Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

5.13. Geschlecht und Nation: Narrative kollektiver Identitäten
Andrea Horváth (Debrecen / Ungarn) / Eszter Pabis (Debrecen)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


"Man wird nicht als Frau geboren, man wird es"

Bernadett Zsebik (Universität Debrecen/ Ungarn)

 

Abstract

Der Titel ist der Kernsatz von Simone de Beauvoirs Buch "Das andere Geschlecht". Ich möchte jetzt nur einige Hauptpunkte ihres Buches hervorheben: die ethnologische Gegebenheiten, die die Lage der Frauen bestimmt haben, die Ursachen der Änderungen in der Lage der Frauen, und die heutige Situation.

In der vor-ackerbaulichen Zeit wurden der Frau schwierige Arbeiten anvertraut, sie trug auch die Last. Der Grund dafür war wahrscheinlich, dass der Mann auf diese Weise bei den Wanderungen die Hände frei hatte, um Mensch und Tier gegen mögliche Angriffe zu verteidigen. Auch die Schwangerschaft, die Niederkunft und die Menstruation verminderten die Arbeitsfähigkeit der Frauen. Die Mutterschaft hat den Frauen keinen Vorrang verschafft. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass die Menschheit nicht einfach danach strebt, sich als bloße Art zu erhalten, sondern danach, sich zu überschreiten.

In allen Schöpfungsmythen erscheint die Frau als das Unwesentliche, das nie zum Wesentlichen wird. In der Legende der Genesis wurde Eva nicht gleichzeitig mit dem Mann erschaffen, sie wurde aus seinen Rippen genommen. Gott hat sie für den Mann bestimmt.

Weder die Männer noch die Frauen sind heute mit dem anderen Geschlecht zufrieden. Der "Kampf" zwischen ihnen nimmt aber eine andere Gestalt an: Statt den Mann mit sich einsperren zu wollen, versucht die Frau, ihrem Gefängnis zu entfliehen. Aber dem Mann gefällt es, als souveränes Subjekt der Wesentliche zu bleiben, er will die Frau nicht als Gleiche betrachten. Der Streit zwischen ihnen wird andauern, solange Mann und Frau sich nicht als gleiche anerkennen, dass heißt solange, als Weiblichkeit als solche bestehen bleibt. Die Frau, die sich von der Weiblichkeit befreit, will auf ihre Vorteile trotzdem nicht verzichten.

Simone de Beauvoirs Buch "Das andere Geschlecht" erschien 1949, es war ihr erstes wichtiges Werk. Ihre Darstellungen und Diagnosen zur Situation der Frau wirkten provozierend und zugleich befreiend. Sie wurden viel kritisiert.

 

Der Titel ist der Kernsatz von Simone de Beauvoirs Buch "Das andere Geschlecht". Dieser Satz, der inzwischen zur Redewendung geworden ist, bedeutet eigentlich, dass die kulturelle und soziale Produktion von Geschlecht Priorität vor den biologischen psychischen und ökonomischen Determinanten hat. Beauvoirs Buch "Das andere Geschlecht" ist ein riesiges Werk. Ich möchte jetzt nur einige Hauptpunkte ihres Buches hervorheben, die Frage, welche ethnologische Gegebenheiten die Lage der Frauen bestimmt haben, wie sich die Situation der Frauen durch die Jahrhunderte verändert hat und wie "der Weg zur Befreiung" aussieht.

 

Welche ethnologischen Gegebenheiten haben die Lage der Frauen bestimmt?

Welcher Vorteil hat den Männern erlaubt, die Frauen zu beherrschen? Um auf diese Frage eine Antwort zu bekommen, müssten wir, so Marion Henz, zuerst die Lage der Frauen in der vor-ackerbaulichen Zeit untersuchen. In dieser Zeit wurden der Frau schwierige Arbeiten auferlegt, sie trug auch die Last. Der Grund für diese Tatsache kann sein, dass der Mann auf dieser Weise bei den Wanderungen die Hände frei hatte, um Mensch und Tier gegen mögliche Angriffe zu verteidigen. Die Frauen nahmen auch an Kriegen teil, aber es ist wahrscheinlich, dass die Männer damals wie heute die größere physische Kraft hatten.

Für die normalen Frauen verminderten Schwangerschaft, die Niederkunft und die Menstruation ihre Arbeitsfähigkeit und verurteilten sie zu langen Perioden der Passivität. In jedem Fall sind Austragen und Stillen keine Aktivitäten, sondern natürliche Funktionen: die Frauen erduldeten passiv ihr biologisches Schicksal. Nur die häuslichen Arbeiten waren mit der Mutterschaft vereinbar, aber diese Arbeiten kehren Tag für Tag in der gleichen Form wieder, sie produzieren nichts Neues. Da es keine Geburtenkontrolle gab, wurden im Verhältnis zu den Ressourcen zu viele Kinder geboren. Infolgedessen waren sie nicht in der Lage, das Leben ihrer Kinder zu sichern. Die Fruchtbarkeit der Frau hinderte sie daran, sich aktiv an der Vermehrung der Ressourcen zu beteiligen. Das Gleichgewicht zwischen Produktion und Reproduktion wurde vom Mann aufrechterhalten.

Man könnte vermuten, dass in Zeiten des Nahrungsüberschusses die schützende und nährende Rolle der Frau ihr den Mann untergeordnet hat. Die Mutterschaft hat aber den Frauen keinen Vorrang verschafft. Der Grund dafür ist darin zu suchen, dass die Menschheit nicht einfach danach strebt, sich als bloße Art zu erhalten, sondern danach, sich zu überschreiten.(1)

 

Das Leben der Urhorden

Bei den Nomadenvölkern wurden viele Neugeborenen umgebracht oder starben inmitten allgemeiner Gleichgültigkeit mangels Hygiene. Kinder stellten für sie eine Belastung und keiner Reichtum dar. Später wurde dem Kind ein höherer Wert beigemessen.

Die Gemeinschaft wurde vom Mann ernährt. Der homo faber war von Anbeginn der Zeiten ein Erfinder, er benutzte Werkzeuge. Fischzüge und Jagden hatten einen heiligen Charakter. Ihr erfolgreicher Ausgang wurde mit Festen gefeiert, der Mann erkannte in ihnen seine Menschlichkeit. Auf den Jagden im Kampf mit wilden Tieren setzte er sich Gefahren aus. Der Krieger setzte sein Leben aufs Spiel und bewies damit, dass für ihn nicht das Leben der höchste Wert ist. Die Frau ist von Kriegszügen ausgeschlossen. Leben schenken hatte nicht so einen hohen Wert, wie das Leben einzusetzen. Deshalb wird innerhalb der Menschheit der höchste Rang nicht dem Geschlecht zuerkannt, das gebiert, also nicht den Frauen, sondern dem Geschlecht, das tötet, den Männern. Das Unglück der Frau ist, dass sie zur Wiederholung des Lebens bestimmt ist.

Hegels Dialektik, in der er das Verhältnis von Herr und Knecht definiert, könnte man auch auf das Verhältnis von Mann und Frau anwenden. Nach Hegels Dialektik entsteht das Privileg des Herrn dadurch, dass er sein Leben aufs Spiel setzt und dadurch den Geist gegen das Leben durchsetzt. Hegels Definition lässt sich ausgezeichnet auf die Frau anzuwenden: "Das andere, das unselbständige, dem das Leben oder das Sein für ein anderes Wesen da ist"(2). Aber das Verhältnis von Mann und Frau unterscheidet sich vom Herr-Knecht-Verhältnis dadurch, dass auch die Frau die Werte anerkennt, die von den Männern konkret erreicht werden. In Wirklichkeit haben die Frauen den männlichen Werten nie weibliche entgegengesetzt, es waren Männer, die die männlichen Vorrechte wahren wollten.

 

Was fordern die Frauen heute?

Die Frauen wollen mit dem gleichen Recht wie die Männer als Existierende anerkannt werden. Die biologische und ökonomische Situation der Urhorden hat die Vorherrschaft der Männer verursacht. Die Frau wurde durch die Mutterschaft an ihren Körper gefesselt. Die Menschheit bewertet Lebensgründe höher, als das Leben selbst, deshalb ist der Mann über die Frau Herr geworden. Das männliche Handeln hat die Schaffung von Werten konstituiert(3). Es hat die Natur und die Frau unterjocht.

 

Wie hat sich die Situation der Frauen durch die Jahrhunderte verändert?

Bis jetzt habe ich darüber gesprochen, welche Umstände die Lage der Frauen bestimmt haben. Im Weiteren wird es darum gehen, wie die Frau in den verschiedenen Mythen erscheint bzw. welche Komponenten der Gesellschaft bestimmen, wie die Frau gesehen wird.

Die Männer haben es von Anfang an für nützlich gehalten, die Frau in einem Zustand von Abhängigkeit zu halten. Ihre Gesetze wurden gegen die Frau eingeführt, auf diese Weise ist sie praktisch als "das Andere" konstituiert worden. "Die Frau ist nicht etwa die unnütze Wiederholung des Mannes, sondern der erwünschte Ort, an dem sich die lebendige Verbindung des Mannes mit der Natur vollzieht. Verschwindet sie, so sind die Männer einsam, wie Fremde ohne Reisepass in einer eisigen Welt ... Ohne sie ist die Erde für den Mann stumm und tot".(4)

Die Frau erscheint als das Unwesentliche, das nie zum Wesentlichen wird. Alle Schöpfungsmythen bringen diese Überzeugung zum Ausdruck, auch die Legende der Genesis: Eva wurde nicht gleichzeitig mit dem Mann erschaffen, sie wurde weder aus einem anderen Stoff, noch aus dem gleichen geformt wie Adam: sie wurde aus seinen Rippen genommen. Nach diesem Schöpfungsmythos war nicht einmal ihre Geburt autonom: Gott hat sich nicht spontan entschieden, sie um ihrer selbst Willen zu erschaffen, sondern er hat sie für den Mann bestimmt.

Der Mann behauptet, dass sein Dasein in dieser Welt ein unvermeidliches Faktum, die Frau dagegen ein bloßer Zufall ist. Die Frau wird ausschließlich in ihrer Beziehung zum Mann definiert.

In vielen matriarchalen Gesellschaften gibt es freizügige Sexualität, aber nur in der Kindheit und frühen Jugend, wenn der Koitus nicht zur Fortpflanzung führt. Das unverheiratete Mädchen wird als gebärunfähig betrachtet, und der Geschlechtsakt ist ein harmloses, profanes Vergnügen. Wenn sie verheiratet ist, wird der Koitus zu einem sakralen Akt. Wenn gesät oder gepflanzt wird, ist der Koitus untersagt: man will nicht, dass befruchtende Kräfte in zwischenmenschliche Beziehungen verschwendet werden. Wenn der Mann zum Fischen oder auf die Jagd geht, wenn er sich auf den Krieg vorbereitet, soll die Enthaltsamkeit die Manneskraft schützen. In der Vereinigung mit der Frau wird das männliche Prinzip geschwächt.

Nach Schopenhauer sind die Geschlechtsteile "der eigentliche Brennpunkt des Willens und der entgegengesetzte Pol des Gehirns"(5). Die sexuelle Scham ist die Scham, die wir angesichts unserer blöden fleischlichen Hartnäckigkeit empfinden. Schopenhauer sieht im Gegensatz von Geschlecht und Gehirn den Ausdruck der Dualität des Menschen.

"Die Frau ist der Magie geweiht. Die Magie ist ... der in den Dingen umherschweifende Geist. Eine Handlung ist magisch, wenn sie, statt von einem Handelnden herbeigeführt zu werden, von einer Passivität ausgeht."(6) Wenn die Frau Kinder hervorbringt, so geschieht dies nicht durch einen Willensakt. Sie ist kein Subjekt, keine Transzendenz, keine Schöpferkraft, sondern "ein mit Flüssigkeiten gefülltes Objekt."(7) In Gesellschaften, in denen der Mann diese Mysterien anbetet, wird die Frau als Priesterin verehrt. Aber in Gesellschaften, in denen der Mann für den Sieg der Gesellschaft über die Natur kämpft, wird die Frau als Hexe angesehen. Der Unterschied zwischen Priester und Magier: Der Priester beherrscht und lenkt die Kräfte im Einklang mit den Göttern und den Gesetzen, zum Wohl der Gemeinschaft, im Namen aller Mitglieder. Der Magier wirkt nach seinen eigenen Vorlieben abseits der Gesellschaft, gegen die Götter und die Gesetze. Die Frau bedient sich der Kräfte, über die sie verfügt, um die Männer in die Einsamkeit der Absonderung, in die Dunkelheit der Immanenz zu ziehen. Der ihrem Willen verfallene Mann hat keinen Willen, keine Zukunft mehr.

Was der Mann in erster Linie in der Frau als Geliebter und als Mutter liebt und hasst, ist das feste Bild seines animalischen Schicksals. Er versucht Mutter und Geliebte auseinander zu halten, aber er findet in beiden dieselbe Evidenz: die seiner Fleischlichkeit.

 

Fazit

Weder die Männer noch die Frauen sind heute mit dem anderen Geschlecht zufrieden. Die Frage ist, ob ein ursprünglicher Fluch sie dazu verdammt, sich gegenseitig zu zerreißen oder ob die Konflikte zwischen ihnen nur vorübergehend sind. Die Menschheit ist etwas anderes als eine Spezies: sie ist ein historisches Werden. Es ist unmöglich, eine rein psychologische Rivalität zwischen Mann und Frau festzustellen. Ihre Rivalität situiert man eher im Bereich der Psychoanalyse: Die Frau - sagt man - neide dem Mann seinen Penis und sie habe den Wunsch, ihn zu kastrieren. Der kindliche Peniswunsch gewinnt im Leben der erwachsenen Frau nur dann eine Bedeutung, wenn sie ihre Weiblichkeit als eine Verstümmelung empfindet: dann möchte sie sich das männliche Glied aneignen, das alle Privilegien verkörpert. Die von Männergesetzen geordnete Gesellschaft erklärt die Frau für minderwertig. Infolgedessen versucht die Frau mit allen Mitteln den Mann zu verstümmeln und zu beherrschen, sie negiert seine Werte.

"Heute nimmt der Kampf eine andere Gestalt an. Statt den Mann mit sich einsperren zu wollen, versucht die Frau, ihrem Gefängnis zu entfliehen. Sie will den Mann nicht mehr ins Reich der Immanenz zu hinabziehen, sondern selbst im Licht der Transzendenz auftauchen."(8) Aber dem Mann gefällt es, als souveränes Subjekt der Wesentliche zu bleiben, er will die Frau nicht als Gleiche betrachten. Die moderne Frau will sich männliche Werte anzueignen. Es reizt sie, wie ein Mann zu denken, zu handeln, zu arbeiten. "Statt die Männer herabzusetzen, behauptet sie, es ihnen gleichzutun."(9) In Wahrheit kann der Kampf zwischen Frau und Mann keine klare Gestalt annehmen, da das Wesen der Frau selbst undurchsichtig ist. Sie tritt dem Mann als ein mit Subjektivität begabtes Objekt gegenüber. Wenn sie ihre Stärke und ihre Schwäche als Waffen benutzt, so geschieht das spontan, das ist kein vorbedachtes Kalkül. Der Streit zwischen Mann und Frau wird andauern, solange sie sich nicht als gleiche anerkennen, dass heißt solange, als Weiblichkeit als solche bestehen bleibt. Die Frau, die sich von der Weiblichkeit befreit, will auf ihre Vorteile trotzdem nicht verzichten.

Simone de Beauvoir war eine der Feministinnen. Ihr Buch "Das andere Geschlecht" erschien 1949, es hat für die sogenannte zweite Welle der Frauenbewegung im 20. Jahrhundert eine große politische und theoretische Bedeutung gehabt. Das war ihr erstes wichtiges Werk. Ihre Darstellungen und Diagnosen zur Situation der Frau wirkten provozierend und zugleich befreiend. Sie wurden viel kritisiert.

© Bernadett Zsebik (Universität Debrecen/ Ungarn)


ANMERKUNGEN

(1) Henz, Marion: Der humanistische Feminismus. In: Doyé, Sabine: Philosophische Geschlechtstheorie, ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart; Stuttgart: Reclam 2002, S. 422-429

(2) Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht, Sitte und Sexus der Frau; Rowohlt Taschenbuch Verlag Reinbek bei Hamburg, 1992, S. 90.

(3) Ebd. S. 91.

(4) Ebd. S. 191-192.

(5) Ebd. S. 218.

(6) Ebd. 1992, S. 220.

(7) Ebd. S. 222.

(8) Ebd. S. 883

(9)  Ebd. S.884.


LITERATURVERZEICHNIS

1. de Beauvoir, Simone: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 1992

2. Braun von, Christina/ Stefan, Inge: Gender Studien. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: Metzler, 2000

3. Henz, Marion: Der humanistische Feminismus. In: Doyé, Sabine: Philosophische Geschlechtstheorie, ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart; Stuttgart: Reclam 2002, S. 422-429

4. Osinski, Jutta: Einführung in die feministische Literaturwissenschaft, Berlin: Erich Schmidt, 1998


5.13. Geschlecht und Nation: Narrative kollektiver Identitäten

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  15 Nr.


For quotation purposes:
Bernadett Zsebik (Universität Debrecen/ Ungarn): "Man wird nicht als Frau geboren, man wird es". In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_13/zsebik15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 30.8.2004    INST