Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. September 2004
 

5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gregor Thuswaldner (Gordon College Wenham, Massachusetts)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Anthropologische Zweifel: Zum Erzählwerk Christoph Ransmayrs

Holger Mosebach (Kassel)

 

1. Einleitung

Die Romanwelten Christoph Ransmayrs sind dem Untergang geweiht. Sie erzählen von verschiedenartig ausgestalteten Endzeitvisionen, die ihren Fluchtpunkt in der düsteren Perspektive auf die Menschheit haben.(1) Das bisher publizierte Erzählwerk Ransmayrs ist thematisch heterogen, homogen ist es jedoch durch die zentralen Motive von Zerstörung und Untergang, deren Bilder seine Prosa beherrschen. Das Grundmotiv seiner Endzeitvisionen ist in einer tiefen anthropologischen Skepsis fundiert. In jedem der vier Erzähltexte steht der Mensch ohnmächtig vor den Trümmern seiner destruktiven Handlungen.

Es steht zu vermuten, dass jede Kultur beim Versuch, sich innerhalb des Spannungsbogens von Vergangenheit und Zukunft zu orientieren, eine Vorstellung vom Ende produziert. Die für unsere Zeit einflussreichste Vorstellung vom Ende ist eine Erlösungsvision. Die Offenbarung des Johannes erzählt von der Zerstörung der Welt zum Zwecke ihres Neuaufbaus. Die bestehende Welt wird als schmutzig und böse beschrieben - ihre Zerstörung wird somit begründet. Die Fähigkeit, die Welt im globalen Maßstab zu zerstören, lässt nunmehr Zweifel am utopischen Ausgang der Apokalypse entstehen. Die Gestaltung des Nachher entzieht sich somit zunehmend der Denkbarkeit. Klaus Vondung spricht in diesem Zusammenhang von der "kupierten Apokalypse", einer Apokalypse, der die zweite Hälfte der Neugestaltung abhanden gekommen ist.(2) Was bleibt, ist die Katastrophe. Ransmayr veröffentlicht seine Prosatexte in einer Phase vielfacher endzeitlicher Beschäftigung. Die achtziger Jahre beispielsweise produzieren eine Vielzahl an Krisen: Mit dem Nato-Doppelbeschluss wächst die Angst vor einem Atomkrieg auf deutschem Boden, ökologische Ängste, beispielsweise durch das Waldsterben, Tschernobyl 1986 etc. Hinzu tritt die Überzeugung, dass die Menschheit den Grenzen des Wachstums gegenübersteht. Überbevölkerung, Ressourcen- und Nahrungsmittelknappheit werden als die Grundprobleme der Zukunft hervorgehoben. Die Literatur reflektiert diese Situation: Eine Vielzahl an Texten widmet sich dem Komplex 'Apokalypse, Endzeit, Untergang, Katastrophe'.(3) Prominente Beispiele dafür sind Günter Grass' Die Rättin oder Christa Wolfs Störfall. Im Nachfolgenden sollen die Endzeitvisionen Ransmayrs - die Erzählung Strahlender Untergang (1982) sowie die Romane Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984), Die letzte Welt (1988), Morbus Kitahara (1995)(4) - nach ihrer anthropologischen Kritik befragt werden.

 

2. Strahlender Untergang

Seine erste Erzählung veröffentlicht Ransmayr 1982 mit Strahlender Untergang. Der anthropologische Zweifel wird darin in misanthropisch-zynische Bahnen gelenkt. Denn es wird von einem Pilotprojekt erzählt, das zu einem späteren Zeitpunkt auf die gesamte Menschheit angewendet werden soll. In der afrikanischen Wüste des Tanezrouft, im Grenzgebiet zwischen Algerien und Mali, wird ein Terrarium gebaut, worin ein menschliches Versuchsobjekt in der gleißenden Sonne dehydrieren soll. Nicht nur er sieht im Untergang den Sinn der Menschheit, viele wollen es ihm später nachtun. Wahrlich zynisch bei dieser Vorstellung nimmt sich die Tatsache aus, dass der 'strahlende Untergang' der Menschheit nicht nur durchgeführt, sondern auch eloquent begründet wird. Die Hauptthese der Verteidigungsrede lautet: Weil der Mensch nur Zerstörung und Vernichtung bewirkt und darin allem Anschein nach Identität sucht, solle er doch den kollektiven Untergang anstreben, um nicht weiter zu dilettieren. Die eigene Entfernung vom Planeten wird somit aus Einsicht in die fehlende Entwicklungsmöglichkeit des Menschen postuliert.

In dieser Rede, der "Apologie des Projekts" des zweiten Kapitels, weist der Redner vor allem auf das Grundübel hin. Der Mensch wird als aggressives Wesen desavouiert, dem Tier näher als einer verantwortungsvollen Lebensform. Dieser wird ironisch als "Herr der Welt" bezeichnet: "Er besteht, man sieht es ihm an, / zu siebzig Prozent aus Wasser. / Weiß oder schwach pigmentiert seine Haut, / Fellreste da und dort, / Rudimente von Krallen an Fingern und Zehen ..." Und weiter: "Er hat zu viel verwechselt: / Kultur mit Zivilisation, / die blinde Entwicklung seiner Technik / mit Fortschritt, / Ideologie mit Bewußtsein, / Herrschaft schließlich mit Ordnung / und so fort ..." (SU 22)

Das Untergangsterrarium wird mit der "Einsicht und Hilfe / höchster Behörden" (SU 16) errichtet, da auch sie wissen, dass "die Zukunft auch der / belebtesten Landschaft / Wüste / heißt" (SU 17). Das Ende, das ist die Zukunft. Wo aber sonst dem Ende mit Angst und Trauer begegnet wird, da fehlt die einsichtige Erwartung in den Augenblick der Selbstfindung. Die Argumentation ist perfide. Weil menschliches Handeln in Zerstörung resultiert, enthält der Moment des eigenen Untergangs identitätsfindenden Charakter. Um das menschliche Subjekt weiter abzuwerten, setzt es der Apologet des Projekts in einen kosmologischen Zusammenhang. Er erzählt vom Anbeginn des Lebens auf der Erde und macht damit nur deutlich, wie willkürlich und verspätet die menschliche Entwicklung einsetzt: "Im vorläufig letzten, allerletzten Augenblick / der nun einsetzenden, / teils komischen, / teils faszinierenden Entwicklung einer / lebendigen Vielfalt, / [...] richtete sich / ein Vieh / plötzlich / auf." (SU 28) Dieses "Vieh", das bald "Klauen, / Fangzähne / und Fell" (SU 29) abgeworfen hat, sieht in der "Behauptung von Existenz" (SU 30) die Wahrnehmung seines existentiellen Interesses. In dieser gewalttätigen Behauptung hat sich eine besondere Spezies hervorgetan - "der Helle, / der Weiße, / der Schwachpigmentierer" (SU 32), kurz: der westlich denkende Mensch. Ransmayrs Kritik richtet sich demnach gegen die durch Herrschaft und Unterdrückung motivierten Handlungen der Westeuropäer und wird expliziter: "Er räkelte sich, dehnte sich aus / auf dem Rücken ihm fremder Kulturen / und erklärte das Fremde zum Rohstoff / und Baumaterial der eigenen Zivilisation." (SU 32) Die Ausbeutung der Kolonien zum Nutzen des Reichtums im Heimatland setzt Ransmayr schließlich neben das Wirken so genannter global players, die in einer globalisierten Welt ihre Macht durch hell erleuchtete brands ausdrücken. Durch den Anspruch des westlich denkenden Menschen, Herrschaft über andere Kulturen auszuüben, diese notfalls mit Gewalt zu legitimieren und dabei Hab und Gut der fremden Zivilisation zu stehlen, verstellt er sich den Blick auf das Wesentliche, dass der Apologet in der Auslöschung ausmacht.

Neben den bereits vorgestellten anthropologischen Zweifeln fällt ein weiterer ins Gewicht, der zum nächsten Roman des Autors überleitet. Für die wissenschaftliche Begleitung des selbst gewählten Untergangs tritt eine so genannte "Neue Wissenschaft" in Erscheinung, die die Fehler des bestehenden Wissenschaftsbetriebs auszugleichen bemüht ist. Worin werden die Fehler erkannt? Zunächst in einer sinnlosen empirischen Leistung, die nichts zur Erklärung der Welt beitragen könne: "Das Meßbare zu messen, / und das Unmeßbare meßbar zu machen" (SU 20). Die Philosophie erliegt einer "Beschwerung" mit ihren "vielfältigen / wie bedeutungslosen Disziplinen, die / auch zusammengenommen nicht anderes ergeben / als eine Konglomerat / blöder Rätsel und Fragen" (SU 19). Weil das Denken der alten Wissenschaft auf den bloßen Zweck ausgerichtet ist, macht es sich den Herrschaftsverhältnissen untertan.(5) Die Prinzipien der "Beherrschung / und Manipulation" (SU 16) sieht die Neue Wissenschaft als überholt an, weil sie nicht im Dienst des Wesentlichen, nämlich des Untergangs stehen. Die vom Redner verfochtene "Neue Wissenschaft" ist damit die zynische Antwort auf das Novum Organon Bacons.(6) Auch Bacon fordert in seinem 1620 erstmals erschienenen Hauptwerk eine neue Art der wissenschaftlichen Betrachtung, die gänzlich mit der überlieferten bricht. Darin plädiert er für eine Interpretation der Natur, die mittels der Sinnes- und Verstandeskräfte induktiv Schlüsse auf allgemeine Erkenntnisse erlaubt. Dabei lassen die äußerlichen Formen Erkenntnisse über die innere Natur der Dinge zu, denn diese ermöglichen schließlich, "die Macht und die Herrschaft des Menschengeschlechts [...] über die Gesamtheit der Natur zu erneuern und zu erweitern"(7). Durch die Erfahrung soll der Mensch seine Lebensqualität verbessern und die Natur beherrschen. Möglich ist Herrschaft aber nur, wenn man die Gesetze der Natur kennt und zuletzt akzeptiert.(8) Solche Erfahrungen wollen die Seefahrer der k.u.k-Nordpolexpedition machen, die der Folgeroman des Autors thematisiert.

 

3. Die Schrecken des Eises und der Finsternis

Ransmayrs erster Roman erscheint 1984 mit Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Darin zeichnet er die k.u.k. österreichisch-ungarische Nordpolexpedition von 1872 bis 1874 unter der Doppelkommandantur Weyprechts und Payers nach. Im Sommer des Jahres 1872 brechen die Seefahrer ins Nordmeer auf, Ende August werden sie vom Eis gefangen genommen und ein Jahr später erst entdecken sie tatsächlich Neuland. Sie überwintern abermals im Eis, versuchen den Inselkomplex zu kartographieren und treten die Heimreise über das Eis zu Fuß an. Ein russischer Tranjäger sammelt die Entdecker schließlich auf. Ransmayr vollzieht damit eine bizarre Reise nach, deren Entdeckung ebenso zufällig wie die Rettung der Mannschaft glücklich ist. Unter Verwendung von Tagebucheinträgen der Teilnehmer rekonstruiert der Autor den Verlauf der Reise und erfindet dort die Wirklichkeit neu, wo er Leerstellen in den Texten antrifft.(9)

Diese Fahrt wird zum Anlass genommen, das ideologische Fundament der Entdecker bloß zu stellen. Denn so sehr die Fahrt in ihren Zielen auch geglückt ist, so beeindruckend weisen die Tagebuchaufzeichnungen der Seefahrer auf die Qualen und das Leid hin, die den Zielen untergeordnet worden sind. Wie in den Apokalypsen, z. B. der Offenbarung Johannis, dominieren auch in der Endzeit Ransmayrs Bilder der Zerstörung.(10) "Von Beginn an durchziehen den Roman Bilder [...] der katastrophischen Wirkung extremer Kälte auf den menschlichen Leib im locus horribilis der arktischen Eiswüste"(11), führt Scheck aus. Diese Bilder sind umso eindrücklicher, weil ihnen keine Bilder der Gesundheit oder des Glücks entgegengestellt werden. Als besonders eindringliche Schilderungen der psychischen und physischen Qualen weisen sich die Tagebuch-Zitate aus. Abschilderungen deformierter und entstellter Körper lassen sie somit zum "Protokoll einer Agonie" (SEF 198) werden. Je länger die Seefahrer im Eis umhertreiben, desto kranker werden sie. Ein Beispiel aus dem ersten Winter vermag die Leiden zu illustrieren:

Jäger Klotz leidet an Melancholie und Lungenschwindsucht;
Matrose Fallesich an Skorbut;
Zimmermann Vecerina an Skorbut und Gliederreißen;
Matrose Stiglich an Skorbut;
Jäger Haller an Gliederreißen;
Matrose Scarpa an Skorbut und Krämpfen;
Maschinist Krisch an Lungenschwindsucht ...
Ganz ohne Zeichen der Krankheit und Schwäche ist keiner; für jeden, der vom Krankenlager wieder aufsteht, legt sich ein anderer hin. Und so geht es fort. (SEF 138)

Aber die Männer stehen im Dienst der Wissenschaft, wie ihnen der Kommandant zur See, Weyprecht, versichert. Er verkörpert den Glauben an die Macht des Faktischen, mit dem dem Chaos der Natur zu trotzen ist. Seine Mannschaft schwört er ein auf sein Credo, "daß es vor allem die Ordnung sei, die sie am Leben erhielte". Jede Routineaufgabe an Bord gerät zu einem Zeichen, "daß eine menschliche Ordnung selbst in dieser Wildnis nichts von ihrer Gültigkeit verlieren könne; das Festhalten an der Disziplin und am Gesetz sei geradezu Ausdruck der Menschlichkeit und der einzige Weg, um in der Einöde zu bestehen." (SEF 139) Auch Cook geht auf diesen Aspekt ein: "He [Weyprecht] sees the darkness revealed when the veneer of civilisation is peeled back. This is the essential wolfishness of man, man's reversion to a natural brutishness [...]. The physical darkness of Arctic winter is paralleled by a darkness of human behavior in the face of extremity and hardship, when codes of honor and decency slide toward the edge."(12) Der Kommandant zu Lande, Payer, vertritt eine abweichende Auffassung über die Ziele und die Methoden, die zum Erreichen führen sollen. Für Payer ist "ohne Erfolg, ohne Land heimzukehren [...] beschämender als der Tod" (SEF 108). Seine romantische Abenteuerlust verstellt ihm den Blick für das Opfer, das er der Mannschaft auferlegt. Dazu betont er den teleologischen Blick des Mannes, der standhaft der Zerstreuung trotzen soll. Das Geheimnis der Natur ist nur zu Tage zu bringen, wenn in das Eismeer eingedrungen werde, wie es Payer formuliert.(13) Um das zu entschlüsselnde Geheimnis der Natur geht es schon Bacon. Die Interpretation der vom Menschen unterworfenen Natur dient dem einzigen Zweck, ihre "Pläne und Geheimnisse auszukundschaften", führt Merchant aus. In ihrer Untersuchung hebt sie den Einfluss der Hexenprozesse auf die Argumentation Bacons hervor: "Die Vernehmung von Zeugen vor Gericht vergleicht Bacon mit der Inquisition der Natur; ja, er scheut nicht die Analogie zur Folterkammer. [...] Die Natur muß durch die 'Mechanik' 'bezwungen' und 'bearbeitet' werden."(14)

Im Anschluss an die bereits in Strahlender Untergang kritisierte Formel der "Beherrschung und Manipulation" sind die errichteten Bauten im Eis als Zeichen der Herrschaft über die Natur zu sehen. Die Männer bauen eine drei Seemeilen lange "Kunststraße", die über Viadukte und durch Tunnels führt, "vorüber an Poststationen, Tempeln, Statuen und Schenken aus Eis." (SEF 154) Diesem Verhalten liegt ein Grundmoment der Fortschrittsgesinnung zugrunde. Seit dem Aufstieg der Wissenschaften in der Frühen Neuzeit hat der Mensch Fortschrittserfahrungen gemacht, die ihn die "Machbarkeit der Dinge"(15) gelehrt haben. Eine grundsätzliche Ablehnung des Natürlichen zugunsten eines im Geist sich etablierenden Besseren begleitet die Entwicklung des normativen Fortschritts. Dieses Bessere soll somit hergestellt werden, indem das Natürliche manipuliert und modifiziert wird.

An die Stelle der schicksals- und gottergebenen Hinnahme des Vorgefundenen tritt damit die aktive, zielgerichtete Umgestaltung der menschlichen Verhältnisse. Das Credo unserer Zeit ist die Machbarkeit der Dinge [...]. Das Ziel ist die Befreiung von den Schranken der Natur und von allen nicht von uns selbst gesetzten physischen und historischen Wirkmächten.(16)

Die Bauten im Eis sind Ausdruck eines Superioritätsgefühls, das die Männer aus der Zivilisation zu Manipulationen der Natur animiert. Sie stellen den Siegeswillen der Besatzung und den Willen zur Herrschaft über die Natur heraus. Diese sind Indiz "der produktiv-schöpferischen Fähigkeiten des Subjekts und der damit verbundene Anspruch nach prägender (Um)gestaltung der Natur"(17), wie Vietta ausführt. Denn Natur wird nicht mehr als eigenständige Größe betrachtet, sondern als modellierbares Objekt. Vietta schreibt weiter: "Nicht mehr ist Natur somit eine in sich selbst ruhende, sich bewegende, wachsende, blühende Entität, sondern wird zum Objekt, zum Konstrukt des menschlichen Geistes."(18)

Der Naturraum, den die Österreicher zu erobern versuchen, wehrt sich indes. Payer spricht vom "furchtbaren Triumvirat: Finsterniß, Kälte und Einsamkeit" (SEF 119). Gespenstig wirkt vor allem das "Wuthgeheul der Eisschollen" (SEF 87), das die Mannschaft die unberechenbaren, ihnen überlegenen Naturkräfte spüren lässt. Die Forscher stellen sich gegen die Grenzen, die die Naturkräfte ihnen entgegensetzen, um den Preis der eigenen "Natürlichkeit", argumentiert Wilke.(19) Anders ist kein wissenschaftliches Ergebnis zu erlangen. Die beständige Beschäftigung mit den Gesetzen einer lebensfeindlichen Natur kann insofern nur erfolgen, wenn die eigene Natur überwunden wird. Payer z. B. erweist sich als penibler Protokollant seiner physischen Destruktion, indem er sich selbst als Objekt begreift und sich von seiner Innerlichkeit distanziert; er "begutachtet seine geplatzte Haut, die Zerstörungen an seinem Körper wie Frostschäden an einer Maschine" (SEF 208). Nur um den Preis der eigenen Objektivierung und Entfremdung ist Naturbeherrschung zu gewinnen.

Im Eismeer verändert sich phasenweise auch das Verhalten und der Umgang der Männer miteinander. Die Naturkräfte verlangen den Männern so viel Energie ab, dass sie sich ihrer eigenen Zivilisiertheit entkleiden und dass ihre kreatürliche Natur offen zu Tage tritt. Dies ist ein Leitmotiv innerhalb der Romane Ransmayrs, der seiner anthropologischen Kritik mit den durch Hobbes popularisierten Worten in jedem Werk Ausdruck verleiht. In Die Schrecken des Eises und der Finsternis drückt es Ransmayr als "Vorführung der Banalität" aus, "daß die Menschen füreinander doch Wölfe sind." (SEF 255) Besonders Payer ist am Ende der Reise unbeherrscht. Er beschimpft den Schiffsfähnrich Orel als "Sau" (SEF 253) und bedroht Weyprecht, dass er ihm nach dem Leben trachten werde, sobald eine Heimkehr ausgeschlossen werden kann. Auch an diesem Punkt der Reise wehren sich die Männer gegen die Auflösung der von ihnen apostrophierten Ordnung. Denn schon viele Nordmeerexpeditionen sind aufgrund von "viehischen Kämpfen um einen Fetzen Fleisch, dem Zusammenbruch der menschlichen Ordnung, dem Kannibalismus schließlich und Wahnsinn" gescheitert. Aber solch ein unrühmliches Ende schließen die Betroffenen beharrlich aus: "Nein, eine kaiserlich-königliche Nordpolexpedition konnte ... durfte nicht zugrundegehen wie ein Rudel ausgezehrter Wölfe." (SEF 252)

Die zur Schau gestellten Opfer, die das unwirtliche Eis und die bedrückende dauernde Dunkelheit fordern, lassen somit an der Legitimation der Fahrt zweifeln. Der Inselkomplex, den fortan Namen aus der österreichischen Heimat als Eigentum der k.u.k.-Monarchie kennzeichnen, ist zudem unbewohnbar und ohne jeden strategischen Wert. Als ein eitles Großmachtstreben erscheint das Unternehmen, das die Annexion eines unbewohnbaren Eilandes im Polarmeer als Erfolg verbuchen kann. In der Schilderung der Reise führt Ransmayr vor Augen, dass neues Land gefunden und kartographiert werden kann, dies aber keinen Zugewinn an Wahrheit und Erkenntnis beinhaltet. In einem Exkurs unterstreicht der Autor sein fortschrittskritisches Argument. Er montiert ein Hiob-Zitat in den Text, das die großen Entdeckungen der Menschheit in das Dunkel der Unvernunft stellt: "An Kieselgestein legt man die Hand, gräbt von der Wurzel her die Berge um und schlägt Schächte in die Felsen, und reiche Schätze erblickt das Auge. Durchsickernde Rinnsale dämmt man ein, und Verborgenes bringt man ans Licht. Die Weisheit aber - wo findet man sie, und wo ist die Stätte der Einsicht?" (SEF 187)

Mit seiner Darstellung der Reise übt Ransmayr fundamentale Fortschrittskritik. Mit der Attitüde von Herrschenden treiben die Österreicher durch das Eis und wollen sich aneignen, was zu Hause Ruhm, Ehre und womöglich Unsterblichkeit garantiert. Gegen die Naturkräfte sind aber auch die Entdecker machtlos. Die Zerstörung richtet sich gegen sie. Ihre Kräfte und Körper nutzen sich an den unermesslichen Naturgewalten ab, bis ihr Wille gebrochen ist. Der Erkenntniswille des Menschen im Zeichen des Fortschritts wird damit als zerstörerisch bloß gelegt. In der Fortschrittskritik löst sich aber auch eine Vernunftkritik auf, eine Skepsis gegenüber einer falsch verstandenen Rationalität, die in Gewalt und Zerstörung resultiert. Auch bei Ransmayr ist Aufklärung dialektisch geworden und ist blind gegen die eigenen Exzesse. Jegliche Zivilisations-, Vernunft- oder Aufklärungskritik unterliegt jedoch einer tiefen anthropologischen Kritik, wie wir sie schon in Strahlender Untergang kennen gelernt haben. Im Eis, an der Peripherie, entledigen sich die Entdecker ihres zivilisatorischen Verhaltens und werden grob.

 

4. Die letzte Welt

Sind in Die Schrecken des Eises und der Finsternis die Figuren in erster Linie noch Träger von Gedankengebäuden, so offenbaren die Bewohner aus dem Folgeroman Die letzte Welt (1988) erhebliche menschliche Schwächen, die auf eine grundlegende anthropologische Skepsis schließen lassen. Der Roman Die letzte Welt stützt sich bekanntlich auf das Leben und Werk Ovids, genauer auf seine Verbannung und die intertextuelle Beziehung zu den Exilwerken Epistulae ex Ponto (Briefe vom Schwarzen Meer) und Tristia (Lieder der Trauer) sowie dem Hauptwerk Metamorphoses. Das grundlegende Motiv des Romans ist der Gestaltwandel, also die Metamorphose, der die Menschen am Verbannungsort Tomi verwandelt, aber auch das Antlitz der Region gründlich verändert. Aus dem Arsenal von ca. 250 mythischen Figuren übernimmt Ransmayr nur 35, (die er in 20 Verwandlungssagen wiederbelebt). Auffällig an der Auswahl der Figuren und ihrer Schicksale ist der durchgängige Tenor auf psychischer wie physischer Gewalt, Trauer und Leid. Diese an sich schon brutalisierten und verletzten Figuren erfindet der Autor neu gemäß seinem Prinzip der "Erfindung der Welt". Dieses sieht vor, dass der Autor alles Erlebte, Gehörte oder Gelesene mit seinen Worten und vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen wiedergeben soll. Das Ergebnis sind verstörende Gewaltphantasien, wie sie übrigens in der zeitgenössischen Literatur kaum schlimmer anzutreffen sind. Neben den exponierten Verwandlungssagen bestimmen Zerstörungsvisionen auch den Alltag, wenn beispielsweise vom Leben des Schlachters Tereus berichtet oder eindringlich das Sterben der Schnecken auf den Steinmalen nachvollzogen wird.

Der Roman erzählt von der Suche des Römers Cotta nach dem verbannten Dichter Ovid und dessen verbrannt geglaubtem Hauptwerk. Mit dieser Reise begibt sich Cotta an die Peripherie des römischen Reiches, deren Wirklichkeit auf den jungen Römer sehr befremdlich wirkt. Die Vorgänge, die er beobachtet, kann er sich rational nicht erklären. Dazu ist das Verhalten der Bewohner ungewöhnlich grob und abweisend. Mit den Menschen Tomis erweitert Ransmayr seine anthropologischen Vorbehalte um weitere Aspekte. Beinahe jede Figur der letzten Welt ist mit einem körperlichen Makel ausgestattet. Cyparis, der mythische schöne Jüngling, ist ein Liliputaner. Der tausendäugige Argus wird als "Mißgeburt" bezeichnet, der "auf seinen Schultern einen Klumpen" (LW 78) trägt. Battus ist Epileptiker. Die Weberin Arachne ist taubstumm und hat gichtgekrümmte Hände (LW 192). Die Ovidische Nymphe Echo ist eine Dorfhure, die zeitweilig nur Vorgesagtes wiederholen kann. Phineus, der Branntweiner, hat einen "fauligen Schwanz" (LW 124). Die Frau des Schlachters Tereus, Procne, ist fettleibig. Ihre Schwester Philomela wird durch Tereus verstümmelt: "Die Fremde hatte an der Stelle des Mundes nur eine nässende, schwarz vernarbte Wunde; ihre Lippen waren zerrissen, Zähne ausgebrochen, die Kiefer zerschlagen." (LW 274) Neben der physischen Degeneration verhalten sich Battus und der Ovidische altehrwürdige griechische Philosoph Pythagoras psychisch auffällig.

Diese degenerativen Kennzeichen werden durch das primitive Verhalten der Bewohner verstärkt. Vornehmlich die Männer Tomis fallen durch ihr betont brutales und barbarisches Verhalten auf. Marsyas und Tereus sind Exponenten eines unbeherrschten, gewaltbereiten Auftretens, das nicht selten unerfüllte Begierden offenbart. Marsyas beispielsweise gerät in Wut, da keine Frau zu finden ist, die mit ihm das Bett teilen möchte. Er wartet schließlich eine durchzechte Nacht lang auf die einzige Frau, "die nicht vor ihm geflohen war. Er schrie im leeren Dunkel der Höhle nach ihr und geriet über die Unerfüllbarkeit seiner Erwartungen in eine solche Wut, daß er zertrat und zerschlug, was noch nicht zertreten und zerschlagen war." (LW 180) Tereus ist der Dorfschlachter, "der selbst die Stiere überbrüllte" (LW 12). Der Tiervergleich kommt nicht von ungefähr. Als durchweg animalisch ist sein Auftreten zu charakterisieren. Konflikten begegnet er notorisch mit Gewalt. Den betrunkenen Marsyas, der in der beschriebenen Szene die Nacht hindurch auf einer Schnapsflasche bläst, weiß er nur durch Gewalt zur Ruhe zu bringen, indem er "im Morgengrauen sein Hoftor aufschlug und fluchend durch die Gasse hinaufkeuchte, um den Betrunkenen endlich zum Schweigen zu bringen [...], schleifte ihn unter Fausthieben und Tritten an den Füßen zu einer Viehtränke hinaus, riß ihn hoch, warf ihn ins trübe Wasser und ging die Gasse hinab, ohne sich noch einmal umzusehen." (LM 180f.) Der Schlachter äußert öfter eine Zote, "war jähzornig und ertrug keinen Widerspruch." (LW 29) An den Schlachttagen ist er besonders reizbar: "Im seichten Schwemmwasser schlug er Stieren den Schädel ein. Wenn sein Beil dem gefesselten Vieh krachend zwischen die Augen fuhr, wurde jedes andere Geräusch so nebensächlich, daß selbst das Rauschen des Baches für einen Augenblick auszusetzen und sich in Stille zu verwandeln schien." (LW 29f.)

Allen Bewohnern gemein ist ihre Rohheit, Aggression, Gewaltbereitschaft und Triebbesessenheit. Derartige Gewaltphantasien werden in überwiegendem Maße von Männern ausgelebt. Auch in den Darstellungen der Sexualität ist die charakterbezogene Zuschreibung eindeutig. Die Männer sind triebbesessene, lüsterne Tiere, die die Frauen zu den Opfern ihrer Geilheit machen. Sogar der zivilisierte Römer Cotta fällt schließlich über Echo wie ein triebgesteuertes Tier her, roh wie die sonstigen Freier der Hure. Zuneigung verkommt in Tomi zum Gewaltspiel und Sexualität zum Herrschaftsanspruch.

Eine gesellschaftliche Qualität gewinnt die Primitivität der Bewohner mit dem Fortlauf der Verwandlung Tomis. Diese drückt sich zunehmend in archaischen Ritualen aus. So gewinnen die Bewohner einen Saft, der aus den verbrannten "Bäuchen der Spinnen hervorkochte". Das "dunkle, zähflüssige Sekret" benutzt ein Gehilfe Phineus', um sich "Zeichen auf Wangen und Stirn" (LW 201) zu malen. Während die Bewohner zu "Eingeborenen" (LW 220) geworden sind, feiern sie ein ritualisiertes "Totenmahl": "Die Kadaver der Herde wurden auf Maultieren in die eiserne Stadt gebracht und als Totenmahl über zwei großen Feuern an der Mole zubereitet" (LW 222).

Zu der defizitären Anlage der barbarisierten Gesellschaft tritt die Unfähigkeit zur Kommunikation. Die narrative Anlage des Textes kommt ohne Dialoge aus, ja sogar weitgehend ohne die Wiedergabe einer wörtlichen Rede. Als Reaktion der Bewohner auf ihnen Unbekanntes oder Schreckliches artikulieren sie nur den Schrei. Aber auch dieser kann kein hinreichender Beleg für ein Interesse der Bewohner an ihrer Umwelt sein. Angesichts der Verwandlungen, der heftigen Wetterwechsel, Gesteinsabgänge und Kataklysmen reagieren die Bewohner teilnahmslos und indifferent. Die Tatsache, dass sich einige Bewohner verwandeln, wird unbekümmert aufgenommen. Das Verschwinden Echos fällt nicht einmal auf. Die Versteinerung Battus' wird mit "wachsender Unbekümmertheit" (LW 217) rezipiert: "Was sollte daran denn so großartig sein, wenn ein Mensch, an sein Ende gekommen, nicht in der Finsternis eines Grabes zu Erde, sondern im Halbdunkel eines Krämerladens zu Stein werde?" (LW 217) Eine Besonderheit stellt die Metamorphose für die Menschen nicht dar. Den Klimakollaps ertragen sie wie jedes andere Ereignis auch: "Tomi, vom raschen Wechsel der Zeiten und von der Hitze erschöpft, begann sich mit den neuen Plagen abzufinden wie zuvor mit dem Prunk der Vegetation und den Wärmegewittern des neuen Klimas." (LW 200) Ein Vergleich mit der ökologischen Krise der 80er Jahre verleitet zu der Spekulation, dass Ransmayr sich der Ignoranz und Lethargie der Bürger hinsichtlich der Verseuchungen und des Treibhauseffektes angenommen hat.

Cottas Herkunft Rom wird als ein moderner totalitärer Staat dargestellt. Das Leben der Bürger ist gekennzeichnet von Unterdrückung; Ausreisewillige werden beispielsweise als "Staatsflüchtige" bezeichnet. Die Verbannung Ovids ist als Bestrafung für die fehlende Huldigung dem Kaiser gegenüber zu verstehen. Ein vielgliedriger Staatsapparat trägt dem Kaiser zu, was dieser verschlafen hat. Ohne Zweifel findet man in dieser Darstellung der Herrschaft des Augustus Anspielungen auf die früherer sozialistisch-kommunistischer Regime, beispielsweise der DDR. Aber auch an das Dritte Reich mit seinen fackelschweren Massenaufmärschen bei Dunkelheit wird mit diesem totalitären Regime erinnert. Mit dem Gegensatz von Rom und Tomi, dem Zentrum und seiner Peripherie, als Gegensatz zweier ideeller Größen, wird dem Vernunftraum eine mythischen Welt gegenübergestellt. Das als Zentrum markierte Rom gilt als aufgeklärt - vielmehr als dialektisch aufgeklärt. Vernunft ist in Rom eine absolute Größe und im Horkheimerschen Sinne instrumentalisiert worden; sie resultiert in Repression und Destruktion. Der Mythos, den man in Rom überwunden geglaubt hat, bestimmt in Tomi die Wirklichkeit. Nimmt man das primitive und indifferente Verhalten der Bewohner Tomis in den Blick, so stellt die letzte Welt allerdings keine humane Alternative zum Unterdrückungssystem in Rom dar.

"Keinem bleibt seine Gestalt", lautet das zentrale Motiv des Romans, das zwar vermittelt, dass alles Seiende, Lebewesen wie leblose Dinge, dem Gestaltwandel, und somit dem Verfall ausgeliefert ist. Doch betrachtet man die Lebensräume von Peripherie und Zentrum sowie deren Bewohner bleiben leise Zweifel an der Zukunftsgewissheit jenseits des kosmischen Prinzips vom Werden und Vergehen. Denn das Menschenbild der Letzten Welt ist wahrlich bedrückend. Die anthropologische Kritik Ransmayrs findet einen prägnanten Ausdruck in den beiden Binnenerzählungen vom Ende der Menschheit. Die Geschichte von der Pest von Aegina sowie die Flutvision um Deucalion und Pyrrha berichten von dem Ende der Menschheit und ihrer Neuschaffung. In beiden Fällen entsteht eine schrecklichere Menschheit als die vorherige. Der Pest folgen geklonte Wesen nach, geeignet für eine riesige Armee. Nach der Flut entsteht das neue Geschlecht aus Kieselsteinen, die Deucalion und Pyrrha als einzig Überlebende ins Wasser werfen. Dem Prinzip "aus jedem Kiesel ein Ungeheuer" (LW 169) folgend, ist das neue Geschlecht ausgestattet mit den klassischen menschlichen Makeln: "eine Brut von mineralischer Härte, das Herz aus Basalt, die Augen aus Serpentin, ohne Gefühle, ohne eine Sprache der Liebe, aber auch ohne jede Regung des Hasses, des Mitgefühls oder der Trauer, so unnachgiebig, so taub und dauerhaft wie die Felsen dieser Küste." (LW 169f.) Auch die Bewohner Tomis verkörpern diese negative Anthropologie. Deren Sinnbild ist die Verwandlung Lycaons in einen Wolf. Im Ovidischen Mythenreigen ist Lycaon der Stellvertreter einer verkommenen Menschheit.(20) In der Letzten Welt ist er der Vermieter Cottas. Der Römer wohnt also beim Repräsentanten einer wölfischen Menschheit. Menschheit wird im Romankontext folglich einseitig negativ definiert. Diese ist damit dem Ovidschen Text ungleich, in dem die Neuschaffung der Menschheit als ein Schöpfungsneustart verstanden wird, die Korrektur einer fehlerbehafteten Menschheit. Bei Ransmayr ist selbst der Neubeginn eine Rückentwicklung ins Barbarische. Nicht unerheblich erscheint dabei, dass Ransmayr gemäß seinem Prinzip der "Erfindung der Welt" die Ovidsche Vorlage an Grausamkeit und unappetitlicher Detailfreude übertrifft.

Ein Grundgedanke, der sich durch die Ransmayrschen Texte zieht, kann als 'Kampf um Ressourcen' bezeichnet werden. In der Letzten Welt wird dieses Motiv zweimal als Erklärung für menschliches Leid verwendet. Der Menschenschlepper Iason stiftet mit seinen erstrebenswerten Gütern häufig Unruhe, "und ließ dabei oft Verwirrung, Streit und Haß zurück." (LW 204) Gleiches ist als Folge des Verteilungskampfes zu beobachten, der die Grubenstadt Limyra endgültig dem Untergang überlässt, nachdem die Gruben der Natur die werthaltigen Schätze entzogen haben: "Mit dem Kupfer verschwand der Wohlstand, mit dem Wohlstand der Friede." (LW 228) Die Idee, dass überall, wo es etwas zu verteilen gibt, Streit und Krieg nachfolgen, leitet zum allgemeinen Gedanken des natürlichen Kriegszustandes über. Wo der Mensch seinen Fuß hinsetzt, da ist Zerstörung anzutreffen, die kollektive wie die persönliche. Das ist die Lektion, die der deutsche Thies - von Ransmayr aus dem Ovidschen Dis, Gott der Unterwelt, entwickelt - über das Leben gelernt hat:

So wirksam sich seine Arzneien und Tinkturen auch erwiesen, in seinem Innersten blieb er doch davon überzeugt, daß den Lebenden nicht mehr zu helfen war, daß es keine Grausamkeit und keine Erniedrigung gab, die nicht jeder von ihnen in seinem Hunger, seiner Wut, Angst oder bloßen Dummheit verüben und erleiden konnte; jeder war zu allem fähig. (LW 265)

Bei anderen Figuren ist ebenfalls an diese ambivalente Mischung aus Täterschaft und Opfer zu denken, wie beispielsweise an Procne, die von ihrem Mann malträtiert wird, die aber auch ihren Sohn umbringt. Dasselbe trifft auch auf Philomela zu. Von der Verletzung des Opfers wird sie zur Täterin. Diese Einschätzung ist für den anthropologischen Blick Ransmayrs symptomatisch. Der Mensch ist in seinen Augen ein Gefangener seiner latenten Böswilligkeit und Aggression. Sie machen ihn sowohl zum Opfer als auch zum Täter. Darin ist Ransmayrs Anthropologie universell. Auf jeden Menschen trifft sein Urteil zu, ohne Unterschied in Bezug auf Bildung, Abstammung oder Herkunft. Wie in Strahlender Untergang, Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Morbus Kitahara fasst Ransmayr seine negative Anthropologie in den Aphorismus "der Mensch ist dem Menschen ein Wolf". In der Letzten Welt ist er Thies in den Mund gelegt, der diese "Banalität" immer wieder in seine seltenen Gespräche einflicht, "weil sie alles enthielt, was er erlebt und was die Welt ihm gezeigt hatte" (LW 266).

Gegen alle Schlechtigkeit des Menschen stellt der Roman ein alternatives Konzept vor. Die Erlösung vom Menschsein wird in der Erstarrung gesucht. Das in Tomi dominante Steinmotiv bekommt damit seine übertragene Bedeutung. Gleichzeitig ist es auch ein poetischer Gegenentwurf zur alles verwandelnden Zeit und der beständigen morphologischen Veränderung: "Wie tröstlich und menschenwürdig sei doch das Schicksal der Versteinerung gegen den ekelerregenden, stinkenden, mit Fransen aus Würmern und Maden behängten Prozeß des organischen Verfalls". Dagegen erscheint "die Versteinerung geradezu als Erlösung". Echo erzählt Cotta vom "Buch der Steine", "von Trauernden, die in ihrem Schmerz über die Sterblichkeit, und von Rasenden, die in ihrem Haß zu Steinen wurden, zu unzerstörbaren Abbildern der letzten und vielleicht einzigen wahrhaften Empfindung ihres Daseins" (LW 156). Als wahrhaft manifestiert sich somit einzig die menschliche Empfindungspalette. Diese, zum Ausdruck gebracht und konserviert, zeigt den Menschen in seiner Versteinerung als selbstbewusstes Wesen, welches seine letzte Bestimmung erreicht hat. Dieser Gedanke erinnert nicht von ungefähr an die Identitätsfindung, wie sie der Autor im Strahlenden Untergang vorträgt. Im Augenblick der Zerstörung offenbart sich die destruktive Natur des Menschen - diese aber ist identitätsstiftend. Der Stein ist die Projektion einer 'utopischen', mit Hoffnung erfüllten Vorstellung. Für die Tiere ist die Versteinerung der "Weg aus dem Chaos des Lebens" (LW 156). Im Stein liegt die Befreiung von der wölfischen Natur des Menschen, aber auch die Befreiung von der unsteten Existenz, die dem Verwandlungsprinzip unterliegt. Denn "welcher Stoff sei denn besser geeignet, wenigstens eine Ahnung von unangreifbarer Würde, von Dauer, ja Ewigkeit zu tragen, als der aus den raschesten Wechselfällen der Zeit herausgenommene, von aller Weichheit und allem Leben befreite Stein?" (LW 157)

Das Vogelmotiv stellt ebenso die Verbindung mit der Befreiung vom Menschsein her. Auf den Teppichen Arachnes sieht Cotta nicht die Erde, sondern den Himmel: "Selbst was auf dem festen Land oder im Meer lebte, was dort kroch, schwamm, hetzte oder floh, schien sich nach der Kunst des Fliegens zu sehnen. Hoch über den Rudeln und Meuten waren die vielen Figuren des Vogelflugs die Zeichen der Befreiung von aller Schwere". Der Flug der Vögel trägt die "variantenreiche Verspottung der Erdgebundenheit und des aufrechten Ganges" zur Schau (LW 196). Die Erstarrung des Steins sowie die Befreiung durch das Fliegen werden als Alternativkonzepte den Beschränkungen des Menschseins gegenübergestellt. Sie beinhalten somit eine optimistische, utopische Perspektive. Die Verwirklichung dieser Konzepte verlangte jedoch das Ende der Menschheit - aus anthropologischer Sicht ist diese Vorstellung daher eine dystopische.

Einer Korrektur der menschlichen Unfertigkeit mit Hilfe der Vernunft steht der Autor allerdings skeptisch gegenüber. Die Skizzierung des römischen Überwachungsstaates zeigt dies deutlich. Wie dünn das übergestreifte Gewand der Zivilisation ist, sich gegen den Naturzustand zu schützen, beweist der Wandel Cottas in Tomi. Auch er wird nach entsprechender Eingewöhnung zum menschlichen Tier. Daraus ist nicht nur der graduelle Sprung von der Zivilisation in den Naturzustand abzulesen, sondern auch der unscharfe Übergang vom kultivierten zum barbarischen Verhalten. Einer regulierend wirkenden Vernunft spricht der Autor die breite Massenwirkung ab. Die Erziehung des Menschengeschlechts ist für ihn nicht durchführbar, denn jeder Aufklärungsprozess findet im jeweils einzelnen Kopf statt:

Jeder Versuch, diesen Prozeß der Erkenntnis, der Einsicht in das Leiden oder in das mögliche und verlorene Glück der Menschen in ein Programm zu kleiden, das man dann nur organisieren müßte und schon wäre Aufklärung das zwingende Resultat - jeder solche Versuch bleibt eine heillose Hoffnung. Wirklich klar wird der Schrecken ebenso wie die unerfüllte Hoffnung, ihn für immer überwinden, bewältigen zu können, nur am einzelnen.(21)

Für den Autor ergibt sich daraus die Konsequenz, den narrativen Komplementärwinkel nicht zu vernachlässigen, der der Ambivalenz der menschlichen Existenz Genüge tun soll. Zeiten des Schreckens und, weniger explizit, Zeiten der Hoffnung, Opfer und Täter, gehören zu jeder Geschichte. Denn zum Menschsein gehört auch der oft verdeckte Blick auf Aggressivität und Missgunst. Das Bild, das er von der menschlichen Existenz malt, ist somit wahrlich bedrückend: "[W]as blieb, was bleiben durfte, war nur die Chronik eines Unglücks" (LW 275).

 

5. Morbus Kitahara

Sein bislang letzter Roman erscheint 1995 mit Morbus Kitahara. Darin wird von dem abgeschiedenen Bergdorf Moor nach dem Ende eines großen Krieges erzählt. Die Bewohner werden als Kriegsverlierer ungewöhnlichen, totalitären Erinnerungsritualen unterworfen, die die eigene Schuld lebendig halten sollen. So müssen die Bewohner grausame Szenen nachspielen, deren Vorlagen aus dem Lagerleben ihrer Opfer stammen. Weitaus gravierender ist jedoch die Deindustrialisierung der Region. Alles, was strombetrieben oder überhaupt brauchbar ist, transportieren die Sieger in die Talregion ab. Übrig bleibt eine zunehmend babarisierende Gesellschaft, der der Wohlstand abhanden kommt und in der Gewalt den Alltag prägt.

Auffällig sind die historischen Anspielungen, die der Roman vermittelt. Dass es sich um den Zweiten Weltkrieg handelt, wird spätestens deutlich, wenn vom Lagerleben berichtet wird. Des Weiteren ist der Bezug auf den nicht realisierten Morgenthau-Plan zu registrieren. Mit den Erinnerungsritualen nimmt der Autor Bezug auf die Frage des 'richtigen' Erinnerns von Schuld und der Aktualität des Rechtsradikalismus in Deutschland und Österreich. Das Bergdorf findet seine Parallele im Toten Gebirge des Salzkammerguts.

Die Gesellschaft Moors vollzieht den von ihr geforderten Schritt in die Vergangenheit. Dabei entwickelt sie sich weit unter den Stand ihrer Zivilisationsstufe vor dem Krieg zurück. Zweifelsohne, die Barbarei kehrt nach Moor zurück. Nach der Auflösung der bisherigen Ordnung befinden sich die Menschen in einem anarchischen Zustand. "Nicht nur die materielle Apparatur des zwanzigsten Jahrhundert [sic!], auch zivilisatorische Verabredungen verschwinden dabei weitgehend"(22), erklärt Eshel. Marodierende Schlägerbanden üben eine verdeckte Herrschaft aus. Sie terrorisieren das Land, erheben Schutzgelder und drohen mit Zerstörung, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Aber diese durch leitmotivische Wiederholung stets akzentuierte Kritik im Werk Ransmayrs steht nicht allein für die anthropologischen Zweifel, die der Roman voranstellt. Kontrastierend mit der allgemeinen Einschätzung, dass der Mensch ein potenziell gewalttätiges und aggressives Wesen ist, findet der Autor pointierte Einzelbeispiele.

Der Alltag Moors ist weitgehend von Gewalt beherrscht: Der Hundekönig Ambras führt eine Schreckensherrschaft. Die Bewohner fürchten ihn und seine Macht, deren Legitimation er erst durch einen brutalen Tötungsakt erreicht.(23) Die "Brasilianerin" Lily versteht sich als Jägerin, die durch das Steinerne Gebirge reist und Feinde nach eigenem Gutdünken abschießt. Ihre Tötungsakte geben ihr ein Gefühl tiefer Genugtuung, nicht allein weil sie glaubt, Rechtes zu tun. Der dritte, zentrale Protagonist des Romans, Bering, ist ein zwanghafter Mörder, dem die Waffe in der Hand Selbstbewusstsein und ein Gefühl der Unantastbarkeit verschafft. Allen ist die Unfähigkeit gemein, Konflikte kommunikativ zu lösen. Die Figur Lily stellt übrigens eine Ausnahme in der Bewältigung der Daseinsprobleme dar. Sie ist tatkräftig und selbstbewusst. Außerdem entwickelt sie mit ihrem Wunsch, nach Brasilien auszureisen, Zukunftsperspektiven. Alle anderen Figuren betreiben einen eskapistischen Rückzug ins Privatistische: Allen voran steht Berings Mutter, die die Realität leugnet und in ihrer religiösen Welt lebt. Der Vater ist von seinen Kriegserfahrungen gefangen genommen. Desgleichen Ambras, er hingegen pflegt noch sein Hobby, die Steine. Bering verlässt sich vollständig auf sein technisches Geschick. Jede Figur lebt für sich, pflegt nur den nötigsten Kontakt und meidet die kritische Konfrontation mit der Gegenwart.

Das Steinmotiv, das mit der Figur Ambras verbunden ist, stellt mit dem Vogelmotiv das Anthropologische überhaupt in Frage, wie es oben schon anhand der Letzten Welt aufgezeigt worden ist. Ambras ist der Steinbruchverwalter, der zudem im Steinbruch seine Folterstrafe verbüßen musste. Sein Hobby ist die Paläontologie. Am Tag der Beerdigung seiner Mutter soll Bering Ambras' neueste Errungenschaft bewundern - "eine Florfliege, die im Aufschwirren von einem Harztropfen überrascht worden und darin erstarrt war." Der Hundekönig datiert das Alter der Fliege auf "Vierzig Millionen Jahre." (MK 259) Das Motiv wirbt für die Erstarrung. Die Befreiung vom Menschsein wird als heilsam verstanden, als unmögliche Alternative zu Leid und Schmerz. Die Erhabenheit des Gebirges und die Allgegenwart der Steine verweisen außerdem auf die Überlegenheit der Natur, vor deren Hintergrund der Mensch nur eine unvollkommene evolutionäre Spielart ist.

Auf Ähnliches weist das Vogelmotiv des Romans hin. Bering wird in der Bombennacht Moors geboren. Seine ersten Tag verbringt er "in zerschnittene Fahnen gewickelt in einem Wäschekorb, der von einem Deckenbalken pendelte" (MK 17). Sobald er diese Position verlassen muss, beginnt er zu schreien. "Als ob ihn jeder Kontakt mit der Erde in Schrecken versetzte, ertrug der Säugling keinen festen Ort und tobte mit offenen Augen, wenn seine Mutter ihn erschöpft aus dem Korb und zu sich ins Bett nahm." (MK 18) Die Schrecknisse des Menschseins erträgt er nur in der Luft, dem Boden enthoben. So ist es auch zu verstehen, dass er sich zu den Tieren, namentlich den Vögeln, stärker hingezogen fühlt als zu den Menschen: "Bering, ein Fliegender unter gefangenen Vögeln, schien die Hühner zu lieben" (MK 19). Schließlich imitiert er ihre Sprache: "Der Schreier kollerte wie eine Legehenne! Der Schreier ruderte mit den Armen, streckte verkrampfte weiße Fingerchen wie Krallen aus seinem Korb. Und hob er nicht auch ruckend den Kopf? Der Schreier wollte ein Vogel sein." (MK 20) Wie beim Steinmotiv wird die Befreiung vom Menschsein ersehnt. Die Freiheit der Lüfte stellt die utopische Alternative zu den Zwängen und Beschränkungen der menschlichen Existenz dar.

Diesen unterliegt auch Bering, wenn er sich in frühen Jahren am Unheil der Welt beteiligt. Erst dreiundzwanzigjährig erschießt er einen fremden Eindringling, der Mitglied einer der berüchtigten Schlägerbanden ist. Die Motivation für diese Tat muss der Leser eigenständig finden. Es wird erklärt, dass Bering sein Erbe hasst, der Hof seiner Eltern ihm zu eng wird. Des Weiteren ist er von Schlägern schon einmal blutig verdroschen und bis zur Schmiede gejagt worden. Ihn, "der seinen Verfolgern nichts entgegenzusetzen hatte als eine Handvoll Hufnägel, die er im Laufen aus einer offenen Schachtel griff und über die Schulter zurückschleuderte." (MK 53) Das Bewusstsein, eine Waffe zu besitzen, befreit von solchen Erniedrigungen. Als Ambras ihm eine Pistole für den Leibwächterdienst überreicht, bezeichnet der diese als "Werkzeug zur Verbesserung der Welt" (MK 104). Wie von Schilling zuzustimmen ist, glaubt Ambras an keine andere Möglichkeit zur Verbesserung der Welt.(24) Nur mittels Gewaltandrohung ist der Aggression zu begegnen. Diese aber aufzugeben, traut der Autor dem Menschen nicht zu:

Aber so strahlend und friedvoll das Steinerne Meer an diesem Tag auch schien - wenn Lily anhielt, um sonnenhelle Einöden durch ihr Fernglas nach Gefahren abzusuchen, dann sah Bering in ihrer lauernden, wachsamen Haltung doch nur ein Zeichen dafür, daß sie alle, jeder für sich, etwas Fremdes in diesen Frieden verschleppt hatten, etwas Unbegreifliches, den Keim eines Übels, das immer dort zum Ausbruch kam, wo Menschen allein waren mit sich und ihresgleichen (MK 305).

Die anthropologische Kritik des Romans bezieht sich einmal mehr auf die Beschränkungen des Menschen. Die Figuren sind auf ihre eigenen Verletzungen fixiert und beharren auf ihrem Egoismus des Leids. Die Kraft und den Willen haben sie nicht, ihre Begrenzungen zu überwinden. Moor entwickelt sich zudem regressiv in die Barbarei, wo das Faustrecht des Stärkeren herrscht. Moralische Verabredungen verlieren sich in der Existenznot der Nachkriegszeit. In Pantano schließt sich der Kreis. Die Entwicklungsmöglichkeiten der Figuren werden als Illusion entlarvt, und die Idee des 'Bösen', der Keim des Übels, wird als anthropologisches Faktum ausgestellt. Einerseits ist ein direkter Bezug zu der Flutvision in der Letzten Welt herzustellen. Andererseits entspricht dieses deprimierende Figurenensemble dem poetischen Auftrag, den sich der Autor stellt - "zu erinnern, was die Menschen sich selbst und einer dem anderen angetan hätten, daran zu erinnern, wozu diese Menschen in ihrem Glück und in ihrem Elend fähig seien und was ihnen also auch in Zukunft noch winken oder drohen werde"(25).

Mit seinem Entwurf einer Nachgeschichte konterkariert Ransmayr die Vorstellung einer posthistorischen Gesellschaft, die zwar stillstehend, aber in ihren Bedürfnissen völlig befriedigt ist, wie sie beispielsweise durch Francis Fukuyama mit seiner Studie Das Ende der Geschichte Anfang der neunziger Jahre aktualisiert worden ist. Das Bergdorf Moor ist nicht zukunftsfähig. Der Steinbruch als Lebensgrundlage vieler bietet gerade so lange Arbeit, wie die natürliche Ressource geplündert werden kann. Die Besatzer legen zudem den Fokus auf die Präsenz der Vergangenheit, nicht nur mit den Erinnerungsritualen, sondern auch mit der angeordneten sukzessiven Rückentwicklung der abgeschotteten Gesellschaft. Gewalt, Krieg und psychisches wie physisches Leid bestimmen erneut Ransmayrs Blick auf den Menschen. Wo der Wohlstand abhanden kommt, da ist das menschliche Handeln von Zerstörung geprägt. Eine verantwortungsbewusste Handhabung des Fortschritts wird somit in Frage gestellt. Die titelgebende Augenkrankheit Morbus Kitahara verweist daher auf einen Wahrnehmungsdefekt, der als Metapher unter anderem für einen falschen Umgang mit Schuld fungiert, aber auch als blinder Fleck im Gebrauch fortschrittlicher Erkenntnis Symbolkraft gewinnt. Die Verdunkelung des Blickes ist vor allem auf Bering zu beziehen, der neben seinem pathologischen Befund auch moralisch erblindet ist.(26) Er tötet so leicht mit der Waffe in der Hand, dass kein moralischer Skrupel bei ihm festzustellen ist. Ihn bewegt zwar ein Schuldgefühl, das ihn jedoch nicht davon abhält, ein zweites und drittes Mal die Pistole abzufeuern. Dabei ist in Berings Welt alles der Machbarkeit der Dinge unterworfen. Im Umgang mit Maschinen vollbringt er Wunder. Der Funktionalität ordnet er alles andere unter. Nicht umsonst trägt er den Namen eines Forschers - Vitus Bering, Asienforscher und Entdecker der Seestrasse zwischen Sibirien und Alaska. Aber Bering der Macher, der die Dinge zum Funktionieren bringt, hat einen Wahrnehmungsdefekt. Sein Handeln wird von einer Wahrnehmungsstörung begleitet, die sein Bild von der Wirklichkeit verzerrt. Das Vertrauen auf die Machbarkeit der Dinge unterliegt einer Fehleinschätzung; dem Handeln fehlt die moralische Beglaubigung. Nach der Depotsprengung werden die Ebenen der Augenkrankheit und der moralischen Blindheit explizit zusammengeführt. Bering sieht, "daß das Loch in seiner Welt nur der lächerliche Fetzen einer größeren Dunkelheit war, nur einer von unzähligen blinden Flecken, die ihn umwirbeln und über ihm zusammenschießen zu einem einzigen Abgrund, einer einzigen Finsternis" (MK 252).

Auch im Roman Morbus Kitahara wird die Übermacht der Natur neben die misslungene Menschheit gestellt. Wie in allen Erzähltexten Ransmayrs wird am Schluss die Natur menschenlos geschildert: Der Mensch ist nicht zukunftsfähig, seine Handlungen bewirken nur Zerstörung - alle Probleme lassen sich zuerst auf diese negative Anthropologie zurückführen. Der Untergang des Menschen stellt allerdings nur im anthropologischen Sinn eine Katastrophe dar. Im Kontext der Naturgeschichte erscheint die Entfernung des Menschen vom Planeten nur folgerichtig, darüber hinaus geschieht sie aus Einsicht in die fehlende menschliche Entwicklungsmöglichkeit. Damit wird aber auch ausgedrückt, dass der Mensch angesichts der Übermacht der Natur und ihrer Kräfte nur eine evolutionäre Spielart ist, die wieder verschwinden wird, wie es das Schicksal alles Bestehenden ist.

Alle Endzeitvisionen Ransmayrs führen einen entdramatisierten Untergang(27) vor Augen. Der Mensch lehnt sich nicht gegen sein Ende auf, in ihm exemplifiziert sich eine Befreiung von seinen Beschränkungen. Am Schluss bleibt das "Paradies der Halden und Kare" und der "Prunk des organischen Lebens" (LW 220), wie es in Die letzte Welt heißt. Die große Erzählung der Moderne endet mit dem Sieg der Natur.

 

6. Schlussbemerkung

Ransmayrs Menschenbild ist düster. Dabei steht er in einer misanthropischen Tradition, auf die kurz aufmerksam gemacht werden soll. Der anthropologische Blick Ransmayrs hat im Rückgriff auf die antike Vorlage viele prominente Verwandte und stellt sich als keinesfalls neuartiger Standpunkt dar. Ransmayr nimmt somit Bezug auf den Begriff des Naturzustands, wie er beispielsweise von Thukydides in seiner Studie des Peloponnesischen Krieges herausgestellt worden ist. In der so genannten "Pathologie" des dritten Buches erklärt er, inwiefern der Bürgerkrieg zwischen Athen und Sparta niederen Instinkten freien Lauf gelassen hat. In den Worten Helmuth Vretskas stellt Thukydides ganz ähnliche menschliche Eigenschaften heraus, wie sie in Ransmayrs Übertragung der Flutvision zu lesen sind: "Die menschliche Natur ist ihrem Wesen nach böse, ihre Leidenschaften, Neid, Habsucht, Machtgier, immer vorhanden, werden in den Wirren des Krieges nur noch mehr entfacht; eine Umwertung aller Werte ist die Folge."(28) Wenn demzufolge der Machttrieb dem Menschen inhärent ist, dann ist Krieg eine notwendige Folge, die wiederum den moralischen Verfall der Gesellschaft nach sich zieht. Diese Abfolge exemplifiziert beispielsweise Morbus Kitahara. In Platons Staat expliziert Thrasymachos gar, dass im Naturrecht das Prinzip der Gerechtigkeit stecke: "Gerecht handeln heißt zum Nutzen des Stärkeren handeln."(29) Die Präsenz der Schlägerbanden in Morbus Kitahara kann dafür ein Beispiel sein. Gedanken über die negative Anthropologie sind in Ausführungen über die Jahrhunderte verteilt nachzulesen, sie werden nicht nur von den Alten vertreten. Noch in der grundlegenden Schrift, auf der unsere demokratischen Systeme aufbauen,(30) in Thomas Hobbes' Leviathan wird der Krieg aller gegen alle als der zu überwindende Zustand herausgestellt, dem er schließlich mit modernen Staatsentwürfen begegnen will. Denn wenn ein jeder gleich stark ist, bedarf es eines über alle Gleichberechtigten verhängten Staatsmonopols, das es schafft, für jeden so bedrohlich zu sein, dass er seine Begierden zügelt. Denn "[s]ooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des andern Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den anderen entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten."(31) Die These vom Menschen als Wolf Seinesgleichens wird im Erzählwerk Ransmayrs nicht nur angeführt, sie wird auch exemplifiziert.

Ransmayrs Menschenbild ist rein pessimistisch. Seine Erzähltexte führen vor, wie es um die eigentliche Natur des Menschen bestellt ist, wenn sie von ihrem zivilisatorischen Gewand befreit wird. Die Seefahrer der Nordpolexpedition, die Bewohner Tomis, die Bewohner Moors werden zu Barbaren, sobald sich Wohlstand und sozial-gesellschaftliche Systeme auflösen. In diesem Sinne erzählt uns Ransmayr Altbekanntes, das jedoch in seinem schonungslosen Pessimismus eine Ausnahmeerscheinung darstellt. In einer Kultur, die auf Fortschritt und Wachstum setzt, die von moralischen Entscheidungen und kommunikativen Lösungsansätzen durchdrungen ist, lesen sich Ransmayrs Romane wie ein Ruf aus einer anderen Welt - aus einer letzten Welt, vielleicht. Insofern erscheint es plausibel, dass er seinen Endzeitvisionen keine alternativen Welten nachfolgen lässt und er im Bebildern von Katastrophen verharrt. Von der literarischen misanthropischen Tradition weicht er ab, weil seine Figuren keine Träger misanthropischen Gedankenguts sind. Sie verhalten sich schlicht roh und aggressiv oder glauben an philosophische Systeme, die zu Selbstzerstörung und Unterdrückung führen. Ransmayrs Figuren sind keine vom Leben enttäuschten frustrierten Menschenfeinde, wie wir sie von Molière oder aus Shakespeares Timon von Athen kennen.(32) Mit ihrer Hilfe wird vielmehr Allgemein-Anthropologisches, anstatt nur sonderliches Verhalten vorgeführt. Es ist die Natur des Menschen, auf die Ransmayr in seinen Texten immer wieder Bezug nimmt. Ransmayrs Bergsteigerfreund Messner verdeutlicht, dass dieser eine uns schon immer bekannte Zukunft beschreibt:

Hinter all dem Verfall, hinter so viel Trostlosigkeit, nach fünf Jahrtausenden Hoffnung akzeptiert einer die Verfinsterung der Welt, und plötzlich entsteht die Vorstellung vom Leben, wie es sein wird, weil es immer so gewesen ist. Indem Ransmayr seine Figuren dorthin stellt, wo der Mensch nicht hingehört, wissen wir Leser plötzlich, wie es in uns aussieht, wenn wir auf dünnem Eis unterwegs sind oder nachts die Augen aufschlagen in der Stadt. (33)

© Holger Mosebach (Kassel)


ANMERKUNGEN

(1) Vgl. Verf.: Endzeitvisionen im Erzählwerk Christoph Ransmayrs. München: Martin Meidenbauer 2003.

(2) Vgl. Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München: dtv 1988.

(3) Vgl. dazu z. B. Volker Lilienthal: Irrlichter aus dem Dunkel der Zukunft. Zur neueren deutschen Katastrophenliteratur. In: Pluralismus und Postmodernismus: zur Literatur- und Kulturgeschichte in Deutschland 1980-95. Hg. v. Helmut Kreuzer und Karl Riha. 4., erweiterte und aktualisierte Aufl. Frankfurt/Main [...]: Lang 1996. S. 257-296; Paul Konrad Kurz: Apokalyptische Zeit. Zur Literatur der mittleren 80er Jahre. Frankfurt/Main: Knecht 1987; Müller, Heiner: Der Weltuntergang ist zu einem modischen Problem geworden. Ein Gespräch mit Uwe Wittstock. In: Gesammelte Irrtümer 1. Interviews und Gespräche. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 1986. S. 176-181; Die deutsche Literatur seit 1945. Letzte Welten: 1984-1989. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München: dtv 1999.

(4) Im Fortlauf werden die vier hier zugrunde gelegten Texte Ransmayrs in den angegebenen Ausgaben unter Angabe der folgenden Siglen zitiert: Strahlender Untergang Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen. Frankfurt/Main: S. Fischer 2000 (SU); Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Frankfurt/Main: Fischer 1997 (SEF); Die letzte Welt. Frankfurt/Main: Fischer 1997 (LW); Morbus Kitahara. Frankfurt/Main: Fischer 1997 (MK).

(5) Vgl. Max Horkerheimer: Kritik der instrumentellen Vernunft. Hg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt/Main: Fischer 1985.

(6) Zu denken ist auch an Giambattista Vicos Neue Wissenschaft (1725/1730). Vgl. Ingeborg Harms: Die Geschichte der singenden Dünen. In: Literaturen 1 (2001). S. 26-29, hier S. 28f.

(7) Francis Bacon: Neues Organon: lateinisch-deutsch. Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Krohn. Hamburg: Meiner 1990. S. 271.

(8) Neben der "Beherrschung" ist auch der zweite Teil des Binoms, "Manipulation", auf Bacon zurückzuführen. In seiner utopischen Idealgesellschaft Nova Atlantis entwirft er ein Bild von Natur, das vom Menschen perfektioniert wird. Durch Manipulation, heute könnte man auch von Genmanipulation sprechen, soll die Natur in neue Formen gedrängt werden. Zum Ziele der Produktionssteigerung sollen Tiere wie Pflanzen in Quantität und Qualität dem menschlichen Bedarf angepasst werden.

(9) Das poetologische Prinzip der "Erfindung der Wirklichkeit" ist wesentlich für die Prosa Ransmayrs. Darin kommt die Überzeugung zum Ausdruck, dass ein Schriftsteller alles Erlebte, Gelesene oder Gehörte mit den Worten seiner eigenen Erfahrung ausdrücken muss. Vgl. z.B. "Die Erfindung der Welt".

(10) Vgl. Vondung: Apokalypse in Deutschland. S. 265f.

(11) Ulrich Katastrophen und Texte: zu Christoph Ransmayrs Die Schrecken des Eises und der Finsternis und Die letzte Welt. In: Hinter dem schwarzen Vorhang. Die Katastrophe und die epische Tradition. Festschrift für Anthony W. Tiley. Hg. v. Friedrich Gaede. Tübingen: Francke 1994. S. 283-290, hier S. 284.

(12) Lynne Cook: 'Black Holes' in the Novels of Christoph Ransmayr. In: Austria in literature. Hg. v. Donald G. Daviau. Riverside: Ariadne 2000. S. 193-211, hier S. 198. Nethersole stellt überhaupt die Kraft der Kultur im Vergleich mit derjenigen der Natur in Frage: "Culture is but a thin veneer in the face of the abject conditions of nature". Reingard Nethersole: Marginal topologies: space in Christoph Ransmayr's Die Schrecken des Eises und der Finsternis. In: Modern Austrian Literature 23 (1990). S. 135-153, hier S. 141.

(13) Vgl. die feministische Kritik von Sabine Wilke: Poetische Strukturen der Moderne. Zeitgenössische Literatur zwischen alter und neuer Mythologie. Stuttgart: Metzler 1992. S. 234.

(14) Vgl. Carolyn Merchant: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft. München: Beck 1987. S. 179.

(15) Friedrich Rapp: Die Machbarkeit des Fortschritts. In: Fortschritt ohne Ende - Ende des Fortschritts? Hg. v. Sven-Aage Jörgensen. Kopenhagen, München: Fink 1995. S. 92-107, hier S. 94

(16) Rapp: Die Machbarkeit des Fortschritts. S. 94.

(17) Silvio Vietta: Die vollendete Speculation führt zur Natur zurück. Natur und Ästhetik. Leipzig: Reclam 1995. S. 22.

(18) Vietta: Die vollendete Speculation. S. 22.

(19) Vgl. auch im Folgenden Wilke: Poetische Strukturen der Moderne. S. 226f.

(20) Vgl. Ulrich Schmitzer: Ovid. Hildesheim [...]: Olms 2001. S. 99.

(21) "...das Thema hat mich bedroht". Gespräch mit Sigrid Löffler über Morbus Kitahara. Dublin, 1995. In: Die Erfindung der Welt. Zum Werk Christoph Ransmayrs. Hg. v. Uwe Wittstock. Frankfurt/Main: Fischer 1997. S. 213-219, hier S. 218.

(22) Amir Eshel: Der Wortlaut der Erinnerung. Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara. In: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Hg. v. Stephan Braese. Opladen [...]: Westdeutscher Verlag 1998. S. 227-255, hier S. 233.

(23) Vgl. dazu auch die Interpretation von Schillings, der in Bezug auf Bering ausführt: "Dass Töten ein Mittel der Herrschaftssicherung und Durchsetzung ist, wird dem Kind so von Ambras vorgeführt." Klaus von Schilling: Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara. Die Überwindung des Aporetischen im artistischen Roman. Vaasa [...]: SAXA 1999. S. 23.

(24) Vgl. von Schilling: Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara. S. 25 (Anmerkung 21).

(25) Christoph Ransmayr: Die dritte Luft oder eine Bühne am Meer. Rede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele. Frankfurt/Main: S. Fischer 1997. S. 16.

(26) Cook z. B. deutet die Krankheit als Berings "moral ,blind spots', the Morbus Kitahara of his inheritance". Lynne Cook: The Novels of Christoph Ransmayr: Towards a Final Myth. In: Modern Austrian Literature 31,3-4 (1998). S. 225-239, hier S. 235.

(27) Zum Konzept des entdramatisierten Untergangs in der Postmoderne vgl. Klaus R. Scherpe: Dramatisierung und Entdramatisierung des Untergangs - zum ästhetischen Bewußtsein von Moderne und Postmoderne. In: Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Hg. v. Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe. Reinbek: Rowohlt 1986. S. 270-301.

(28) Helmuth Vretska: Nachwort. In: Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Hg. v. Helmuth Vretska und Werner Rinner. Stuttgart: Reclam 2002. S. 777-812, hier S. 802.

(29) Platon: Der Staat. Stuttgart: Kröner 1973. S. 18.

(30) Vgl. Peter Sloterdijk: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft. Frankfurt/Main: edition suhrkamp 2000. S. 34ff.

(31) Thomas Hobbes: Leviathan. Stuttgart: Reclam 1970. S. 113f.

(32) Vgl. den Eintrag "Menschenfeind" in Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur: ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 4. Aufl. Stuttgart: Kröner 1992. S. 522-533; vgl. ferner Bernhard Sorg: Der Künstler als Misanthrop. Zur Genealogie einer Vorstellung. Tübingen Niemeyer 1989.

(33) Reinhold Messner: Langsame Verdüsterung. Der genaue Beobachter einer Welt hinter dieser Welt. In: Die Erfindung der Welt. S. 82-84, hier S. 83f.


5.16. Apocalypse Now? Eschatologische Tendenzen in der Gegenwartsliteratur

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For quotation purposes:
Holger Mosebach (Kassel): Anthropologische Zweifel: Zum Erzählwerk Christoph Ransmayrs. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/05_16/mosebach15.htm

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