Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | August 2004 | |
5.11. Das Schreiben in der
Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Iris Gruber (Universität Erlangen)
Mit diesem Beitrag wird versucht, die Funktionen des Begriffs der écriture migrante in Québec zu erörtern und im Zuge dessen die positiven und negativen Aspekte, die dieser von der Literaturwissenschaft eingeführte Begriff auf die Literatur aus Québec haben kann, zur Diskussion zu stellen. Dabei ist die wechselseitige Einflussnahme der gleichzeitig existierenden und sich stets verändernden Literaturen und Kulturen innerhalb des literarischen Feldes in Québec zu bedenken. So wird gezeigt, dass die mit dem Begriff écriture migrante beschriebenen Phänomene auch in zeitgenössischen Texten auftauchen, die sich nicht explizit mit der Problematik des Wechsels von einem Land in das andere auseinandersetzen, sich aber trotzdem gegen eindeutige Identitätszuschreibungen verwehren, indem sie sich jeglicher Festlegung durch Begrenzung entziehen.
In ihrer Untersuchung Ces étrangers du dedans. Une histoire de l'écriture migrante au Québec (1937-1997)(1) wollen Clément Moisan und Renate Hildebrand die littérature migrante nicht unabhängig von der littérature québécoise und umgekehrt betrachtet wissen, denn:
En effet, les données textuelles, formelles, génériques, historiques, thématiques, et toutes celles apportées par ces écritures "autres" (sociales, morales, politiques), changent le visage et le paysage de la littérature ainsi que son champ propre et la structure de ce champ. (M/H, 14)
Beschreiben sie auch die Genese der littérature migrante über vier Epochen hinweg, indem sie zumindest vorgeblich auf das Einflussverhältnis von littérature québécoise und écriture migrante eingehen (es sind dies: die Unikulturalität oder die Moderne (1937-1959), die Plurikulturalität oder die Postmoderne (1960-1974), die Interkulturalität oder die Immigrantenliteratur (1975-1985) und schließlich die Transkulturalität oder die Migrantenliteratur (1986-1997)), so bleibt die Analyse dennoch recht konsequent einseitig, erfahren wir so gut wie nichts über die Beschaffenheit der literarischen Situationen, der Texte, der Felder in Québec allgemein. Dieses Manko verstärkt sich noch wesentlich durch beziehungsweise gründet sich in der Auswahl des Textkorpus:
En pratique, nous avons pris en compte à peu près tous les auteurs, même si les oeuvres de chacun d'eux n'ont pas fait l'objet d'une étude extensive. Le premier critère de choix d'un écrivain est celui de son émigration au Québec, aux fins d'y rester, même s'il n'y demeure que quelques années. Le deuxième est la publication d'au moins une oeuvre au Québec, même si plusieurs autres se trouvent édités au pays natal ou ailleurs, particulièrement en France. Troisième critère, l'oeuvre doit avoir été écrite directement en français. (M/H, 20)
Die Texte sperren sich bisweilen auch gegen diese höchst allgemeine Einordnung. Moisan/Hildebrand verweisen selbst auf das Werk Naïm Kattans, das lediglich aufgrund des Wohnsitzes des Autors aus dem vorgegebenen Rahmen fällt (vgl. M/H, 20). Folgen wir der Argumentation der Beiden weiter und wenden sie zum Beispiel umgekehrt auf Frankreich an, so wäre der in Frankreich lebende, in französischer Sprache schreibende Québecer Jacques Poulin, der ja nicht nur bei Leméac, sondern auch bei Actes Sud publiziert, als écrivain migrant français und nicht so sehr wie üblicherweise als écrivain québécois zu klassifizieren.
Die Frage, die wir uns hier stellen können, lautet: Soll die nationale Zugehörigkeit beziehungsweise Abstammung das oberste Unterscheidungskriterium für die Einteilung in littérature québécoise und littérature migrante sein? Oder bei genauerem Hinsehen: das einzige? Denn die Publikation von Werken in Québec, in französischer Sprache, das sind Punkte, die unbestreitbar auch auf die littérature québécoise zutreffen. Wenn nun aber das, was die SchriftstellerInnen zu VertreterInnen der écriture migrante macht, ihre Herkunft ist, so tun sich Grenzen der Kategorisierung auf, die dem Anliegen dieser littérature migrante grundsätzlich widersprechen: Nicht eindeutige Differenzierungen zwischen einer und der anderen Kultur sind ja gegenwärtig die Motive der betreffenden Romane, sondern die Situation des Dazwischen, zwischen Identität und Alterität, Vergangenheit und Gegenwart, Innen und Außen usf. Die Spannung, die zwischen diesen Differenz-Polen entsteht, bringt fest geglaubte Grenzen in Bewegung, macht eindeutige Identitätszuschreibungen unmöglich, bringt Gleichzeitigkeiten, Mehrfachzugehörigkeiten, Unsicherheiten ins Spiel: "Pas d'ordre. Ni chronologique, ni logique, ni logis. Rien qu'un désir d'écriture et cette prolifération d'existence. Fixer cette porosité du probable, cette micromémoire de l'étrangeté. Étaler tous les signes de la différence [...]"(2), so Régine Robin in La Québécoite. Marco Micone beschreibt in Le Figuier enchanté(3): "Ni tout à fait italienne, ni tout à fait québécoise, ma culture est hybride. En plus de cette ville, je porte en moi le village que jadis s'arracha à sa colline pour se tapir dans la mémoire de chaque déraciné." (4), Sergio Kokis in Le Pavillon des miroirs(5): "Cette identité était sûrement quelque part, ailleurs. Je ne savais pas encore qu'elle n'est jamais acquise, se confondant dans la trame des gestes du passé." (6)
Wir kommen damit also von den biographischen Details über die AutorInnen ab- und zu eventuellen thematischen Besonderheiten der littérature migrante hin. Moisan/Hildebrand beschreiben das Transkulturelle der zeitgenössischen écriture migrante im Unterschied zur vormaligen, stärker differenzierenden écriture immigrante wie folgt:
Le transculturel [...] dépasse la mise en présence ou en conflit des cultures pour dégager des passages entre elles et dessiner leur traversée respective. [...] La littérature dans son ensemble obéit à une évolution ; dans le cas qui nous occupe, le passage s'opère d'une "écriture immigrante", c'est-à-dire axée sur le passé et le présent des cultures de départ et d'arrivée, à une écriture "migrante", c'est-à-dire portée désormais par un déplacement possible vers et à travers l'autre, cette transhumance ou ce changement d'espace se produisant à un moment particulier d'une période ou de l'histoire. (M/H, 207f)
Das ist sehr allgemein gehalten, und so kann freilich nahezu jedes nur denkbare literarische Thema, von jedem nur denkbaren Ort aus beschrieben werden. Die Behauptung, wir können von einem thematischen Spezifikum der littérature migrante sprechen, wird erneut in Frage gestellt: Dass es sich bei der écriture migrante um Texte handelt, die "à la fois le passage et le changement d'un lieu, d'un état ou d'un moment, à un autre" (M/H, 208) beschreiben, steht außer Zweifel - allerdings treffen diese Charakteristika bisweilen sehr wohl auch auf Texte von AutorInnen zu, die nicht zwingend aus einem anderen Land nach Québec eingewandert sind, das meint also durchaus literarische Phänomene allgemeinerer, und vor allem weniger auf nationalen Kategorien und Identitätszuschreibungen beruhender Natur.
Zeitliche und räumliche Grenzüberschreitungen, ein sich nicht Zurechtfinden des Individuums in der Gegenwart, in der Gesellschaft, Brüche in der Narration, kurz und überspitzt: verwirrtes Umherirren im Nirgendwo und Nirgendwann, das findet sich im Übermaß in der québecischen Literatur der 90er Jahre, denken wir etwa an den Protagonisten in Gaétan Soucys L'Acquittement(7) und dessen halluzinatorische Winter-Nacht-Wanderung zwischen Realität und Fiktion, Vergangenheit und Gegenwart, "puisque rien n'est réel"(8), an die Montréaler Spaziergänge der beinahe wie paranoiden Protagonistin in Lise Tremblays La danse juive(9), die sich weder allein noch in Gesellschaft in der Gegenwart zurechtfindet, "en attendant d'avoir le courage de refaire le trajet en autobus [...] j'étais invisible"(10), oder an den an der thomasbernhardovite erkrankten, schreib-unfähigen Autor in Rober Racines Le Mal de Vienne(11), ebenfalls zwischen Realität und Fiktion, der "ne sait plus quoi faire de ces voix"(12).
Genau das ist letzten Ende auch der Schluss, den Moisan/Hildebrandt aus ihrer Geschichte der écriture migrante au Québec ziehen. Transkulturalität, das heißt für sie unter anderem: der intertextuelle Bezug zwischen den Werken von québécois- beziehungsweise néo-québécois- Autoren. Diesen sehen sie in seit Ende der 80er Jahre erschienenen Texten verwirklicht: "Diverses thématiques privilégiées par les écrivains migrants, qui ne leur appartiennent pas en propre, même si elles leurs sont plus "naturelles", pour ainsi dire, créent des passerelles entre leurs oeuvres et celles des écrivains québécois." (M/H, 213) Dass an dieser Stelle der Begriff naturel in Anführungszeichen gesetzt wurde, hilft uns leider auch nicht über die sehr verallgemeinernde und damit viel zu unkonkret-schwammige Aussage hinweg, gewisse Themen seien AutorInnen aus anderen Ländern eigener als den québécois pure laine.
In der Conclusion schließlich heißt es zunächst zwar:
L'étude que nous avons réalisée prouve que ces oeuvres néo-québécoises sont de la littérature, au sens strict du terme, et que leurs auteurs appartiennent à la littérature québécoise, en sont des éléments essentiels, tout en se distinguant par des caractères propres, nettement identifiables. (M/H, 312),
wenig später jedoch:
Car, désormais, toute littérature peut être dite migrante, en ce sens que toute écriture est impossible, qu'elle ne réussit pas à établir une coïncidence parfaite entre identité et écriture. Tel est bien le problème qui se pose à tous les écrivains, qu'ils soient "pure soie" ou "pure laine". (M/H, 326)
Am Ende der Geschichte wird also das Ende der Geschichte der littérature migrante verkündet. Das mutet denn doch ein wenig befremdlich an. Wozu, wenn der Begriff letzten Endes nicht brauchbar erscheint, weil er "alles" bedeuten kann, ist denn das Buch geschrieben worden? Die Erklärung über die unbedingte und konsequente Unterscheidung zwischen littérature québécoise als der allgemeine Überbegriff und écriture, nicht: littérature migrante als unabdingbarer Teil der littérature québécoise, der diese auch mitbestimmt und in Wechselwirkung mit ihr immer neue Texte hervorbringt (vgl. M/H, 320), überzeugt nicht, vielmehr entsteht der Eindruck, Moisan und Hildebrand stünden weder hinter ihrer anfänglichen Kategorisierung und strikten Auswahl des Textkorpus, noch könnten sie sich durchringen, diese ganz zu verwerfen. Der wiederum schwammige Vorschlag eines Systemkonzeptes, das "ne permet pas de créer des catégories séparées, mais bien plutôt de soumettre toutes les données littéraires aux fluctuations systémiques" (M/H, 320), mag gut gemeint sein, sagt aber über die Kategorie der écriture migrante im Speziellen, und das ist immerhin das Thema der Untersuchung, nichts konkret Fassbares aus.
Dass es ein unmögliches Vorhaben ist, für die zeitgenössische Literatur eindeutige und fixe, allgemeingültige Kategorien der Einteilung und Differenzierung zu finden, soll hier nicht bestritten werden - im Gegenteil. Viel eher, anstatt sich andere Kategorien auszudenken, können diese überhaupt in Frage gestellt werden, zumal die Vermutung besteht, dass eine Abgrenzung der littérature migrante, immigrante etc. von der littérature québécoise nicht erst, wie Moisan/Hildebrand meinen, ab den 80er Jahren problematisch wird, sondern mit Sicherheit schon davor. Das Eigene und das Fremde sind Motive, die gerade die Literatur Québecs auf der Suche nach ihrer Identität seit den 60er Jahren im Speziellen beschäftigt, und so wie es Moisan und Hildebrandt für die écriture migrante konstatieren, ist auch in den Texten québecischer Autoren zunächst eine Unterscheidung zwischen, ein Aufbegehren gegen mächtige Kulturen zu verzeichnen - seien es die eigenen oder die fremden.
Denken wir etwa an Marie-Claire Blais' Roman Une saison dans la vie d'Emmanuel(13), so sind wir auf den ersten Blick und traditionellerweise wohl nicht geneigt, diesem Charakteristika der écriture migrante zuzuordnen. Bei genauerem Hinsehen jedoch finden sich sehr wohl narrative Strategien und Phänomene, die sich mit der Spannungssituation zwischen Kulturen auseinandersetzen - nur dass diese Kulturen nicht von einem Land ins andere variieren, sondern innerhalb der "nationalen" Gesellschaft. Der Weg vom québecischen Land in die Stadt etwa ist ja bereits in der Literatur der 50er Jahre thematisiert(14) - in Blais' Roman sind aber nicht nur diese beiden Gesellschaftsgruppen einander gegenübergestellt, sondern und vor allem die vom Katholizismus geprägte québecische Kultur, ihr literarisches Erbe, mit Momenten der Veränderung, die sich besonders über den bösen und distanziert-ironischen Blick der Erzählerin auf das vorgeblich Québecische: Eis- und Schnee-Landschaft und Bûcheron-Mentalität manifestieren. Die kritische Auseinandersetzung mit dem homogenen Bild zur Beschreibung des Eigenen macht deutlich, dass dieses nicht ausreicht, dass der adäquatere Blick auf Gesellschaft und Kultur ein differenzierterer sei.
Hier wird nicht nur der Katholizismus, das provinzielle Landleben verweigert, sondern auch die dementsprechende kulturelle Produktion: Marie-Claire Blais' Roman bricht mit der Idylle aus Maria Chapdelaine(15). Die Holzfällermentalität der Romans du terroir hat lange Jahre literarische Traditionen bestimmt, gesellschaftliche Klischees genährt und scheinbar unveränderliche Identitätszuschreibungen gestiftet. Der Einfluss der katholischen Kirche auf das kulturelle Leben Québecs hat ein Übriges zu dessen Quasi-Stillstand getan.(16)
Die Kinder des Romans von Blais, die in der beschriebenen Kultur nicht überleben können, sind wohl auch als Bild für die québecische Kultur beziehungsweise Literatur, dessen Stillstand an sich zu sehen, der anbrechende Frühling am Ende des Textes, der - wenigstens bis zum nächsten Winter - das Überleben des Säuglings Emmanuel zu sichern scheint, ist ein - wenn auch unsicherer, weil verlustreicher - Hoffnungsträger für positive und kreative kulturelle Veränderung:
Emmanuel n'avait plus froid. Le soleil brillait sur la terre. Une tranquille chaleur coulait dans ses veines, tandis que sa grand-mère le berçait. Emmanuel sortait de la nuit. - Oui, ce sera un beau printemps, disait Grand-Mère Antoinette, mais Jean Le Maigre ne sera pas avec nous cette année...(17)
Eine Form der literarischen Auseinandersetzung mit anderen Kulturen in den 60er Jahren ist die Thematisierung des Amerikanischen im québecischen Roman. Abgrenzung von und Ablehnung des dominanten anglophonen Kulturraumes finden sich etwa in Jacques Godbouts Romanwerk, etwa in Une histoire américaine(18), auch hier über den selbst-ironisch-distanzierten Blick des Erzählers:
California Crazy! Écrivit-il tout en haut de la première page de son journal. Je ne suis pas fou, et je ne plaiderai pas le coup de bambou. Les délires californiens, l'assassinat à la mitraillette des clients innocents et affamés d'un Mac Donald, les lames de rasoir introduites dans les fruits frais d'un supermarché, les bonbons à la strychnine, le goût du sang, l'envie de devenir millionnaire et tout-puissant ne s'attrapent pas en arrivant à l'aéroport comme se respirent des virus, que je sache ! Je suis né à Montréal, Canada, il y a quarante-huit ans, onze mois et deux jours. Je sais être précis.(19)
Dieser Blick trifft aber nicht nur die anderen, sondern auch das Selbst, und der extremen, weil ironischen Polarisierung weichen recht bald feinere Differenzierungen, Spiele mit der Sprache und der Identität, den Mehrfachzugehörigkeiten des Individuums. National motivierte Grenzziehungen zwischen inter- und intrakulturellen Differenzen geraten dabei sehr rasch ins Fließen und sind mittlerweile wohl müßig geworden. Das zeigen etwa die Romane Jacques Poulins, insbesondere Volkswagen Blues(20), in dem der schreibunfähige Schriftstellerprotagonist Jack Waterman auf der Suche nach seiner (und der québecischen) Identität über eine historische Reise durch Kanada und die USA die Sprache, die Worte wieder findet, dies alles in einem alten, rostigen, aus Europa nach Amerika transferierten Volkswagenkleinbus, wo: "une mystérieuse inscription en allemand, sous le pare-soleil du conducteur, se lisait comme suit: Die Sprache ist das Haus des Seins." (21).
Ob die Autoren nun ursprünglich aus Haiti kommen, aus Brasilien oder China, ob sie in Montréal oder Québec geboren sind, spielt letztlich keine große Rolle. Viel interessanter scheint doch die feststellbare Tendenz, dass ihre Texte sich mit der Suche nach einer Identität beschäftigen, die im Zuge dieser Beschäftigung sich aber gleich als unmöglich herausstellt. Die Art und Weise, auf die diese Identitätsfragen, -verweigerungen, -konstatierungen etc. kreativ verarbeitet werden, variieren unendlich und machen die Vielfalt und mit ihr die Unmöglichkeit fixer Kategorisierungen der québecischen Literatur aus. Und nicht nur der québecischen, die ja neben der écriture migrante auch in Wechselwirkung zu globalen literarischen Tendenzen steht: Die Abarbeitung an der Erfahrung, dass es keine Einheiten, keine großen Erzählungen(22), keine eindeutigen Lösungen und eben Identitäten mehr gibt, ihre künstlerische Verwertung, darf durchaus als allgemein in zeitgenössischer, postmoderner Literatur feststellbares Phänomen betrachtet werden.
Das Konzept der littérature migrante greift sicher nicht, wo es verwendet wird, um eine Grenze zur littérature québécoise zu ziehen, als Ausschluss, als ein Anderssein, egal ob wir dies negativ oder positiv verstehen. Auf der anderen Seite könnte nicht nur die québecische Literatur im Ganzen, sondern könnten Texte der Weltliteratur der Gegenwart, so sie sich eindeutigen Zuschreibungen zu entziehen suchen, ungeachtet der Konnotation von Migration überhaupt als écriture migrante klassifiziert werden, was freilich die Klassifizierung an sich sofort wieder in Frage stellte.
Das wäre letzten Endes wohl ganz im Sinne von Deleuze und Guattari, die 1976 in dem Aufsatz Rhizome(23) eine "écriture nomade et rhizomatique" (R, 35) proklamieren, die dem Konzept der écriture migrante als offenem, nicht abgrenzendem und nicht polarisierendem Schreiben gegenüber sehr starke Parallelen aufweist.
Die beiden Philosophen versuchen ein Denken der Vielheit in anderen Dimensionen als den althergebrachten Modellen der Binarität, wie sie die westliche Welt prägen. Gegen solche vereinfachende Differenzierungen vom sogenannten Eigenen und Fremden schreiben die écrivains migrants ebenso an wie VertreterInnen anderer literarischer Strömungen innerhalb der Québecer Literatur wie etwa die écrivaine au féminin Nicole Brossard.
"Il n'y a pas de différence entre ce dont un livre parle et la manière dont il est fait." (R, 10), meinen Deleuze und Guattari. Eine Textbetrachtung sollte also, um dem Multiplen gerecht zu werden, von einer synchronen wie diachronen, text- wie kontextbezogenen Annäherung ausgehen. Inhalt und Form können keinesfalls als unabhängig voneinander betrachtet werden.
Einheit im Sinne von Vereinheitlichung wird negiert, denn das meint Machtergreifung durch einen Signifikanten oder einen Prozess der Subjektivierung. (Vgl. R, 15). So ein Fall wäre etwa der Prozess der Interpretation von Texten. Die Textanalyse kann also nicht als hierarchisierende Wertung, als diskursive Machtergreifung gesehen werden, sondern sie ist Kontext innerhalb des rhizomatischen Systems, Teil des Rhizoms.
Besonders wird das nomadische Schreiben als rhizomatisch betont, nicht nur für das Genre Roman, sondern allgemein, etwa durch die Forderung einer Nomadologie anstelle herkömmlicher Geschichtsschreibung. Es wird ein Schreiben propagiert, das in Fluchtlinien stattfindet, das jegliche Hierarchie verlässt und außer Kraft setzt. (Vgl. R, 35) Fragen nach Orten, Zielen und Sinn werden damit unwichtig. Viel interessanter scheinen die Bewegungen zwischen den Dingen, die Reisen, die Ausgangspunkte der Mitte, das Hinein und Hinaus, das nicht Beginnen und nicht Enden:
Entre les choses ne désigne pas une relation localisable qui va de l'une à l'autre et réciproquement, mais une direction perpendiculaire, un mouvement transversal qui les emporte l'une et l'autre, ruisseau sans début ni fin, qui ronge ses deux rives et prend de la vitesse au milieu. (R, 37)
Ich beziehe diesen Ansatz in meine Überlegungen ein, weil er von der Unmöglichkeit eindeutiger Zuschreibungen ausgeht und damit im Kontext der Diskussion um den Begriff der écriture migrante in Québec gesehen werden kann. Ich beziehe ihn aber auch ein, weil er mir deutlicher als das Konzept der écriture migrante, das stets Gefahr läuft, Ausgrenzung zu signalisieren, eine Offenheit dem Text gegenüber zu postulieren scheint, die wir auf der literaturwissenschaftlichen Suche nach adäquaten Beschreibungsformen für die Texte, nach Kategorien, die natürlich nicht gänzlich verworfen werden können, manchmal vielleicht ein wenig vernachlässigen und so im literarischen Diskurs vereinfachen und verallgemeinern, anstatt der Lust im und am Text zu folgen, dem Fließen der Sprache, sei es die des Entwurzelten, der
oscille ainsi entre deux temps, le sien et le réel, en arrière et en avant, sans pouvoir se fixer. C'est que le temps s'allonge drôlement, il devient élastique et visqueux à la fois, fuyant et assommant, dès qu'on s'en va de sa maison. De toute maison, ailleurs.(24),
die der feministischen Übersetzerin, die
ne saura jamais pourquoi tout son être s'est enfoncé dans un livre, pourquoi pendant deux ans elle s'est brisée, s'est allongée dans les pages de ce livre écrit par une femme dont elle ne sait rien sinon la preuve présumée d'une existence recluse dans le temps et l'espace franchi d'un seul livre. (25)
oder die des in der Winterlandschaft Umherirrenden, der verzweifelt versucht, sich an die Realität zu erinnern:
L'officier tenta de reconstituer mentalement la scène. Il parcourut des yeux le tracé des pas de la gare jusque-là, lentement, comme s'il suivait un homme en marche. Il refit une fois encore les gestes du voyageur, prit le prisme, l'éleva vers la lune, etc., le laissa tomber dans la neige... Et c'est là que le lieutenant n'était plus sûr de rien.(26)
© Iris Gruber (Universität Erlangen)
ANMERKUNGEN
(1) Clément Moisan; Renate Hildebrand, Ces étrangers du dedans. Une histoire de l'écriture migrante au Québec (1937-1997), Québec, Nota Bene, 2001. In der Folge zitiert mit der Sigle M/H und Angabe der Seitenzahl.
(2) Régine Robin, La Québécoite, Montréal, Typo, 1993 [1983], S. 15.
(3) Marco Micone, Le Figuier enchanté, Montréal, Boréal, coll. "Boréal compact", 1998 [1992].
(4) Ibid., S. 100.
(5) Sergio Kokis, Le pavillon des miroirs, La Tour d'Aigues, L'aube 1999 [1994].
(6) Ibid., S. 151.
(7) Gaétan Soucy, L'Acquittement, Paris, Seuil, coll. "Points", 2001 [1997].
(8) Ibid, S. 126.
(9) Lise Tremblay, La danse juive, Montréal, Leméac, 1999.
(10) Ibid., S. 65.
(11) Rober Racine, Le Mal de Vienne, Montréal, l'Hexagone, 1992.
(12) Ibid., S. 11.
(13) Marie-Claire Blais, Une saison dans la vie d'Emmanuel, Paris, Seuil, coll. "Points", 1996 [1965].
(14) - eigentlich schon seit Gabrielle Roys Bonheur d'occasion (1995)
(15) Louis Hémon, Maria Chapdelaine, Montréal, BQ, 1990 [1916].
(16) Vgl. dazu Marie-Andrée Beaudet, "Interrogations sur la réalité de l'autonomie littéraire au Québec. (à partir d'un rappel des positions régionalistes et postpartipristes)", in: Développement et rayonnement de la littérature québécoise. Un défi pour l'an 2000. Actes du colloque présentés par l'Union des écrivaines et écrivains québécois (UNEQ) les 11, 12, et 13 mai 1992 à l'Université de Montréal dans le cadres du 60eme congrès de l'association canadienne-française pour l'avancement des sciences (ACFAS), Montréal, Nuit Blanche 1994, S. 27-38; S. 35.
(17) Blais, Emmanuel, S. 165.
(18) Jacques Godbout, Une histoire américaine, Paris, Seuil, coll. "Points", 1986.
(19) Ibid., S. 16
(20) Jacques Poulin, Volkswagen Blues, Montréal/Arles, Leméac/Actres Sud, coll. "Babel", 1998 [1984].
(21) Ibid., S. 91f.
(22) Vgl.: Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris, Minuit, 1979, S. 7.
(23) Gilles Deleuze; Félix Guattari, "Rhizome", in: Capitalisme et schizophrénie 2. Mille Plateaux, Paris, Minuit, 1980, S. 9-37. In der Folge zitiert mit der Sigle R und Angabe der Seitenzahl.
(24) Kokis, Pavillon, S. 324.
(25) Nicole Brossard, Le désert mauve, Montréal, l'Hexagone, 1987, S. 1/55.
(26) Soucy: L'Acquittement, S. 126.
BIBLIOGRAPHIE
BEAUDET, Marie-Andrée: "Interrogations sur la réalité de l'autonomie littéraire au Québec. (à partir d'un rappel des positions régionalistes et postpartipristes)", in: Développement et rayonnement de la littérature québécoise. Un défi pour l'an 2000. Actes du colloque présentés par l'Union des écrivaines et écrivains québécois (UNEQ) les 11, 12, et 13 mai 1992 à l'Université de Montréal dans le cadres du 60eme congrès de l'association canadienne-française pour l'avancement des sciences (ACFAS), Montréal, Nuit Blanche, 1994, S. 27-38.
BLAIS, Marie-Claire: Une saison dans la vie d'Emmanuel, Paris, Seuil, coll. "Points", 1996 [1965].
BROSSARD, Nicole: Le désert mauve, Montréal, l'Hexagone, 1987.
DELEUZE, Gilles; GUATTARI, Félix: "Rhizome" in: Capitalisme et schizophrénie 2. Mille Plateaux, Paris, Minuit, 1980, S. 9-37.
GODBOUT, Jacques: Une histoire américaine, Paris, Seuil, coll. "Points", 1986.
HÉMON, Louis: Maria Chapdelaine, Montréal, BQ, 1990 [1916].
KOKIS, Sergio: Le pavillon des miroirs, La Tour d'Aigues, L'aube, 1999 [1994].
LYOTARD, Jean-François: La condition postmoderne, Paris, Minuit, 1979.
MICONE, Marco: Le Figuier enchanté, Montréal, Boréal, coll. "Boréal compact", 1998 [1992].
MOISAN, Clément; HILDEBRAND, Renate: Ces étrangers du dedans. Une histoire de l'écriture migrante au Québec (1937-1997), Québec, Nota Bene, 2001.
POULIN, Jacques: Volkswagen Blues, Montréal/Arles, Leméac/Actres Sud, coll. "Babel", 1998 [1984].
RACINE, Rober: Le Mal de Vienne, Montréal, l'Hexagone, 1992.
ROBIN, Régine: La Québécoite, Montréal, Typo, 1993 [1983].
SOUCY, Gaétan: L'Acquittement, Paris, Seuil, coll. "Points", 2001 [1997].
TREMBLAY, Lise: La danse juive, Montréal, Leméac, 1999.
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Iris Gruber (Universität Erlangen): Aus einem Land - in das
gleiche. Zur Verwendung des Terminus écriture migrante
in Québec. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
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