Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | August 2004 | |
5.11. Das Schreiben in der
Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Andrea
Maria Humpl (Graz)
[BIO]
Während die Wanderungen und Bewegungen zwischen den unterschiedlichen sozialen, historischen und kulturellen Kontexten im zunehmenden Prozess der Globalisierung zumeist Wanderungen ohne sichere Rückkehr oder Ankunft darstellen, könnte man das Reisen des 1907 in Vicenza geborenen Autors und Journalisten Guido Piovene als permanenten Dialog mit der spezifischen Fremdheit anderer Kulturen bezeichnen, der sich jedoch im Bewußtsein um eine sichere Heimkehr entwickelt. Rückkehr und Aufbruch sind Zentrum und Ziel dieses Entdeckers, dessen Welt ihren festen Halt- und Angelpunkt im Getriebe der modernen Großstädte noch nicht verloren zu haben scheint. Seit die Raumdistanzen und Raumgrenzen keinen restringierenden Charakter mehr haben, die Landschaft zum Gegenstand subjektiven Empfindens und das Thema Heimat zur "nostalgischen Klage" geworden sind, entfallen auch die auf ihr beruhenden Sicherheiten. "Der Aufenthalt an bestimmten Orten wird zu einem kontingent erfahrenen Resultat von Reisen, Umzügen, Wanderungsbewegungen, und die räumlichen Sonderbedingungen verlangen eine Anpassung des Verhaltens, der sich der Einzelmensch durch Beweglichkeit und durch Substitution anderer Bedingungen entziehen kann."(1)
In den 50er und 60er Jahren bereist der als Auslandskorrespondent der Tageszeitung Corriere della Sera tätige Journalist England, Polen, Bulgarien, Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika, erfährt neue Lebensrealitäten, die er für das Lesepublikum in kritischen Reflexionen zu Papier bringt. Von 1952 bis 1974 schreibt Piovene für die Turiner Zeitung La Stampa, gemeinsam mit Indro Montanelli gründet er 1974 die Zeitung Il Giornale nuovo, deren Kulturteil er bis zu seinem Tod im November desselben Jahres leitet. 1953 wird De America bei Garzanti publiziert, 1957 die Studie Processo dell'Islam alla civiltà occidentale und 1958 der Reisebericht Viaggio in Italia veröffentlicht.
Dem Dilemma der schwierigen Positionierung der Textsorte des Reiseberichts zwischen rein objektiver chronologischer Anhäufung von Daten und historischen Fakten auf der einen Seite und der sich durch die Gebundenheit dieser Texte an eine erzählende Instanz ergebenden sprachkünstlerischen Gestaltung andererseits wollen wir in unserer Untersuchung dadurch entkommen, daß illusionsfördernde narrative Strategien in der Schrift De America aufgedeckt werden sollen, die bei der schriftlichen Umsetzung der beobachteten Welt aktiviert und in der konzeptuellen Basis der Texte transparent werden.
Der Narrator zeigt gleich zu Beginn seiner Reise in New York, wie vielschichtig sich das amerikanische Gesellschaftsbild gestaltet, auch wenn er bei der Beschreibung von nationalen Wesensidentitäten wiederum in die tiefenstrukturell vorgegebenen Muster bzw. Typisierungen nach dem Schema fremd/eigen verfällt. So werden die irischen Einwanderer etwa als puritanisch, patriotisch, unduldsam und wenig kompromißbereit bezeichnet.(2) Zu betonen wäre hier das Paradoxon, daß gerade Katholiken als Puritaner bezeichnet werden. Die Menschen des Südens sind protestantisch, jedoch nicht im Sinne des Protestantismus des Nordens. Schließlich hält der Erzähler inne und kommt zur Überzeugung, daß dieses ausgedehnte menschliche Panorama Amerikas in seiner Pluralität nicht in Definitionen verpackt, sondern nur aus der Sicht eines Schriftstellers beschrieben werden kann. Was verbindet den schlauen Bauern des mittleren Westens, den unnachgiebigen Bischof, den Automakler, den ehemaligen Spielhöllenbesucher, der zum rechtschaffenen Staatsbürger wird, den Moralisten, der die Scheidung abschaffen möchte, und den Südstaatler? Was haben der Farmer aus dem mittleren Westen, der Ire aus Boston, ein angelsächsischer Banker und ein Cowboy gemein? Das Bindeglied einer derartig heterogenen Gesellschaft ortet der Erzähler im nationalen Stolz der multikulturellen Bevölkerung, der melting-pot-Ideologie. Dazu kommt der Verdruß über die intellektuellen Agitatoren und Unruhestifter beziehungsweise über diejenigen, die sich gegen das politische System richten.
Ein Amerika der Kritik und des sozialen Protests scheint in der gegenwärtigen politischen Phase den allmählichen Untergang des Liberalismus herbeizuführen. Der protestantische und angelsächsische Charakter läßt sich in der Mentalität des Landes kaum noch ausmachen, die Norm ist ein Non-Konformismus und eine Moral des Protests.
Der Erzähler unterbricht seine Diagnose der "amerikanischen Seele" für einen Augenblick und reflektiert über die Schwierigkeit, die ein auch noch so scharfsinniger Beobachter hat, möchte er das Bewußtsein einer Kultur erfassen. Er gelangt zu der - für unsere Untersuchung fundamentalen - Erkenntnis, daß bei der reinen Beobachtung und Darstellung der Fakten sich von seiner Seite aus unweigerlich ein bestimmter Grad an poetischer Imagination mischt:
Qui all'osservazione dei fatti si mescola necessariamente un certo grado di immaginazione poetica. Una civiltà è infatti la trasposizione traslucida che un popolo fa di se stesso, e che fa accettare agli altri, quasi la proiezione di se stesso nell'infinito; è simile al cono d'ombra che l'inconsapevole terra proietta negli spazi [...]. Tutto ciò che sta in mezzo, e noi chiamiamo la vita di tutti i giorni, è una episodica che spesso la contraddice.(3)
Der Erzähler ist bestrebt, die komplexen imagotypischen Systeme, die auf eine Bestimmung eines Nationalcharakters abzielen, zu charakterisieren, und spricht hier von einer Transposition oder einem Bild, das jedes Volk und jede Nation von sich selbst schafft. In der Akzeptanz dieses Schattengebildes durch den anderen findet das oft trügerische Bild seine Bekräftigung. Beobachtet man hingegen die kleinen Episoden des täglichen Lebens, wie es sich der reisende Augenzeuge ja vorgenommen hat, so ergeben sich häufig widersprüchliche Urteile, welche das konventionelle imagotypische System einer Nation ins Wanken zu bringen drohen, seine Gültigkeit zu hinterfragen veranlassen.
Das nationale Image Amerikas wird vom Erzähler unter der Perspektive der wechselseitigen Beziehung von Europa und Amerika beschrieben. Der eigene Erfahrungsraum wird in den Beschreibungsvorgang der kulturellen Alterität eingebracht. Der Beobachter spricht davon, daß die Welt eine bestimmte "Konzeption" von Amerika in ihrem Denksystem gespeichert hat, das Land allerdings meistens kaum oder sehr schlecht kennt. Für einen Europäer stellt "Amerika" in seiner kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Vielfalt häufig eine Summe von livresken Kenntnissen und Begriffen dar, die darüber hinaus mit konventionellen Urteilen versehen sind. In den seltensten Fällen handelt es sich aber um eine gelebte Erfahrung, womit auf die Autopsie (autoptisches Prinzip), die Funktion des als Augenzeuge auftretenden Reisenden, verwiesen wird.
Das gängigste Klischee, das vom europäischen Intellektualismus und der europäischen Aufgeblasenheit verbreitet werde - so die kritische Stimme des Erzählers -, sei die Vorstellung, daß der Geist Amerikas auf dem Gedankengut der alten europäischen Aufklärung beruhe. Sobald alle Deutungsversuche und jegliche ideologische Einordnungen sich als schwierig erwiesen, führe man die wahrgenommenen Phänomene auf die Infantilität eines "rudimentären" Volkes zurück. In diesen verzerrenden Urteilen der europäischen Intelligenz sieht der Erzähler jedoch einen Fehler, denn Amerika könne nicht als der "Wurmfortsatz" Europas verstanden werden, nicht als ein nach Übersee transportiertes Europa:
Ma vi è un errore in queste opinioni correnti, che impedisce la comprensione e perfino un vero interesse. L'America non è affatto un'appendice dell'Europa, non è l'Europa trasportata oltre oceano. Essa è diversa, e la sua diversità può diventare per l'uomo comune un enigma. Occorre sforzarsi per interpretarla.(4)
Wiederholt weist der Erzähler darauf hin, daß das Ziel der Reise nicht darin besteht, den Leser zu belehren, sondern sich vielmehr darauf richtet, die Vereinigten Staaten verstehen zu lernen. Akzeptanz und Einfühlungsvermögen sollen neben der Vermeidung von vorgefaßten Meinungen und vorschnellen Urteilen den Blick auf das zu untersuchende Objekt schärfen. Eine aufgeschlossene und kritische Sicht charakterisiert die Reflexionen des Erzählers, wenn er wiederholt darauf hinweist, daß bei der Begegnung zweier konträrer Kulturräume Strategien entwickelt werden müssen, die den Umgang mit den Erfahrungen der Fremde prüfen und hinterfragen.
Der Erzähler wählt den Einstieg in diese Problematik, indem er in wenigen Sätzen nach den Gründen sucht, die für das herrschende Amerika-Bild in Europa verantwortlich sind. Fixe Ideen und Vorurteile der Europäer werden negativ bewertet und der eigenen Analyse vorangestellt, um so ein distanziertes Verhältnis zur europäischen Sicht zu signalisieren. Der Erzähler konstatiert eine substantielle Ignoranz, wenn es darum geht, eine fremde Kultur und Mentalität zu erfassen, und identifiziert sich nicht mit dem Amerika-Bild, das in Europa propagiert wird. Besonders im intellektuellen Stolz der Europäer sieht der Narrator einen Grund für das mangelnde Verständnis der amerikanischen Welt. Viele Europäer kennen nur einen bestimmten Ausschnitt der fremden Realität. Die meisten Besucher kommen mit einer von vornherein zurechtgelegten Vorstellung in New York an, wenige dringen bis Washington vor oder verbringen als Touristen ihre Freizeit in Florida. Der partizipierende Erzähler betont mehrmals, daß das Reisen eine Geste des Respekts darstellt und Einfühlvermögen verlangt:
Gli europei spesso partono con l'America in tasca, cioè con un certo numero di idee fatte e di pregiudizi, di cui sono sicuri; tutto quello che vedono dev'essere una prova delle loro opinioni; è il motivo per cui tanti luoghi comuni, in gran parte falsissimi, si tramandano perpetuamente e, quel che è peggio, con l'illusoria conferma di coloro che credono di aver visto coi loro occhi. Viaggiare, in America e altrove, dovrebbe essere sempre un atto di umiltà; significa, prima di tutto, accettare, capire, mettersi nella pelle altrui.(5)
Hier wird auch die Grundannahme ausgesprochen, daß das Bild von der Fremde ein unvermeidliches hermeneutisches Problem aufwirft, das Tzvetan Todorov(6) so formuliert, daß die Fremde vom Besucher vor dem Hintergrund und durch den Blickwinkel mitgebrachter Deutungsmuster gesehen wird, welche der eigenen Kultur entstammen.
Nach dieser eindringlichen Manifestation des Erzählers einer geistigen Bereitschaft für die Aufnahme von Phänomenen einer fremden Welt wird eine merksatzhafte Reflexion ausgedrückt: Gerade in Zeiten des Wandels der bestehenden Werte erachtet es der Erzähler für erforderlich, andere Völker zu hinterfragen, ihre Kultur zu erforschen. Das Schicksal Europas und damit auch die gesamte Zukunft des europäischen Kontinents wird in direkte Abhängigkeit zur Entwicklung Amerikas gebracht. Aus der wirtschaftlichen Überlegenheit und dem höheren amerikanischen Lebensstandard leitet der Erzähler die Schlußfolgerung ab, daß der Europäer dazu tendiert, sich deklassiert zu fühlen, und deshalb eine moralische Erniedrigung erleidet. Offensichtlich handelt es sich bei diesen Empfindungen um Gefühle der Minderwertigkeit.
Diesen offenbar objektiven Feststellungen dürften persönliche Erfahrungen des erzählenden Reisenden zugrundeliegen, denn aus den folgenden Anmerkungen geht hervor, wie der erste Kontakt mit der fremden Umgebung auf den Erzähler wirkte. Anekdotenhaft wird eine Szene im Hotel beschrieben, in welchem der Reisende in Begleitung seiner Frau genächtigt hat. Zum kleinen Freundeskreis gehört der Portier des Hotels, mit dem der Erzähler ein Verhältnis stillschweigender Übereinkunft unterhält. Empört reagiert der Reisende jedoch, als das Zimmermädchen seine Ehefrau am folgenden Morgen mit der gängigen Floskel Hello Honey begrüßt. Hier fühlt sich der Europäer sichtlich in seinem Stolz gekränkt und vergleicht sich mit einem verarmten Adeligen, dem eine große Entwürdigung widerfährt. Es gelingt dem Erzähler nicht, die gefühlsmäßige Erregung zu verbergen, wofür auch die Änderung der Erzählperspektive zur Du-Form spricht. An den Leser wird damit unmittelbarer appelliert. Das Klassenbewußtsein und die persönliche Ehre des Erzählers scheinen angegriffen zu sein, was der Vergleich des Europäers mit einer komischen Figur Goldonis verdeutlicht.(7)
Trotz des angestrebten Vorsatzes, als partizipierender Beobachter die fremde Mentalität verstehen zu wollen, dringen hier Berührungs- und Adaptationsängste merklich durch.
Im Verlauf der ersten Reiseeindrücke, die ein weites Panorama der amerikanischen Kultur ergeben, kristallisiert sich die Erkenntnis heraus, daß die Stadt New York nicht mit dem übrigen Amerika auf einen Nenner gebracht werden darf, und der Erzähler spricht von der Notwendigkeit, dieses Konglomerat an unterschiedlichen Völkern und Kulturen separat zu betrachten. Der Erzähler berichtet von der bestehenden Antipathie der Bewohner anderer amerikanischer Metropolen gegen diese Stadt, die auch der europäischen Vorstellung einer teuren, atemlosen und geschäftigen Metropole entspricht:
Nuova York non è l'America. Gli americani delle altre città, è curioso osservare, spesso non amano Nuova York, proprio per le stesse ragioni di noi pigri europei: la trovano una città dove tutti hanno fretta, troppo affannata, costosa, affaristica, e un tantino volgare.(8)
In der Verwendung der Perspektive noi pigri europei kommt zum Ausdruck, daß der erzählende Beobachter sich auf die europäische Seite stellt und sich explizit diesem Kulturkreis zurechnet. Die Haltung des Schreibenden fließt somit in die Feststellung ein. Der Beobachter erkennt sich im Bild oder Image der anderen/fremden Stadt wieder, findet in den vorgefundenen Gegebenheiten die Bestätigung der bekannten Aussagen und bedient sich ihrer in seiner Darstellung zum Zwecke einer nationaltypisierenden Bewertung. Vom Erzähler bekräftigt wird dies durch die folgenden Anmerkungen, in denen er versucht, das Bild genauer zu differenzieren. Hier distanziert er sich erneut und gibt dem Leser zu verstehen, daß er sich wenig mit dem Charakter der Stadt identifizieren kann, was auch in der grammatischen Abgrenzung quelli che amano Nuova York deutlich wird. Dennoch ist der Erzähler bestrebt, ein Gesamtbild der Stadt und ihrer Charakteristika zu vermitteln, und setzt den Bericht in wertfreier Haltung fort, bis er nach wenigen Zeilen wieder innehält und in einem reflektiven Teil die bisher gesammelten Erfahrungen kritisch überprüft.
Dabei versucht er, ein - die amerikanische Welt charakterisierendes - Urteil abzugeben und greift hierzu auf eine kinematographische Vorlage zurück. Die vorgefundene Realität hat wenig mit dem pessimistischen Bild einer ausschließlich mechanischen, rationalistisch ausgerichteten Welt der Roboter zu tun, wie es im Film Metropolis von Fritz Lang gezeichnet wird. Wertend nennt der Erzähler die im Film vorgeführte Welt eine Welt falscher - teuflischer - Amerikanität. Das in der Figur des Teufels verkörperte Böse steht für eine heuchlerische Wirklichkeit, deren Menschen von Maschinen regiert werden. Diese negative, im Film auf ganz drastische Weise dargestellte Welt entspricht in den Augen des Beobachters nicht ganz seiner persönlicher Sicht. Er anerkennt die gewaltige Wechselwirkung, in der Mensch und Maschine in dieser Gesellschaft zueinander stehen, und pflichtet der Hauptaussage des Films auch bei, differenziert das Bild jedoch, wenn er von der gleichzeitigen Präsenz der alten vernachlässigten Hafenviertel, schlechter Straßen oder heruntergekommener Häuser spricht: "Vedi anche le sale da bagno, semplici e un po' vecchiotte; il gusto 'vecchio' di Nuova York. [...] Il fondo non è meccanico; i miracoli organizzativi hanno spesso il carattere della fantasia subitanea."(9)
Der Erzähler listet weitere Gegenargumente auf und dokumentiert das widersprüchliche Wechselspiel von Landschaft und Technik, Natur und Maschine, das dem Land seine spezifische Identität verleiht. Die große Vielfalt und Heterogenität, die in allen Bereichen des täglichen Lebens festzustellen ist, wird als nationaltypischer Wesenszug herausgegriffen und exemplifiziert. Mit dem Blick des scharfen Beobachters wird dann auch der Aspekt der amerikanischen Seele in einer Aussage allgemeingültiger Natur zusammengefaßt und ein nationales Stereotyp formuliert, dem eine persönliche Erfahrung zugrunde liegt:
Non è una vita semplice. L'americano è ingenuo, spesso infantile, ma non semplice. Mosso da impulsi contrastanti, molto spesso è confuso, contraddittorio, impastoiato, e perciò sofferente; anche perchè non sa rendersi conto della sua complicazione, meno ancora spiegarla.(10)
Die architektonische Reise durch New York führt den Erzähler ins Yankee Stadium, wo er als Zuschauer an einem Boxkampf teilnimmt, einer Sportart, die in Amerika die Massen begeistert. Der riesige Innenraum des Stadions ist nur zu einem Viertel ausgebucht, da ein Großteil der Besucher das sportliche Ereignis vom Bildschirm aus verfolgt. Die Distanz zum Kampffeld erscheint dem Besucher so immens, daß er zur Beschreibung der großen Entfernung den Vergleich mit einem umgedrehten Fernglas verwendet: "I due campioni si battevano, lontani alcune centinaia di metri, e mi sembrava di vederli in un cannocchiale a rovescio."(11) Um die amerikanische Seele zu ergründen, beschreibt er den Gesichtsausdruck der Leute während des Boxkampfes, beobachtet die Reaktionen des Publikums und stellt dabei fest, daß dies die Momente sind, in denen man aufhört zu urteilen, weil der "poetische" Kontakt zum wirklichen Leben hergestellt ist. Nur die Teilnahme des Erzählers am unmittelbaren Geschehen verschafft den Zugang zur anderen Kultur und ermöglicht über die Wahrnehmung von deren Alterität eine Verschmelzung der beiden Räume.
Ein Spaziergang bringt ihn zum Hafen von New York, wo er die dort herrschende Aufbruchsstimmung einfängt und die Hoffnungen der ankommenden Reisenden kommentiert. Dem eben Eingetroffenen wird ein beeindruckendes Schauspiel geboten, dessen Szenerie Kräne, Rolltreppen, Maschinen, die an Panzer erinnern, Waggons, Container und sich durch die Masse der Ankömmlinge schlängelnde Gepäcksträger bevölkern. Er berichtet von der überwältigenden Schönheit des Landes, ähnlich dem Einleitungskapitel von Cecchi, Spaccato della nave, wo der Ich-Erzähler die Ankunft in New York mit dem Schiff schildert und sogleich die "phantastischen Riesen", wie sie Wolkenkratzer und Bürotürme darstellen, beschreibt.(12) Trotz aller architektonischer Perfektion entdeckt auch der durch den Hafen schlendernde Erzähler hinter der Oberfläche einer scheinbar unübertrefflichen Organisation einen Hauch an Unvollständigkeit, einen Bereich an Unvorhersehbarkeit, lauter Metaphern, die für die Eigenheit des ganzen Kontinents Gültigkeit haben: "La personalità si sente invece invigorita in un paese dove esistono un margine indeterminato, una potenza che non ha trovato la sua direzione, una coscienza di se stessi ancora imperfetta; in un paese che è ancora per metà da fare.(13)
Die fremde Welt bietet der Improvisation und dem Ideenreichtum ausgiebigen Raum zur Entfaltung. Der Hafen signalisiert die Bereitschaft zum Neubeginn, und die Vision von Amerika als dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten eröffnet sich dem Leser. Auf die Beschreibung des Hafens mit seiner symbolischen Funktion folgt die Darstellung der beeindruckenden Architektur der Großstadt.
Ein Loblied auf die wie Pilze aus dem Erdboden ragenden Wolkenkratzer ertönt - bei Piovene - und erinnert an die Glorifizierung einer Baukunst, deren Glockentürme - mit den Worten von Emilio Cecchi gesprochen - einer materialistischen Gottheit gewidmet zu sein scheinen.(14) Um seiner Bewunderung der architektonischen Erscheinung noch mehr Ausdruck zu verleihen, eröffnet der Erzähler diesen Abschnitt mit einer Mikrologie, die inhaltlich der eigenen Meinung widerspricht: "Quella via non è bella," mi ha detto un giorno un americano colto. E poi con una smorfia: "Vi sono grattacieli."(15)
Der Erzähler vergleicht die Schönheit der Stadt mit der von Washington. Die Amerikaner - so meint der Narrator - seien besonders stolz auf diese im neoklassizistischen Baustil errichtete Stadt. Auch die Architektur New Yorks fasziniert den erzählenden Spaziergänger, und er kommentiert die Schönheit der Stadt. Die europäische Kunst in ihrer Vollkommenheit schafft der Imagination Barrieren, während die amerikanische Baukunst natürliche Freiräume läßt. Kunst und Natur treffen sich auch in der Architektur. Natur und Technik bilden in der Stadt eine Einheit, die Farben von Stein, Ziegel und Zement kontrastieren nicht mit der Natur, sondern fungieren als komplementäre Größen. Geschichte und Gegenwart liegen in der Baukunst eng beisammen, denn die Gründung der Stadt gehört einer Periode noch nicht allzulanger Vergangenheit an. Die ersten um die Jahrhundertwende errichteten Wolkenkratzer besitzen beinahe schon Altertumswert, denn neue Konstruktionen verändern das Stadtbild kontinuierlich. All die babelischen Türme werden nicht nach praktischen Gesichtspunkten erbaut, sondern gehorchen dem Prinzip der Phantasie des Stolzes und der Macht.
Nachdem der Erzähler einen Wolkenkratzer erklommen hat, charakterisiert er die Bauten als riesenhafte Phantasmen, die nicht auf eine Stelle konzentriert aus der dichten Nebeldecke hervorragen, sondern sich wie Pilze - man erinnere sich an dasselbe Bild bei Cecchi - zeigen. Auf den Dächern dieser einzigartigen Konstruktionen erkennt der faszinierte Betrachter kleinere Gebäude und bunte Gärten, die Puppenhäusern gleichen. Wie orientalische Gottheiten, die mit verschnörkelten Figuren und Symbolen überladen sind, betten sie sich in ein olivgrünes Farbenmeer. In ehrfürchtiger Ergriffenheit vor der Phantasie der Schöpfer verwendet der Erzähler zur Beschreibung der Architektur Bilder aus dem mythologischen Bereich, womit die Unendlichkeit und verborgene Tiefe der gewaltigen Architektur deutlich gemacht wird.
Bei der Aufzählung und der Darbietung von Eindrücken entfernt sich der Betrachter von einer objektiven Darstellung und bedient sich einer bildhaften Sprache. Als Kontrast zur traumschöpferischen Schwärmerei des Betrachters wird mittels der folgenden Mikrologie, die den komischen Charakter ausdrücken soll, eine Relativierung des Gesagten erzielt: "Il cameriere, italiano, di un mio conoscente, un giorno chiede di tornare in Italia. "Perchè?", "Perchè volevo andare in America, e non in un bosco."(16)
Im Zusammenhang mit dem Aspekt fremder Architektur erfolgt die Darstellung eines abendlichen Spazierganges durch die Einkaufsstraßen der Stadt New York, wo die weihnachtliche Stimmung eingefangen wird. Den durch die beleuchteten Straßen und das turbulente Treiben wandelnden Europäer muß ein leichtes Gefühl des Schwindels überkommen - reflektiert der Erzähler -, wenn er die hell erleuchteten Fenster der leeren Bürogebäude sieht, wenn er die mit dem kostbarsten europäischen Leder, der feinsten Wolle und Seide dekorierten Auslagen erblickt. So als gäbe es eine unterirdische Küche, so steigen Dunst- und Rauchwolken geheimnisvoll vom Boden empor. Wie in keiner anderen Stadt kann man sich hier von den Eindrücken treiben lassen, man ist verführt, den Kopf bei jedem Schritt zu heben, bewegt sich wie im Taumel gleichzeitig zu ebener Erde und auf den Dächern der Wolkenkratzer.
Der Erzähler konstatiert in einer anschließenden Überlegung, daß die amerikanische Ästhetik sich von der europäischen wesentlich unterscheidet. Er nimmt einerseits auffallend grelle Farben, andererseits dunkle Naturtöne wahr. In den Augen des Erzählers kann man weder von gutem noch von schlechtem Geschmack sprechen. Betrachtet man Verzierungen von Gebäuden und die Inneneinrichtungen von Hotels, Bars und Restaurants, so scheint alles an Witterungseinflüssen zu leiden. Die Restaurants empfindet der Erzähler als unbehaglich und düster wie gotische Kathedralen.
Er vergleicht die Stadt New York mit Mailand, was ihm zur Charakterisierung geeignet erscheint. Er entdeckt Ähnlichkeiten mit der norditalienischen Industriestadt im Wesen ihrer Bewohner, in deren Vorliebe für schöne Autos, in der verbissenen Arbeitshaltung und der Ansicht, daß alle anderen Nichtstuer seien. Der Überlegenheitsglaube des reichen Nordens dem armen Süden gegenüber ist auch in der nordamerikanischen Metropole festzustellen. Auch die Parallelen in der Vermischung von Kunst und Industrie geben dem Erzähler - wie er in einer kurzen Reflexion festhält - das Gefühl, nicht weit von zuhause entfernt zu sein.
Erneut führt ein Spaziergang, der an einem Tag des Müßigganges - una giornata oziosa(17) - erfolgt, den Neugierigen durch die pulsierende Stadt in die Hafengegend, da dieser am Zollamt ein an ihn adressiertes Paket entgegennehmen soll. Er kann die Bewunderung für die tadellose - dem Erfahrungsbereich des Reisenden wohl widersprechende - Organisation in der amerikanischen Verwaltung nicht unterdrücken und zeigt sich überrascht über die Freundlichkeit der Menschen hinter den Schaltern, beim Zoll und bei den Banken.
Der Leser wird wieder unmittelbar in das Geschehen eingeblendet, wenn eine Mikrologie komisch-satirischen Charakters die Thematik veranschaulicht. Der mit dem vaterlandsliebenden Zollbeamten geführte small-talk über die Wetterverhältnisse von London im Sommer - der Stadt nämlich, aus der das Paket kommt - aktualisiert in dialogischer Form das erlebte Geschehen:
Una passeggiata a Nuova York. Partiamo dalla dogana del porto; dobbiamo ritirarvi un pacco spedito da Londra. "Ah!" dice il doganiere. "In agosto lei dunque era in quel paese di muffa? Ci sono stato per la guerra; pioggia, umi do, nebbia; sono quasi morto annegato..."
"Però," dico, "anche a Washington [...]."
"Come?" risponde il doganiere esterrefatto. "Lei paragona l'Inghilterra con Washington?"
(Washington, con i suoi parchi ed i suoi palazzi neoclassici, è l'orgoglio degli americani. In quanto agli inglesi, al meno fino a qualche tempo fa, rendevano la pariglia. Mi assicurano che anni fa, ma non molti, i diplomatici inglesi residenti a Washington ricevevano la speciale indennità di soggiorno per le regioni tropicali disagiate.).(18)
Die eingangs gewählte noi-Perspektive ist ein stilistisches Verfahren, welches den Rezipienten am Geschehen teilhaben läßt. Danach erfolgt ein Wechsel der Perspektive, und der Ich-Erzähler wird in der Dialogpartie zum partizipierenden Akteur. Beim Erzählen in der direkten Rede, werden die Redeanteile optisch durch die Anführungszeichen markiert, womit Redeanführung und Redeteil als syntaktisch unabhängige Teile voneinander getrennt werden und Pronomina und Verbformen in der ersten Person stehen. Nähe und Unmittelbarkeit werden dadurch signalisiert, und so wird der Eindruck des direkten Miterlebens beim Leser geschaffen. Danach distanziert sich der Erzähler vom erzählten Geschehen, kommentiert im auktorialen Erzählverhalten - in den in Klammern stehenden Zeilen - das Gesagte und erklärt dem Lesepublikum in diesem Zusatz die Vorzüge der Stadt Washington, damit keine Fehlinterpretationen das Textverständnis trüben. Die Dialogpartien vermitteln beim Leser den Eindruck eines mitgehörten Gesprächs, womit der Reiseschriftsteller seinen Anspruch auf den Wahrheitsgehalt der Beobachtungen geltend macht.
Der Rundgang führt den Beobachter in zeitlicher Chronologie nun in die Gegend der großen Lagerhallen und Magazine der Pelzhändler am Hafen, wo er die Nerzverarbeitung kommentiert. In großen Mengen importiert das Land Nerze aus Kanada, verschickt diese dann zur Verarbeitung nach Europa und importiert sie anschließend wieder. Als Hauptverarbeiter für diese kostbaren Pelze wird Italien genannt, und der Erzähler verweist stolz darauf, kann er doch die Informationen in sein Vorverständnis und Vorwissen einordnen. Die Einschätzung der Erfahrung verläuft wieder über das oppositionelle Muster fremd/eigen, womit der fremde Raum zugänglich wird.
Wie sehr die Architektur des Landes den Reisenden beeindruckt, spiegelt sich auch in der euphorischen Beschreibung der riesigen Brücken und des immensen Straßennetzes, das sich über die Stadt breitet, wider.
Das Spiel der Lichter, Hell und Dunkel, Sternenhimmel und Lichtkaskaden sind Elemente, die auch in Piovenes Romanen sehr häufig die Landschaft und Natur kennzeichnen und dort oft in enger Verbindung mit der Seele und dem Charakter der dargestellten Figuren stehen. Die Natur wird kosmisch oder religiös erfahren und gibt auch innere Situationen und Veränderungen wieder.
Die Landschaft übernimmt die Funktion einer "psychologischen" Instanz und fungiert als Ort der tiefen Reflexion. Die Naturbilder, die sich leitmotivisch durch das narrative Werk des Autors ziehen, sind nicht bloß Metaphern zur Charakterisierung der beobachteten Phänomene, sondern dienen in den Reiseberichten dem Ausdruck tiefer innerer Ergriffenheit und originären Erlebens.(19) Die Betrachtung der Größe der Natur löst im Erfahrenden eine ganz besondere Haltung aus, eine so eigentümliche Stimmung, daß dieser aus seiner nächsten Umgebung in eine andere Welt versetzt zu sein scheint, die das Merkmal einer Unendlichkeit trägt.
Der Erzähler kommt zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf die Architektur zu sprechen, wobei eine distanziertere Darstellung den anfänglichen Enthusiasmus bei der Schilderung von Bauwerken ablöst. Architektonische Stile werden auf ihre Bedeutung hinterfragt und im sozialen Zusammenhang gesehen. Ein Reichtum, der in verschwenderischer Manier zu Tage tritt, - vergleichbar mit der Imitation der Schlösser Ludwigs XIV. oder der von italienischen Renaissance-Palästen - ist der amerikanischen Baukunst fremd.
Als Beispiel dafür, wie einflußreiche Menschen wohnen, wird vom Industriellen Pierre Du Pont erzählt, dessen vornehmes Domizil der Berichtende betritt. Mit dem Vorwissen, das letzte "Fürstentum" der Vereinigten Staaten zu besuchen, besichtigt er den riesigen Familienbesitz. Das winzige Wohnhaus, das von terrassenförmigen Gärten in französischem Stil umgeben wird, verliert sich in den Park- und Gartenanlagen, die Statuen, Brunnen mit Wasserspielen und Glashäusern verzieren. In der Art der französischen Wintergärten - der Erzähler wählt hier die französische Bezeichnung jardin d'hiver - dienen kleine Salons öffentlichen Empfängen oder Besuchen privater Natur. Der Schilderung im neutralen Ton folgt erst am Ende des Berichts die Kritik. Der heuchlerische, falsche Stil der üppigen Anlage kontrastiert nicht nur mit der Landschaft, sondern mit dem gesamten Land: "[...] tanto appare passato, appiccicato, falso; tanto è 'fuori' del paese, e perfino del paesaggio."(20)
Unmittelbar daran knüpft er die Reflexion, daß alte Schlösser und Paläste, die Stein für Stein nach Übersee verpflanzt wurden, im fremden Kontext bloß denselben Eindruck der Trostlosigkeit vermitteln. Eine Ausnahme bilden die kleinen aristokratischen Häuser und Villen von Boston und Philadelphia mit ihren dunklen Stilmöbeln. Sie fügen sich in den Kontext und besitzen deshalb besonderen Wert: "[...] esse sono 'dentro' il paese, e perciò belle, destinate a durare."(21)
Der Erzähler kann sich offenbar nur mit dem ihm vertrauten europäischen Raum identifizieren. Er mißt die Bauwerke an europäischen Vorbildern, die aus dem persönlichen Erfahrungshorizont stammen, und zieht Vergleiche mit den Renaissance-Bauten und den französischen Schlössern. Der schutzbietende Raum des aristokratischen Hauses mit seinem antiken Mobiliar war im narrativen Werk zu beobachten und bildet auch in den Reiseberichten eine wiederkehrende Konstante. Er wird daher zum rekurrenten Motiv. Der Kontrast von Außenraum und Innenraum wird durch die Verwendung der Ortsadverbien fuori und dentro unterstrichen und die unterschiedlichen Funktionen der Natur davon abgeleitet. Einmal ist es die falsche Natur, zu der der Begriff 'außen' erweitert wird, dann treten positiv konnotierte Begriffe wie 'Schönheit' und 'ewige Gültigkeit' auf den Plan, die mit dem inneren Raum verwoben sind.
Bei der Darstellung des fahrend erlebten fremden Raumes kennzeichnen Erlebnisse, die vom Auto aus erzählt werden oder das Auto zum thematischen Mittelpunkt haben, die Textstruktur und den Aufbau des erzählten Raumes nicht primär, sondern verkörpern Perspektivierungen von beinahe minimaler Relevanz. Tendenziell liefert der Erzähler keine bewegten Bilder, sondern vielmehr statisch konzipierte Eindrücke einer Welt, die nach den Schemata einerseits mitgebrachter räumlicher Muster, andererseits nach den an den Implikationen psychischen Raumempfindens orientierten Vorgaben aufgebaut sind. So werden Räume und Gegenstände in den Berichten in Modellbildungen von Weltmodellen transformiert. Räumliches Modellieren trägt den Aufbau von kulturellen Modellen konstant mit und perpetuiert latent die subjektiven Bilder einer in die Fremde getragenen eigenen Welt.
Der untersuchte fiktionalisierte Raum führt tiefenstrukturell ein spezifisches subjektives Ordnungsmuster mit, wobei sich eine spezielle Semantisierung des erzählten Raumes hervorkehrt, die meist in den mythischen oder symbolischen Bereich weist.
Für die durchreisten, primär statischen Außenräume ergeben sich rekurrente Bilder und Mechanismen, nach denen diese äußeren Felder konstruiert werden. Natur- und Landschaftsbereiche stehen im Kontrast zum städtischen Raum, übernehmen mit zunehmender Größe die Funktion eines gefährlichen mythischen Ortes. Die nahe Landschaft wie Wiesen, Äcker, Felder und kleinere Wälder dient dem Reisenden jedoch auch als Zufluchtsort, wo er Zeit zur Reflexion findet, sind Ausdruck tiefer innerer Ergriffenheit und originären Erlebens. Ereignisse mit ethnischen Gruppen wie die Navajo-Indianer werden nicht aus dem unmittelbaren Kontext gelöst, sondern bilden eine raumharmonisierende Einheit mit der Umwelt. Auch beim Kontakt mit der religiösen Welt wie etwa der Begegnung mit den Amish verschmelzen die Grenzen zu einem einheitlichen mythischen Raum.
Aus der Systematisierung der gesamten erzählten Beobachtungen resultiert eine Dominanz in der Darstellung urbaner Räume, woraus Rückschlüsse auf das Zeitgerüst gezogen werden können. Die Konstruktion dieser urbanen Welten verläuft konsequent über die Dimension der Architektur (einer positiven oder negativen Architektur) und nach dem binären Kompositiosprinzip von "außen" und "innen". Äußere Räume verkörpern dabei häufig gestimmte Räume, die auf das weitere "innere" Geschehen verweisen, also einen Rahmen für die Handlungen und Beobachtungen bilden, innere Räume stehen als Ausdruck für Geborgenheit und Harmonie und dienen ihrerseits als Gefüge für die Begegnungen mit den Figuren.
Der Entdeckung des Südens liegt als inneres Zeitgerüst - der Wechsel der Jahreszeiten vom Winter (Norden) zum Frühling (Süden) - zugrunde, was mit der positiven Bewertung dieses als mythisch und paradiesisch charakterisierten Raumes zusammenhängt. Bei der Annäherung an diesen Ort der Geborgenheit wird ein fundamentaler Raumbezug hergestellt, der das Moment der Erinnerung an eine glückliche Kindheit auslöst. Die Konstruktion der äußeren/fremden Topographie erfolgt dabei nach den Vorgaben der eigenen/inneren Topographie des Betrachters und wird zusätzlich zur Beobachtung und Wiederentdeckung von Fauna und Flora über olfatische Sinnesempfindungen ausgelöst und verstärkt.
Das nationale Image Amerikas wird vom Erzähler unter der Perspektive der wechselseitigen europäisch-amerikanischen Beziehungen beschrieben, wobei der Betrachter darauf Wert legt, daß Akzeptanz und Einfühlungsvermögen sein spezifisches Sehen der Fremde schärften.
Prinzipiell ist bei der Darstellung Amerikas die Betonung einer religiös-philosophischen und teilweise moralisierenden Perspektive zu beobachten. Eine positive Bewertung der vorgefundenen fremden Welten und eine geistige Offenheit des Betrachters für kulturelle Alterität ist durchgehend zu erkennen.
Es galt in der vorliegenden Analyse aufzuzeigen, daß den Pioveneschen Schriften bestimmte narrativen Muster zugrundeliegen. Die meisten der untersuchten Mikrologien oder Einsprengsel, die von privaten, oft belanglosen Begebenheiten am Rande berichten, besitzen in ihrer Tiefenstruktur komisch-satirischen Charakter und tragen die Funktion, dem Gesagten größere Überzeugungskraft zu verleihen, denn gerade das Stilmittel der Ironisierung des über die beobachtete fremde Wirklichkeit Gesagten (die ästhetische Nachahmung) fördert einen bestimmten Wahrheitsgehalt zutage. Es fällt auf, daß der reisende Erzähler bei der Beschreibung der beobachteten Wirklichkeit (= subjektive Realität) kürzere oder längere Geschichten tragischen, komischen oder satirischen Charakters, nicht nur einfließen läßt, um die persönliche Erfahrung für das Lesepublikum besser begreiflich zu machen, sondern daß zu einem überwiegenden Teil die Wahrnehmung von kultureller Alterität, dem Erzählen und dem Beschreiben der Fremde überhaupt, unbewußt über den Mechanismus des Geschichtenerzählens funktioniert, was eine zunehmende epische Integration dieser Textsorte bewirkt. Häufig kann darüber hinaus eine Ironisierung des Gesagten beobachtet werden, wohinter sich eine kritische, tendenziell moralisierende Perspektive der erfahrenen Realität verbirgt.
Mit dem leitmotivisch-wiederkehrenden räumlichen Entwurf der unbegrenzten Außenräume der wandernden Landschaften und der vornehmen geborgenen Innenräume, die als Ausdruck der spezifischen Wahrnehmung der "Dinge" aus der Kindheit des Autors gedeutet werden können, rücken die narrativen Texte in die Nähe der Amerika-Berichte: In die hügelige Landschaft gebettete, von zauberhaften Gärten und Parks umgebene Villen, Paläste, Klöster und Häuser bilden das Konzept präfigurierter architektonischer Räume, die wie Theaterkulissen den Hintergrund für das Handeln der Figuren bilden, nur daß ihre Präsenz jene der Figuren zu dominieren scheint.
Auch die äußeren Räume von Natur und Landschaft, die unergründliche Mächte darstellen, übernehmen bestimmte Funktionen, die meist Ausdruck für Bedrohung und Raumverlorenheit sind, den Figuren aber auch als Quelle für Inspiration und zur Meditation dienen und läuternde Funktion innehaben. Die Natur kann die Bewußtseinsvorgänge der sinnsuchenden Figuren vorantreiben und positiv beeinflussen. Generell tendieren die unüberschaubaren Weiten eher dazu, eine unbekannte mythische negativ besetzte Welt zu verkörpern, während den inneren Räumen der aristokratischen Herrenhäuser ein märchenhaft-idyllischer Charakter zugeschrieben wird. Die Innenräume der Geborgenheit vermittelnden Villen werden mit einem rekurrenten Inventar ausgestattet, von vertrauten Dingen wie antiken Möbeln, kostbaren Teppichen, verzierten Spiegeln und wertvollem Geschirr belebt, die als Türen der Erinnerung fungieren.
Der reisende Erzähler begibt sich auf die Suche nach dem Ursprung fremder Identität, wenn er im "beseelten" Intimitätsraum der Objekte nach deren verborgener Erinnerung forscht. Diese subjektiv vormodellierten Fertigkonstrukte schiebt der Erzähler mit unersättlicher Permanenz als Raster für seine Beschreibungen und Handlungen in den Vordergrund, woraus sich Rückschlüsse auf die mitgebrachten internalisierten Deutungsmuster ergeben, die bei der Entdeckung kultureller Alterität in Gang gesetzt werden. So kann als Befund festgehalten werden, daß - dem traditionellen Musterkatalog der Reiseschriftsteller entsprechend - Vertrautes, Fremdes und Außergewöhnliches den Fortgang der Berichte gliedert.
© Andrea Maria Humpl (Graz)
ANMERKUNGEN
(1) Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 314f.
(2) "[Gli irlandesi] sono oggi i veri puritani, ma nel senso del moralismo, non già dell'anti-conformismo; sono uomini d'ordine, d'inclinazione autoritario-gerarchica, patrioti, poco tolleranti, facili alla scomunica e all'ostracismo. Con il comunismo rifiutano qualsiasi forma di rapporto o di compromesso, ed il socialismo li ha ostili, giacchè sono adesso all'assalto della ricchezza e del prestigio." Guido Piovene: De America. Milano: Garzanti 1953, S. 14.
(3) Ibid., S. 17.
(4) Ibid., S. 18.
(5) Ibid., S. 5. Vgl. die einleitenden Anmerkungen von Mimy Piovene, die die persönliche Einstellung des Reisenden, seine spezifische Art, den fremden Wirklichkeiten zu begegnen, thematisieren. Wie den Protagonisten aus dem narrativen Werk, so ist auch dem reisenden "Sehenden" ein spezifischer, die Dinge hinterfragender Blick zueigen. Rückblickend charakterisiert Mimy, die sich dabei auch auf den ersten Roman bezieht, das Verhalten des Reisenden und sein "Sehen" der fremden Welt folgendermaßen:"'Viaggiare dovrebbe essere un atto di umiltà' avrebbe osservato Guido in quel volume. Era stato infatti con grande umiltà che, allora come in seguito, aveva cercato di conoscere ogni nuova realtà. Senza idee preconcette, con tutta l'apertura mentale e la curiosità di chi ha come unico scopo la scoperta della verità. 'La malafede' si legge in una pagina di 'Lettere di una novizia', il suo primo romanzo 'è un'arte di non conoscersi, o meglio di regolare la conoscenza di noi stessi sul metro della convenienza.' Proprio per vedere, scoprire, analizzare, giudicare libero da ogni condizionamento, Piovene assumeva un atteggiamento che poteva farlo sembrare un viaggiatore distratto, disinteressato al mondo che scorreva davanti ai suoi occhi. Ma non era così. Si trattava del particolare modo di Guido di porsi di fronte alla realtà. Quasi potesse ascoltare, osservare tutto non visto." In: Mimy Piovene: I giorni della vita. Novara: De Agostini 1987, S. 156.
(6) Tzvetan Todorov: La conquête de l'Amérique, 1982. Vgl. auch Frauke Gewecke: Wie die neue Welt in die alte kam. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1986. Die Autorin geht im zweiten Kapitel Vorverständnis und Vorwissen der Frage nach, inwiefern das Vorverständnis und das Vorwissen der Amerikareisenden bei der ersten Begegnung mit einer neuen Welt die Wirklichkeit vorwegnahmen. Dabei analysiert die Ethnologin anhand der antiken und der christlichen Tradition zuerst einmal, was den Reisenden an diesbezüglichem Vorwissen und Vorverständnis überhaupt zur Verfügung stand. Sie stellt dabei einen Mechanismus des Ethno- oder Soziozentrismus fest, der in allen menschlichen Gesellschaftsformen zu finden ist und den Fremdvölkerstereotypen zugrundeliegt. Das Eigene, die in einer bestimmten sozialen Gruppe, sei es Stamm, Volk oder Kulturkreis, gepflegte Weltsicht, wird zum allgemeingültigen Maßstab erhoben, und das Andere, Fremde wird demgegenüber als minderwertig, vielleicht sogar als bedrohlich abgelehnt - oder aber als paradiesisch idealisiert. Gegenüber der abendländischen Tradition bietet die christliche Lehre, die von ihrem philosophischen Ansatz her von ethnozentrisch begründeter Diskriminierung frei war, eine Möglichkeit zur Überwindung dieser Klischeevorstellungen. (Vgl. S. 59ff.)
(7) Vgl. dazu die Reflexion des Erzählers: "Mi domando se molte delle reazioni europee contro l'America non somiglino a quelle del nobile impoverito, del vanitoso insoddisfatto. [...] e se l'europeo spesso non diventi in America un personaggio comico di Goldoni, in un mondo troppo lontano per capirlo o per divertirsi." (De America, S. 6.)
(8) Ibid., S. 23.
(9) Ibid., S. 43.
(10) Ibid., S. 43f.
(11) Ibid., S. 7.
(12) Mit dem Satz "noi siamo felici d'aver fatto in tempo a vederli" beendet Emilio Cecchi das zweite Kapitel seines Berichtes, das den Titel Grattacieli trägt. Als überwältigendes Phänomen, das die Natur zu bezwingen vermag, bezeichnet Cecchi diese fulminanten Konstruktionen und bringt seine Begeisterung wie folgt zum Ausdruck: "Calando sulle strade come trasparenti ombre di ghiacciai, le loro ombre vaghe e gigantesche, insieme a un che di gelido diffondono sul tumulto cittadino quel riverente silenzio che alita intorno alle cattedrali. S'allineano nei loro ipogei celle di legni preziosi e cristalli, custodite da impassibili schiavi neri. C'è un senso sotterraneo, d'accesso agli inferi. Invece siamo rapiti in cielo. Le cifre rosse che indicano il numero dei piani, lampeggiando nella targhetta dell'ascensore, sembrano numeri d'una scala termometrica che registri il crescere d'una febbre fulminea, impossibile e lucidissima." (S. 3.)
(13) Ibid., S. 8.
(14) Bei Cecchi werden die Wolkenkratzer jedoch nicht nur als schöne Erscheinungen architektonischer Phantasie bezeichnet, sondern auch moralisierend kommentiert. Dazu heißt es: "Non è, il grattacielo, espressione ingenua e solidale di potenza civica, ma espressione d'orgogliosa e solitaria prepotenza economica; è il campanile senza campane d'una religione materialista senza Dio. [...] Per me, son contento d'esser vissuto in un'epoca in cui si commentevano di questi peccati, di queste pazzie. Perchè sarà soltanto una bellezza illusoria, di fata Morgana; o, ripartendo i toni del Frank: una bellezza di demonio; ma come negare che i grattacieli sono belli?" (Emilio Cecchi: America amara. Padova: Franco Muzzio Editore 1995 (= Aritroso. 17.), S. 11ff.)
(15) De America, S. 8.
(16) Ibid., S. 9.
(17) Ibid., S. 34.
(18) Ibid., S. 37.
(19) Gaston Bachelard spricht in seiner Poetik des Raumes von der inneren Unermeßlichkeit des Raumes. Diese innere Unermeßlichkeit stellt eine philosophische Kategorie der Träumerei dar. Die Kontemplation der Größe veranlaßt den Beobachter geradezu zu träumen und zu meditieren. Es heißt dort: "L'immensité est, pourrait-on dire, une catégorie philosophique de la rêverie. Sans doute, la rêverie se nourrit de spectacles variés, mais par une sorte d'inclination native, elle contemple la grandeur. Et la contemplation de la grandeur détermine une attitude si spéciale, un état d'âme si particulier que la rêverie met le rêveur en dehors du monde prochain, devant un monde qui porte le signe d'un infini." Gaston Bachelard: Poétique de l'espace. Paris: Gallimard 1981, S. 168.
(20) De America, S. 61.
(21) Ibid., S. 61f.
5.11. Das Schreiben in der Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania
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