccio und Ariosto zu stellen sei, habe doch keiner von diesen in seinem Bereich so vollkommene Werke geschaffen wie Metastasio in dem seinen, so rühmt im Jahre 1763 der Jesuit und Literaturkritiker Giuseppe Baretti - nicht ohne polemische Absicht - den kaiserlichen Hofpoeten. "Liebling seiner Zeitgenossen", so nennt ihn im literarhistorischen Rückblick August Wilhelm Schlegel in seinen Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur und fügt dann mit einer gewissen Distanzierung hinzu: "Metastasios Muse ist eine liebesschmachtende Nymphe. Eine gewisse schmelzende Weichlichkeit in den Gefühlen und in ihrem Ausdruck hat den Metastasio zum Liebling seiner Zeitgenossen gemacht". Es ist indes nicht allein der Liebesdiskurs, so subtil und vielseitig er auch im einzelnen ist, der den Ruhm Metastasios begründet. Auf den Liebesdiskurs und vor allem auf das lustvolle Analysieren erotisch bedingter Seelenmechanismen verstanden sich im 18. Jahrhundert bekanntlich nicht wenige Literaten. Es sind im Kontext des aufgeklärten europäischen Absolutismus die ideologischen Dimensionen seiner Stücke, die den europäischen Ruhm des kaiserlichen Hofpoeten und Kulturbeamten Metastasio begründeten und die zugleich mit dem Ende des Absolutismus diese obsolet machten und den Ruhm ihres Verfassers schal werden ließen. Die Libretti des Metastasio - man denke etwa an Il Re Pastore und vor allen an La clemenza di Tito, Texte, die dem heutigen Publikum noch von den Opernversionen Mozarts her bekannt sind - erfüllen sowohl von der Thematik als auch von ihrer Konfiguration her die ihnen zugedachte gesellschaftlich-ideologische Funktion in geradezu idealtypischer Weise: idealisiertes Abbild und Vorbild aufgeklärter Herrschafts- und Hofkultur zu sein. Dies geschieht zum einen durch die Präsentation eines aufgeklärten und gütigen Herrschers, der Konflikte zu lösen weiß und der seinen Untertanen an Intellektualität, Gesittung und vorbildlichem Verhalten weit überlegen ist, und zum anderen durch die Darstellung des Konflikts zwischen Vernunft und Leidenschaft und dessen Lösung zu Gunsten staatlicher oder ethischer Verpflichtung. Diese Lösung führt indes nie in die Katastrophe - weder für die Liebenden noch für den Herrscher, sondern zu einem versöhnlichen Finale, dem sogenannten "lieto fine". In dem 1734 zu Ehren Kaiser Karls VI. geschriebenen Melodrama La Clemenza di Tito lässt der Kaiser Titus nicht nur den Verschwörern gegenüber Gnade walten, sondern verzichtet noch dazu zugunsten der Liebenden auf seine Wünsche, und in Il re pastore übernimmt Alexander der Große zugleich politische und amouröse Pflichten, wenn er den rechtmäßigen Herrscher in sein Amt einsetzt und die Liebenden aus allen Irrungen und Wirrungen befreit und als Paare zusammenführt. Im Musiktheater Metastasios feiert die höfische Gesellschaft sich gleichsam selber, und dies auch im ganz konkreten Sinne: Il Re Pastore wurde von Mitgliedern der Hofgesellschaft im Jahre 1751 in der kaiserlichen Residenz von Schönbrunn uraufgeführt.
Wie schwer die ideologischen Dimensionen des Metastasischen Theaters heute verstanden werden und wie schwer sie auf der Bühne zu vermitteln sind, dies konnte man unlängst bei der La Clemenza di Tito-Inszenierung der Salzburger Festspiele sehen. Dort wurde unter der Regie von Martin Kusej die idealtypische Herrscherfigur Metastasios zum Schwächling, ja zum Trottel dekonstruiert und das Motiv der Gnade als subtile Grausamkeit und latenter Masochismus eines Tyrannen entlarvt. Eine solche Deutung ist allerdings nur auf den ersten Blick schick-modern. Auch manche Zeitgenossen standen dem höfischen Repräsentationstheater des kaiserlichen Hofpoeten äußerst skeptisch gegenüber. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang immer gern auf das Beispiel Vittorio Alfieris, der in seiner Autobiographie erzählt, dass er es auf seiner Reise nach Wien im Jahre 1769 abgelehnt habe, dem berühmten Metastasio ("il celebre poeta") vorgestellt zu werden. Hatte er doch beobachtet, wie der schon über Siebzigjährige den obligatorischen Kniefall vor der Kaiserin gemacht hatte. Metastasio ist für Alfieri nur ein "serviler Höfling", der sich an die von ihm, von Alfieri, so verachteten Despoten verkauft hat:" [...] io non avrei consentito mai di contrarre né amicizia né familiarità con una Musa appigionata o venduta all'autorità despotica da me sì caldamente abborrita"(3). Eine polemische Bemerkung, die - ganz abgesehen von der typischen Selbststilisierung des autobiographischen Erzählers zum freiheitlich gesinnten Intellektuellen - offensichtlich neben der Person auch auf das Werk mit seinem systemstabilisierenden ideologischen Diskurs zielt. Man täte indes dem in seiner Zeit in ganz Europa so renommierten Literaten und Wiener Hofbeamten Unrecht, wenn man sein Werk auf die Kategorien des absolutistischen Huldigungstheaters und des Dramas der subtilen Seelenanalyse reduzieren würde, wenngleich dies zweifellos die Grunddeterminanten seines oeuvre sind. Es gibt noch eine weitere Facette seines Schaffens, die gern übersehen wird, wenngleich die italienisch-sprachige Kritik sie als überaus bedeutend herausstellt: die lyrischen Texte. Metastasio auf der einen - sagen wir der traditionellen Seite - und Giuseppe Parini mit seiner hochstilierten aufklärerischen Gebrauchspoesie auf der anderen Seite sind gleichsam die paradigmatischen Lyriker des Settecento. Als unumstrittene Gipfelpunkte der Lyrik Metastasios - sieht man einmal von den mehr als 1200 Arien in den Musiktheaterstücken ab - gelten das im Zusammenhang mit dem libretto L'Olimpiade entstandene Sonett Sogni e favole io fingo, die Kanzone La Libertà sowie die Kanzonette La Partenza.(4) Das genannte Sonett, auf das wir im folgenden einen Blick werfen wollen, ist ein Musterbeispiel für die interkulturelle Kompetenz seines Autors, ein Musterbeispiel für die kunstvolle Verschränkung unterschiedlichster Themen und Motive, die alle fragmentarisch zitiert und in die strenge Form des Sonetts gezwängt werden. Die Liste der zitierten Themen reicht dabei von produktions- und rezeptionsästhetischen Überlegungen, über Topoi der Barockliteratur bis hin zu religiöser Grundbefindlichkeit. Anders ausgedrückt: ganz in Petrarca-Manier verschränken sich der poetologische, der moralisch-didaktische und der religiöse Diskurs. Was fehlt, ist allein der Petrarca eigentümliche erotische Diskurs. Lassen wir die möglichen autobiographischen Erklärungen mit ihren Hinweisen auf die Entstehung des Sonetts, wie sie sich in der dem lyrischen Text vorangestellten didascalia und wie sie sich aus einem Brief Metastasios an die befreundete Sängerin Marianna Benti-Bulgarelli ergeben könnten, beiseite und konzentrieren wir uns allein auf das Sonett.
Sogni e favole io fingo;e pure in carte
mentre favole e sogni orno e disegno,
in lor, folle ch'io son, prendo tal parte,
che del mal che inventai piango e mi sdegno.Ma forse, allor che non m'inganna l'arte,
più saggio io sono? È l'agitato ingegno
forse allor più tranquillo? O forse parte
da più salda cagion l'amor, lo sdegno?Ah che non son sol quelle ch'io canto o scrivo
favole son; ma quanto temo o spero,
tutto è menzogna, e delirando io vivo!Sogno della mia vita è il corso intero,
Deh tu, Signor, quando a destarmi arrivo,
fa ch'io trovi riposo in sen del Vero!
Ich habe nicht weiter nach Übersetzungen des Sonetts gesucht. Zufällig fand ich eine - eine recht freie Übersetzung in Cecilia Bartolis Gluckalbum vom Jahre 2001, eine Übertragung von Gudrun Meier -
So träume ich und fabuliere, und wenn nach Belieben
Papierne Mär und Träume ich webe und verziere,
Wird' töricht so sehr ich von Mitleid getrieben,
Daß falsche Not wütend und weinend ich erspüre.Doch wenn dem Blendwerk der Kunst fern ich geblieben,
Bin weiser ich dann wohl? Was ruhlos ich räsoniere,
Vielleicht verstummt es irgendwann? Vielleicht zerstieben
Aus bess'rem Grund Glut und Groll, die ich spüre?Doch, ach, nicht das allein, was ich singe und schreibe,
Ist Lug und Trug, auch was ich fürchte, erstrebe,
Alles ist Lüge, die Zeit im Wahn ich mich mir vertreibe.Ein Traum ist alles ganz und gar, was dahier ich erlebe.
Ach, du, o Herr, wenn Wachheit geworden zur Bleibe,
Mach, dass der wahren Dinge Hort Frieden mir gebe!
Versuchen wir uns auf der Basis der drei genannten textkonstituierenden Diskurse, des poetologischen, des moralisch-didaktischen und des religiösen, im folgenden an einer Interpretationsskizze.
Das erste Quartett nennt die Termini der klassischen Produktions- und Rezeptionsästhetik: sogno, favola, fingere, ornare, disegnare, prendere parte, piangere, sdegno. Favola und fingere im Sinne eines erfundenen, besser: eines vorgefundenen imaginären Handlungsverlaufs - vorgefunden in Geschichten und Mythen aus der antiken Welt, der Metastasio das Material für seine Libretti zu entnehmen pflegte. Sogno, Traum, ist ein zusätzlicher Hinweis auf die amimetische Welt, die sich in seinen Stücken ereignet, eine Welt - so wird Strindberg, den Traumcharakter der Literatur definieren -, in der alles geschehen kann, alles möglich und wahrscheinlich ist. Ornare: schmücken, verzieren, disegnare im Sinne von Organisation des Materials, inventare im Sinne des Findens oder Vorfindens des Stoffes sind Termini, die nahezu wörtlich auf Schlüsseltermini der Textfabrikation in der klassischen Rhetorik verweisen: auf die inventio, die dispositio und den ornatus als Hauptteil der Stillehre, der elocutio. Wenn schon die klassische Produktionsästhetik zitiert wird, dann dürfen offensichtlich auch die Topoi der klassischen Rezeption nicht fehlen: der Appell an die Affekte und die Körpersprache: Mitleid (prendo tal parte), die Tränen (piangere), die Erschütterung (lo sdegno). Das zweite Quartett präsentiert das typisch selbstquälerische Räsonieren der Metastasischen Bühnengestalten oder - wenn man so will - ein Soliloquium in Petrarca-Manier, das mit seiner lyrischen Haltung der Meditation und der Reflexion, die sich hier noch auf das Thema der Funktion der Kunst beschränkt, zu einem allgemein didaktisch-moralischen Diskurs überleitet. Ein Diskurs, der die barocke Scheinhaftigkeit von Kunst und Leben aufgreift, diese aber nicht als manieristische Konstruktion schöner Scheinwelten, sondern als Konstituenten der conditio humana begreift.
Die Literarhistoriker wissen, dass das Thema des Scheins, des inganno und des engaño, eines der beliebtesten Spielthemen der Barockliteratur war: der Novellisten, die es liebten, die Liebe als Trug und Lug zu verkaufen, der Moralisten, die alle zwischenmenschlichen Beziehungen als auf Schein und Lüge basierend hinstellen, der Theatermacher, die schon mit ihren kunstvollen Maschinen eine illusionäre Welt herbeizauberten, der Lyriker, die ihre manieristischen Sprachkonstrukte gern auf der Antithetik von Schein und Sein aufbauten.
Metastasio - ganz im Sinne der interkulturellen Kompetenz - bedient sich in seinem Sonett aus dem Tesaurus der antiken wie der barocken Ästhetik. Und in der Pointe des Sonetts - dem Schlusswort Vero - Wahrheit - zeigt er noch einmal, dass ihm nicht nur die barocken Materialen vertraut sind, sondern dass er auch die barockmanieristische Technik beherrscht: den Kunstgriff der ostentación, der gezielten Zur-Schau-Stellung von Kunstfertigkeit und Erudition. Das Schlusswort Vero, das Wahre, steht nicht nur im Kontrast zum Anfang des Sonetts: zu sogno, favola, fingere, zu Traum und Imagination und erfundener Geschichte, sondern ist zugleich ein Periphrase für ein Grundattribut des Göttlichen. "Ego sum via et veritas et vita", ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben - so heißt es im Johannes-Evangelium (Joh.XVI, 6). Nicht genug damit. Die manieristische ostentación, die sich im religiösen Diskurs oder, wenn man so will, im Gebetsstil des Schlussterzetts manifestiert, begnügt sich nicht mit einem unmarkierten fragmentarischen Zitat aus der Bibel. Sie verweist in ähnlich fragmentarisch-latenter Weise mit dem Schlüsselwort "riposo" - Ruhe, Frieden - auf die Confessiones des Augustinus, wo es gleich zu Anfang heißt, dass alles Bestreben in Gott sein Ziel habe: "inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te". Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, o Gott.
Sogni e favole io fingo ... ist ein Sonett, das als ästhetische Programmschrift beginnt, das über das Wesen der Kunst reflektiert, das Topoi der Barockliteratur noch einmal hin und her wendet, das in einem scheinbar ganz demütigen Gebet mit kunstvoll unmarkierten Verweisen auf die Bibel und auf Augustinus gipfelt. Allein das lyrische Gebet ist nur ein scheinbar demütiges Gebet. In einem Akt gleichsam affektierter Bescheidenheit stellt sich Metastasio in die Tradition des Augustinus, eines Augustinus, den die katholische Kirche zwar als Heiligen feiert, der aber zugleich ein Rhetor im antiken Sinne war, ein Literat und Künstler der Sprache im modernen Sinne. Wie Augustinus war auch Metastasio ein Propagandist des Systems, dem er verhaftet war, aber zugleich war er auch ein Literat und Künstler der Sprache.
Metastasio verkörpert den Typus des europäischen Literaten - eines Literaten und Intellektuellen mit umfassender kultureller oder, wenn man so will, intertextueller und interdiskursiver Kompetenz, eines Literaten, dessen Arbeiten in ganz Europa rezipiert wurden und der doch nur in einer europäischen Regionalsprache schrieb, einer Sprache indes, die zu seiner Zeit - zumindest im Umfeld des Musiktheaters - in ganz Europa verstanden wurde.
© Hans Felten (Aachen)
ANMERKUNGEN
(1) Andrea Sommer-Mathis u. Elisabeth-Theresia Hilscher (Hgg.): Pietro Metastasio uomo universale. Wien 2000.
(2) Vgl. Reinhart Meyer in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Jahrgang 21, Heft 2, Wolfenbüttel 1997, S. 208-214.
(3) Vittorio Alfieri: Vita. A cura di Giampaolo Dossena. Torino 1967, S. 95.
(4) Vgl. Pietro Metastasio: Opere. A cura di Mario Fubini [...]. Milano-Napoli 1968.
5.11. Das Schreiben in der Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania
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Hans Felten (Aachen): "Sogni e favole io fingo" - interkulturelles
Schreiben bei Pietro Metastasio. In: TRANS. Internet-Zeitschrift
für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_11/felten15.htm