Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Dezember 2005 | |
5.16. Apocalypse Now? Eschatologische
Tendenzen in der Gegenwartsliteratur Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Klaus Kastberger (Österreichisches Literaturarchiv, Wien)
Es ist nicht angenehm, mit Toten konfrontiert zu werden, zumal wenn diese aus ihren Gräbern gekrochen und lebendig geworden sind. Die Gestalten aus dem Jenseits führen den Lebenden Sterblichkeit vor Augen; Sigmund Freud hat in der Aufhebung der Trennlinie zwischen den Toten und den Lebenden die Wurzel für das Gefühl des Unheimlichen erkannt. In der Literatur des 19. Jahrhunderts war das Stereotyp epidemisch: Man zeigte sich von belebten Puppen, schönen (weiblichen) Leichen, Wieder- und Doppelgängern fasziniert und fürchtete sich vor dem Lebendig-Begraben-Werden. Der Raum zwischen Leben und Tod war imaginär besetzt; die Spannweite reichte von Mary Shelleys Frankenstein (1818) bis zu Bram Stokers Dracula (1897): Entweder wurde der toten Materie Leben eingehaucht oder das Blut aus den lebenden Körpern gesogen.
Die Kulturindustrie des 20. Jahrhunderts hat die romantischen Halbtoten auf Celloluid gebannt und sie damit zu einem Massenphänomen gemacht. Während man sich zu Beginn des Jahrhunderts an einem in der Seine aufgefundenen Mädchen und an deren schöner Totenmaske zu ergötzen wußte, fallen in den späten Filmen des Genres Gruftis und Zombies über die Menschen her. Diese Toten bleiben nicht unbewegt; sie wandern steif durch die Gegend und greifen sich die Menschen. Auch eine Trashvariante des Motivs ist bekannt: Da wird das Heer der Geister, das niemand gerufen hat, mit Kettensägen traktiert und mit Küchenmixern zerstückelt bis jede einzelne Körperzelle ein blutiges Ende gefunden hat.
Wo das Bild der lebenden Toten derart krasse Züge angenommen hat, läßt kaum noch etwas an seine Verankerung in der christlichen Vorstellungswelt denken. Daß die Toten zum Leben erwachen, bildet die Kernaussage des Jüngsten Gerichts, in der Passion Christi war das Wunder schon einmal vorweggenommen worden. Zur neunten Stunde erwachten um Golgatha schon einmal probeweise die Heiligen. Am Ende der Zeiten werden die Toten dann aus einem anderen Grund lebendig gemacht. Sie kommen aus den Gräbern, um sich ihr Urteil abzuholen. Wo ein unfehlbarer Richter zur Stelle ist, vermag das Gefühl des Unheimlichen erst gar nicht aufzukommen.
Das 20. Jahrhundert hat mit beiden Vorstellungen Schluß gemacht: Mit der individuellen Hoffnung auf Erlösung und mit der geschichtsphilosophischen Kraft der Apokalypse. Daß die Erzählung vom Ende der Welt nur mehr als eine entdramatisierte zu denken ist, wird heute selbst von jenen zugestanden, die ansonsten nicht an den Tod der "grossen Erzählungen" glauben. Wenn es um die Katastrophe geht, hat die Postmoderne flächendeckend recht behalten: Die atomare Herstellbarkeit des Untergangs hat den letzten Restbestand an Metaphysik suspendiert, die Herstellbarkeit der Katastrophe ist im 20. Jahrhundert zur eigentlichen Katastrophe geworden. (vgl. Scherpe 1986)
An einem solchen Ende steht nicht mehr die Rettung der Seele zur Disposition, es hört einfach die Zeit auf. Das Humane ist auf eine Schwundstufe zurückgesetzt, gegen Ende sickern die Reststimmen aus - ein Vorgang, den Samuel Beckett in seinem Werk mustergültig dargestellt hat; beispielsweise auch in einem seiner letzten Texte Worstward Ho (Aufs schlimmste zu), wo der namenlose Erzähler nicht mehr wirklich weitermachen, aber auch nicht mehr mit seinem melodischen Sing-Sang aufhören kann: "On. Say on. Be said an. Somehow on. Till nohow on. Said nohow on. / Say for be said. Missaid. From now say for be missaid. / Say a body. Where none. No mind. Where none. That at least. A place. Where none. For the body. To be in. Move in. Out of. Back into. No. No out. No back. Only in. Stay in. On in. Still." (Beckett 1983, S. 6)
Die österreichische Literatur hat eine vergleichbare Reduktionsform des Sprechens nicht hervorgebracht. Dafür mag es Gründe geben: Vielleicht liegt es wirklich an der katholisch-barocken Tradition, daß man sich hierzulande zu Zeiten, da anderswo alle Ereignisse zu einem Äquivalent der Ereignislosigkeit geworden sind, am Ende doch noch das große Ereignis vorzustellen vermag. Vielleicht liegt es auch daran, daß in diesem Land das Gleichgewicht des Schreckens immer nur als das Gleichgewicht der anderen erlebt wurde. Nicht die Herstellbarkeit des nuklearen Desasters bestimmte jene Sparte der Literatur, die man die kritische nennt, sondern die Tatsache, daß die eigentliche Katastrophe, nämlich der Nationalsozialismus und der Holocaust, in diesem Jahrhundert schon stattgefunden hatte.
So geht die österreichische Literatur mit dem Ende der Welt anders um, als dies in den Nachbarstaaten der Fall ist. Obwohl kein ernstzunehmender Autor an die Teleologie glaubt, hat sich hierzulande in der Literatur ein eschatologischer Restbestand erhalten; die Apokalypse wird als Intertext fruchtbar gemacht und rhetorisch genutzt. Die drei nachfolgend behandelten Autoren bieten hierfür wichtige Beispiele, in ihrer Abfolge zeigt sich zudem eine Entwicklungslinie der österreichischen Literatur. So unterschiedlich nämlich Ödön von Horváth, Hans Lebert und Elfriede Jelinek historisch positioniert sein mögen, bleiben ihre Werke auf einer inhaltlichen und funktionalen Ebene vergleichbar, weil in ihnen jeweils eine Bilanz über Schuld und Unschuld gezogen wird. Hierbei kommen transzendente Instanzen zum Tragen, denen, weil die irdische Gerichtsbarkeit versagt, eine letztgültige Kraft erwächst: Die Toten kehren zurück und verschaffen der Erde ein unheimliches Strafgericht.
Ödön von Horváths Stück Der jüngste Tag ist das letzte Bühnenwerk, dessen Aufführung der Autor erlebt hat und das erste, das in Österreich (in einer programmatischen Serie ab Dezember 1945) nach dem Zweiten Weltkrieg gespielt wurde. Horváth legte dem im Herbst 1936 geschriebenen Text ein Eisenbahnunglück zugrunde, die Schuldfrage wird metaphysisch überhöht und verweist nicht zuletzt auf die biographische Voraussetzung des Stückes: Im September 1935 war Horváth nach seinen erfolglosen Versuchen, in der nationalsozialistischen Berliner Filmindustrie Fuß zu fassen, nach Österreich zurückgekehrt; im Sommer 1936 hat man den Autor nach einem Besuch bei seinen Eltern in Oberbayern endgültig aus dem Dritten Reich verwiesen. Nach drei Jahren der politischen Indifferenz, in denen Horváth unter Leugnung der sozialkritischen und ideologischen Impulse seiner frühen Stücke und unter teilweise brüsker Zurückweisung von Solidaritätsansinnen aus der Emigrantenszene eine Integration in den nationalsozialistischen Theater- und Kulturbetrieb versucht hatte, bemühte er sich ab 1936 um eine neue moralische Integrität.(1)
Ein unzweifelhaftes Zeugnis von Horváths persönlicher Krise stellt ein Blatt dar, auf dem der Autor die zwischen 1932 und 1936 geschriebenen Stücke für nichtig erklärt und für sein künftiges Schaffen das Konzept einer so genannten "Komödie des Menschen" entwirft. "Ohne Kompromisse" und "ohne Gedanken ans Geschäft", so schreibt Horváth wörtlich, gedenke er fortan an die Arbeit zu gehen, gebe es doch "nichts Entsetzlicheres als eine schreibende Hur".(2) Das Stück Der jüngste Tag, das auf dem Blatt unter dem Titel Das jüngste Gericht als letztes aufscheint, markiert im Schaffen des Autors eine Grenze: Für seine Aufführung hat Horváth noch Geld genommen. Am 22.4.1937 unterzeichnete er einen Vertrag mit dem Wiener Operettenverlag, der ihm einen Vorschuß von 500 Schilling zusicherte, (vgl. Krischke 1998, S. 240) die Uraufführung fand dann am 11. Dezember 1937 am Deutschen Theater in Mährisch-Ostrau statt.
Die Struktur des Stückes hat Horváth auf einem frühen Blatt notiert, bereits hier war die Dramaturgie auf den Auftritt der Toten im letzten Bild ausgerichtet, als Titel war Freigesprochen vorgesehen. Während er von den restlichen sechs Bildern meist nur die Überschrift notierte, führte der Autor die Handlungsfolge des siebten Bildes auf dem Blatt schon etwas genauer aus. Wie in fast all seinen Stücken findet die entscheidende Szene auch hier nicht in einem Innenraum, sondern in der freien Natur statt. Auf dem Bahndamm treten die Toten des Eisenbahnunglücks an den schuldig gewordenen Bahnhofsvorstand heran:
"Die Toten kommen und erzählen ihm vom Jenseits. Und erzählen: wir waren dabei, im Gerichtssaal, im Wirtshaus, in der Brautnacht, u.s.w. -- Sie lachen mit ihm und scherzen mit ihm: ,Du wirst das Zuchthaus nicht überstehen. Auf Wiedersehen im Jenseits!‘ Er wird verhaftet. Er ruft: ,Auf Wiedersehen!‘" (ÖLA 3/W 76 - BS 10 a; gedruckt in: Horváth 1988a, S. 423f.)
In den späteren Fassungen des Dramas hat der Autor die skizzierte Form aufgefüllt. Dabei ist es bei den sieben Bildern des Stückes ebenso wie bei der final-mortalen Szene geblieben. Die Schuld wurde flächig auf ein ganzes Netz von Figuren verteilt: Thomas Hudetz, der Bahnhofsvorstand, hat vergessen, ein Signal zu stellen, weswegen der Eilzug 405 knapp nach dem Bahnhof mit einem Güterzug zusammengestoßen ist.(3) Auf dem Bahnsteig war der Vorstand durch die (eher harmlosen) sexuellen Avancen der Wirtstochter Anna abgelenkt worden; als Grund für ihr Tun gibt das Mädchen später die "fehlende Liebe" zwischen dem Vorstand und seiner Ehefrau an. Vom irdischen Gericht wird Hudetz zwar freigesprochen, in Gestalt der Anna stellt sich ihm aber, als er ins Dorf zurückkehrt und mit großem Trara empfangen wird, eine höhere Instanz entgegen. Auf dem Bahnviadukt kommt es wenig später zu einer vieldeutigen "Brautnacht", in deren Verlauf Anna, die sich dem Hudetz als williges Opfer darbietet, getötet wird. Für diesen Mord (und nicht für das Zugunglück) ziehen die Toten den Bahnhofsvorstand am Ende des Stückes zur Rechenschaft.
So wie es Herbert Gamper für die frühen Stücke Horváths nachgewiesen hat, zeigt auch Der jüngste Tag eine Vielzahl religiöser Bezüge.(4) Die Johannes-Apokalypse (auf die schon der Titel anspielt) dient dem Autor als wichtiger Intertext. Das Zugunglück wird erlebt, als wäre die "Erde explodiert" (Horváth 1988a, S. 24); der Heizer des Zuges, der bei dem Unfall davongekommen ist, spricht von einem "infernalischen Krach". (ebda, S. 25) Am Ende des Stückes vermeint der Stationsvorstand dann tatsächlich Posaunen zu hören, die Anzahl der apokalyptischen Stöße spiegelt sich in der Siebenzahl der Dramenbilder und in der Anzahl, in der - über das gesamte Stück verteilt - das Läutwerk ertönt. Rechnet man das unreine Schlagen im Falle des Unglückszuges weg, ist auch dies nach den Regieanweisungen Horváths exakt siebenmal der Fall.
Knapp vor der Rückkehr des freigesprochenen Stationsvorstandes ins Dorf sitzt Anna im Wirtshaus und trinkt nicht etwa irgendeinen Schnaps, sondern Wermut. Auch dieser Name ist uns aus der Johannes-Apokalypse vertraut: Nach dem dritten Posaunenstoß wird dort ein brennender Stern namens "Wermut" ins Wasser geworfen, worauf ein Drittel des Wassers zu Wermut wird und viele Menschen an dessen Bitterkeit sterben. Auch die Regieanweisung Horváths deutet in dem Augenblick, als Hudetz ins Dorf kommt, auf ein weiteres Unglück hin: "Die Sonne verschwindet, es dämmert rasch." (ebda, S. 42)
Das nachfolgende vierte Bild am Bahnviadukt wird vom Mond beschienen und steht somit im Zeichen einer anderen, transzendenten Welt. Hudetz nimmt im Verlauf dieser chymischen Brautnacht, die gleichzeitig eine Vermählung und eine Opferung ist, an Anna eine seltsame Blutleere wahr. Zu Beginn des fünften Bildes wird er ins Wirtshaus gehen und dort - ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten - ein Viertel Rotwein trinken: Ein direktes Zeichen der Wandlung ist damit gesetzt.
Im siebenten und letzten Bild des Stückes, in dem Anna bereits auf die Seite der Toten gewechselt ist, findet das Gespräch, das am Viadukt in einen stillen Kuß mündete, seine Fortsetzung. In der unvergleichbar einfach wirkenden Horváthschen Sprache werden hier zwei biblische Szenen übereinandergeblendet - die Vertreibung aus dem Paradies und die Geschichte von Kain und Abel:
"ANNA läßt Hudetz nicht aus den Augen: Erinnerst Du dich, daß ich dich beim Viadukt gefragt hab: 'Erkennst Du mich wieder?'
HUDETZ leise: Ja.
ANNA: Du hast mich wiedererkannt.
HUDETZ unsicher: Das weiß ich nicht.
ANNA: Aber ich. Denn du hast mich genauso umarmt wie damals.
HUDETZ: Wie wann?
ANNA: Wie damals, da wir fortgingen. Der Himmel war wie ein strenger Engel, wir hörten die Worte und hatten Angst, sie zu verstehen - oh so Angst - es waren schwere Zeiten, erinnerst du dich? Im Schweiße unseres Angesichts -
HUDETZ unterbricht sie: Du warst Schuld! Wer hat denn zu mir gesagt 'Nimm! Nimm!'?
ANNA: Ich.
HUEDTZ: Und was hab ich getan?
ANNA lächelt: Oh wie oft hast du mich schon erschlagen, und wie oft wirst du mich noch erschlagen - es tut mir schon gar nicht mehr weh.
HUDETZ: Tut’s dir wohl?
Anna schrickt zusammen und starrt ihn entsetzt an. Jetzt läutet wieder das Signal und wechselt auf Grün ." (ebda, S. 74f.)
Daß alle Schuld in der Erbsünde wurzelt und die Verantwortung dafür der Frau als Anstifterin zukommt, ist die bequemste Variante männlicher Bibelexegese. Aus der Tatsache, daß Anna sich für Hudetz opfert und noch aus dem Jenseits zu ihm spricht, erfährt diese ehemals so kalte Gestalt dann doch noch eine Erlösung zur Transzendenz. Die Stimme der Toten besetzt jene Leerstelle, die das Fehlen der inneren Stimme bei Hudetz gelassen hat. Auf den Vorschlag seines Schwagers, in sich zu gehen, hatte der Stationsvorstand vor seiner Errettung durch das weibliche Opfer noch geantwortet: "Wohin soll ich gehen? In mich hinein? Was tät ich denn da finden?" (ebda, S. 65) Anna hingegen hat ihren Körper schon vorher zum Resonanzraum des Unglücks gemacht. An einer Stelle des Textes sieht die Regieanweisung vor, daß sie sich die Ohren zuhält und sagt: "Ich hör immer noch das Geschrei - ich darf nicht Alleinsein, Herr Vorstand, dann kommen die Toten, sie sind bös auf mich und wollen mich holen -" (ebda, S. 51)
Von der Opferung Annas bis zu den Posaunen, die Hudetz gegen Ende wahrnimmt, weist im Stück alles auf einen metaphysischen Schuldbegriff hin; nur zu Beginn ist ein knapper Hinweis auf einen möglichen gesellschaftlichen Erklärungsansatz eingestreut. Am Bahnsteig unterhalten sich die wartenden Fahrgäste über die Ursache der vielen Verspätungen. Alles sei desorganisiert, gibt eine gewisse Frau Leimgruber zu bedenken, und ein Waldarbeiter macht dafür die Rationalisierungen verantwortlich: "Die schicken ja jeden zum Teufel, das beste Menschenmaterial". Zum Schluß bleibe - wie eben auch hier auf diesem Bahnhof - "ein einziger Mann" (ebda, S. 12) mit der ganzen Last der Verantwortung übrig.
An der Tatsache, daß die Schuld im jüngsten Tag als eine entindividualisierte erscheint, ändert diese Wortmeldung nichts; ganz im Gegenteil scheint auch noch dieses Einsprengsel darauf abgestellt, die Frage der Schuld von der Person des Hudetz abzulösen, weil eben der Einzelne mit der ihm übertragenen Verantwortung im technisierten Zeitalter in jedem Fall überfordert sei. In dieser doppelt exkulpierenden Lesart wurde Der jüngste Tag unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommen. Die Kritiker der Wiener Aufführung von 1945 waren sich einig: Die Frage der Schuld wird hier nicht als eine Frage individueller Verantwortung, sondern als eine Frage nach den tiefgreifenden Ursachen des Bösen gestellt. Der jüngste Tag wurde zum Mysterienspiel; die Volksstücke des Autors, in denen die Metaphysik auf einen Jargon und damit auf das Gesellschaftliche bezogen wird, entdeckte man erst viel später.
Horváth wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit dem Publikum als ein Konvertit zum Glauben verkauft, die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit seiner Stücke nahm man nicht zur Kenntnis. Die offizielle Staatsideologie Österreichs hatte dafür keinen Platz; bekanntlich sah sich das Land als erstes Opfer des Nationalsozialismus, eine Auffassung, die auf internationaler Ebene frühzeitig positioniert wurde und deren politischen Ertrag man gerne in der Unterzeichnung des Staatsvertrages sieht. Nach innen hatte diese Strategie fatale Folgen: Die Täter sprachen sich gegenseitig von Schuld frei oder wurden aus wahltaktischen Erwägungen reingewaschen, eine Aufarbeitung der Geschichte fand nicht statt.
Was Alexander Kluge für die Bundesrepublik Deutschland festgehalten hat, daß nämlich die Chancen der Stunde Null nicht genutzt wurden (und daß dieses Versäumnis unwiederbringlich sei - vgl. Negt/Kluge 1981, S. 379), trifft auch auf Österreich zu: Hierzulande wurde unmittelbar nach 1945 alles getan, um eine offene Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit zu vermeiden und auch später kam eine Aufarbeitung der Geschichte nur stockend in Gang. Die Spuren der Zerstörung wurden ebenso schnell beseitigt wie der Gedanke an die eigene Schuld. Nach außen hin waren die Dinge auch relativ rasch wieder ins Lot gebracht. Schon wenige Jahre nach dem Krieg glaubte man die Folgen so halbwegs überstanden zu haben. Mit der Wirtschaft ging es aufwärts und der Fremdenverkehr stand in erster Blüte.
Genau in dieser Situation tritt in Hans Leberts Roman Die Wolfshaut (1960) der Matrose Johannes Unfreund auf und faßt den folgenschweren Entschluß: "Graben wir einen Toten aus." Von diesem Moment an ergießt sich über das Dorf, das den bezeichnenden Namen "Schweigen" trägt, ein Landregen, der - nur hier und da von Schneefall abgelöst - exakt 99 Tage anhält. Die Jauchegruben gehen über, bald hat sich in jeder Niederung eine tiefbraune Matschsuppe gesammelt. Von den Bergen bleibt nur mehr ein Gerippe, am Himmel ziehen dicke rote Adern auf, die sich schlußendlich von einer gigantischen Blutarie begleitet auf die Menschen ergießen: "'Oh, du aus den silbernen Winterwäldern des Schlafes!!' Eine Springflut stürzte ihm entgegen. Blut! Er rannte in ein Meer von Blut hinein (durch den Schnee, der auf einmal die Farbe von Erdbeerschaum hatte). Ströme von Blut ergossen sich über die Gegend - aus Adern, die sich am Himmel wie Schriftzeichen wanden." (Lebert 1991, S. 357)
Bei den Toten, die in der Wolfshaut Himmel und Erde mit den Zeichen ungesühnter Schuld überziehen, handelt es sich um eine Gruppe von Fremdarbeitern, die in den letzten Tagen des Krieges von ein paar Leuten aus dem Dorf ermordet wurden. Die Einheimischen wissen über das Verbrechen Bescheid, bewahren aber Stillschweigen, so kehren die Opfer in der Landschaft zurück. Es ist die Natur selbst, die sich an den Überlebenden rächt: Die Nacht bietet die Kulisse für das Auftreten der schwarzen Trud', die den Leuten im Nacken sitzt; in den Wäldern findet ein Werwolf sein Versteck, der sich aus dem Dorf nach und nach seine Opfer holt.
Ähnlich wie bei Horváth, wo Urs Jennys Frage nach der realistischen und/oder metaphysischen Komponente nach wie vor Aktualität besitzt (vgl. Jenny 1971), ist es auch bei Lebert zu einer Diskussion der möglichen Lesarten gekommen, wobei die Spannweite im Falle der Wolfshaut vom Krimi bis zum metaphysischen Schocker reicht. Als ein realistischer Text, der sich als einer der ersten und als einer von sehr wenigen in Österreich gegen die Verdrängungspraxis der Nachkriegsgeschichte gestellt hat, wurde der Roman, der zu diesem Zeitpunkt bei breiteren Leserschichten fast vollständig in Vergessenheit geraten war, Mitte der 1980er Jahre im akademisch-literaturwissenschaftlichen Bereich wahrgenommen. (vgl. Fliedl/Wagner 1984)
Unter tätiger Mithilfe von Jürgen Egyptien, dem damaligen Lektor des Wiener Europa-Verlages, ist es einige Jahre später (also zu einem Zeitpunkt, da man in Österreich von Staats wegen Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen übernahm) zu einer Wiederentdeckung Hans Leberts gekommen. Beginnend mit der Wolfshaut wurden die Romane und Erzählungen neu aufgelegt, teilweise erlebte der 1993 verstorbene Autor das Revival noch mit. Egyptien hat auch eine erste Monographie über Lebert vorgelegt. (vgl. Egyptien 1998a) Mit dieser Studie hat er für Lebert ähnliches geleistet wie Herbert Gamper für Horváth. Das literarische Werk wurde in seiner Vielschichtigkeit gesehen, wobei insbesondere die metaphysischen Aspekte betont wurden.
Wer nach Metaphysik sucht, muß bei Lebert auch nicht lange suchen. Schon in den frühen Gedichten sowie in den Erzählungen aus dem Sammelband Das Schiff im Gebirge häufen sich gnostische Motive von Weltentleerung und Körperentwertung. Als ein Nichts aus Chaos und Kot liegt das Dorf Lur in einer wahrhaft "gottverlassenen" Welt; in den Leibern der Frauen nistet das Böse, als eine ständige Fertilitätsdrohung steht den Männer deren Sexualreiz vor Augen. Dieser negativen Genesis folgt die Apokalypse der späteren Romane. Während in der Wolfshaut die Schuldigen der irdischen Gerechtigkeit entkommen, schlägt das überirdische Gericht, ein Strafgericht von geradezu alttestamentarischem Ausmaß, umso bitterer zu. Das Erdendasein selbst und die verspielte Chance auf Erlösung ist die Strafe, wobei sich dieses Versäumnis überindividuell erweitern läßt. Alles, was in "Schweigen" lebt, ist in Wahrheit längst tot; der Gestank der Verwesung, der bei Lebert an allen Ecken, Enden und vor allem: aus allen Löchern dringt, trägt einen ontologischen Kern.(5)
Die Ambivalenz des Lebertschen Schreibens zeigt sich vollends in seinem zweiten Roman Der Feuerkreis, einem Buch, das aufgrund der mythischen Überfrachtung und des hohen pathetischen Tons im Jahr seines Erscheinens (1971) bei der Kritik durchgefallen ist. Anders als in der Wolfshaut ist die äußere Handlung hier auf ein Minimum reduziert. Man schreibt den 20. September 1947 als Captain Jerschek, der in der britischen Armee gedient hat, in seine Heimat zurückkehrt - in ein dumpfes und ödes Provinznest in der Nähe der steirischen Koralpe. Einem inneren Auftrag gemäß versucht Jerschek seine Stiefschwester, die je nach Situation als eine "holde Kampfmaid" oder als ein "brünstiges Weibtier" geschildert wird, zum Eingeständnis jener Schuld zu bewegen, die sie als KZ-Aufseherin auf sich geladen hat. Zwischen Hilde Brunner und Jerschek tobt über 340 Seiten hinweg ein erbitterter Kampf um Schuld und Sühne, in deren Verlauf die beiden Gegenspieler - bis hin zu inzestuösen Vorstellungen - aneinander gekettet bleiben. Schließlich kommt es zum großen Showdown: Jerschek erlöst Hilde, indem er sie tötet, aber irgendwie fehlt der Tat das Endgültige: "Warum", so heißt es am Ende des Buches, "soll sie tot sein? Sie lebt." (Lebert 1992, S. 341)
Lebert selbst hat sein literarisches Programm als "Transparentismus" bezeichnet; mithilfe einer angewandten (und wie man hinzufügen muß: germanischen) Mythenkunde sollte die Wirklichkeit verständlich gemacht werden. In Der Feuerkreis hat der Autor, ein Neffe Alban Bergs und selbst ehemaliger Wagner-Sänger, dieses Programm in konsequenter Weise umgesetzt. Für die Figur der Brunner Hilde wurde als Vorlage die Brünnhilde aus dem Ringder Nibelungen produktiv gemacht. Wie die mythische Figur Wagners wartet auch sie im innersten Kreis der Hölle (deshalb auch der Titel Der Feuerkreis) auf ihren Erlöser. (vgl. Egyptien 1992, S. 346)
Hilde Brunner, die ehemalige KZ-Schergin, gehört selbst nicht mehr wirklich den Lebenden an. Sie behauptet von sich "schon gestorben" und nur mehr ein "Gespenst" (Lebert 1992, S. 190) zu sein; die Erinnerung an ihre Verbrechen, die Jerschek in ihr wachruft, verwischt die Grenze zwischen den Lebenden und den Toten. Wie Hammerschläge fahren die einschlägigen Namen auf sie nieder: Auschwitz, Majdanek, Sobibor, Buchenwald, Flossenbürg, Treblinka, Bergen-Belsen. Hilde Brunner erträgt die Wahrheit nicht, sie hält sich die Ohren zu und beginnt gellend zu schreien:
"Hör auf !!! Das nimmt ja kein Ende! Tote! Tote! Tote! Überall Tote!! Wo ich hinschau, seh ich ihre schwarzgefleckten Leiber näher kriechen! Als glitschige Waldschnecken kriechen sie hinter mir her und werden nicht müde! Das verfolgt mich wie ein kilometerlanger Zug von Aas und kreist mich ein! Sie sterben immer noch! Sie sterben täglich, stündlich, in jeder Sekunde! Aus der Stille hör ich ihr Gebrüll wie ein Gebirge wachsen! Unsere Berge sind Berge von Toten!! Verstehst Du?! Die Wintersportler rutschen von Leichenbergen herunter!! Verstehst Du?! Und manchmal stinkt die ganze Gegend nach verbranntem Fleisch!! Und ich selber stinke nach verbranntem Fleisch!! Und manchmal glotzen sie mich alle miteinander an mit ihren leeren Höhlen, als sei ich selber tot, als würde ich mich selbst im Spiegel anstieren." (ebda, S. 238)
In einem Interview, das Lebert knapp vor Erscheinen des Feuerkreises gab, hat er gemeint, daß er in dem Buch von seinem Stoff überwältigt worden sei. Er wollte hier alles "ins äußerste Extrem treiben", dies hätte zu einem Balanceakt zwischen "Devotionalien- und Sexkitsch, Heimatroman, Kolportage und politischer Agitation" geführt. (Lebert/Böhm 1971) Ein solches Extrem stellt mit Sicherheit Hilde Brunner dar, und zwar weniger, was die Rhetorizität ihrer Rede, sondern vor allem, was die innere Strukturierung der Figur betrifft. Anders als bei Horváth wird das Lebende und das Tote hier nicht auf getrennte Rollen verteilt, wodurch sich der Moment der Begegnung narrativ abgrenzen und sauber isolieren läßt. Bei Lebert findet in Hildes Rede und auf Hildes Körper ein allumfassender Vermischungsprozeß statt, der nicht zu stoppen ist und sich über alle Bereiche des Textes erstreckt. Der Feuerkreis zehrt solcherart nicht nur die Grenze zwischen der Geschichte und dem Mythos auf, sondern auch die zwischen dem Historischen und dem Sexuellen.
Erst diese letzte Verdoppelung verleiht der Figur der Hilde Brunner ihre ganze Ambivalenz. Jerschek geht mit der Stiefschwester auch ein sexuelles Verhältnis ein. Im Verlaufe des Aktes wird der Mann vor eine Entscheidung gestellt, deren eine Alternative schlimmer als die andere ist: "Auf der einen Seite war der Ekel, also die Rettung, auf der anderen dagegen war der Abgrund." (Lebert 1992, S. 91) Dieser Abgrund stellt sich bei Lebert als ein Abgrund des Todes und des Verbrechens dar, der "Sumpf" des weiblichen Geschlechts wird mit dem braunen "Sumpf", des Konzentrationslagers identifiziert. (vgl. Egyptien 1998b)
Diese Parallelsetzung zwischen der als ontologisch böse gedachten (weiblichen) Sexualität und den real existierenden Verbrechen der Nationalsozialisten führt zu einer unauflösbaren Paradoxie, weil die etablierte Gleichung nach beiden Richtungen offen ist. Die metaphysische Überhöhung von Brunners Schuld weist eben nicht nur auf die Ungeheuerlichkeit ihrer Verbrechen, in ihr birgt sich umgekehrt der Keim für die Exkulpierung der Frau, weil sie eben eine Frau und damit automatisch Trägerin des Bösen ist. Für eine solche Schuld gibt es auf Erden keine Strafinstanz, aber auch am Ende der Tage wird über den Fall nicht hinreichend zu befinden sein, weil der Nationalsozialismus die Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes korrumpiert. Für Hilde Brunner gibt es kein zuständiges Gericht, der Instanzenweg verläuft wie eine Möbiusschleife zwischen Himmel und Erde.
Dieses ausweglose In-sich-Verstricktsein gilt aber nicht nur im individuellen Bereich, es gilt (wovon Alexander Kluge sprach) auch auf der Ebene der Geschichte. Daran, daß die Stunde Null nicht genutzt wurde, hat mehr noch als das Gewissen derer, denen kein Richtspruch beschieden war, die Geschichte zu leiden, die von ihrer Bürde nicht befreit wurde, obwohl dazu die einmalige Chance bestand. Daß diese messianische Hoffnung nach einer Erlösung der Geschichte durch sich selbst (die Kluge vom Geschichtsbild Walter Benjamins nahm) auch bei Lebert besteht, zeigt sich am Ende des Feuerkreises. Knapp bevor Hilde Brunner von Jerschek den Todesschuß empfängt, steht die Frau in romantischer Ausstaffierung da und wirkt plötzlich wie eine Reinkarnation der schönen Leiche aus dem 19. Jahrhundert:
"Als er [Jerschek] wieder in das Zimmer tritt, steht Hilde abkehrt zwischen Ofen und Diwan, die erhobenen, gekreuzten Arme an die Wand gelegt und Stirn und Gesicht verborgen, als schaue sie ein. Unter der bleichen, glänzenden Haut ihres Rückens zeichnen sich die Schulterblätter und die Rippen deutlich ab. Ihr Haar, naß, als habe man ihr ein Schaff Wasser übergegossen, liegt verworren auf den Schultern und im Nacken. Und Jerschek sieht nun: dieses Haar, durch das noch immer da und dort zinnoberrotes Blut fließt, ist nicht mehr blond; es ist im Laufe eines Abends weiß geworden. Sie ist geschmückt, als ginge sie zu einem Volksfest: Sie sieht aus, als sei sie rot-weiß-rot beflaggt.
'Beeil dich!' wimmert sie. 'Ich kann nicht mehr.'
Jerschek hebt seine Waffe, ohne zu zittern.
Er zielt; er zielt auf eine Stelle zwischen dem linken Schulterblatt und dem Rückgrat; dann schießt er.
Langsam und lautlos kippt Hilde zur Seite und fällt auf den Diwan." (Lebert 1992, S. 330f.)
Mit dieser Szene ist, wie es bei Lebert wörtlich heißt, der "mystische Wendepunkt" des Buches erreicht: "der Punkt, an dem Dunkelheit in Licht verwandelt, der Punkt, wo ein Zimmer zum Tempel, ein Henker zum Priester, ein Eßtisch zum Altar und eine Mörderin zur Opfergabe wird". (ebda, S. 332) Im Ensemble allgemeiner Wandlung ist Hildes Körper zu einer Allegorie Österreichs geworden. Als Vertreter jener "kleinen Minorität", die am Nationalsozialismus nicht schuldig wurde, macht Jerschek mit der Majorität der Schuldigen Schluß. Die rot-weiß-rote Flagge auf dem Haupt der Sterbenden läßt aus dem blonden Haar der Vergangenheit das Land in den Wimpeln und Fahnen der 1950er Jahre neu erstehen - ein Vorgang, den wir vielleicht auch deshalb so pathetisch und überladen finden, weil sich die Geschichte ganz anders abgespielt hat.
In Elfriede Jelineks Buch Die Kinder der Toten (1995) ist es in Österreichs Geschichte noch später geworden, ohne daß sich für die von Lebert akzentuierten Fragen eine Lösung gefunden hätte. Jelinek, die Die Wolfshaut als emphatischen Bezugspunkt ihres Schreibens beschwört, präpariert aus Lebert die Einsicht, daß es für die "unglaubliche Ungerechtigkeit", daß die einen tot sind, während die anderen leben, auf Erden keine Entsühnung geben kann. Daß die Zeit für die einen zu Ende ist und für die anderen noch nicht, führt dazu, daß - wie die Autorin in einem Artikel zu Lebert erklärt hat - "wir Lebenden uns selbst ständig vernichten müssen, daß wir verfallen sind, liegengelassene Pfänder, gerade in unseren eifrigsten Bemühungen, hier zu bleiben, gelbe Spuren in den Schnee zu pissen. In unseren EG-Anschlüssen gleichermaßen wie in den sogenannten Bedenkjahren. Daß wir lebende Tote sind." (Jelinek 1991)
Die Kinder der Toten machen mit der Infizierung des Gegenwärtigen durch das Leichengift der Vergangenheit ernst. Auf mehr als 600 Seiten (und manche Kritiker vermeinten gar die teuflische Zahl 666 erkannt zu haben, obwohl das Buch exakt 667 Seiten umfaßt) findet keine Umwertung der Werte, sondern deren Totalliquidation statt. Die Drecksuppe, die von ober- und unterirdischen Wassern gespeist und vom Saft der verwesenden Toten genährt wird, ist allgegenwärtig. Giftige "Maische" (Jelinek 1995, S. 273) macht sich in einem Talbecken nahe dem steirischen Niederalpl breit, die Pension Alpenrose versinkt mit ihren großteils bundesdeutschen und holländischen Urlaubsgästen in der stinkenden Brühe. In ihr hat sich aufgelöst, was in der österreichischen (und überhaupt: zivilisatorischen) Gegenwart ehedem der Fall war. In losen Trümmern ragen die Reste heraus: Miniröcke, Gartenversandkataloge, Lederhosen, Kraftfahrzeuge, Nachrichtenmagazine, isotonische Getränke, Mick Jaggers "Tute- und Blasegruppe", Austropopper, Mountainbiker, Kanzler und Kanzlerkandidaten, Boris, Steffi und Goldi und so weiter und so fort.
Die Ströme der Freizeit- und Unterhaltungsindustrie, die ihre eigenen Toten leugnen und von anderen Toten nichts wissen wollen, vermischen sich mit Sickerwassern aus Mauthausen und Auschwitz; Jelinek pumpt diese vergessenen Flüssigkeiten in neuen Schläuchen in die Alpen zurück. Dieser alternative Kreislauf, der gegen die Gesetze der Schwerkraft und unter dem Boden verläuft, raubt dem Wasser seine reinigende Kraft. So viele Wolken können am Himmel der Heimat nicht aufziehen, um mit ihren Tropfen die dunklen Erdwasser zu neutralisieren. Es ist böses Wasser par exzellence, das der "Flüssigtext" (Vogel 1997) Die Kinder der Toten mit sich führt. Ein Brei, in dem obenauf Knorpel und Haarmorast treiben und in dem verwesendes Menschenfleisch schwimmt. Von den Seiten nährt sich der anschwellende Strom aus nicht weniger grausigen Armen: Tödliche Mundspülungen, (Monats)blutungen, Kammerwasser, Eiter, Kotze und Kot münden ein. Das dunkle Abwasser füllt langsam die Kapillare, Becken und Wannen der Landschaft auf, bis schließlich die ganze ober- und unterirdische Gegend als ein einziger "Richtblock" (Jelinek 1995, S. 253) aus Wasser erscheint, unter dessen bleierner Oberfläche kein Lebender atmen könnte, würde in der Endzeitsuppe nicht ab und zu eine tote Seele "entkorkt".
Der stickige Totenbrei bahnt sich seinen Weg durch reale und virtuelle Kanäle. Er durchfließt die "marmorne Pfortader" (ebda, S. 369) der Kathedrale von Mariazell ebenso wie das als "Geburtskanal" (ebda, S. 593) bezeichnete Radioprogramm Österreich 1, auch vor dem Fernsehen macht er nicht halt: Dort ist Carolin Reiber in einem Dirndl aus Menschenhaut zu sehen. (ebda, S. 279) Anders als es der Tradition der skurrilen Mediensatire entspricht, die bei Eckhard Henscheid begann (und heute mit Stefan Raab zu einem medialen Erfolgsprogramm geworden ist, weil offenbar Fernsehen nur mehr als Parodie des Fernsehens möglich ist) fällt in den Kindern der Toten am Abend vor dem Fernsehen de Vater nicht dem Kartoffel aus dem Maul (vgl. Henscheid 1984), es fällt am Abend, während die "Musterfamilie" vor dem Fernseher sitzt, das "gigantische Haargespinst von Millionen toten Menschen" in das Zimmer ein:
"Es rinnt dort im Eck diese dunkle Flüssigkeit hinunter, welche die Eltern des Kindes aber nicht sehen, weil sie ins Narrenkastl stieren. Etwas scheint eilig nach unten zu streben, um an einen sicheren Ort auf dem Fußboden zu gelangen. Es sind zwei Zeugen anwesend plus einem Stück Kind. Dieses schaut als einziger Teilnehmer in unserem Sendebereich nicht auf den Schirm, auf dem sich Sichtbarkeit an die Menschen herantastet, damit sie ihre Verpflichtungen vergessen und sich, handlich verpackt, ohne Gegenwehr übergeben. Das Kind hat vollkommen dunkle, pupillenlose Augen und starrt auf das Rinnsal, das sich rasch verbreitet, sich aus der Finsternis des Raumes herausquält, während in der Küche der Geschirrspüler routiniert rotiert und das schöne Porzellan verkornt und verschrottet. Endlich wird der Vater, dem die Wachsamkeit über seine Lieben obliegt, witternd und gegen den Wind, den der Conférencier erzeugt (der glaubt wohl, er ist ganz unter sich, dort, wo er hinmacht!), aufmerksam, faßt sich kurz zusammen und fragt, was oder wo das sei, ob das Bad des Nachbarn oben etwa ein Leck habe. Der glaubt ohnehin, er kann uns auf den Kopf scheißen. Der Vater strömt aus dem Sofa, das neu bespannt worden ist. Jetzt ist er in Fluß gekommen. Doch auch dort, im Schatten, braut sich ein Fließen zusammen, dort scheint jemand seine Lebensmilch vergossen zu haben. Der Finger des Vaters ist vom Hingreifen rot geworden. Und dann dieses Gespinst!, das hauptsächlich verantwortlich ist für unsre Schönheit, weshalb wir das richtige Schampoo samt Spülung wählen sollten: Ist das nicht Haar? Dort kommen Blut und Haar aus der Zimmerdecke herabgeschossen, Tentakel einer grundlegend anderen Existenz." (Jelinek 1995, S. 403ff.)
Elias Canetti hat die Masse der Toten, weil sie am jüngsten Tag zu neuer Bewegung kommt, in seiner Auseinandersetzung mit "Masse und Macht" als das Beispiel einer stockenden Masse genannt. Damit war eine Masse gemeint, die dicht gedrängt ist und etwas Vorläufiges an sich hat, weil sie noch wartet. (vgl. Canetti 1980, S. 32-38) Jelinek macht in ihrem Buch nicht nur mit einigen der von Canetti genannten Massensymbole ernst, indem sie "Haar", "Wald" und "Wasser" über die Lebenden stürzen läßt, sie nimmt an der Masse der Toten das Bild des Stockens wörtlich. Durch den Zusatz von Wasser quillt die verstockte Masse auf; "Biodepots", die unter der Erde liegen (und auf die bereits die Schönheitsindustrie ihre Begehrlichkeiten gerichtet hat), werden geflutet: riesige Lagerstätten von Kopfhaar, die in einem breiten Strom nach oben drängen. Dieses "rote Meer" teilt sich gewiß kein zweites Mal, hat in ihm doch "das ganze Volk Abrahams sein Haardach" (Jelinek 1995, S. 405) abgeworfen. Der Holocaust betraf - wie es bei Adorno heißt - nicht mehr das Individuum, sondern die Gattung, und dies mußte "auch das Sterben derer affizieren, die der Maßnahme entkamen" (Adorno 1975, S. 355): Zu wenige aus Abrahams Nachkommenschaft sind übrig geblieben, um die Furt noch einmal trockenen Fußes zu durchqueren.
Ungeheuerlich ist bei Jelinek an der Masse der Toten nicht, daß es Tote sind, die da wiederkehren, sondern daß es eine Masse ist. "Das Wasser [dieser] Massen verbindet sich mit den Wassermassen zu einem einzigen Lebensborn-Brei" (Jelinek 1995, S. 533), zu einem Saft, der den Toten zum Lebenselixier und den Lebenden, die sich in dem Buch dem Wortsinn nach durch den Totenbrei "fressen", zur Henkersmahlzeit wird; ein "Pharmakon", wie es Jacques Derrida beschrieben hat: Heilmittel für die einen und Gift für die anderen. (vgl. Derrida 1995) Weil die Lebenden und die Toten in den Kindern der Toten alle gemeinsam in der selben Suppe schwimmen, stellt sich zwischen ihnen ein reversibles Verhältnis ein, der Tod der einen setzt den Tod der anderen außer Kraft. In der Person der Pensionistin Karin Frenzel gewinnt dieser Vorgang Kontur. Die Alte verjüngt sich im Verlauf des Textes, während ihre Tochter, mit der sie in Haß verbunden ist, immer älter wird, um schlußendlich der Mutter mit der finalen Mure mitten ins Gesicht zu fahren.
Vorher geraten die gestockten Körpersäfte der Karin Frenzel in Fluß, die alte Frau gewinnt sogar ihre Fertilität zurück. Im Innenraum eines Autos, das den Bayrischen Motorenwerken entstammt und (ein später Triumph seiner Schöpfer) selbst zu einer riesigen Ersatzgebärmutter wurde, bringt die Alte einen "Fleischklumpen" (Jelinek 1995, S. 336) zur Welt, der wie ein Zerrbild des Menschensohns wirkt und aus dem Vorrat der unter der Erde lagernden Ersatzteile lieblos zusammengebastelt ist. Auch Milch schießt der späten Mutter ein, an dieser will sich sogleich einer der umstehenden Rentner gütlich tun: "Er hat sich erlaubt, unter Karins Laufbluse an den Schrauben zu drehen, die ein Wunsch der Natur wieder zu spitzigen stechenden Mispelfrüchten verjüngt hat. Steil drängen die Lanzetten der Brustwarzen auf den Alten ein und saugen ihm das letzte Blut aus." (ebda, S. 361) Die Amme ist zum Vampir geworden, sie säugt nicht, sondern saugt aus.
Wo die Masse der Toten zurückkehrt, kehren sich die Kausalitäten um. Bei Jelinek herrscht am jüngsten Tag kein Gott, um die Abläufe zu ordnen und die Vorgänge zu stabilisieren. Die Auferstehung des Fleisches ist genau so profan wie das "ewige Leben" der Fleischpackerl im Supermarkt; wenn deren "Verfälligkeitsdatum" (ebda, S. 439) abgelaufen ist, packt man die Portionen um. Der Himmel über den Kindern der Toten ist leer, unten auf der Erde ist "Engelsfleisch" nur noch in gebratenem Zustand verfügbar, über solchen Dingen obwaltet ein "Oblatengott" (ebda, S. 459), der selbst so flach ist wie ein Fernsehschirm. Gott wurde durch Gottschalk und die Apokalypse durch eine Fernsehshow mit "himmlischen Saalgästen" (ebda, S. 653) ersetzt, während draußen die rasch einberufenen Schnellgerichte mit den vielen Toten nicht mehr fertig werden. (vgl. ebda, S. 646) Schon Kafka hatte gemeint, daß das jüngste Gericht eher ein Standgericht sei (vgl. Benjamin 1981, S. 65), bei Jelinek kommt es noch schlimmer, da darf das "jüngste und beste Gericht" (Jelinek 1995, S. 277) schon einmal den untoten Männern von ihren untoten Frauen gereicht werden.(6)
Der Raum der Apokalypse ist ein Raum der Geschichte und der Gegenwart, wobei aber der "Geschichtsraum" immer auch ein "Geschlechtsraum" (ebda, S. 266) ist. So liegen in dem Text sowohl die Geschichts- als auch die Geschlechtsleichen herum: vergewaltigte Frauen und unbefriedigte Männer. Während der große Tod bei Jelinek das Leben verschlingt, läßt sich der kleine nicht mehr wirklich sterben. Als noch nicht "tot", aber auch nicht mehr "lebendig" werden in Jelineks Text nicht nur die Protagonisten, sondern wird auch das männliche Geschlecht beschrieben, bis ihm dann endlich doch noch eine "trübe Pfütze" (ebda, S. 190) entrinnt.
Ähnlich wie Hans Lebert es mit Hilde Brunner im Sinn hatte (wobei deren Rede so pathetisch und hysterisch war, daß man sich von ihr leicht distanzieren konnte), projiziert Jelinek die ungesühnte Geschichte des Landes auf die Körper der Menschen. Der Angriff der Vergangenheit auf die Gegenwart kann nicht mehr pariert werden, die Gegenwart selbst wird somatisch und endet in der Zukunft letal. Daß ein Textgewebe, das nach diesem Muster geschneidert ist, die individuelle Verantwortung eines jeden Lesers auf den Plan ruft, räumt die Schreibende gerne ein, schließlich sollen die gigantischen Maße des Kleides dazu dienen, das Ausmaß des eigenen Schreckens zu ermessen:
"Was bewegt mich, an ein Ende, das so weit schon zurückliegt, immer noch etwas anstückeln zu wollen, damit ich es wenigstens mit den Fingerspitzen erreichen kann? Wer will dieses Kleid noch anziehn? Viele wollen es, aber dann paßt es ihnen nicht. Ich habe den Saum vielleicht wirklich etwas zu lang gemacht. Keiner ist so groß, daß er in dieses Kleid hineinpassen würde. Diesen Schuh, der da, blutig liegt, soll sich dann gefälligst ein andrer anziehen!" (ebda, S. 662)
Es reicht nicht, sich die übriggebliebenen Dinge anzusehen, die in den Vitrinen der Museen und in den Aktenordnern der Archive lagern; man muß, um sich zu erinnern, zur Wahrnehmung dessen gelangen, was an diesen Dingen fehlt. Der blutige Schuh evoziert den blutigen Körper, der in ihm gesteckt ist. Die Masse des Haares verweist auf das, was an ihm nicht mehr da ist: die Masse der Menschen, von der bis heute nicht akzeptiert werden kann, daß sie verschwunden ist. Die offiziöse Bedenk- und Gedenkkultur hingegen räumt die Haarfluten (die die eigentlichen Körper- und Erinnerungsspeicher sind) zur Seite, um für ihre Inszenierungen Platz zu schaffen:
"Jetzt werden die Haarfluten von mir persönlich beiseitegeschoben, diese MUTTER ist heimlich, ohne daß der Schöpfer es gemerkt hätte, in diesen hineingelegt worden, damit sie durch ihn in diesem materiellen Körper hier gesät werde und, in diesem geboren und gewachsen, bereit wäre, das Wort zu werden, das keiner hören mag: DER ORT IN POLEN. Oh Gott, sofort ein Kloster hineinstopfen! Eine Kirche! Eine Kapelle! Ein Dom! Nonnen!! Schulen!! Spitäler! Noch mehr Nonnen!!! Rasch die Gottesmörder mit der Gottesmutter verdrängen! Was kam danach? Memento mori: Jean A., Sarah K., Primo L." (ebda, S. 632)
Mit den Namen von Jean Améry, Primo Levi und Sarah Kofman, deren Vater Auschwitz nicht überlebte, taucht eine andere, individuelle Form des Erinnerns auf. Hier ist die Bewältigung der Ereignisse, an der eine Institution wie die katholische Kirche weiter wuchs, nicht geglückt: alle drei, die sich erinnerten, nahmen sich das Leben. (vgl. Treude 1999, S. 109) Auch als staatspolitische Pflichtübung fällt das Erinnern nicht sonderlich schwer, weshalb bei Jelinek dann auch jenen, die sich in Österreich (viel zu spät) in dieser Kunst geübt haben, der Respekt versagt bleibt. Die entscheidende Frage ist eben nicht, wie man es dem Ausland und der internationalen Staatengemeinschaft sagt, sondern wie wir es unseren Kindern sagen:
"Da tauchen Menschen auf und verschwinden wieder, als hätten wir eine Fabrik, die uns jederzeit neue macht. Wie sagen wir es unseren Kindern. Die sind jetzt im Sand und spielen. Und die Kinder der Toten? Die wandern, ein anderer wüster Sand, durch den Sand und werden gerecht, gerechnet." (Jelinek 1995, S. 606)
"Die Kinder spielen schon den Mord", lautete der letzte Satz von Peter Handkes frühem Roman Der Hausierer. (Handke 1970, S. 119) Mit ihm wurde angezeigt, daß nach Ausforschung des Täters die Ordnung im Dorf wieder hergestellt war. Aus dem Sand, der bei Jelinek gerecht wird, ohne daß an ihm etwas gerechter würde, ist ein solches Ende nicht zu formen. Er stammt von einem Endspiel, das alle Apokalypsen wie pure Kinderspiele erscheinen läßt.
© Klaus Kastberger (Österreichisches Literaturarchiv, Wien)
ANMERKUNGEN
(1) Während die beiden Romane Jugend ohne Gott und Ein Kind unserer Zeit (beide erschienen 1937) zu Klassikern der Schullektüre und damit eher zum Gegenstand einer allumfassenden Didaktisierung als zu dem einer kritischen Auseinandersetzung geworden sind, wird das dramatische Werk des späten Horváth bis heute sehr zwiespältig beurteilt. Die Wertungen reichen von "Regressionstendenzen" bis hin zu einer tiefen Durchdringung mit Religiosität. Vgl. dazu Schröder 1981; Bossinade 1988 und jüngst auch Heil 1999 sowie Baumann 2003.
(2) Die Unzweifelhaftigkeit des Dokuments muß deshalb betont werden, weil es auch andere, sehr zweifelhafte Quellen zum letzten Lebensabschnitt Horváths gibt. Insbesondere ist das bei dem von Franz Theodor Csokor 1964 herausgegebenen Briefband (Zeuge einer Zeit. Briefe aus dem Exil 1933-1950) der Fall, der als wichtiger Beleg für die späte Religiosität Horváths gilt. Dabei ist den abgedruckten Briefen nicht über den Weg zu trauen. Um die genannten Personen zu schützen, hatte Csokor vor seiner Flucht aus Wien alle Originalbriefe vernichtet und später aus dem Gedächtnis rekonstruiert. Die Daten der Horváth-Briefe wurden teilweise bewußt manipuliert, um den Aufenthalt des Autors im nationalsozialistischen Berlin zu verbergen (vgl. dazu die Detailangaben bei Schnitzler 1990, S. 149ff.). Das angesprochene Konzeptblatt zur "Komödie des Menschen" findet sich im Bestand des Österreichisches Literaturarchivs (ÖLA 3/W 309 - BS 14 b, Bl. 4) und ist abgedruckt in: Horváth 1988b, S. 227f. Von Traugott Krischke wurde es einer Angabe Lajos von Horváths folgend, auf 1.11.36 datiert (vgl. ebda, S. 271); an anderer Stelle (Horváth 1988a, S. 423) gibt Krischke den Entstehungszeitpunkt mit 1. 11. 37 an. Der Inhalt der Notiz gibt ein Rätsel auf, da Ödön von Horváth in ihr u.a. davon spricht, daß von den genannten Stücken (Kasimir und Karoline; Liebe Pflicht und Hoffnung; Die Unbekannte aus der Seine; Hin und her; Himmelwärts; Figaro läßt sich scheiden; Don Juan kommt aus dem Krieg und unter diesem Titel: Das jüngste Gericht) bislang nur eines nicht aufgeführt worden sei. Dies widerspricht den offiziellen Daten: Kasimir und Karoline wurde am 18.11.1932, Hin und her am 13.12.1934, Figaro läßt sich scheiden am 2.4.1937, Glaube Liebe Hoffnung unter dem genannten Titel Liebe, Pflicht und Hoffnung am 13.11.1937, Himmelwärts am 5.12.1937, Der jüngste Tag am 11.12.1937, Die Unbekannte aus der Seine am 16.9.1947 und Don Juan kommt aus dem Krieg am 12.11.1952 uraufgeführt. Erklärbar werden die Widersprüche, wenn man den Transkriptionsfehler korrigiert, der Krischke unterlaufen ist. Horváth hatte in dem handschriftlichen Text nicht davon gesprochen, daß "eines" der Stück nicht aufgeführt wurde, er schrieb von "zweien" (den Hinweis darauf verdanke ich Erwin Gartner). Der Text zur Komödie des Menschen ist wahrscheinlich prospektiv zur Aufführung des jüngsten Tages entstanden; die Datierung auf November 1937 dürfte richtig sein.
(3) Bei genauer Beachtung der Regieanweisungen wird deutlich, daß das Signal nach menschlichem Ermessen nicht korrekt zu stellen war. In allen anderen Fällen, in denen ein Zug an der Station vorbeifuhr, war folgender Ablauf gegeben: Das Läutwerk schlägt, Hudetz stellt das Signal und der Zug passiert. Im Fall des Eilzuges 405 schlug das Läutwerk nicht, der Zug passierte, Hudetz stellte das Signal, und jetzt erst schlug (viel zu spät) das Läutwerk; vgl. dazu Bartsch 1977.
(4) Dies trifft (in der für Horváth so typischen Mischung aus Glaube und Aberglaube) auch auf die verwendeten Zahlen zu: Die Quersumme der Zugnummer 405 ergibt die Zahl von Tod und Wiedergeburt 9; zwischen den Eheleuten Hudetz herrschen 13 Jahre Altersunterschied; Anlaß zu Spekulationen hat bereits auch die exakt 2364 Seelen umfassende Einwohnerzahl des Ortes gegeben, vgl. Gamper 1987, S. 194 ff. und Vögele 1983, S. 69ff.
(5) Der Nationalsozialismus stellt sich solcherart, wenngleich als die schlimmste, so doch nur als eine mögliche Emanation des Bösen in der Welt dar und verliert seine historische Einmaligkeit. Von der kritischen Literaturwissenschaft wird diese Ansicht Egyptiens nicht geteilt, vgl. Wagner 1998.
(6) Die Paronomasie, mithilfe derer Jelinek die Bedeutungsströme ihrer Texte regelt und sie in einzelnen gleich- oder ähnlich klingenden Worten zur Kreuzung bringt, hat einen "proletarischen Bruder" (Groddeck 1995, S. 139), der ihr sehr ähnlich sieht: den Kalauer. Oftmals bedient sich Jelinek gerade dieser simplen Figur, um den größten aller möglichen Unterschiede darzustellen: jenen zwischen Leben und Tod. So werden z. B. in Die Kinder der Toten (S. 647) jene, die ansonsten "Wildbret" schießen, unter einem "Wildbrett" begraben, vgl. dazu auch Meyer 1997.
LITERATUR
Adorno 1975 = Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1975
Bartsch 1997 = Kurt Bartsch: "Die Hauptsach ist, daß man sich nicht selber verurteilt oder freispricht". Beobachtungen zur Schuldproblematik im Spätwerk Ödön von Hováths am Beispiel des Dramas "Der jüngste Tag". In: Arlette Camion/Jacques Lajarrige (Hg.): Religion(s) et Littérature en Autriche au XXe Siècle. Bern, Frankfurt am Main, New York (Peter Lang) 1997, S. 115-127
Baumann 2003 = Peter Baumann: Ödön von Horváth: "Jugend ohne Gott?" - Autor mit Gott. Bern (Peter Lang) 2003
Beckett 1983 = Samuel Beckett: Worstward Ho. Aufs Schlimmste zu. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983
Benjamin 1981 = Walter Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Hg. von Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1981
Bossinade 1988 = Johanna Bossinade: Vom Kleinbürger zum Menschen. Die späten Dramen Ödön von Horváths. Bonn (Bouvier) 1988
Canetti 1980 = Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt am Main (Fischer) 1980
Derrida 1995 = Jacques Derrida: Platons Pharmazie. In: Ders.: Dissemination. Wien (Passagen) 1995, S. 69-190
Egyptien 1992 = Jürgen Egyptien: Hans Leberts "Der Feuerkreis " als mythopoetische Parabel. In: Hans Lebert: Der Feuerkreis. Wien (Europa) 1992, S. 345-367
Egyptien 1998a = Jürgen Egyptien: Der "Anschluß" als Sündenfall. Hans Leberts literarisches Werk und intellektuelle Gestalt. Wien (Sonderzahl) 1998
Egyptien 1998b = Jürgen Egyptien: Sexualität und Weltvernichtung. Zur poetischen Funktion des skatologisch-sexuellen Komplexes ins Hans Leberts Werk. In: Gerhard
Fliedl/Wagner 1984 = Konstanze Fliedl, Karl Wagner: Tote Zeit. Zum Problem der Darstellung von Geschichtserfahrung in den Romanen Erich Frieds und Hans Leberts. In: Friedbert Aspetsberger, Norbert Frei, Hubert Lengauer: Literatur der Nachkriegszeit und der fünfziger Jahre in Österreich. (= Schriften des Institutes für Österreichkunde 44/45). Wien (ÖBV) 1984, S. 303-319
Fuchs, Günther A. Höfler (Hg.): Hans Lebert. Graz (Droschl) 1998 (= Dossier 12), S. 171-200
Gamper 1987 = Herbert Gamper: Horváths komplexe Textur. Zürich (Ammann) 1987
Groddeck 1995 = Wolfram Groddeck: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Basel/Frankfurt am Main (Stroemfeld/Nexus) 1995
Handke 1970 = Peter Handke: Der Hausierer. Frankfurt am Main (Fischer) 1970
Heil 1999 = Stefan Heil: Die Rede von Gott im Werk Ödön von Horváths. Ostfildern (Schwabenverlag) 1999
Henscheid 1985 = Eckhard Henscheid: Beim Fressen beim Fernsehen fällt der Vater dem Kartoffel aus dem Maul. Frankfurt am Main (Fischer) 1984
Horváth 1988a = Ödön von Horváth: Der jüngste Tag und andere Stücke (= Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden. Hg. von Traugott Krischke, Bd. 10). Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988
Horváth 1988b = Ödön von Horváth: Sportmärchen, andere Prosa und Verse (= Kommentierte Werkausgabe in Einzelbänden, hg. von Traugott Krischke, Bd. 11). Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1988
Jelinek 1991 = Elfriede Jelinek: Das Hundefell. Über die Wiederentdeckung Hans Leberts und seines Romans "Die Wolfshaut". In: Profil (Wien), 16.9.1991
Jelinek 1995 = Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1995
Krischke 1998 = Traugott Krischke: Ödön von Horváth. Kind seiner Zeit. Berlin (Ullstein) 1998
Lebert 1991 = Hans Lebert: Die Wolfshaut. Wien (Europa) 1991
Lebert 1992 = Hans Lebert: Der Feuerkreis. Wien (Europa) 1992
Lebert/Böhm 1971 = Gotthard Böhm: "Meine patriotische Tat". Presse-Gespräch mit einem abermals zu entdeckenden österreichischen Romancier. In: Die Presse (Wien) vom 6.8.1971
Meyer 1997 = Eva Meyer: Rezitation und Emigration. In: Rowohlt Literaturmagazin 39 (1997), S. 181-190
Scherpe 1986 = Klaus R. Scherpe: Dramatisierung und Entdramatisierung des Untergangs - zum ästhetischen Bewußtsein von Moderne und Postmoderne. In: Andreas Huyssen, Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1986, S. 270-301
Schnitzler 1990 = Christian Schnitzler: Der politische Horváth. Untersuchungen zu Leben und Werk. Frankfurt am Main (Peter Lang) 1990
Schröder 1981 = Jürgen Schröder: Das Spätwerk Ödön von Horváths. In: Traugott Krischke (Hg.): Ödön von Horváth. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1981, S. 125-155
Treude 1999 = Sabine Treude: Die Kinder der Toten oder: Eine Verwicklung der Geschichten mit einer Geschichte, die fehlt. In: Elfriede Jelinek (= Text+Kritik 117). München 1999, S. 100-109
Vogel 1997 = Juliane Vogel: Wasser, hinunter, wohin. Elfriede Jelineks "Die Kinder der Toten" - ein Flüssigtext. In: Rowohlt Literaturmagazin 39 (1997), S. 172-180
Vögele 1983 = Meinrad Vögele: Der jüngste Tag. Frankfurt am Main u.a. (Peter Lang) 1983
Wagner 1998 = Karl Wagner: Das Gespenstische der Vergangenheit. Leberts grausliche Metaphorik. . In: Gerhard Fuchs, Günther A. Höfler (Hg.): Hans Lebert (= Dossier 12). Graz (Droschl) 1998 S. 99-116
5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections
Inhalt | Table of Contents | Contenu 15 Nr.