Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | September 2004 | |
5.16. Apocalypse Now? Eschatologische
Tendenzen in der Gegenwartsliteratur Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Gregor Thuswaldner
(Gordon College Wenham, Massachusetts)
[BIO]
Die apokalyptische Literatur war in der Antike ein beliebtes Genre, das besonders zwischen dem 2. Jahrhundert vor und dem 2. Jahrhundert nach Christus eine Blütezeit erlebte. Aber auch im 20. Jahrhundert und im neuen Millennium beschäftigen sich AutorInnen vermehrt mit einer - wie auch immer gearteten - Endzeit. Seit acht Jahren wird beispielsweise die Bestsellerliste der New York Times von der Left-Behind-Bücherserie von Tim LaHaye und Jerry Jenkins angeführt, die im Frühjahr 2004 ihren Abschluss gefunden hat. Diese triviale, für ein Millionenpublikum(1) konzipierte Reihe bietet eine christlich-fundamentalistische Schau auf die letzten Tage der Menschheit. Die große Nachfrage nach diesen Büchern zeigt, dass es nach wie vor ein reges Interesse an eschatologischen Büchern gibt.
Die intensive Auseinandersetzung mit der Apokalypse ist aber nicht bloß auf den amerikanischen Kulturraum beschränkt. In vielen Nationalliteraturen lässt sich dieser Trend beobachten. Von dem Russen Andrej Belyj über den Briten Martin Amis bis zum Italiener Guido Ceronetti reicht das breite Spektrum der SchriftstellerInnen, die Katastrophenstimmungen literarisch anspruchsvoll thematisiert haben. Auch und gerade in der österreichischen Literatur der neunziger Jahre spielt die Apokalyptik eine große Rolle. Die Weltuntergangsstimmung, die Michael Scharang in seinem jüngsten Roman Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz (1997) evoziert, unterscheidet sich jedoch grundlegend von anderen Apokalypsen, da sich Scharang dieser Thematik äußerst ironisch nähert. In einem Interview hat Peter Huemer Scharang darauf angesprochen, dass der Ton in dessen neuestem Roman viel leichter, witziger und ironischer sei als in den vorherigen Romanen des Autors. Scharang bestätigte Huemers Eindruck und verwies auf die seiner Meinung entspannteren Zeiten.(2) Tatsächlich lebt der Roman von Ironie, die in der beschworenen aber nicht stattfindenden Apokalypse gipfelt.
Worin sich Scharangs Amerikabild besonders von dem anderer AutorInnen unterscheidet, ist ein stark surreales Element, das in den beiden bereits erschienenen Bänden der geplanten Trilogie eine zentrale Rolle spielt. Die Stadt New York, die in Anlehnung an Walter Benjamin als "Hauptstadt des 20. Jahrhunderts" bezeichnet wird, erfährt der Ich-Erzähler im Jüngsten Gericht des Michelangelo Spatz wie eine Traumwelt, in der die bizarren Erlebnisse kaum rational erklärt werden können. Im Folgenden sollen einige Parallelen zwischen Scharang und Benjamin beleuchtet und die vermeintliche, im Titel angesprochene Apokalypse untersucht werden.
Es verwundert ein wenig, dass der überzeugte Marxist Michael Scharang in seinen beiden in den neunziger Jahren erschienenen Amerika-Romanen die USA so positiv portraitiert. Thomas Rothschilds Erklärung dafür leuchtet ein:
Linke, die dem Kapitalismus kritisch gegenüberstehen, denen sehr genau bewußt ist, daß die USA und insbesondere New York den Kapitalismus in seiner pursten Form repräsentieren, sich geradezu durch ihn definieren, die also gute Gründe haben zur Skepsis gegenüber dem transatlantischen Imperium, verfallen, als hätten sie das alles über Nacht vergessen, einer Faszination, die nur dieses Land und diese Städte auf diese Weise auszuüben imstande sind. Das ist keine Einzelerscheinung. Irgend etwas gibt es da, was das Gefühl an der Erkenntnis vorbei unmittelbar anspricht, ohne daß die Erkenntnisse dadurch ins Unrecht gesetzt würden. Ob die Widersprüche in den USA und in New York verankert sind oder im beobachtenden Subjekt, vielleicht auch in diesem wie in jenen - sie ergeben jedenfalls Stoff, über den sich immer wieder zu schreiben lohnt.(3)
Der Ich-Erzähler in Auf nach Amerika (1992), der ebenso der Ich-Erzähler im Nachfolgeband ist, will uns Glauben machen, seine Großmutter sei in die USA geflohen und habe bei einem Stamm amerikanischer Ureinwohner Unterschlupf gefunden. Zu diesem Stamm, den Maumees, die noch im Bundesstaat Ohio leben, gelangen auch der Ich-Erzähler selbst und seine Freundin Maria. Scharangs Protagonist schweigt sich allerdings über diese Zeitperiode aus, man erfährt nur, dass die Maumee-Indianer den beiden raten, wieder nach Europa zu gehen. Im Gegensatz dazu spielt der Großteil von Das jüngste Gericht des Michelangelo Spatz in den USA, genauer gesagt in New York. Dorthin wurde der Protagonist eingeladen, um in Marias Wohnung auf eine rekonvaleszente Hündin aufzupassen. Bereits die Taxifahrt vom Flughafen zu Marias Haus empfindet der Ich-Erzähler als ein - im wahrsten Sinne des Wortes - phantastisches Erlebnis:
[B]islang [war] immer ich es gewesen, der die Dinge betrachtete. In New York ging das nicht. Da betrachteten die Dinge mich.
Auf meiner ersten Fahrt vom Flughafen in die Stadt, in der ersten Straßenkurve: das kleine Holzhaus mit der prachtvoll bemalten Veranda und den Fenstern, die mit Brettern vernagelt waren. Das Haus wunderte sich über meinen verwunderten Blick.
Zwischen den schaukelnden Autos der ruhige Mittelstreifen: das von der Sonne verbrannte Gras und das löchrige Faß darauf, aus dem ein blühender Strauch wuchs. Sie hatten ihren Spaß, weil ich aussah, als würde ich verdursten.
[...]
Eine Yacht auf einem sprechenden Fluß: Wenn von uns beiden jemand ein Fluß ist, sagte er, dann Sie, und er stellte sich mit East River vor. Er sei ein Meeresarm.(4)
Diese Stelle erinnert an Walter Benjamins Ausführungen über den Dichter Baudelaire, der in seiner Großstadtlyrik Paris zum ersten Mal Gegenstand der Dichtung macht. Baudelaires Dichtung sei laut Benjamin "[k]eine Heimatkunst, vielmehr ist der Blick des Allegorikers, der die Stadt trifft, der Blick des Entfremdeten" (54). Zwar wandelt sich Scharangs Protagonist bereits in der ersten Taxifahrt durch New York zum Allegoriker, doch in seinem Fall trifft der Blick des Fremden auf gänzlich Fremdes. Seine Erlebnisse in New York, von denen eine Anzahl surrealen Charakter hat, plant der Ich-Erzähler literarisch auszuwerten. Seine New Yorker Geschichten sollen sich aber grundsätzlich von denen anderer Autoren abheben.
Ich werde Material sammeln für das Buch New York, die Hauptstadt des 20. Jahrhunderts. Mir ist die peinliche Anlehnung an die geniale Arbeit Walter Benjamins über Paris als die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts bewußt und deshalb nicht peinlich. Die Form, in der Benjamins Arbeit überliefert ist, die Materialsammlung, soll vorerst auch die Form meiner Arbeit sein.(5)
Dem Ich-Erzähler ist durchaus bewusst, wie anmaßend es ist, seine Stadtbeschreibungen und Erlebnisse in New York mit den Parisbeobachtungen Benjamins zu vergleichen. Schließlich gilt Benjamins postum als Passagen-Werk veröffentlichter Text als einzigartige kulturhistorische Studie. Scharangs New-York-Roman erhebt nicht den Anspruch, in die direkte Nachfolge Bernjamins zu treten. Zwar ist Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz insgesamt von der deutschen und österreichischen Literaturkritik sehr wohlwollend aufgenommen worden. Scharangs kulturhistorische Thesen dagegen haben wenig positive Resonanz ausgelöst, von einem Rezensenten sind sie sogar als "vulgärmarxistisch"(6) kritisiert worden.
Der Vergleich zwischen den Städtebildern Scharangs und Benjamins lohnt sich, zumal Scharangs satirischer und selbstironischer Ton dazu einlädt. Während Benjamin "[i]n dem immer schnelleren Veralten der Neuerungen und Erfindungen, die den Produktivkräften des sich entfaltenden Kapitalismus erwachsen waren, [...] die Signatur der frühen Moderne"(7) erblickt hat, sieht Scharangs Protagonist im spätkapitalistischen New York der neunziger Jahre, wie sich Zerfall und Erneuerung die Wage halten:
Wenn die Umstände, dachte ich, unter allen Umständen verhindern, dass ich erste Eindrücke festhalte, dann ist diesen ersten Eindrücken auch nicht zu trauen. Und die waren: New York wird eben erst gebaut. Aber auch New York zerfällt bereits.(8)
Gerade in einem Land, das kürzlich als extrem ambivalenzintolerant beschrieben worden ist,(9) findet der Ich-Erzähler lauter Ambivalenzen. Daneben ist Scharangs Protagonist davon überzeugt, dass New York im Unterschied zu europäischen Städten "eine Gegenwartsstadt"(10) sei:
Denn nicht nur Wien, dachte ich, auch die anderen Städte ließen Gegenwart nicht zu. Die alten Bauten, errichtet zur Ehre Gottes und zum Ruhm der Könige und Fürsten, haben dem Bürgertum nie erlaubt, Städte so zu gestalten wie es ihm entsprochen hätte.(11)
Im Gegensatz zu Benjamins Flaneur, den die Straße "in eine entschwundene Zeit [...], in eine Vergangenheit [hinabführt], die um so bannender sein kann als sie nicht seine eigene, private ist"(12), sieht sich Scharangs flanierender Ich-Erzähler mit der Gegenwart in New York konfrontiert. Eine augenscheinlichere Parallele zwischen Benjamins Paris und Scharangs New York ist der Facettenreichtum, den die beiden Autoren in ihren unterschiedlichen Werken einfangen. Es verwundert daher nicht, dass Scharangs Rezensenten immer wieder die "Fülle der Episoden"(13) betonten. Die jeweiligen Städtebilder gewinnen auch aufgrund der Beschreibung des jeweiligen Menschenbildes an Kontur und Schärfe. Während Benjamin u.a. über den Typus des Spielers mit seinen Prostituierten oder über den Typus des Flaneurs schreibt, der geradezu in Paris erschaffen worden sei,(14) begegnet man bei Scharang einer ähnlichen Vielzahl an Typen wie z.B. einem verkorksten Möchtegern-Kannibalen oder einem kuriosen New Yorker Taxifahrer. Hier soll aber nicht der Eindruck erweckt werden, Scharangs Werk sei ein Schlüsselroman, der ohne seine (vermeintliche) literarische Folie nicht funktionierte und der die (vermeintliche) Benjaminsche Typologese in eine neue Form zu bringen versuchte. Was sich aber durchaus vorstellen lässt, gerade weil Scharang Benjamin schätzt und sich besonders in den siebziger Jahren intensiv mit ihm beschäftigt hat, sind bewusste ironische Anspielungen. Benjamin berichtet, "1839 war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen."(15) Die Rolle der Schildkröte übernimmt bei Scharang die hüftoperierte Hündin von Maria, der Freundin des Protagonisten.(16) Nachdem er diese Hündin durch halb Manhattan spazieren geführt hat, hält der Ich-Erzähler auf dem Hundeplatz am Washington Square inne und räsoniert, dass "der Hundeplatz auf dem Washington Square, aber auch, was ich während des Spaziergangs von Marias Haus bis hierher gesehen hatte, mit Zivilisation zu tun haben könnte, mit jener amerikanischen Zivilisation, zu der ich, ohne sie zu kennen, schon deshalb Sympathie hegte, weil sie in Europa als kulturlos galt."(17)
Scharangs jüngster Roman ist, wie bereits erwähnt, nicht das erste Buch des Autors, worin er sich auf Benjamin bezieht. Im Gegensatz zu vielen österreichischen Schriftstellern seiner Generation hat sich Scharang immer wieder mit Medienproduktion und -rezeption auseinander gesetzt und hat in diesem Zusammenhang oftmals auf Benjamin verwiesen. In seiner Essaysammlung aus dem Jahr 1971 Zur Emanzipation der Kunst hat der Autor gefordert, Benjamins Thesen weiterzudenken.(18) Während sich Scharang besonders im ersten Aufsatz des Bandes, der ebenfalls den Titel "Zur Emanzipation der Kunst" trägt, mit Benjamins Texten Der Autor als Produzent und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit eingehend beschäftigt, ist sein Umgang mit Benjamin in seinem letzten Roman äußerst verspielt, wenn er sich erneut der Produktion und Rezeption von Medien zuwendet.
Mit sehr viel Witz beschreibt Scharang, wie sein Protagonist offensichtlich im Zustand zwischen Wachen und Träumen das amerikanische Fernsehen konsumiert, dessen Werbesendungen nur kurz durch die Hauptprogramme unterbrochen werden. Die Musik, die hier eine bedeutende Rolle spielt, kommentiert Scharang wie folgt: "Die ersten Akkorde von Beethoven erklingen, jene Akkorde, die Beethoven, seiner Zeit weit voraus, als Musik für Fernsehwerbung komponierte, doch dann, da es noch kein Fernsehen gab, an den Beginn seiner Fünften Symphonie stellte"(19)
Besonders fasziniert Scharangs Ich-Erzähler die Protagonistin der Werbesendung, deren
Surreale Beschreibungen finden sich in Scharangs Roman zuhauf. Sie verweisen einerseits auf das apokalyptische Ende des Romans, andererseits können sie wiederum als Anspielungen auf das Passagen-Werk verstanden werden, in dem sich Benjamin mit dem französischen Surrealismus auseinandersetzt.(21) Scharangs Protagonist wandelt sich im Laufe des Romans vom verwirrten Medienrezipienten zum Möchtegernproduzenten, indem er vorgibt, gemeinsam mit dem österreichischen Komponisten Michelangelo Spatz, den er in New York trifft, eine Fernsehserie zu produzieren. Das Thema der Serie liegt für den Ich-Erzähler auf der Hand - das Ende der Welt:
Heutzutage hat jeder auf seine Art die Gewißheit, daß die Welt untergeht. Ich weiß das von einem Spanier, der im Begriffe steht, New Yorks bedeutendster Philosoph zu werden. Die Leute im Westen, für die wir die Serie machen, stehen ohne den gewohnten Feind aus dem Osten da. Früher war jeder Schritt, den man tat, notwendig, um der Gefahr aus dem Osten zu begegnen, heute, der Gefahr verlustig, ist jeder Schritt einer ins Nichts.(22)
In der sinnstiftenden Aufteilung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg war es möglich, seinen Platz zu finden. Der kommunistische Feind konnte eingeschätzt werden, seine Politik war berechenbar. Die veränderte Welt nach 1989 sei jedoch unberechenbar geworden, lautet Scharangs Botschaft, der ehemalige Feind sei abhanden gekommen, die Sinnlosigkeit des Lebens könne nun nicht mehr bestritten werden. Nichts fürchte man mehr, als das Ende einer Epoche, an die man sich gewöhnt hatte: "Genau das, sagte ich, nützen wir für unsere Fernsehserie: daß die Leute dem Gewohnten nachtrauern, wie schrecklich es auch gewesen sein mag, und daß sie nach dem Verlust des Gewohnten den Weltuntergang befürchten."(23) In einer Welt ohne Kommunismus "stünde nun", so Wendelin Schmidt-Dengler in einer Besprechung von Scharangs Roman, "weil man keine Kräfte gegen etwas organisieren müsse, nur mehr das Ende, das Jüngste Gericht bevor".(24) Dem Weltuntergang, der nicht aufzuhalten sei, werde nur von einem Detektiven, der in jeder Episode auftauchen solle, nachgespürt werden. Aber selbst diesem Detektiven soll der Untergang bereitet werden.
Scharang war der Schnelllebigkeit der Zeit ein paar Jahre voraus, da seine Figuren bereits 1998 von einer solchen Serie träumen, die sich heutzutage nahtlos in das schier unübersehbare Angebot der "Reality Shows" eingliedern ließe. Die hier propagierte Verwischung von Realität und Fiktion ist schon längst Realität und keine Fiktion mehr. Der Witz an Scharangs Geschichte ist aber der, dass selbst die Fernsehgesellschaft, die die Rechte der Serie erwirbt, diese fiktive "Reality Show", deren Realisierung der Ich-Erzähler und Michelangelo Spatz vorgaukeln, nicht durchschaut. Die vermeintliche Live-Übertragung des Weltunterganges findet nicht statt, denn nachdem die beiden einen Vorschuss von einer Fernsehstation bekommen haben, verschwinden sie sogleich von der Bildfläche, ohne die Serie mit dem Titel "Das jüngste Gericht des Michelangelo Spatz" verwirklicht zu haben.
An dieser Stelle zeigt sich Scharangs Verspieltheit wohl am deutlichsten. Dem Genre der Apokalyptik, das gerade am Ende der neunziger Jahre in der österreichischen Literatur auffällig ist - man denke nur an die Endzeitstimmungen aus dem Jahr 1995 in Josef Haslingers Opernball, Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten und Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara - nähert sich Scharang auf höchst ironische Weise. Die hier beschworene Katastrophenstimmung endet nämlich nur in einer finanziellen Katastrophe der betrogenen Fernsehgesellschaft. Die Leichtigkeit, mit der Scharang mit der Untergangsthematik umgeht, spiegelt wohl auch eine gängige Geisteshaltung am Ende der neunziger Jahre wider. Die Terroranschläge vom 11. September 2001 und die damit direkt und indirekt stehenden Kriege der USA haben dieser kurzen, äußerst entspannten Periode, von der Scharangs Roman zeugt, ein Ende gesetzt. Insofern kann Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz als ein Zeitdokument betrachtet werden, das aus einer etwas heileren Welt stammt.
Bevor Michelangelo Spatz und der Protagonist ihren großen Coup aushecken, diskutieren die beiden über das kleinbürgerliche Zeitalter, vom dem das ausgehende 20. Jahrhundert geprägt sei. Spatz, der mit den gesellschaftskritischen Essays des Protagonisten vertraut ist, spricht diesen darauf an:
Sie haben richtig erkannt, daß in diesen Jahren eine neue Epoche beginnt, die kleinbürgerliche. Sie haben aber noch nicht herausgefunden, wo die neue Epoche geboren wurde: in New York.
Ich war verwirrt. Ich habe, sagte ich, New York eben erst als die Hauptstadt dieses Jahrhunderst entdeckt. Das eine schließt das andere nicht aus, sagte Spatz, die neue Epoche wird hier geboren, doch kaum erwachsen, wird sie sich umtun in der Welt und New York vielleicht für immer verlassen. Man wird sehen, welche Stadt die Nachfolgerin New Yorks als Zentrum der kleinbürgerlichen Epoche wird.(25)
Ob uns Scharangs letzter Band seiner Amerika-Trilogie in die Hauptstadt des 21. Jahrhunderts führen wird, darüber lässt sich nur spekulieren, und es fragt sich, wie sich Scharangs Amerika nach dem 11. September 2001 verändert haben wird. Fest steht jedoch, dass nach Das jüngste Gericht des Michelangelo Spatz die Erwartungen an den letzten Teil der Amerikatrilogie hoch sind.
© Gregor Thuswaldner (Gordon College Wenham, Massachusetts)
ANMERKUNGEN
(1) Die Autoren sprechen von 62 Millionen verkaufter Bände (vgl. http://www.leftbehind.com/, Stand 25. Mai 2004).
(2) Im Gespäch, Peter Huemer im Gespräch mit Michael Scharang, 11. März 1999.
(3) Thomas Rothschild. "Zwischen New York und Floridsdorf." Die Presse, 26. 9. 1998. In : Gerhard Fuchs und Paul Pechmann (Hg.). Michael Scharang. Graz: Droschl, 2002, 212.
(4) Michael Scharang. Das Jüngste Gericht des Michelangelo Spatz. Reinbek: Rowohlt, 1998, 12f.
(5) Michelangelo Spatz, 152.
(6) Diese Einschätzung allerdings überrascht nicht, wenn man weiß, dass dieser Rezensent, Konrad Paul Liessmann, mit Scharang jahrelang einen Schreibkrieg führte, der in den Wiener Tageszeitungen ausgetragen wurde.
(7) Rolf Thiedemann, "Einleitung", in: Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Gesammelte Schriften. Band V 1, Frankfurt: Suhrkamp, 1991, 15.
(8) Michelangelo Spatz, 14.
(9) Christopher Baethge, "Amerika, Blicke: Über den Umgang mit Ambivalenz" In: Merkur - Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, April 2004, 316-324.
(10) Michelangelo Spatz, 135.
(11) Michelangelo Spatz , 134.
(12) Passagen-Werk, 524.
(13) Wendelin Schmidt-Dengler. Literatur in Österreich nach 1990 - Skriptum zur Vorlesung Sommersemester 2000. Wien: Basisgruppe Germanistik, 2000, 158.
(14) Passagen-Werk, 525
(15) Ebenda, 532.
(16) Dieser Hinweis stammt von Univ. Ass. Mag. Dr. Martin Hainz, Institut für Germanistik der Universität Wien, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei.
(17) Michelangelo Spatz, 130.
(18) Michael Scharang. Die Kunst der Emanzipation, Essays. Frankfurt: Luchterhand 1971, 10.
(19) Michelangelo Spatz, 40.
(20) Michelangelo Spatz, 41.
(21) Vgl. Josef Fürnkäs. Surrealismus als Erkenntnis: Walter Benjamin - Weimarer Einbahnstraße und Pariser Passagen. Stuttgart: Metzler, 1988 und Margaret Cohen: Profane Illumination: Walter Benjamin and the Paris of Surrealist Revolution. Berekely: University of California Press, 1993, 7ff.
(22) Michelangelo Spatz, 272.
(23) Michelangelo Spatz, 272f.
(24) Schmidt-Dengler, 159. Was Schmidt-Dengler dabei impliziert, ist, dass bei Scharang die Begriffe "Jüngstes Gericht" und "Ende der Welt" synonym sind. Die Johannitische Erwartung eines neuen Jerusalems, einer neuen Welt, die der Apokalypse folgt, findet sich bei Scharang natürlich nicht, was aber auch nicht verwundert, da Scharang einem materialistischen Weltbild anhängt.
(25) Michelangelo Spatz, 242f.
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