Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gregor Thuswaldner (Gordon College Wenham, Massachusetts)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Literatur aus Apokalypse / Literatur vs. Apokalypse
Zwei Beispiele für den Niederschlag der biblischen Offenbarung in der österreichischen Literatur

Ute Eisinger (Wien)

 

Mein Vortrag behandelt zwei völlig gegensätzliche Beispiele für den Einfluss der biblischen Offenbarung - denn die 'Apokalpyse' ist ja eine literarische Erfindung - auf die Schriftkultur Österreichs; eines stammt aus ihren Anfängen und das andere ist ganz aktuell' nämlich das 1997 mit dem Christine-Lavant-Lyrikpreis ausgezeichnete Langgedicht "das grosse babel'n" des Wieners Ferdinand Schmatz.

Das europäische Spätmittelalter war eine krisengeschüttelte Epoche, ein Alptraum der Zivilisation. Naturkatastrophen und gesellschaftliche Umbrüche erschütterten das Weltbild des Menschen aufs Tiefste: Sonnen- und Mondfinsternisse, Erdbeben (1348, 1356), Überschwemmungen, Seuchen und Ungezieferplagen (1337 Heuschreckenplage, 1348/56 Pest) ließen die Wirklichkeit aussehen, als wäre die Apokalypse über Europa hereingebrochen.

Zweihundert Eintragungen zu solchen 'Plagen' zwischen 1260 (Entstehung der Geißler-Bewegung) und 1406 (Komet) waren Gegenstand meiner Untersuchung von vierzig Chroniken und Annalen des deutschen Sprachraums, in der es mir um das Bewusstsein ging, in dem die Geschehnisse registriert wurden: Fast überall kommentieren Chronisten die katastrophalen Ereignisse mit: "geschen vill zaichen" oder "multa signa facta sunt": In Krisenzeiten neigt man dazu, das Passierte als böses Omen zu nehmen.

Das ist nicht in jeder sozialen Umgebung gleich: Während den Beamten, der Buch über die besonderen Vorkommnisse der Hansestadt Lübeck führt, oder die nüchternen Magdeburger Schöppenschreiber vor allem die Auswirkungen der Ereignisse auf den Getreidepreis beschäftigen, reagieren die Klosterbrüder in den ländlichen Regionen alarmiert. Sie lesen diese 'zaichen' als Erfüllung der biblischen Offenbarung, die sich mehr und mehr zu bestätigen scheint.

Die Tendenz - nennen wir sie den Verschrecktheitsfaktor - zeigt ein deutliches Südostgefälle: Das heutige Österreich war Entwicklungsgebiet - verglichen mit Thüringen oder Mittel- und Norddeutschland. (In den zu dieser Zeit von den Ritterorden erschlossenen baltischen Neusiedlungsräumen waren die Lebensbedingungen noch härter, von dort berichtet man sogar einzelne Fälle von Kannibalismus.) In den - spätlateinisch gehaltenen - Annalen und Chroniken der Zisterzienser aus Melk und Zwettl, Heiligenkreuz, Friesach und Neuberg schenkt man Naturphänomenen mehr Beachtung als in den Städten: Für Acker-, Obst- und Weinbau liest man die Zeichen am Himmel pragmatisch als Wetterprognosen, aber auch fromm, als Fingerzeige des allmächtigen Herrn. Stellen Sie sich eine Abtei wie im 'Namen der Rose' vor: Die literarische Bildung von Stiftschronisten und Klosterschreibern beschränkte sich auf die Bibel, Isidor von Sevilla und die Naturlehre des Beda Venerabilis, der Heiligenkreuzer Chronist bezieht sich auch auf Augustinus und Joachim von Fiore; Albertus Magnus ist hier im untersuchten Zeitraum noch kaum bekannt.

Ereignisse wie Kometen, Sonnen- und Mondfinsternis, Unwetter, Stürme und Überschwemmungen, Heuschreckenplagen und Seuchen werden daher entweder

- unter Nennung von

oder

- in Anlehnung an

ein entsprechendes Zitat aus der Offenbarung bzw. einschlägige Stellen bei Ijob, Isaiah, Joel, Jeremiah und den Evangelisten Markus und Matthäus beschrieben.

Manchmal zeigt auch nur die Anordnung in den Listen außerordentlicher Ereignisse, dass der Schreiber von Lesern ausgegangen ist, die - wie er - zwischen Kometen und vergifteten Quellen ursächliche Zusammenhänge sahen, weil in der Offenbarung steht, ein Meteor hätte 'Wermut' über die Erde gebracht und die Gewässer vergiftet. (In 'De natura rerum' heißt es, der Schweifstern entzöge der Erde Feuchtigkeit und trockne alles Geäder aus, darum seien Kometen für politische Morde und Kriege verantwortlich, weil sie die Menschen durch Flüssigkeitsentzug zornig machen. Man findet daher unmittelbar nach Kometen-Protokollierung Eintragungen wie Papst Sowieso gestorben oder Krieg da und dort.) Manchmal war auch einfach die Bereitschaft, ein in den Drohschriften angekündigtes Ereignis wahrzunehmen, ja nachgerade zu erwarten, größer als in ruhigeren Epochen. Da kommt es vor, dass ein verheerender Sturm als Erdbeben registriert wird, weil man eines erwartet, oder dass der nächste Hagelschlag als der aufgenommen wird, der in der Bibel steht - wiewohl die Vorjahre nicht weniger Hagel hatten, der allerdings nicht verzeichnet wurde.

Bei diesen Aufzeichnungen handelt es sich freilich nicht ausdrücklich um Literatur. Das sind Gebrauchstexte aus einer Zeit ohne Zeitungen und Wetterberichte, wo der hundertjährige Kalender über Verhungern und Nicht-Verhungern entschied. Im 14. Jht haben manche Meteorologen schon eine verspätete Eiszeit gesehen - freilich Nonsens angesichts des Alters unserer Erde und der temporären Großräumigkeit meteorologischer Prozesse -; gleichzeitig bricht das Sozialgefüge zusammen, das führt zu einer Verrohung und Barbarisierung der Zustände. Neben den berühmten Raubrittern gibt es eine Menge Scharlatane, es entstehen 1260 die Geißlerbewegung und 1374 die 'Tanzwut', eine Art Sekte aus Veitstänzern, die sich infolge ihrer Vergiftung mit Mutterkorn in Gefäßkrämpfen winden. Sie ziehen in bettelnden oder kriminellen Banden - das Phänomen der Rattenfänger - durch die zum Teil entvölkerten Gebiete, wobei die Pest, vor der man auf der Flucht ist, verbreitet wird und vielerorts Pogrome gegen Juden stattfinden. In dieser Massenpanik gewinnt die biblische Offenbarung auf das Weltbild der Bevölkerung großen Einfluss, d.h., sie wird als das genommen, was ihr Verfasser, der sogenannte 'Zeuge Johannes' vorgibt, das sie sei: Prophetie in Form einer protokollierten Vision, Sprachrohr des aufgebrachten Allmächtigen: Sein Strafgericht glaubt man in der betroffenen Krisenzeit hereingebrochen.

Eine selbstbewusste Schriftkultur formiert sich erst wieder in der Neuzeit. Da sie vom städtischen Bürgertum getragen wird, dauert der Prozess in den Breiten Österreichs länger als in Mittel- und Norddeutschland. Bis dahin war der Blick, mit dem die Welt wahrgenommen wurde, gewissermaßen von der Offenbarung verfinstert. Die behandelte Epoche hat nicht viel Literatur hinterlassen, nicht 'literarisch geschrieben' - aber, was diese Apokalypse-Hörigkeit betrifft - 'literarisch gedacht' - und zwar sehr unfrei. Die Unterwürfigkeit des 14. Jhts resultiert aus der Beschränktheit und Verängstigung der Zeitgenossen, ist wie alle Formen von Autoritätshörigkeit geistige Bequemlichkeit.

600 Jahre später leben wir in einer Epoche großen Wohlstands, sind gegen alle Gefahren versichert und haben vorbehaltlosen Zutritt zu allen Fragen und Antworten des Daseins. Doch das Werkzeug zum Verstehen der Welt, unser Sprach-Denken, lasten wir dennoch nicht aus: Auf die Nutzung des 'Mund' pocht der moderne Dichter Ferdinand Schmatz. Mit den anschaulichen Mitteln seiner 'frei funktionalen' Gedichte bekämpft er Bevormundung und Sich-bevormunden-Lassen, indem er aufzeigt, wie Sprache jeden mündig macht, der sie wahrnimmt. Mit Sprache als Denkinstrument ist der Mensch immer frei, Zusammenhänge zu verstehen und Zeichen zu lesen. Den furchteinflößenden Gott der Offenbarung haben wir längstens im 20. Jht umgebracht, heißt es bei Nietzsche. Der schreibt aber auch: "Ich fürchte, dass wir Gott nicht loswerden, solange wir noch an die Grammatik glauben."

Dieser Glaube an das Ordnungssystem der Grammatik ist das Credo der sogenannten experimentellen Dichter, auf die schon mein Kollege Thomas Eder eingegangen ist. Ich stelle Ihnen im Folgenden einen ihrer bedeutendsten Vertreter vor, Ferdinand Schmatz, und zwar sein Buch "das grosse babel,n".

'Babeln' bedeutet bei Schmatz die immense Bandbreite dessen, was Sprache ermöglicht. Ob der mündige Mensch jede Situation, die ihm begegnet, frisch und offen versteht oder seine Zunge zum unfreien Nachplappern von etwas ihm Vorgesetzten hergibt, bleibt ihm überlassen. Schmatz führt in seinem Buch vor, wie ein solches freies Verstehen funktioniert: "das grosse babel,n" ist 'Um-Verstehen' von Teilen der Bibel bzw. antiautoritäres Missverstehen der Botschaften, die die kanonische Schrift verkündet. Wie das 'Buch der Bücher' "Ihn", Gott, zum Gegenstand hat - in seiner Beziehung zum Menschen - geht es in Schmatz' Langgedicht um "es", das treibende Kraft als auch Objekt der Betrachtung ist. In einem unvoreingenommenen Lese-Akt vollzieht der Leser von "das grosse babel,n" erstaunliche Entdeckungen in dem alt bekannten Buch der Bücher - lässt er sich auf das schriftliche Genau-Lesen der Bibel mit Ferdinand Schmatz ein. So ergeben sich bei Lektüre der Genesis und einzelner Psalmen neben der bekannten Exegese noch etliche andere Bedeutungen. Darüber hinaus ergänzt der Autor die Bibel um die Stimmen derer, die in den Büchern Mose nicht zu Wort kommen, etwa in der Geschichte Abrahams um die Partei von Sara. Dagegen interpretiert Schmatz die Psalmen, als wären sie selbstreflexive moderne Gedichte, und liest in ihnen Weisheiten der Poetik.

Doch das schlimmste 'FCbel' der Bibel schlechthin ist Schmatz' Auffassung nach die Apokalypse, eine schriftliche Droh- und Verheißungsrede, worin der Propagandist Johannes sämtliche Register der Rhetorik gezogen hat. Schmatz entlarvt dieses einschüchternde Machwerk der Offen-Legung - so die wF6rtliche Übersetzung von 'Apokalypse' - durch ihre Pervertierung als 'Mund-Verschließung'. Die verherrlichende Vision vom Himmlischen Jerusalem, die die Offenbarung enthält, erklärt er als Zukunfts-Vereitelung, welche ihr Publikum der Möglichkeit, frei zu denken, beraube.

Meine nun folgenden Ausführungen fassen das 'Close reading' von Schmatz' schriftlicher Lektüre der Offenbarung zusammen. Für die Analyse einer solchen 'experimentellen' Literatur, die sich erst in ihrem Sinn entfaltet, wenn der Leser sich in den Text verwickeln lässt, muss man sich auch eines experimentellen Verfahrens bedienen. Mein Kommentar erfolgt daher gleichsam von innen aus Schmatz' Text, der sich sowohl auf den entstandenen eigenen Text als auch auf die biblische Vorlage bezieht: Als lesend aufgeschriebenes (oder verschriftlicht gelesenes) Ganzes ergibt "das grosse babel,n" ein Plädoyer für eine frei funktionale Sprache ohne Überzeugungs- oder Bevormundungsanspruch, mit der sich dichtend denken oder denkend dichten lässt - wie das Reinhard Priessnitz seinem Nachfahren Schmatz so treffend vorgemacht hat.

 

APO KALYPTISCH

I

Eine Offenbarung wie die durch Johannes kommt nach Schmatz' Dafürhalten einer Verstopfung der Sinnesorgane (Münder) gleich: Indem derartige Rede "ansagt" d.h. das zu Denkende vorgibt, entmündigt ein "sängel (Schmatz'sch für Engels-Gesang oder einen alles versengenden Werbesänger) durch gekonnten Gebrauch des Worts, das er mit kalkuliertem Hall "rausschallt". Durch Hineinblasen wird ein Wort Waffe, wankelmütigen Gläubigen "heim<zu>leuchten". Damit ist "es", das Gedicht, um seine Leuchtkraft gebracht: Denn diese richtete sich an Mündige.

II

Um Verständnis bemüht sich der apokalyptische Sängel allerdings nicht, wenn er die bedrängten Missionsgemeinden wegen vernachlässigter Gottesliebe rügt. Schmatz dreht den Spieß um und fordert vom Dichter "er-hören"s-Liebe.

Freilich bevorzugen auch manche Zuhörer und Leser - zu faul "zu hören" und eigene Entscheidungen zu treffen - anzuhören (zu lesen), was man ihnen vorsetzt.

Derartig verabreichte Wahrheit definiert sich darüber hinaus nur über Ablehnung (Ausgrenzung) des Bösen - und ist diesem damit hörig: Schmatz entlarvt alle, die Wahrheit zu besitzen meinen.

III

Folglich ist der Wille nicht frei, die Offenbarung durch den Sängel kein "tor" zum Ein- und Auszug, sondern Einbahn-"tür" in eine besiegelte Zukunft. Hält der Dichter dazu den "Schlüssel" - aus 'Schleussel', wie in der Luther-Bibel steht - bereit, eröffne er damit nicht etwa Möglichkeiten, sondern behindere die Mündigkeit der Adressaten, indem er sie durch eine "schleuse" schicke: So interpretiert Schmatz die Rolle des Johannes, der das Kommende mit seiner Vision als "bare münze" ausgibt. Anstatt Übersetzungen anzuregen, setze dieser ja Bilder als "pure" Wahrheit vor.

IIII

Das Tor - entsprechend einem gebend/nehmenden "mund" - wird in der Apokalypse nur als Gestänge einer Projektionsfläche missbraucht, wo der Seher den prachtvollen "Thron des Lamms" präsentiert. Dessen "Schimmer" "schimmelt" bei Schmatz vor Leblosigkeit des (falschen) Bildes: So in etwa belustigt er sich in "das grosse babel,n" über die Verklärung, die - statt Aufklärung, wie "es" sie leisten möchte - in der Apokalypse getrieben wird.

V

Schmatz charakterisiert die Entstehung der Offenbarung als "bau () im weissen, den tod, / wie im schwarzen, die lust". Unter "weiss" versteht er nicht nur (pervertierte) Farbe, sondern sein Mehr-Wissen, vom Verfasser verkündet: Dies "brüsten" missfällt Schmatz, und das "gebilde" muss wie ein Turm in sich zusammenbrechen. Im Eingehen auf das Opferlamm, wie es samt seinem Buch "gefressen" wurde, meint Schmatz nicht das Verschlingen von gelesener, sondern das absichtliche Schrift-Vereinnahmen durch ihren Autor, auf Kosten des objektiven, aufklärerischen (Lamm-)"es".

VI

Schmatz beschreibt die Offenbarung wie einen Pechstrom, der sich verfinsternd über seine Adressaten und ihre belichtenswerte Welt wälzt. Poetologisch gewährleistet damit "es" die Demonstration entscheidungsfreien Denkens, zu der Sprache (als sich selbst eichendes Orientierungsinstrument) verhelfen kann.

VII

In der Vorlage warten vier Ecksteher-Engel auf Durchzug der Auserwählten, die das "Zeichen auf der Stirn" tragen. Schmatz missbilligt, dass "von oben" solche Siegel ausgestellt werden. Die betroffene "unte"re Partei, die dieses zum Einzug ins Himmelreich verwendet, ohne die Dinge zu hinterfragen, würde ja alles andere als gut handeln.

Bei Johannes heißt es, das strahlende Weiß sei der Reinwaschung durch das Lamm zu verdanken. Schmatz hält das Gegenteil für wahr: Betrüblich wäre ein solches Hinnehmen eines vorgesetzten Lamms bzw. von Sprache, die kein Mit-Denken erfordert.

VIII

Die apokalyptischen Plagen haben bei Schmatz Entsprechungen als Poetik-Klagen: Dichter-Plage 1 ist das Hinausposaunen des Eigenen, andere Stimmen übertönend, 2 die Überfrachtung, mit der der Dichter übers Ziel schießt und den Einsturz seines Bilder-Turms riskiert, 3 Wermut als Laster des Rausches der Sentimentalität, 4 das "verschreien" des zuversichtlich Geahnten, wenn es der Dichter zu bannen hofft, aber dadurch vertreibt.

IX

5-tens plagen Heuschrecken den Dichter (erstes Weh), wenn scharenweise Einfälle in sein Wort fallen, seine Rede vernichten. Bei Schmatz werden die geschwänzten Schlachtrösser der 6. Plage zu langjährig zusetzenden (Küchen-)Schaben (zweites Weh), welche die aktive Sprache lähmen.

X

Die Schlange als Wesenszug des Dichters liest Schmatz aus dem Banner einer Spruchband-Rede, die "züngelnd" die objektive "es"-Stimme heruntermacht.

An Stelle der 7. Posaune der Endzeit verkündet Schmatz: "es soll keine zeit mehr sein, / nur noch stimme, zeitlos". Damit "es" vom Temporären entbinde, mache man "ist" zu "sein", verwende der Dichter Verben in Indefinit-Formen, damit Gleichberechtigung der Möglichkeiten herrsche, sich keine Aussage die Führerschaft über andere, diese mundtot machend, anmaße.

XI

Autoritäre Redehaltung ("versprechen") verüble Sprechen. Wenn Dichter "umrede"n, anstatt konzise zu reden, unentschiedenes, führungsloses Brabbeln von sich gäben, "erdrückt ihr leben" auch fremdes "stimmen".

XII

Den "Herrn" der Offenbarung ersetzt Schmatz durch die "stimme", die nicht gekreuzigt werden kann, weil sie "kreuzend" unterwegs ist, d.h. Schwung findet, zusammen- und hervorbringt. Wie bei Johannes ein Drachen mit "stern oder schwanz" gegen die Christenheit ficht, so sind bei Schmatz "zufall und machtwort" die Feinde des Mündigen.

XIII

Die Vielköpfigkeit des Drachens entspricht der Schwatzhaftigkeit und Besserwisserei eines Redners, dabei sehnten sich die Menschen nach "kuss", d.h. gegenseitigem Verständnis (Übereinstimmung).

XIIII

Johannes' "Himmelsstimme" dreht Schmatz zum "stimmenhimmel", womit er die Funktion des Hörens in die Gegenrichtung lenkt: Bei Johannes gilt es, zu erhören, d.h. die eine undefinierte Stimme, die die einzig wahre ist, hinzunehmen. Schmatz verlangt, aus einem Gewimmel die richtigen Töne (Worte) zu hören und stimmt ein zu: "Wer Ohren hat, der höre!"

XV

Doch "rein" in einen Tempel zu wollen, weil es dort "hallt", d.h. die (eigene) Reinheit akustisch an der großen Glocke hängt, lehnt Schmatz ab: Einen solchen Effekt gäbe der "schall" der Posaunen bei Aufgabe von "es", also Aufgeben des Mundes für die Aufnahme manipulativer Rede.

XVI

Bei Schmatz erfolgt die Überschüttung durch "sieben Schalen Zorns" im Redeschwall: Schale 1 verursacht nicht Pestbeulen, sondern lässt die Schwachstellen ("male") der Betroffenen platzen. Schale 2 liest Schmatz als Vernichtung des lebendig Poetischen aus Überforderung; auch quantitative Maßlosigkeit verdünne das Gewässer des Gedichts. Schale 3, Wasser-Vergiftung, entspricht der Selbst-Verstopfung aller Arme des Gedicht-Flusses. Schale 4, Sonnenglut, bezieht er auf die verbrannte "haut" von Wörtern, Schale 5 schlägt sich auf die "zunge", Schale 6 stellt die Gefahr geistiger Herrschsucht über "es" dar, Schale 7 ballt, als "zeit", die Stimme zum großen Gericht über das Zustande-Gebrachte. War "es" nichts als ein aufgeblähter "balg", mag es platzen: Dieses Wissen um die Entität der Zeit ist als steter "dorn" der Rede inhärent, "erhebt und vertilgt" als ihr Sporn - dem Turm form- und funktionsgleich, von dem aus die Rede sich im Brennpunkt betrachtet: So riskant hat es das Gedicht.

XVII

Jeder Verdammung - wie der Hure Babylon und der Heiden - stellt sich Schmatz entschieden entgegen: Just aus einer sozial benachteiligten Frau bzw. ausgegrenzten "mohren" Sündenböcke zu machen, ist im Gedicht noch übler als im wirklichen Leben: Durch Stiften solcher "mal"e würden Gemeinplätze erzeugt, die das Denken vereitelten und Vorurteile ermöglichten. Dagegen fordert Schmatz, jeder mache sich "den reim auf das, was ist".

XVIII

Die Ruinen der gefallenen Stadt suchen Vögel heim wie einen Mund, worin böse Zungen hausen. Wo in der Apokalypse ein Engel die Babylonier auffordert, sich an der Hure zu rächen, indem sie ihr "doppelt einschenken" mögen, ist diese Verdopplung bei Schmatz schon in der doppelseitigen (transitalen) Funktion des Mundes gegeben: Was an Gericht dem sprachlichen Gaumen mundet, muss vor dem geistigen Gericht dem Sinn nach (mündig, d.h. eigenverantwortlich) bestehen.

XVIIII

Die der Unzucht entgegengesetzte, bei Johannes offenbarte heilige Hochzeit entlarvt Schmatz als "bild für die leute": Keiner derartigen Theater-Verkleidung bediene sich die Stimme; sie muss ihrem Diener, dem Dichter, einverleibt (auf den Leib geschrieben) sein. In ihrer Fleischwerdung besteht für Schmatz der "lamm"- Charakter des Gedichts.

XX

Andererseits macht gerade die Komplexität der Einheit Dichter8Gedicht dem Autor, der nach vollendeter Arbeit über sein Werk "gericht" hält, zu schaffen. Er weiß das Urteil als "ewig" gültig. Im Fall von Schmatz' schriftlichem 'Um-Verstehen' der Offenbarung kommt dazu noch die Frage, ob "das grosse babel,n" dem Vorhaben, mit und wider die Bibel zu schreiben, auch gerecht geworden ist - und so droht das eigene, allzu kritische Urteil, "feuriger Pfuhl" für den Dichter zu werden.

XXI

Er laviert das Gedicht durch sich stromschnellenartig verzweigende Fragen, mit dem "ich" als Gleichgewichtsorgan (Zünglein). Der Aufgabe stellt er sich mit ganzem Einsatz. Dagegen werden Schausteller und Kunststücke-Vorführer von "schein"-Werken "verdunsten". In Schmatz' Augen ist freilich auch das Neue Jerusalem der Vision des Johannes ein solches Truggebilde.

XXII

Letztlich halte jeder selbst Gericht, nach "sinnlichen" wie "sinn"haften Kriterien, über das Gesprochene ("schrift"). Dabei mögen ihm "male" aufgehen, die - anders als die von oben herab verliehenen - kurzzeitig Erhellung bringen und "lichten im speicher" der Erfahrungen. Was Schmatz immer wieder unterschreibt, ist das Gebot: "Wer Ohren hat, der höre!". Er ergänzt: Es gelte zu "sprechen als handlung", damit "es" als "so etwas wie gnade" jedem zuteil werden möge, der sich unter Einsatz all seiner Kräfte darum bemüht.

© Ute Eisinger (Wien)


LITERATUR

Eisinger, Ute: Katastrophen-Eintragungen in spätmittelalterliche Annalen und Chroniken des deutschen Sprachraums. Diplomarbeit aus Germanistik (Prof. Birkhan), Universität Wien 1987

Schmatz, Ferdinand: das grosse babel,n. Innsbruck: Haymon 1996

Eisinger, Ute: SYNOPSE SYNAPSEN. Mikroanalyse von Ferdinand Schmatz' "das grosse babel,n". Doktorarbeit aus Germanistik (Prof. Schmidt-Dengler), Universität Wien, voraussichtlich 2004


5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur

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For quotation purposes:
Ute Eisinger (Wien): Literatur aus Apokalypse / Literatur vs. Apokalypse. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/eisinger15.htm

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