Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. August 2004
 

6.2. Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Gisela Fehrmann und Erika Linz (Universität Köln)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Inszenierte Texte. Überlegungen zum Verhältnis von Medialität und Verstehen(1)

Jörg Jost (Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft, RWTH Aachen)

 

1 Einleitung und Problemaufriß

Untersuchungen zum Sprachverstehen beschäftigen sich gemeinhin mit dem Verstehen gesprochener und geschriebener Sprache.(2) Die folgenden Überlegungen beziehen sich ebenfalls auf Schriftlichkeit und Mündlichkeit als mediale Formate des Sprachverstehens, fokussieren aber insbesondere mediale Hybridbereiche, d.h. Kommunikationsformen(3), die sowohl die medialen Formate Schriftlichkeit (Literalität) als auch Mündlichkeit (Oralität) tangieren.

Wer in dem Zusammenhang nach dem Verstehen fragt, wird auf eine Reihe theoretischer Ansätzen aus unterschiedlichen Disziplinen stoßen, die sich den medialen Formaten Oralität und Literalität vor dem Hintergrund des Sprachverstehens annehmen und die m.E. sehr präzise grundlegende und durch das Medium bedingte Unterschiede des Verstehens mündlicher und schriftlicher Sprache beschreiben. Treten jedoch Formen der - mediengeschichtlich durchaus noch als neu beschreibbaren Kommunikationsformen wie bspw. - Chat-, E-Mail- oder Newsgroup- Kommunikation in den Betrachtungsfokus, werden schnell Grenzen und Beschreibungsrestriktionen der etablierten Dichotomie von Schriftlichkeit und Mündlichkeit deutlich; wie ist z.B. mit Hybridbereichen umzugehen, in denen sowohl schriftliche als auch mündliche Elemente eine konstitutive Rolle spielen, z.B. Chats oder Newsgroups, in denen die Kommunikation über das Medium der Schriftlichkeit erfolgt, für die der Sprachduktus des Mündlichen jedoch konstitutionell ist (vgl. etwa Feldweg/Kibiger/Thielen 1995, 143(4)), und welche Beschreibungsansätze können diesen medialen 'Mischtyp' der Kommunikation adäquat erfassen?

Folgende Fragen sind zu stellen: Bleibt, insbesondere vor der von Koch und Oesterreicher (1985) getroffenen Unterscheidung von Konzeptionalität und Medialität, die zu einer Unterscheidung in 'Sprache der Nähe' und 'Sprache der Distanz' führt, das Verstehen von diesem Spannungsgefüge unberührt? Läßt sich das Problem des Verstehens von Chatkommunikation behandeln wie das eines Romans oder eines Sachtextes? Oder anders gefragt: Ist Text gleich Text? Und reicht für das Verstehen eine Differenzierung hinsichtlich Schriftlichkeit und Mündlichkeit aus? Gleicht das Verstehen von Äußerungen in Chats dem von Äußerungen in einem Geschäftsbrief in dem Sinne, daß der vorliegende materielle Text, d.h. die Textur (Stetter 1999), die Verstehensgrundlage bildet?

Für den Umgang mit dem hier skizzierten Problem und der Forderung nach einer adäquaten Beschreibung des Verstehens medialer Hybridbereiche der Kommunikation sowie einer möglicherweise hieraus resultierenden Abgrenzung von Verstehensbedingungen sind die folgenden Positionen denkbar:

(1) Das 'Problem' überhaupt nicht als Problem wahrzunehmen. Eine solche Haltung ließe sich mit dem Hinweis darauf begründen, daß auch Kommunikationsformen wie Chats, die einen stark mündlichen Duktus aufweisen, medial doch immer schriftlich realisiert werden. Damit gehörten sie in den Untersuchungsbereich des Textverstehens; Fragen nach dem Verstehen würden sich in der Chat- und E-Mail-Kommunikation folglich nicht grundlegend von denen in herkömmlichen literalen Sprachprodukten wie Romanen o.ä. unterscheiden. Hier wird m.E. jedoch von einer grundsätzlich falschen Annahme ausgegangen.

Im folgenden wird dafür argumentiert, daß es einen signifikanten Unterschied gibt zwischen dem Verstehen eines als schriftlichem Produkt konzipierten Textes, bspw. einem Roman, und einem als mündlichem Produkt konzipierten (in mündlichem Sprachduktus gehaltenen), jedoch - bedingt durch die gewählte Kommunikationsform - schriftlich realisierten Text. Letzteres entspricht der zweiten möglichen Position zum Verstehen in medialen Hybridformen computervermittelter Kommunikation.

(2) Zwar weisen sowohl Kommunikationsformen wie E-Mail und Chat, als auch Geschäftsbriefe, wissenschaftliche Publikationen und literarische Texte, z.B. Romane, einen schriftlich materialisierten und realisierten Text auf, der dem Leser als Verstehensgrundlage dient - wir sprechen hier auch ganz selbstverständlich und völlig zu Recht vom Leser und nicht vom Hörer.

In elektronischen Kommunikationsformen wie Chat, E-Mail oder SMS muß, wenn es um Fragen des Verstehens geht, neben der Medialität (hier der Schriftlichkeit sprachlicher Äußerungen) auch die Konzeptionalität - im Sinne von Koch und Oesterreicher (1985; 1994) - berücksichtigt werden. Darin kommt nämlich - so meine These - der performative Charakter der 'Texte' zum Ausdruck. Ihn gilt es in Kommunikationsformen im medialen Hybridbereich in die Überlegungen zum Verstehen einzubeziehen.

Daß die Ebene der Performativität bei der Untersuchung des Verstehens sprachlicher Äußerungen in ausgewählten elektronischen Kommunikationsformen notwendigerweise berücksichtigt werden muß, zeigt sich m.E. sehr deutlich an der Kommunikationsform E-Mail. Hier treten insbesondere auf der Formulierungsebene häufig Mißverständnisse auf, die z.T. als Verstöße gegen textsortenspezifische Formulierungsmuster (vgl. Sandig 1997) zu werten sind, zum Teil aber auch aus der medieninadäquaten Interpretation von Äußerungen sowie unterschiedlicher Erwartungen der Kommunikationspartner hinsichtlich der Formulierungsmuster resultieren. Das trifft z.B. auf den Einsatz und das Verstehen von Ironie in elektronischen Kommunikationsformen zu.

 

2 'Inszenierte' Texte

Koch und Oesterreicher (1985; 1994) gehen bei ihrem Modell zur 'Sprache der Nähe' und 'Sprache der Distanz' von zwei medialen Formen sprachlicher Äußerungen aus: Schriftlichkeit (graphisch) und Mündlichkeit (phonisch). Sie unterscheiden Äußerungen (1) nach ihrer Konzeptionalität, d.h. danach, welchen Sprachduktus eine Äußerung aufweist, ob sie z.B. eher den Duktus des Mündlichen oder des Schriftlichen aufweist (Koch und Oesterreicher sprechen dabei von konzeptioneller Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit) und (2) nach der Medialität, d.h., wie eine sprachliche Äußerung medial realisiert wird, z.B. phonisch in der Mündlichkeit oder graphisch in der Schriftlichkeit (bei Koch und Oesterreicher fällt das in die Kategorien mediale Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit).

Die Medialität ist bei Koch und Oesterreicher (1985; 1994) dichotomisch angelegt und wird zwischen den Polen phonisch und graphisch abgebildet. Die Konzeptionalität hingegen wird als ein Kontinuum verstanden. Anhand von "kommunikativen Parametern" (z.B. soziales Verhältnis, Anzahl sowie räumliche und zeitliche Situierung der Kommunikationspartner, Öffentlichkeitsgrad etc.) können je nach Relationierung zueinander und je nach Gewichtung bestimmte "Redekonstellationstypen" (Jakobs 1999, 46) klassifiziert werden. So lassen sich konkrete Äußerungen aufgrund der kommunikativen Parameter entsprechend verorten. Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit als Ausprägungsgrade (geringe bis extreme Schriftlichkeit bzw. geringe bis extreme Mündlichkeit) des konzeptionellen Kontinuums erlaubt die Zuordnung von Äußerungen zur Sprache der Nähe bzw. Sprache der Distanz (Koch/Oesterreicher 1985, vgl. auch 1994). "Die Pole 'extreme Mündlichkeit' bzw. 'extreme Schriftlichkeit' lassen sich dann als spezifische Konstellation kommunikativer Bedingungen und der ihnen entsprechenden Kommunikationsformen beschreiben" (Jakobs 1999, 46).

Diese Unterscheidung erlaubt eine differenzierte Beschreibung von Sprachprodukten in unterschiedlichen Kommunikationsformen, die hinsichtlich Konzeptionalität und Medialität in einem divergenten Verhältnis zueinander stehen. Dazu gehört z.B. der Vortrag, der konzeptionelle Schriftlichkeit aufweist, dann aber mündlich vorgetragen wird und demnach medial mündlich ist.(5) Weitere Kommunikationsformen, die hier als medial hybride bezeichnet werden, sind der Chat(6), die E-Mail- und die Short-Messages (SMS), weiterhin die Computerkonferenz, die Newsgroup etc. Auf der dichotomischen Ebene der Medialität sind sie schriftlich, auf der Ebene der Konzeptionalität jedoch mündlich, d.h. sie weisen mehr oder weniger ausgeprägte Züge von Mündlichkeit auf.

Wie stark ausgeprägt der mündliche Duktus in Texten auf der konzeptionellen Ebene als prototypisch beschreibbar ist, hängt nicht zuletzt von der Textsorte ab.(7) Sandig (1997, 27) beschreibt die Textsorte als das "standardisierte Handlungsmittel, mit dem Handlungen nach dem Handlungsziel vollzogen werden können". Das Handlungsziel bestimmt mit seinen funktionalen Anforderungen nicht nur die Wahl der Textsorte, sondern nimmt über diese auch auf ganz unterschiedlichen Ebenen (z.B. der Handlungshierarchie, der Sequenzmuster oder auf der Formulierungsebene) Einfluß auf die Textsortenmerkmale. Sandig sieht im Handlungstyp die Steuerung "konventionelle[r] Erwartung bezüglich der Textsorte" (ebd.). Handlungstypen sind nicht- sprachlich und können durch den gesellschaftlichen Zweck, die Situationseigenschaften sowie die Situationsbeteiligten charakterisiert werden (ebd.). Textsorten sind, darauf weist auch Dürscheid (2003) mit Brinker (2001) hin, durch bestimmte thematische Funktionen identifizierbar. Das unterscheidet sie schließlich auch von Kommunikationsformen, die nicht auf eine bestimmte Funktion begrenzt, sondern im Gegenteil multifunktional sind (vgl. Dürscheid 2003, 40).

In der Kommunikationsform E-Mail findet sich nahezu das gesamte Spektrum an Gebrauchstextsorten wieder. Zu diesem Ergebnis gelangt Schmitz (2003) in seiner Untersuchung zur E-Mail, die sich als Kommunikationsform "auf dem Weg zu sprachlicher Normalität"(8) befindet. Realisiert werden diese Textsorten im Medium der Schriftlichkeit (bei Sandig (1997) der schriftliche Kanal). Inwiefern die Textsorten aber auch auf der konzeptionellen Ebene adäquat realisiert werden, d.h., inwiefern auftretende Formen einer konzeptionellen Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit auf die Textsortenspezifik Rücksicht nehmen, bleibt noch zu untersuchen. Es ist aber zu vermuten, daß Abweichungen gegen textsortenspezifische Merkmale - etwa auf der Formulierungsebene oder der Ebene der materiellen Textgestalt - auftreten, die durch die Kommunikationsform E-Mail bedingt sind. Abweichungen kennzeichnen hier jedoch durchaus nicht nur sanktionierbare Verstöße gegen textsortenspezifische Erwartungen innerhalb der Gemeinschaft der Kommunizierenden, sondern durchaus auch kreative Abweichungen, die m.E. durch den Medialitäts-/Konzeptionalitäts-Shift, der in computervermittelten Kommunikationsformen häufig vorliegt, bedingt sind.

Im Gegensatz zur E-Mail weisen Chats per se einen höheren Ausprägungsgrad konzeptioneller Mündlichkeit auf. Sie können daher auch als "getippte Gespräche" statt als (dialogische) Texte beschrieben werden (Storrer 2001, 462; vgl. auch Dürscheid 2003, 41). Der Chat gehört zu den Vertretern medial hybrider Kommunikationsformen par excellence. Die konzeptionelle Mündlichkeit wird in computervermittelter Kommunikation (insbesondere in Chats und Newsgroups) häufig indiziert durch: Verwendung sogenannter Emoticons zum Ausdruck von Emotionalität (vgl. etwa Lenke/Schmitz 1995, 123; Rosenbaum 1999); typographische Auszeichnungsarten, wie z.B. der Schreibung bestimmter Ausdrücke in Majuskeln (damit wird z.B. in Chats 'Schreien' ausgedrückt); typographische Markierung von gestischen, auditiven oder metasprachlichen Merkmalen, die in Asteriske notiert werden, z.B. *lach*, *gespielt böse* etc.; für mündliche Kommunikation typischer Sprachgebrauch, z.B. Verschmelzungen von Wortformen, Interjektionen, Dialektausdrücken etc. (vgl. Feldweg/Kibiger/Thielen 1995, 146f.). Solche im Medium der Schrift realisierbaren Formen vermittelter Mündlichkeit spielen in computervermittelter Kommunikation eine zentrale Rolle.

Die Ebene der konzeptionellen Mündlichkeit im schriftlichen Medium darf m.E. auch hinsichtlich des Verstehens von Sprache in computervermittelten Kommunikationsformen nicht unberücksichtigt bleiben. Dieser Ebene gilt es, vor dem Hintergrund medienadäquaten Verstehens, besondere Beachtung zu schenken. Der Grund hierfür ist: Die Konzeptionalität ist eine Form der vermittelten Medialität, die konzeptionell nur deshalb vom Medialen abweicht, weil sie nicht unmittelbar, sondern durch ein 'zwischengeschaltetes', sozusagen 'vermittelndes' Medium realisiert wird.(9) Oder anders gesagt: Die konzeptionelle Mündlichkeit, die zum Teil E-Mail-, SMS- und Chat- Kommunikation aufweisen, wird inszeniert, d.h. das konzeptionell Mündliche hat den Charakter einer Inszenierung. Im elektronischen Kommunikationsmedium, d.h. in den technischen und raum- zeitlichen Bedingtheiten und Restriktionen des Kommunikationsmediums, wird der 'mündliche Text' inszeniert und in der medialen Form der Schriftlichkeit aufgeführt.

Von inszenierten und zur Aufführung gebrachten Texten zu sprechen lenkt den Blick auf die aktuelle kulturwissenschaftliche Debatte zum Performanz-Begriff und zur Performativität, die auch für die Linguistik und insbesondere für Fragen nach dem Verstehen eine interessante Perspektive eröffnet - eine medientheoretisch motivierte wohlgemerkt.(10) Die Debatte geht von dem von Austin ([1958] 1996; ebenso [1962] 1994) eingeführten Begriff der Performativität aus. Austin entwickelt den Begriff der Performativa in seiner Sprechakttheorie zunächst als Oppositionsbegriff zu den Konstativa (konstatierenden Äußerungen), wo er eine mit dem konkreten Sprachvollzug einhergehende Handlungsdimension postuliert, die als indem-Relation beschreibbar ist. Austin (ebd.) zeigt, daß statt eines exklusiven (und damit oppositionellen) Verhältnisses konstatierender und performativer Äußerungen vielmehr ein inklusives Verhältnis bzw. ein sich nicht per se ausschließendes Verhältnis zwischen beiden Formen besteht. In dem Zusammenhang erinnert Krämer (2002, 331) mit Blick auf kulturwissenschaftlich motivierte Ansätze zum Begriff der Performance daran, daß ">Performativität< nicht einfach heißen kann, etwas wird getan, sondern heißt, ein Tun wird >aufgeführt<".

Performativität ist an Aufführung gebunden. Von der Performativität als Medialität zu sprechen, deutet nach Krämer (2002) auf die Auffassung einer "verkörperten Sprache" hin, im Gegensatz zur Auffassung von einer "virtuellen Sprache", auf die sich der Begriff der Kompetenz bezieht. Die Verkörperung der Sprache rückt ihre technische Übertragung und die daran geknüpften Entstehensbedingungen der Sprachlichkeit sowie die Raum- und Zeitlichkeit sprachlicher Äußerungen in den Blick (vgl. Krämer 2002, 331). Das bedeutet jedoch nicht mehr aber auch nicht weniger als die Untrennbarkeit des Sprachlichen vom Medialen bzw. die Unhintergehbarkeit des Medialen sprachlicher Äußerungen. Die Medialität ist konstitutiv für alles Sprachliche, das Sprachliche entsteht im Medialen.(11) Und Krämer weist darauf hin, daß das Medium

zwar nicht die Botschaft ist, doch die Botschaft ist die Spur des Mediums. Medien sind an der Entstehung von Sinn und Bedeutung also auf eine Weise beteiligt, die von den Sprechenden weder intendiert, noch von ihnen völlig kontrollierbar ist und als eine nicht- diskursive Macht sich >im Rücken der Kommunizierenden< zur Geltung bringt. (Krämer 2002, 332).

Ist die Botschaft die Spur des Mediums, wie Krämer sagt, dann setzt auch Verstehen an dieser Spur des Medialen an. Verstehen ist daher als medienadäquates Verstehen genauer zu spezifizieren. In computervermittelter Kommunikation - wie sie oben beschrieben wurde - konzentriert sich die Medialität auf die Schriftlichkeit; Mündlichkeit kommt allenfalls vermittelt (inszeniert), d.h. auf konzeptioneller Ebene vor.

 

3 Medialität und Verstehen

Was leistet die Perspektivierung der Performanz konzeptionell-medial hybrider Texte für die Beschreibung computervermittelter Kommunikationsformen wie Chats oder E-Mail und das Verstehen von in diesen Kommunikationsformen mediatisierten Texten gegenüber einem praktikablen Ansatz wie dem von Koch und Oesterreicher (1985 und 1994)? Zunächst einmal soll und kann die hier eingenommene Perspektive des Performativen medial hybrider Texte das Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsmodell von Koch und Oesterreicher nicht ersetzen. Die hier angestellten Überlegungen zur Fokussierung des Performativen knüpfen vielmehr an die bei Koch und Oesterreicher (1985; 1994) entwickelte Differenzierung von Konzeptionalität und Medialität an.

Der Vorteil, die konzeptionelle Ebene des Textes als Inszenierung aufzufassen, liegt darin, daß der Blick stärker auf das Verhältnis von Medialität und Verstehen gelenkt wird. Die konzeptionelle Mündlichkeit eines Chats oder einer E-Mail als Inszenierung zu verstehen und den materialisierten Text (d.h. die mediale Schriftlichkeit) als Aufführung bzw. als Darstellung/Repräsentation der Inszenierung, heißt, den Text als inszenierten und zur Aufführung gebrachten Text zu verstehen.

Es verhält sich m.E. so, daß wir beim Verstehen - das wird bei der computervermittelten Kommunikation deutlich - Medium und Konzeption eines Textes mit-verstehen bzw. mit-interpretieren (müssen). Im Sinne des Austinschen Performativitätsgedanken (Austin [1958] 1996; [1962] 1994) verweist der Begriff der Performanz gerade auch im Zusammenhang mit dem Verstehen auf die Untrennbarkeit zwischen dem konzeptionellen Text und dem (medial) zur Aufführung gebrachten Text, der schließlich die Grundlage für das Verstehen bildet. Nicht der konzipierte Text bildet die Verstehensgrundlage, sondern der mediatisierte und zur Aufführung gebrachte Text. Hier sehe ich die Möglichkeit für Verstehens-Probleme begründet.

So wie das Ritual in den Performativa Austins an die konventionalisierte Akzeptanz (bestimmte Gelingensbedingungen vorausgesetzt) gebunden ist(12) - das 'getaufte' Schiff wird im Schiffsregister der Reederei nur deshalb unter seinem Namen geführt, weil der für die Taufe notwendige performative Ausdruck fortan anerkannt wird und daraus seine perlokutive Kraft resultiert - so ist das Verstehen des konzeptionell-medial-hybriden Textes in der computervermittelten Kommunikation an die konventionelle Übereinkunft dieses hybriden Verhältnisses geknüpft. Das Verstehen ist hier an das Wissen um den Aufführungscharakter der Äußerungen geknüpft, d.h. an das Wissen darum, daß der Text als inszenierter Text zu verstehen ist.

Das legt den Schluß nahe, daß wir in der computervermittelten Kommunikation nicht nur Texte im Sinne der in der Textur (im materialisierten Text) 'gefrorenen' Intentionen verstehen (vgl. Stetter 1997, 297) - und damit das Problem nach der in Kapitel 1 erwähnten ersten Möglichkeit elegant aus der Welt geschafft hätten. Es verhält sich m.E. vielmehr so, daß wir z.B. - und das gilt insbesondere für die E-Mail und Chatkommunikation - den Text als inszenierten Text verstehen müssen, um ihn der Kommunikationsform entsprechend adäquat verstehen zu können.

Möchte man das Verstehen sprachlicher Äußerungen in Abhängigkeit von ihren spezifischen medialen Bedingungen betrachten, ist eine solche Differenzierung sowie das Einbeziehen des Inszenatorischen geboten. Denn, so kann mit Krämer (2000, 90) geschlossen werden:

Die Dimension der Medialität entzieht das Kommunizieren und Interpretieren dem Ausschließlichkeitsanspruch des intentionalen Handlungsmodells [...] Medien sind die historische Grammatik unserer Interpretationsverhältnisse, sie sind die Bedingung nicht nur der Möglichkeit von Sinn, sondern auch seiner Durchkreuzung, Verschiebung, eben Subversion.

 

4 Schlußbemerkung

In diesen ersten Überlegungen zu einer Auffassung computervermittelter Kommunikation im medialen Hybridbereich von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, wie sie bei Chats oder E-Mail vorliegt, wird im Anschluß an das Konzept der Konzeptionalität und Medialität (Koch/Oesterreicher 1985, 1994) der Gedanke der Performativität ins Spiel gebracht. Die Konzeption eines im Chat oder via E-Mail kommunizierten Textes wird als Inszenierung gedacht, die in ihrer medialen Realisierung zur Aufführung gelangt. Darin wird ein Beschreibungsansatz gesehen, der es erlaubt, dem Verstehen von in computervermittelter Kommunikation gemachten Äußerungen medial Rechnung zu tragen. In dem Sinne, in dem das Mediale (mit Jäger 2000; 2002 und Krämer 2002) als konstitutiv für alles Sprachliche angesehen werden kann, sehe ich es beim Verstehen computervermittelter Texte in medialen Hybridbereichen (von Konzeptionalität und Medialität) wie dem Chat, der E-Mail-Kommunikation, aber auch der SMS-Kommunikation, als verstehenskonstitutiv an, das Medium mitzuverstehen. In der von mir vorgeschlagenen terminologischen Differenzierung und Auffassung der Konzeptionalität (eines Textes) als seine Inszenierung und der Medialität als seine Aufführung, darf die Betrachtung des Verstehens sich nicht ausschließlich auf das Aufgeführte beziehen. Sie muß vielmehr den inszenatorischen Charakter des aufgeführten Textes, d.h. den (z.B. im Chat) schriftlich realisierten Text als mündliche Inszenierung betrachten.

Der vorgeschlagene Ansatz eignet sich m.E. für linguistische Untersuchungen zur computervermittelten Kommunikation. Anwendungsbereiche sehe ich in ergänzenden Beschreibungen ausgewählter computervermittelter Kommunikationsformen, bei der Analyse von Kommunikationsstörungen, die auf Mißverständnisse auf der Beziehungsebene der Kommunikationspartner zurückführbar sind sowie für die Untersuchung und Beschreibung des Verstehens sprachlicher Äußerungen in den noch immer 'neuen' computervermittelten Kommunikationsformen. Interessant erscheint mir weiterhin, den Untersuchungsbereich nicht nur auf die asynchrone computervermittelte Kommunikation, die hier exemplarisch herangezogen wurde, zu beschränken, sondern auch synchron computervermittelte Kommunikationsformen (z.B. Videokonferenzen) in die Untersuchungen einzubeziehen.

© Jörg Jost (Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft, RWTH Aachen)


ANMERKUNGEN

(1) Der vorliegende Beitrag wurde im November 2003 als Vortrag auf der Tagung Das Verbindende der Kulturen in Wien gehalten. Form und Inhalt wurden weitestgehend beibehalten. In dem Beitrag werden einige erste Überlegungen zum Thema angestellt. Eine weiter ausgearbeitete Fassung ist in Vorbereitung.

(2) Damit ist das mediale Spektrum des Sprachverstehens jedoch längst nicht umfassend erfaßt. Zu ergänzen wäre hier zunächst das Verstehen gebärdeter Sprachen, das neben Schriftlichkeit und Mündlichkeit die dritte mediale Form darstellt, vor der Sprachproduktion und Sprachverstehen zu betrachten sind, die hier aber unberücksichtigt bleibt.

(3) Zur Definition von Kommunikationsmedien und Kommunikationsformen vgl. Holly (1997); vgl. auch Dürscheid (2003).

(4) Vgl. ebd.: "In erster Linie handelt es sich hier [Kommunikation in Newsgroups; J.J.] um Schriftsprache, die aber aufgrund der Kommunikationssituation beeinflußt wird durch Merkmale gesprochener Sprache."

(5) Zu denken ist hier etwa an Reden, wie sie im Deutschen Bundestag gehalten werden, die im Internet in schriftlicher Form abgerufen werden können. Hier ist wiederum zwischen dem Redeprotokoll ("Es gilt das gesprochene Wort.") und dem Redemanuskript zu unterscheiden. Letzteres fällt in den angesprochenen Bereich, wohingegen ersteres einen Sonderfall darstellt, der hier nicht weiter berücksichtigt wird.

(6) Runkehl/Schlobinski/Siever (1998, 102) verorten den Chat konsequent in der Nähe der Mündlichkeit, wenn sie sagen: "[M]an chattet mit FreundInnen in einem kleinen Gesprächskreis oder nur mit einem Gesprächspartner."

(7) Vgl. hierzu den generellen Einfluß des Handlungstyps auf die Textsortenmerkmale. Sandig benennt bspw. in ihrem Textmustermodell als Teil der Situationseigenschaft (des Handlungstyps) den Kanal, den sie vom Medium unterscheidet. Über den Kanal werden Textsorten realisiert (schriftlich, mündlich, audiovisuell). Zu den Medien gehören für Sandig z.B. Bücher. Sie können wiederum in Handbücher, Monographien, Zeitschriften etc. unterteilt werden. Medien können "Spezifikationen bezüglich des Kanals" ausdrücken (Sandig 1997, 28f.). Wo Sandig vom Kanal spricht, wird hier der Begriff des Mediums verwendet. Das Buch, bei Sandig ein Medium, gehört m.E. - hier folge ich terminologisch Holly (1997) - zur Klasse der Kommunikationsformen, ebenso wie die E-Mail oder der Chat.

(8) Vgl. auch den Aufsatztitel von Schmitz (2003), "E-Mails kommen in die Jahre. Telefonbriefe auf dem Weg zu sprachlicher Normalität".

(9) Zur "Mittelbarkeit" als ein für Medien "bedeutsamer Sachverhalt" vgl. Krämer (2000, 83).

(10) Vgl. hierzu die interessante Einführung Performance: a critical introduction von Marvin Carlson 1996, in der das Phänomen der Performanz in Kunst, Linguistik, Literatur und Soziologie behandelt wird.

(11) Sprache kann nicht unabhängig vom Medium betrachtet werden, da die Funktion des Mediums nicht im alleinigen Übertragen "prämediale[r] Gedanken" gesehen werden kann (Jäger 2000, 15); vgl. auch Jäger (2002).

(12) Vgl. hierzu Austin, Lecture II, 12-24.


LITERATUR

LITERATUR

Austin, John L. ([1958] 1996): "Performative und konstatierende Äußerungen", in: Hoffmann, Ludger (Hg.): Sprachwissenschaft. Ein Reader, Berlin, New York: de Gruyter, 132-142.

Austin, John L. ([1962] 1999): How to do things with words, second edition, edited by J.O. Urmson and Marina Sbisà, Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press.

Brinker, Klaus (52001): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin: Schmidt.

Carlson, Marvin (1996): Performance: a critical introduction, London, New York: Routledge.

Dürscheid, Christa (2003): "Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Theoretische und empirische Probleme", in ZfAL (38) 2003, 37-56.

Feldweg, Helmut; Kibiger, Ralf; Thielen, Christine (1995): "Zum Sprachgebrauch in deutschen Newsgruppen", in : Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 50 (1995), 143-154.

Holly, Werner (1997): "Zur Rolle von Sprache in den Medien. Semiotische und kommunikationsstrukturelle Grundlagen, in: Muttersprache 1/97, 64-75.

Jäger, Ludwig (2000): "Die Sprachvergessenheit der Medientheorie. Ein Plädoyer für das Medium Sprache", in: Kallmeyer, W. (Hg.): Sprache und neue Medien, IDS Jahrbuch 1999, Berlin; New York: de Gruyter, 9-30.

Jäger, Ludwig (2002): "Medialität und Mentalität. Die Sprache als Medium des Geistes", in: Krämer, S.; König, E. (Hgg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?, Frankfurt/Main: Suhrkamp [stw; 1592], 45-75.

Jakobs, Eva-Maria (1999): Textvernetzung in den Wissenschaften. Zitat und Verweis als Ergebnis rezeptiven, reproduktiven und produktiven Handelns, Tübingen: Niemeyer [RGL; 210].

Koch, Peter; Oesterreicher, Wulf (1985): "Sprache der Nähe - Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte", in: Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43.

Koch, Peter; Oesterreicher, Wulf (1994): "Schriftlichkeit und Sprache", in: Günther, H.; Ludwig, O. (Hgg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. An Interdisciplinary Handbook of International Research. 1. Halbband, Berlin; New York: de Gruyter, 587-604.

Krämer, Sybille (2000): "Das Medium als Spur und als Apparat", in: Krämer, Sybille (Hg.): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt/Main: Suhrkamp [stw; 1379], 73-94.

Krämer, Sybille (2002): "Sprache - Stimme - Schrift: Sieben Gedanken über Performativität und Medialität", in Wirth, U. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp [stw; 1575], 323-346.

Lenke, Nils; Schmitz, Peter (1995): "Geschwätz im 'Globalen Dorf' - Kommunikation im Internet", in : Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie (OBST) 50 (1995), 117-141.

Rosenbaum, Oliver (21999): Chat-Slang. Lexikon der Internet-Sprache. 3.700 Begriffe verstehen und anwenden, München: Hanser.

Runkehl, Jens, Schlobinski, Peter; Siever Thorsten (1998): "Sprache und Kommunikation im Internet", in: Muttersprache 2 (1998), 97-109.

Sandig, Barbara (1997): "Formulieren und Textmuster. Am Beispiel von Wissenschaftstexten", in: Jakobs, E.M.; Knorr, D. (Hgg.): Schreiben in den Wissenschaften. Frankfurt/Main [Textproduktion und Medium; 1], 25-44.

Schmitz, Ulrich (2003): "E-Mails kommen in die Jahre. Telefonbriefe auf dem Weg zu sprachlicher Normalität", in: Ziegler, A.; Dürscheid, Ch. (Hgg.): Kommunikationsform E-Mail, Tübingen: Stauffenburg, 33-56.

Stetter, Christian (1997): Schrift und Sprache, Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Storrer, Angelika (2001): "Getippte Gespräche oder dialogische Texte? Zur kommunikationstheoretischen Einordnung der Chat-Kommunikation", in Lehr, A. u.a. (Hgg.): Sprache im Alltag. Beiträge zu neuen Perspektiven der Linguistik, Berlin u.a.: de Gruyter, 439-466.


6.2. Der Einfluß der Medialität auf sprachliche Kommunikationsstrukturen und die Organisation des kulturellen Gedächtnisses

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS       Inhalt | Table of Contents | Contenu  15 Nr.


For quotation purposes:
Jörg Jost (RWTH Aachen): Inszenierte Texte. Überlegungen zum Verhältnis von Medialität und Verstehen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/06_2/jost15.htm

Webmeister: Peter R. Horn     last change: 11.8.2004     INST