Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gregor Thuswaldner (Gordon College Wenham, Massachusetts)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Apokalyptisch vs. postapokalyptisch: Die Überwindung der modernen Satire

Burkhard Meyer-Sickendiek (Universität München)

 

Ich möchte im Folgenden eine Gattungsfrage in den Mittelpunkt stellen. Sie betrifft den Zusammenhang von Apokalypse und Satire, der nicht nur in der österreichischen Moderne von Wichtigkeit ist - ich denke vor allem an Karl Kraus -, sondern im Grunde seit der mittelalterlichen Stände- und Moralsatire zu einem Leitmotiv vieler satirischer Texte gehört. Insbesondere einschlägig ist diesbezüglich natürlich Sebastian Brants "Narrenschiff" von 1494, ein satirischer Narrenreigen, in welchem als ständige Bedrohung der Tod und die nah erwartete Apokalypse auftauchen: "Die zyt die kumt / es kumt die zyt / Ich vörcht der endkrist sy nit wyt." Äußere Indizien für das unmittelbar bevorstehende Weltende sieht Brant im allgemeinen Sittenverfall, im Versinken der Welt in Sünde und Narrheit und im damit verbundenen "abgang des gloube": "Wer oren hab / der merck vnd hör / Das schifflin schwancket vff dem mer / Wann Christus yetz nit selber wacht / Es ist bald worden vmb vns nacht." Als moralisierender Endzeitprediger im großen Narrenhaus dieser Welt ruft Brant zur allgemeinen Buße und Umkehr auf. Aus der Einsicht des Einzelnen in die Tatsache, daß der eigene Lebenswandel nach Maßgabe der sieben Todsünden - Hoffart, Habsucht, Wollust, Völlerei, Zorn, Neid und Trägheit - vor Gott als sündhaft gelten muß, kann somit das Wissen um das eigene Narrentum zur jenseitsgewissen Weisheit und so zur immer weiter schreitenden Erkenntnis Gottes führen. Das satirische Identifizieren eines närrischen, d.h. unchristlichen Verhaltens erhält seinen Nachdruck, seine Evidenz also durch die gleichzeitige Prophetie vom Ende der Zeiten, in dem dieses falsche Leben abgestraft wird.

Daß die apokalyptische Vision bzw. Prophetie zu einem Leitmotiv der Satire gezählt werden kann, ließe sich nicht nur durch weitere Textbeispiele großer Satiriker wie etwa Grimmelshausen, Quevedo, Swift oder Heinrich Mann belegen. Vielmehr spielt der Gedanke des Strafens als wesentlicher Inhalt des Strafgerichts bis in die Gattungsdefinition eine entscheidende Rolle, ein Zusammenhang, der etwa in Friedrich Schillers Definition in "Über Naive und Sentimentalische Dichtung" zum Ausdruck kommt, in welcher Schiller eine scherzhafte und eine strafend-pathetische Satire unterscheidet. Jürgen Brummack hat darauf verwiesen, inwiefern diese Schillersche Definition der Satire auf den seit der Renaissance bekannten Vergleich der römischen Satiriker Horaz und Juvenal zurückgeht. Horaz ist der erste große Satiriker, der in den "Sermones" (30-35 n. Chr.) die Verssatire zu einer auch für nachfolgende Autoren paradigmatischen Form werden ließ. Das "ridentem dicere verum" (serm. I 1, 24), d.h. die Belehrung des Lesers durch humorvolle Hinweise auf typische Fehler und Verhaltensweisen, gilt ab der Renaissance als vorbildlich für die ausgleichende, aus dem urbanen Gespräch über allgemein menschliche Schwächen entwickelten Satire. Weit aggressiver erscheinen dagegen die ab 100 n. Chr. entstandenen Satiren des Juvenal, deren zynisch-moralischer, aus der Entrüstung (indignatio) hervorgehender Grundton den Gegenpol zur humorvollen Satire des Horaz bilden. Wenn Schiller die strafend-pathetische Satire von der scherzhaften unterscheidet, dann nimmt dies Bezug auf eine lange Tradition des Vergleiches dieser zwei Autoren. Mit ihnen sind zwei Themenfelder assoziiert, die dieser Differenz korrespondieren: nach Brummack "behandelt die anhand von Horaz definierte scherzende Satire das Harmlosere: Torheiten, Verletzungen der Geschmacksregeln und des äußeren Anstands, die auf Juvenal bezogene strafende Satire dagegen das Gefährlichere: eigentliche Laster und Verbrechen, Unsittlichkeit, alle Gefährdung des Zusammenlebens."(1)

Ich werde im folgenden dreierlei versuchen. Zum einen möchte ich eine ähnliche Differenz zwischen scherzhafter und strafend-pathetischer Satire für die österreichische Moderne behaupten. Zwei Autoren könnte man anhand dieser Differenz als Leitfiguren der österreichischen Satire diskutieren: Johann Nestroy als Vertreter der scherzhaft-horazischen Form, Karl Kraus als Vertreter der strafend-pathetischen Satire im Sinne Juvenals. Ich werde dann in einem zweiten Schritt daran erinnern, daß der strafend-pathetische Aspekt bei Kraus vor allem im Gedanken des apokalyptischen Strafgerichts besteht. In einem weiteren Schritt möchte ich dann fragen, ob der so gewonnene Begriff der Apokalypse auch auf jene Autoren und Texte der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur übertragen werden kann, die sich der Tradition der Satire mit dem Ehrgeiz zuwenden, sie zu überwinden. Dabei wird also der Zusammenhang von Apokalypse und Satire einen zentralen Anhaltspunkt der folgenden Überlegungen darstellen, wobei ich glaube, daß die Überwindung des einen notwendigerweise die Überwindung des anderen Aspektes beinhaltet. Meine These lautet daher nicht, daß Satiriker notwendigerweise auch Apokalyptiker sein müssen, wohl aber, dass Post-Satiriker zugleich postapokalyptisch schreiben.

Bekanntermaßen ist Karl Kraus jener Autor der österreichischen Moderne, der die Tradition der Nestroyschen Posse sowohl als Theoretiker wie als Praktiker der Satire modernisiert und somit erstmalig die Tradition einer genuin österreichischen Satire ermöglicht hat. Der 1912 verfaßte Essay "Nestroy und die Nachwelt" betont die Kontinuität mit Nestroy, in dessen Possen Kraus ein "Dynamit in Watte" gewickelt sah. Die "Welt erst sprengen", nachdem man sie als "die beste der Welten" beschrieben hat, "die Gemütlichkeit einseifen", bevor es zum "Halsabschneiden" übergeht(2), diese Charakterisierungen verdeutlichen vor allem eines: für Kraus stellt Nestroy eine ironische Version des Satirikers dar, der mit einem Lächeln seinem Publikum die bittere Wahrheit sagt. Demgegenüber betont der 3 Jahre später verfaßte zweite wichtige Essay zur Satire deren notwendig unironische Form und setzt entsprechend auf die Diskontinuität mit der Tradition. In "Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit" von 1915 wird die Satire deshalb mit größtem Nachdruck als ernste Antwort auf die bevorstehende Apokalypse begriffen. Wie in den zwei Jahre später vollendeten "Letzten Tagen der Menschheit" ist die Ausgangsthese, daß die Zeitgenossen den soeben ausgebrochenen Ersten Weltkrieg "mehr als eine Abwechslung denn als eine Umwechslung" erlebt und das mit dem Krieg verbundene "Unglück als Konjunktur" geschätzt hätten. Der mit Kriegsbeginn gegebene ,Ernst der Zeit' wird von der oberflächlichen Mentalität der Zeitgenossen also nicht erfaßt, das in diesem Essay geprägte Konzept der Satire muß diese Oberflächlichkeit erschüttern, das unterscheidet sie von der ,Satire der Vorzeit'. Mit "dem stillen Wunsche nach einem Erdbeben", den der Essay ausspricht, ist dasjenige apokalyptische Motiv formuliert, welches diese Erschütterung leisten soll und im zwei Jahre später veröffentlichten Drama auch leisten wird. Es liegt also eine parallele Anordnung vor: nicht allein der Erste Weltkrieg ist apokalyptisch, sondern vor allem diejenige Form einer modernen Satire, die den Ausbruch des Krieges sowie den ,Ernst der Zeit' zu kommentieren vermag. Entsprechend verringert sich der ironische Gehalt der Satire in diesem zweiten wichtigen Essay:

"Hier ist Humor kein Gegensatz zum Krieg. Diesem können die Opfer entrinnen, jenem nicht. Er befreit keine Schlechten, er befreit die Guten, die da leiden. Er kann sich neben dem Grauen sehen lassen. Er trifft sie alle, die vom Tod unberührt bleiben. Bei diesem Spaß gibt's nichts zu lachen. Aber weiß man das, so darf man es, und das Lachen über die unveränderten Marionetten ihrer Eitelkeit, ihrer Habsucht und ihres niederträchtigen Behagens schlage auf wie eine Blutlache!"

Die moderne, den politischen Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts angemessene Satire ist von einem Humor geprägt, der grausam wie der Krieg selbst ist. Über diesen Humor zu lachen, ist nur demjenigen erlaubt, der die Grauen des Krieges durchlitten hat, wie dies von Kraus im Begriff der "qualgeborenen Heiterkeit" gefaßt ist. Das für die Kraussche Satire typische, sarkastische Verlachen von Leid und Sterblichkeit - man denke an den makabren Walzer der Hyänen um die Kriegstoten und Invaliden im letzten Akt der "Letzten Tage der Menschheit" - ist eingebunden in diese kritisch-moralische Intention. Vergleicht man den Essay "Nestroy und die Nachwelt" von 1912 mit "Der Ernst der Zeit und die Satire der Vorzeit", so wird man Zeuge eines Radikalisierungsprozesses, der sich mit den Begriffen der scherzhaften und der strafenden Satire begrifflich fassen läßt. Diese Radikalisierung verbleibt also innerhalb des Gattungsspektrums der Satire.

Wie sich die Nestroysche Posse als eher scherzhafte Form vom kritisch-moralischen Impuls der Krausschen Satire unterscheiden läßt, so deutlich läßt sich wiederum die Überwindung der moralischen Funktion der Satire in den Texten jener österreichischen Autorin behaupten, die ich im folgenden als "Postapokalyptikerin" diskutieren möchte: Elfriede Jelinek. Dies soll anhand eines leider schon diskutierten Textes Jelineks - "Die Kinder der Toten" - demonstriert werden. Der Text kann als die vielleicht radikalste Version des sogenannten "Anti-Heimatromans" gelesen werden, zu dem Romane wie Hans Leberts "Die Wolfshaut" (1960), Thomas Bernhards Gesamtwerk von "Frost" (1963) bis hin zu "Auslöschung" (1986), Peter Handkes "Hornissen" (1966), Franz Innerhofers "Schöne Tage" (1974) oder Josef Winklers Trilogie "Das wilde Kärnten" (1879-1982) sowie "Der Leibeigene" (1990) zählen. Und doch gibt es wiederum eine ganz klare Differenz. Denn haben die genannten Romane einen mehr oder weniger ähnlichen Prozeß zum Thema, an dessen Ende die Einsicht steht, daß das Individuum von einer als banal oder monströs begriffenen Gesellschaft zerstört wird, so setzt Jelinek an dem Punkt an, daß sie das Individuelle gar nicht erst entstehen läßt. Der Blick auf den Einzelcharakter, dessen Entwurf einer sich in ihren Möglichkeiten entfaltenden Individualität durch das bloße Vorhandensein einer sozialen Mitwelt stets und immer scheitert, dieser Blick erscheint anläßlich der von Jelinek entworfenen sozialen Trümmerwelt als Idealismus. Er fehlt in erster Linie deshalb, weil die Zerstörung des Individuellen nicht wie in den genannten Texten des Antiheimatromans von der sozialen Welt ausgeht und vom Autor registriert wird. Das Individuelle wird bei Jelinek vielmehr von ihr selbst zerstört. Wenn Jelinek daher dieser Gattung zugerechnet werden, dann deshalb, weil ihre Texte wie diejenigen Leberts oder Bernhard die beklemmende Atmosphäre latenter Gewalt und Bedrohung, bedingt durch Katholizismus, Fremdenhaß und eine teils verschwiegene, teils offen ausgetragene nationalsozialistische Gesinnung gemein hat. Das Fortbestehen der Schuldgeschichte der nationalsozialistischen Vergangenheit demonstriert "Die Kinder der Toten" jedoch anders: in nicht allein grotesker, sondern teils gar unerträglicher Form anhand eines Nekrophilie, Vampirismus und Kannibalismus umfassenden literarischen Totentanzes. Dessen Schauplatz ist die nur scheinbar idyllische Pension "Alpenrose" in der Oststeiermark, in der drei Gäste als Untote unter den Touristen eine Blutorgie veranstalten: der mit seinem Sportwagen an einer Hausmauer verstorbene ehemalige Ski-Profi Edgar Gstranz, die durch Selbstmord umgekommene Philosophiestudentin Gudrun Bichler und die zunächst bei einem Autounfall verstorbene, nach ihrer Wiederauferstehung dann in einem Wildbach versunkene Witwe Karin Frenzel. Sie sind die Hauptgestalten inmitten einer Fülle weiterer Todesopfer, zu denen etwa zwei inzestuös veranlagte Förstersöhne, ein im Wald gegrilltes Rentnerpaar oder 80.000 in Flutwasser ertrinkende Besucher eines Konzerts der Zillertaler Schürzenjäger zu zählen sind. Daß die Vergangenheit tot und zugleich lebendig ist, wird durch die permanente Wiederkehr dieser drei Toten markiert. Untote wurden sie auf den verschiedensten Wegen - durch Autounfall, Pulsadernaufschnitt, Kopfschuß, Schluchtensturz, Lustmord, Stromschlag -, aus dieser Situation stehen sie immer wieder und mit fürchterlichen Folgen auf, um immer wieder zu sterben, am eigenen Verfall sich zu vergnügen, mit Verwesung zu verschrecken. Über diese makaber-obszöne Obsession hinaus ist jedoch der Massenmord, das große Sterben im zwanzigsten Jahrhundert, auf dem dieser Roman basiert. Der eklig lehmige Boden ist gedüngt mit den "Millionen Toten" der Nazi-Diktatur, deren abgeschnittene Haare tonnenweise aus den Lagerhäusern und in die Gemeindewohnungen dringen, wo sie Menschen, die sich keiner Schuld bewußt sind, ersticken, die Touristen in der "Pension Alpenrose" belästigen, die schließlich, überraschend von Hunderten verdächtiger Gäste überfüllt, in einer Nacht der lebenden Leichen von einer Mure, einem riesigen Erdrutsch, begraben wird. Es wechselt Nekrophilie mit Vampirismus und Kannibalismus, aus allen Körperöffnungen bröselt Grabeserde, tropft das Leichenwasser, krabbeln die Würmer und Mikroben.

Die eigentümliche Kombination von Heimatkunde und Ekelaffekt, welche für Jelineks Roman charakteristisch ist, trägt die Züge einer literarischen Form, welche insbesondere in den Arbeiten Wolfgang Kaysers als "Groteske" definiert worden ist. Wenn Kayser zu seiner Definition des Grotesken unter anderem den Modus zählt, "daß was uns vertraut und heimisch war, sich plötzlich als fremd und unheimlich enthüllt"(3), dann stimmt dies mit eben jener Atmosphäre überein, die sich in Jelineks Text als der vielleicht radikalsten Version des "Anti-Heimatromans" leitmotivisch wiederholt. Und auch die zweite zentrale Definition - "die Gestaltung des Grotesken ist der Versuch, das Dämonische in der Welt zu bannen und zu beschwören"(4) - läßt sich für die Lektüre fruchtbar machen; gleicht doch Kaysers weitere Erläuterung dieses beschwörenden Bannung - "Das Dunkle ist gesichtet, das Unheimliche entdeckt, das Unfaßbare zur Rede gestellt"(5) - einem zentralen Thema des Romans: der Enthüllung bis dato verschwiegener Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus.(6) Es verwundert daher nicht, daß Jelinek sich in Interviews an eben dieser literarischen Form orientiert. Mit Blick auf die Texte eines Kolumnisten der Kronen Zeitung, die nicht mehr zu parodieren, da an Banalität nicht mehr zu unterbieten seien, heißt es:

"Also ich glaube, nicht einmal Nestroy hätte sich so etwas vorstellen können. Sie sind aber auch gleichzeitig schrecklich; gleichzeitig das Niedrigste und Schrecklichste in einem. Irgendwann versagt da wahrscheinlich das Mittel der Satire. Satire ist es ja eigentlich auch nicht, was ich mache. Ich würde sagen, es ist eher Sarkasmus, eher Groteske. Satire hat ja vielleicht noch einen stärker moralischen Anspruch."

Wie eng sich Jelinek am Konzept der Groteske orientiert, zeigt vor allem die Tatsache, dass nahezu alle zentralen Texte dieser Gattung, welche in Joachim Kaysers 1957 erschienener Arbeit über "Das Groteske" zur Gattungsbestimmung herangezogen werden, in "Die Kinder der Toten" wiederkehren. Dazu zählen etwa der Schauerroman des ausgehenden 18.Jh.s und der Romantik, zu dessen Motiven und Klischees das Doppelgängermotiv und die Persönlichkeitsspaltung ebenso gehören wie die Vorliebe für nächtlich-düstere Schauplätze: bis hin zu Robert Louis Stevensons Doktor Jekyll and Mr. Hyde (1886). Weitere Quellen sind die gothic novell sowie Edgar Allan Poe: so etwa bezieht sich das Vampirismus-Thema auch auf Poes Erzählung The Fall of the house of Usher (1839), welche gleichfalls das Thema von den ruhelosen Toten, die die Lebenden verfolgen, dominiert. Wie bei Poe erreicht dieses Thema auch bei Jelinek seinen schrecklichen Höhepunkt in der Verbindung mit den Motiven des Inzests, des Vampirismus und der Todessehnsucht der im Leben Zurückgebliebenen. Der Golem aus Meyrinks gleichnamiger Erzählung taucht auf, die häufig als weiß oder bleich beschriebene Karin Frenzel erinnert an E.T.A. Hoffmann Erzählung Das Gelübde aus den "Nachtstücken", in denen die polnische Comtesse Hermenegilda im somnambulen Zustand vom Cousin ihres Verlobten geschwängert wird und anschließend aufgrund des Gelübdes, niemandem mehr ihr schönes Antlitz zu zeigen, eine weiße Totenmaske anlegt. Und der lehmige Boden als Schauplatz des Romans erinnert in seiner Mischung an jenen Strom von "Schmutz, Abfall, geronnenem Blut, Gedärmen, Tier- und Menschenkadavern", der sich in Alfred Kubins "Die andere Seite" am Ende über die Stadt "Perle" ergießt, die schließlich ebenfalls von diesem Sumpf verschluckt wird.

Andererseits orientiert sich Jelinek auch an jener Sprachgroteske, wie sie etwa aus Morgensterns Galgenliedern von 1905 bekannt sind: Der »Werwolf« sehnt sich danach, flektiert zu werden (»>Der Werwolf< sprach der gute Mann, / >des Weswolfs, Genitiv sodann, / dem Wemwolf, Dativ, wie mans nennt, / den Wenwolf, - damit hats ein End<«). Selbst die ästhetische Provokation des späten Ernst Jandls, welche etwa in dem extremen Hörspiel "Das Röcheln der Mona Lisa" zum Ausdruck kommt, hat vieles gemein mit Jelineks ästhetischer Radikalität: der Satz aus dem "Röcheln der Mona Lisa": "Nimm immer wieder das Gleiche, und mach daraus eine Leiche" - er dürfte als Motto wohl weder bei Kraus, noch bei Canetti, Drach, Lebert oder Bernhard denkbar sein, er markiert jedoch präzise den Ausgangspunkt der Prosa Elfriede Jelineks.

Wenn Jelinek die Satire wegen deren "moralischen Anspruchs" verwirft, dann trifft dies eben jenen Aspekt moralischer Indignatio, wie er in Karl Kraus' Essay über die moderne Satire zu beobachten war. Dies gilt auch für die Aggression, die in der Satire eine quasi gattungskonstitutive Rolle spielt: lag dieser bei Kraus eine eindeutig moralische Begründung zugrunde, so scheint der aggressive Sarkasmus, von dem Jelineks Roman geprägt ist, kein moralisch begründbarer mehr zu sein. Zwar ist das Massensterben des Romans erkennbar bezogen auf die Erinnerung an den Holocaust, insofern die "Millionen Toten" des NS-Regimes nach einer gigantischen Flutwasser-Katastrophe aus ihren Gräbern gespült und auf diese Weise auch allegorisch erinnert und bewußt gemacht werden. Dennoch aber liegt in Jelineks Text keine Satire im Sinne Karl Kraus' vor, wenngleich auch "Die Kinder der Toten" - wie "Die letzten Tage der Menschheit" - gegen das kollektive Vergessen gerichtet ist. Denn anders als bei Karl Kraus fehlt im Text Jelineks die finale Gerechtigkeit: der Text Jelineks ist post-apokalyptisch, weil er nicht länger von der moralischen Idee des Strafgerichts Gebrauch macht. Deshalb kann die Groteske als literarische Ausdruckform eines postapokalyptischen Schreibens begriffen werden: die inhaltliche Grausamkeit der Erzählung ist kein satirisches Mittel zum Zweck, sondern wird als Selbstzweck affirmiert, bei dem die reine Affektentladung im Vordergrund steht. Anders gesagt: Wird in der Satire Karl Kraus' auf den Zusammenhang von Leid und Unrecht verwiesen, so geschieht dies zwar mittels einer Rhetorik des Komischen, aber dennoch mit moralischer Intention und dem Ziel der Einforderung von Schuld und Sühne. Die Groteske im Sinne Jelineks dagegen zeigt den gleichen Zusammenhang mit einem lustvollen Lachen an. Die Groteske markiert somit die Gleichzeitigkeit von Grauen und Komik, das Lachen, das - zumindest dem Leser - im Halse stecken bleibt, stellt den Gegenpol zum Motiv des Grauens: überwiegt das Lachen, so wirkt das Groteske harmlos, überwiegt das Grauen, so es durch Abstoßung ebenfalls seine Wirkung.

© Burkhard Meyer-Sickendiek (Universität München)


ANMERKUNGEN

(1) Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, in DVjS, 1971, S.315.

(2) Karl Kraus, Nestroy und die Folgen, in: Ders., Der Untergang der Welt durch schwarze Magie, Frankfurt am Main 1989, S.220-240.

(3) Wolfgang Kayser, Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung, Oldenburg und Hamburg 1957, S.198.

(4) Ebd., S.202.

(5) Ebd.

(6) Vgl. dazu: Werner Kummer, Österreich, ein Wintermärchen. Hans Lebert und die Entwicklung des antifaschistischen Dorfromans, in: Vergangene Gegenwart - gegenwärtige Vergangenheit : Studien, Polemiken und Laudationes zur deutschsprachigen Literatur 1960 - 1994, hg. v. Jörg Drews, Bielefeld 1994, S.9-29.


5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur

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Burkhard Meyer-Sickendiek (Universität München): Apokalyptisch vs. postapokalyptisch: Die Überwindung der modernen Satire. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/meyersickendiek15.htm

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