Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Juni 2004 | |
5.11. Das Schreiben in der
Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Evelina Santoro (Universität Foggia/Italien)
Wir wollen im Folgenden Winckelmanns Verhältnis zu Italien und seine Sicht auf die deutschen Lande sowie seine Versuche einer Einwirkung auf diese skizzieren. Dabei sollen neben allgemein sozialen und historischen vor allem literarische und kunstgeschichtliche Aspekte zur Sprache kommen. Im Mittelpunkt steht die Rolle Winckelmanns in der deutschen literarischen Welt des 18. Jahrhunderts - aus der Perspektive seiner Wahlheimat Italien. Am Beispiel des nach Italien emigrierten Winckelmann kann eine transnationale Beziehung gleichsam modellhaft vorgestellt werden. Modellhaft auch wegen des Primats Winckelmanns, der als einer der ersten im Kreise der deutschen Intellektuellen in Italien und ganz allgemein in Europa eine wichtige Position erreicht und eine kulturelle Wiedergeburt Deutschlands gefordert hatte. Transnational in dem Sinne, dass dank Winckelmann Deutschland und Italien sich einander öffneten - in einer Epoche, in der Beziehungen dieser Art die Ausnahme und nicht die Regel waren. Winckelmann gilt als Beispiel auf Grund der immensen Rezeption, die seine Werke in beiden Ländern erfahren haben, und als Beispiel erfolgreicher transnationaler Beziehungen.
Eine interessante und reiche Informationsquelle für eine solche Untersuchung bilden die zahlreichen Briefe, die Winckelmann vor und während seines Aufenthalts in Italien an seine Freunde jenseits der Alpen geschrieben hat. Sie sind gleichsam Selbstdarstellungen, Briefe, die sich in die literarische Tradition des 18. Jahrhunderts einfügen, als der Brief bevorzugtes Mittel der kulturellen Kommunikation war. Die Bedeutung dieser Briefe, wie für die meisten Briefsammlungen der Zeit, liegt vor allem in ihrer Verbindung von Leben und Werk, da "bei Winckelmann der Fall eintritt, daß alles dasjenige, was er hervorbringt, hauptsächlich deswegen merkwürdig und schätzenswert ist, weil sein Charakter sich immer dabei offenbart"(1), wie Goethe in seiner berühmten Abhandlung über Winckelmann betont. Was von seinem privaten Leben erzählt wird, insbesondere nach seiner Ankunft in Italien, kann immer auch in Bezug auf seine wissenschaftliche Tätigkeit interpretiert werden.
Das enge Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland, das in Italien seine unumgängliche Schnittstelle hatte, fand mit Winckelmann seinen ersten Gipfelpunkt. Italien war für Winckelmann zwar auch das Land, in dem sich seine persönlichen Ambitionen erfüllen konnten, was er mit viel Mühe aber auch mit Glück und der Hilfe wichtiger Leute erreichte. Doch vor allem war es für ihn das Land, in dem er die ihm gemäße und gesuchte "Kunst-Welt" zu finden glaubte: "Hier [in Rom] ist der Schatz von Altertümern, Statuen, Sarkophagen, Büsten, Inscrizioni."(2) Italien, das gleichsam in der Mitte lag - zwischen Deutschland und dem unerreichbaren Griechenland - war der selbstverständliche Ort der Sehnsucht zahlreicher deutscher Künstler, die Rom gegenüber Paris, der anderen europäischen Hauptstadt des 18. Jahrhunderts, bevorzugten. Die Polemik Winckelmanns gegen Frankreich ist in diesem Zusammenhang recht aufschlussreich, und dies sowohl wegen ihrer gesellschaftspolitischen Implikationen als auch in Bezug auf die literarischen Interessen der Zeit. Wir wollen nur einige wichtige Motive dafür nennen, weshalb Winckelmann und viele seiner Nachfolger sich für Rom anstatt für Paris entschieden haben. Paris galt ihnen als die Stadt, in der nicht wahre Kultur, sondern nur Gelehrtenkritik und Pedanterie herrschten, wie Winckelmann in einem Brief an Berendis schreibt: "Alle Franzosen sind hier [in Rom] lächerlich als eine elende Nation [...]. Ein Franzose, so wie die Nation itzo ist, ist ungeschickt, ein großer Künstler, ein gründlicher Gelehrter zu werden"(3). Rom galt hingegen als die einzige Stadt in Europa, wo der junge Adlige und seine Begleiter auf der berühmten Kavalierstour ihre Horizonte erweitern konnten. Die Stadt Rom - so nennt sie Winckelmann - ist eine "Weltuniversität für reife Männer aller Nationen"(4).
Winckelmann betont polemisch in seinen Briefen immer wieder, wie sehr das mangelhafte Interesse der deutschen Fürsten an Kunst und an Literatur allgemein nachteilig für Deutschland sei und das Land von den Bewegungen der europäischen Kultur fern hielte. Die Entscheidung für die Briefliteratur ist dabei nicht zufällig, denn der "literarischen Gattung des Briefes ist das Thema des Patriotismus keineswegs nur äußerlich. Die Herausbildung aufgeklärt-patriotischer Bewußtseinformen und die Briefgeschichte stehen in einem bestimmbaren Zusammenhang"(5), so betont zurecht Martin Disselkamp. Tatsächlich mussten viele Künstler und Literaten Anerkennung im Ausland suchen, da ihnen Deutschland - wie es auch Winckelmann erfuhr - keine angemessenen Möglichkeiten bot. Determinanten dieser Situation seien die Isolation der Universitäten und der Ausschluss der Gelehrten von den Höfen und von staatlicher Förderung. In Rom hingegen gab es mit Papst und Kurie große Mäzene der Kultur. Die politisch-kulturelle Dominanz des Papsttums und des Klerus allgemein erwies sich für Winckelmann fast immer als ein Vorteil. Seine Protektoren und Mäzene waren fast durchweg Kardinäle - zunächst Kardinal Archinto, den er auf der Reise von Deutschland nach Rom begleitete und dann der Kardinal Albani, der Winckelmanns wichtigster Protektor wurde. Eine solch enge Beziehung zur Kirche wurde indes erst möglich, als Winckelmann vor seiner Reise nach Italien zum Katholizismus konvertierte, wenn wohl auch nicht primär aus religiösen Gründen: "Denn sollte dem Nuntio in Rom bekannt werden, daß ich keine Religion hätte, möchte man mir in Rom gar zu sehr auf die Finger sehen"(6). Italien war eben, wie Winckelmann schreibt, nach Deutschland "das Land der Menschlichkeit, wo ein jeder macht, was er will, wenn man nur nicht öffentlich auftritt und sagt: der Papst sei der Antichrist"(7). Es lief selbstverständlich nicht immer gut für ihn in Italien, und die Unsicherheit seiner Lage ist eine Konstante in seinen Briefen, doch konnte er nicht klagen, waren ihm doch Zeit und Muße vergönnt - und vor allem hatte er das Material für seine Studien ständig vor Augen. Die in Italien verbrachten achtzehn Jahre waren für Winckelmann die wissenschaftlich produktivsten und zugleich die ruhigsten und glücklichsten seines Lebens. In Deutschland hatte er schon die Abhandlung Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst geschrieben. Doch seine Begeisterung für die antike Kunst entstand kaum aus konkreter Anschauung. Sie erwuchs ihm aus eigener Phantasie und intensivem Studium. Erst in Italien wird er die Werke unmittelbar erleben und sie mit noch größerer Leidenschaft und vermehrtem Sachverstand beschreiben und analysieren können: "Ich habe erfahren, daß man halbsehend von Altertümern spricht aus Büchern, ohne selbst gesehen zu haben; ja, ich habe verschiedene Fehler eingesehen, welche ich begangen habe"(8). Im Dienste des Kardinals Albani stehend, hatte er ständigen Zugang zu den reichen Sammlungen des Kardinals, vor allem zur Villa Albani in Rom, eine notwendige Voraussetzung für die Abfassung der Monumenti antichi inediti.
Bei aller Begeisterung für die antike Kunst-Welt haben Winckelmanns Aktivitäten auch eine bedeutsame zeitgenössische gesellschaftspolitische Implikation. Sie wollen die Bildung und das kulturelle Interesse in Deutschland fördern - und zwar mit dem Ziel einer endgültigen kulturellen Anerkennung Deutschlands, da dieses "im Gegensatz zu jener damals alleingültigen Kultur der Romanitas sich erst in sich selbst begründen und formen mußte"(9), wie Walter Rehm in der Einleitung zu seiner Winckelmann-Ausgabe schreibt.
Die Werke, die Winckelmann in Italien verfasst hat, u.a. sein Meisterwerk, die Geschichte der Kunst des Altertums, und auch seine auf italienisch geschriebene Abhandlung Monumenti antichi inediti sowie seine kunsthistorisch-literarische Aktivität bilden nicht nur einen Meilenstein innerhalb der Kunstgeschichte, sondern wollen auch als gesellschaftspolitische Botschaft verstanden werden: Als Aufforderung zur Erneuerung der Studien in den deutschen Landen. Trotz der vielen Schwierigkeiten und der Ärmlichkeit, in der er seine Jugend in Deutschland verbracht hatte, als er "durch Mangel und Armut, durch Mühe und Not sich Bahn machen mußte"(10), war es immer Winckelmanns Traum gewesen, "Lehrer der Jugend" seiner Nation zu werden. Und wenn die Umstände in Italien für ihn nicht so günstig gewesen wären, wäre er gerne nach Deutschland zurückgekehrt(11). Mit Recht hat er sich selbst "Patriot [...] unter einem fremden Himmel"(12) genannt, und Patriotismus war ein wiederkehrendes Thema in den Briefen an seine deutschen und Schweizer Freunde. Der Brief war in diesem Sinne literarisches und soziales Mittel für eine breitere Anerkennung patriotischer Ideen, insbesondere die Briefe, die an Hofbeamte gerichtet waren, u. a. die an Berendis. Die Auswahl der in den Briefen angesprochenen Themen war dabei nicht zufällig, sondern als politische oder literarische Botschaft dem jeweiligen Rezipienten angepasst. Man darf aber Winckelmanns Patriotismus nicht nur als gemeinnützig verstehen. Der Winckelmannsche Patriotismus ist zugleich der Versuch einer Selbstdarstellung als patriotischer Künstler mit dem durchaus eigennützigem Ziel, Mittel für seine Forschungen in Deutschland zu finden und gegebenenfalls eine Rückkehr vorzubereiten. Winckelmann ging nach Italien mit einem Stipendium, Italien bot ihm die Möglichkeiten für seine Studien, und er hatte auch das große Glück, dort großzügige Mäzene zu finden. Doch Anerkennung in Deutschland wäre für ihn Entgeltung für all die Jahre der Armut und der Not gewesen. Dies mag einer der Gründe sein, warum er ständig brieflichen und persönlichen Kontakt mit seinen deutschen Jugendfreunden hielt, die allerdings der intellektuellen Provinz zuzuordnen sind. Noch wichtiger waren für ihn - im Sinne der Selbstdarstellung und der Vorbereitung seiner Rückkehr nach Deutschland - die Kontakte zu Fürsten, insbesondere zum Herzog von Anhalt-Dessau, dem "würdigste[n] aller Fürsten, ja ich möchte sagen, aller Menschen"(13), der für ihn das Idealbild eines kulturell interessierten und zugleich patriotisch gesinnten Adligen darstellte.
Doch fast am Ende seiner Tätigkeit, als er glaubte, die Monumenti seien "seine letzten Arbeit in dieser Welt", wie er 1763 Stosch ankündigte, entschied er sich, Anerkennung in Italien statt in Deutschland zu suchen, da "dieses Werk [...] nicht bloß in welscher Sprache geschrieben war; auch in Denkart, gelehrten Sitten, wissenschaftlichem Geist war er ganz auf Italienisches Wesen eingegangen"(14). Außerdem bevorzugte er sein Werk trotz aller ökonomischen und redaktionellen Schwierigkeiten in Italien zu Ende zu bringen statt eine Stelle als "Oberbibliothekar" in Dresden anzunehmen: "[...] soll ich also diesen Zustand und das schöne Land und das einzige Rom in der Welt verlassen, so müssen es nothwendig überwiegende Vortheile seyn"(15) - überwiegende Vorteile bot eine Stelle in Sachsen offensichtlich nicht.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass Winckelmann allein die kulturelle Wiedergeburt Deutschlands gefördert habe. Er steht jedoch an der Schwelle einer neuen Epoche, die vielleicht ohne ihn nicht so reich an Entdeckungen und neuen Anreizen gewesen wäre.
Winckelmanns Rolle im Kontext der europäischen Aufklärung und der Beziehungen zwischen den europäischen Kulturen ist die des Vermittlers zwischen Deutschland und Italien und einem idealisierten erträumten Griechenland der Antike. Er hat nicht nur die archäologische Forschung als Wissenschaft grundlegend geprägt, sondern seine Vorstellungen von der Antike haben darüber hinaus die Literatur der deutschen Klassik und die europäische Kunst nachhaltig beeinflusst, und das im Sinne einer europäischen Kultur, die gleichzeitig ihre eigenen nationalen Identitäten bewahrte. Mag Winckelmann letztlich auch nur unter einer bestimmten Perspektive zur deutschen intellektuellen Wiedergeburt beigetragen haben, so ist die transnationale Rolle, die ihm in der Kunst- und Literaturgeschichte zukommt, modellhaft geblieben.
© Evelina Santoro (Universität Foggia/Italien)
ANMERKUNGEN
(1) Vgl. J. W. Goethe, Winckelmann und sein Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen, Leipzig, Seemann 1969, S. 227.
(2) Brief an Francke, Rom den 07.12.1755.
(3) Brief an Berendis, Rom den 29.01.1757.
(4) Brief an Berendis, den 29.01.1757.
(5) Vgl. Martin Disselkamp, Die Stadt der Gelehrten, Tübingen, Niemeyer 1993, S. 134.
(6) Brief an Berendis, Dresden, den 11.01.1753.
(7) Brief an Franke, den 28.01.1764.
(8) Brief an Francke, a.a.O. 1755.
(9) Vgl. Einleitung in Ausgewählte Schriften und Briefe, hrsg. von Walther Rehm, Wiesbaden, Dieterich, S. VIII.
(10) Brief an Berendis, Nöthitz, den 06.01.1753.
(11) Vgl. W. Rehm, a.a.O. S. XLI.
(12) Brief an Heyne, den 04.1.1766.
(13) Brief an Berendis, Rom den 01.07.1767.
(14) Vgl. C. Justi, Winckelmann in Italien, Leipzig, Vogel 1872, S. 341.
(15) Brief an Stosch, Rom den 08.02.1766.
5.11. Das Schreiben in der Migration: Literatur und kulturelle Kontexte in der Romania
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For quotation purposes:
Evelina Santoro (Universität Foggia/Italien): Winckelmann
zwischen Italien und Deutschland. Eine transnationale Beziehung
. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_11/santoro15.htm