Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | Juni 2004 | |
8.3. Dialog und Lernen Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Gertrud Kamper (Berlin)
Wie bekannt, sind wir Menschen jene Gattung unter den Lebenwesen, welche nur einen Teil ihrer Gattungseigenschaften in ihren Genen, Chromosomen etc. speichert und damit im Moment der Zeugung an die Individuen der nächsten Generation weitergibt (die sogenannte biologische Vererbung). Für einige der ganz wesentlichen Gattungseigenschaften wird sozusagen "nur" das Potential biologisch gespeichert und weitergegeben. Die konkrete Ausprägung dieser Eigenschaften wird in Artefakten, in Produkten der eigenen Tätigkeiten und Interaktionen, außerhalb der einzelnen Organismen gespeichert. Während ihres Heran,wachsens eignen sich alle menschlichen Individuen im angemessenen Umgang mit diesen "Gegenständen" die konkreten menschlichen Eigenschaften an. In diesen Prozessen verwirklichen sie ihr zunächst allgemeines Potential und konkretisieren es damit auch. Wenn wir nicht absichtlich verfremdend sprechen, nennen wir die Gesamtheit der Artefakte materieller wie ideeller wie sozialer Art Kultur, den Prozeß des Aneignens meistens Lernen.
Beispielsweise ist allen Menschen Sprache eigen - aber jedes Neugeborene muß seine Sprachfähigkeit in konkreter Form ausbilden, indem es sich eine ihm begegnende Sprache aneignet. Ob es nun auf deutsch oder arabisch oder chinesisch oder Wolof etc. sprechen lernen wird, hängt davon ab, welche Sprache die vorangegangenen Generationen seiner Gemeinschaft entwickelt und tradiert haben. Im Aneignen erzeugt das neue Individuum diese sprachlichen Fähigkeiten als seine eigenen - und wird damit nicht nur zu ihrer weiteren Existenz, sondern auch zu ihrer weiteren Tradierung als auch ihrer Entwicklung oder auch Veränderung beitragen.
Gleiches gilt für die allgemeine Gesellschaftlichkeit unserer Gattung. Außerordentlich viele unterschiedliche Strukturen menschlichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens und entsprechende Umgangsformen sind entwickelt worden. Man denke nur an die verschiedenen Formen von Familienleben oder von Arbeitsorganisation, etwa in einem Amazonasdorf, in einer mittelalterlichen Grafschaft in Europa oder im heutigen Berlin. Das Hineinwachsen der Individuen in diese verschiedenen Strukturen und Formen bzw. deren Aneignen nennen wir dann meist Sozialisation. Dieser Ausdruck betont die Unausweichlichkeit dieses Prozesses wie die Abhängigkeit seines Ergebnisses von konkreten gesellschaftlichen Bedingungen.
Die verschiedenen menschlichen Gemeinschaften haben im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung - wegen sich unterscheidender und auch verändernder Lebensbedingungen und getrennt durch räumliche und zeitliche Entfernungen - unterschiedliche konkrete Ausprägungen ihrer allgemeinen menschlichen Eigenschaften entwickelt. Kulturen im Plural meint hier die Gesamtheit der jeweiligen, sich voneinander unterscheidenden Artefakte (materieller, ideeller, sozialer Art), mittels welcher die Menschen ihr Leben bewältigen. In und mittels dieser Kulturen speichern die Menschen in den verschiedenen Gesellschaften die Fortentwicklung ihrer Eigenschaften und geben sie an die nächsten Generationen weiter.
Nach heutigem Stand der Kenntnis erscheint es als plausibel, daß wir alle von einer relativ kleinen Population neuzeitlicher Menschen abstammen, welche irgendwann, möglicherweise in mehreren Wellen, aus dem Raum des ostafrikanischen Grabens ausgewandert sind. Jene, die auf dem afrikanischen Kontinent blieben und sich nach Süden wandten, und jene, die zunE4chst ins heutige Kleinasien und dann nach Nordwesten ins heutige Europa, und jene, die von Kleinasien aus immer weiter nach Osten zogen, hatten viele Generationen lang Zeit, unterschiedliche Konkretionen ihres allgemeinen Menschseins auszubilden. Sie entwickelten nicht nur unterschiedliche Phänotypen (hinsichtlich Hautfarbe, Haare, Körperbau etc.), sondern auch unterschiedliche Kulturen. Beides immer auch in Auseinandersetzung mit und auch Anpassung an die jeweiligen klimatischen und sonstigen Umwelteigenschaften, die ihre Lebensbedingungen waren - beispielsweise Wüste oder Wald oder Meer, kalt oder heiß oder gemäßigt, feucht oder trocken.
Darüber hinaus meint Kulturen im Plural manchmal auch eine Vielfalt innerhalb einer Gesellschaft. Innerhalb größerer Gemeinschaften können sich Gruppen herausbilden, die sich aus verschiedenen Gründen in der konkreten Ausprägung ihrer an sich gemeinsamen kulturellen Grundlage erkennbar unterscheiden. Je nach Grad der Differenz zu den anderen Teilgruppen und vor allem, wenn sie das auch an ihre nachwachsenden Generationen weitergeben, ist es möglich, verschiedene Kulturen, Teil-Kulturen, Subkulturen etc. zu unterscheiden. Die Achsen der Ausbildung von Unterschieden mögen entlang verschiedener lebensbestimmender Tätigkeiten liegen - bäuerlich oder handwerklich oder kaufmännisch oder militärisch. Sie können aber auch entlang verschiedener Ethnien innerhalb einer Gesellschaft (bis zum Klischee bekannt sind die italienische und die chinesische Subkultur in den USA) oder entlang verschiedener Generationen entstehen.
Wir Menschen sind eine recht mobile Gattung. Schon sehr früh in der Geschichte des neuzeitlichen Menschen sind Gesellschaften mit unterschiedlichen Kulturen einander begegnet und sie tun dies immer noch - friedlich und kriegerisch, auf "breiter Front" und mit einzelnen Besucherinnen und Besuchern. Auch Teilkulturen innerhalb einer Gesellschaft "begegnen" einander. In allen Fällen haben sich die Menschen mit ihren verschiedenen Kulturen gegenseitig beeinflußt und tun dies noch. Wie diese Beeinflussung jeweils ausgesehen hat und aktuell aussieht, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab - nicht zuletzt von der Art der Begegnung, von dem Ausmaß an gegenseitigem Respekt oder an Gewalttätigkeit. Einer dieser Faktoren ist beispielsweise, ob eine oder auch beide der beteiligten Kulturen von den sie lebenden Menschen für die allein-seligmachende gehalten wird - für die einzige, die "wahr" ist, lebenswert ist etc. Man könnte auch sagen, ob sie in irgendeiner Weise ein "Missionierungs-Potential" enthält. Jedenfalls findet Beeinflussung immer statt, sobald sich Gesellschaften verschiedener Kulturen begegnen, in welcher Form auch immer. Das Ergebnis solcher immer schon stattgefundenen gegenseitigen Beeinflussung ist gemeint, wenn davon gesprochen wird, daß alle heutigen Kulturen Hybrid-Kulturen sind.
Ein Beispiel wäre die Beeinflussung, man kann auch sagen "Befruchtung" der europäischen Kultur durch die verschiedenen indischen Kulturen - nachgewiesen spätestens für Pythagoras' Zeiten und die aus Indien stammenden "arabischen" Ziffern und seither immer wieder. Dazu kamen noch die Einflüsse aus Afrika - von den alten Ägyptern, über Nordafrika und die spanischen Mauren vermittelte arabische Einflüsse oder Auswirkungen geraubter, schwarzafrikanischer, heiliger Kult-Geräte auf die moderne Kunst. Oder man denke nur an die afrikanischen Einflüsse, welche über Sklaven"importe" in die US-amerikanische wie auch in lateinamerikanische Kulturen eingegangen sind und darüber vermittelt die europäische indirekt beeinflußten - die bekanntesten sind Voodoo und Jazz.
Jedes menschliche Individuum entwickelt sich in seine Gesellschaft hinein, macht sich in einem langen, mal mehr, mal weniger mühsamen Prozeß deren Kultur - also die konkreten Ausprägungen von Sprache, Gesellschaft, Wohnen, Arbeiten, Denken, Fühlen etc. - zu eigen. In stark gegliederten Gesellschaften kann die zur Aneignung nötige Auseinandersetzung möglicherweise mit nur einer oder auch mehreren Teil- oder Sub-Kulturen stattfinden. Jedenfalls muß man davon ausgehen, daß sich jedes Individuum aufgrund der historischen Entwicklung wie des hybriden Charakters jeder Kultur mit deren Aneignung auch deren Widersprüche und "Ungleichzeitigkeiten" aneignet bzw. sich mit diesen auseinandersetzen muß - mit welchem Erfolg auch immer.
Die Prozesse der Aneignung der historisch und kulturell spezifischen menschlichen Eigenschaften müssen von den heranwachsenden Individuen geleistet werden - man könnte sagen, sie erzeugen sich in diesem Prozeß selbst als konkrete, wirkliche Menschen. In der deutschen Tradition wird dafür der Begriff Bildung verwendet. Der Ausdruck Erziehung hebt darauf ab, daß jene Menschen, welche die gegebene Gesellschaft und in ihr die "Tradierenden" bilden, diesem Prozeß meist nicht leidenschaftslos gegenüberstehen, sondern durch Unterstützung wie durch Sanktionen auf seine Richtung und Ergebnisse Einfluß zu nehmen versuchen.
Von Bildung zu sprechen, ohne auf die Geschichte und die Besonderheiten dieses doch sehr deutschen Begriffs einzugehen, ist schwierig. Speziell in einem internationalen Kontext, wenn es diesen Begriff z.B. im Englischen überhaupt nicht gibt und er in Übersetzungen dann als "education" mit Erziehung schlicht zusammenfällt oder als "formation" in die Nähe der Berufsbildung rückt.
Vielleicht kann man so damit umgehen, daß man sagt, "Bildung" enthält immer noch eine normative Komponente, welche mit der bürgerlichen Vorstellung eines Menschen, der seine ganze Menschlichkeit ausbilden kann, zusammenhängt. Die Betonung wird dabei auf die mehr oder weniger organisierten Lernprozesse in der Vorbereitung aufs "wirkliche" Leben gelegt - und weniger in dem Lernen gesehen, welches im Vollzug des Erwachsenen-Lebens in der Auseinandersetzung mit der Welt notgedrungen stattfindet.
Viel Papier ist mit gelehrten Diskussionen darüber bedruckt worden, inwieweit "Bildung" den Subjekt-Charakter des sich Bildenden betont, während "Erziehung" den Erzieher mindestens gleichbedeutend mitdenkt, wenn nicht gar als Subjekt sieht - gegenüber dem "Zögling" als zu erziehendem Objekt. Ich bin mir nicht sicher, ob solche Unterscheidungen noch eine Rolle spielen, wenn von Schulbildung oder von Bildungsnotstand gesprochen wird. Möglicherweise spielt es auf lange Sicht auch keine so große Rolle, ob gerade nach Bildung, nach Qualifikationen oder nach (Werte-)Erziehung gerufen wird.
So gesehen ist es also allen Kulturen gemein, daß sie verschiedene konkrete Ausprägungen allgemeiner menschlicher Fähigkeiten sind - verschiedene "Antworten" auf die allgemeine Notwendigkeit menschlicher Individuen, sich in dem, was über das chromosomal Gegebene hinausgeht, jeweils wieder neu erzeugen zu müssen - verschiedene Verwirklichungen des menschlichen Potentials. Auch daß sie hybrid sind, gilt für zumindest die allermeisten, wenn nicht sogar alle menschlichen Kulturen. Alle Gesellschaften müssen für das Verhalten in und gegenüber der nicht-menschlichen Welt wie für den Umgang ihrer Mitglieder untereinander und den Umgang mit anderen Gesellschaften Formen ausprägen. Das Praktizieren solcher Formen wird begleitet von Annahmen, Vorschriften und Glaubenssätzen darüber, was wem und in welcher Situation angemessen ist - einem Teil der gesamten Weltauffassung.
Die jeweiligen Weltauffassungen und "Umgangsformen" unterscheiden sich aber in den verschiedenen Kulturen. Zum Beispiel sind im Komplex der ursprünglich in Kleinasien und Europa entstandenen und heute als "westlich" oder "europäisch/anglo-amerikanisch" bekannten Kulturen seit etwa drei Jahrtausenden dualistisch-hierarchische Strukturen dominant. Von diesen sind verschiedene Ausprägungen entwickelt worden - am bekanntesten sind die antike bzw. die griechische, die christliche und die wissenschaftliche Variante. Diese Varianten unterscheiden sich durchaus darin, wie extrem dualistische Trennungen und Hierarchien praktiziert werden. Auch sind die dualistischen Strukturen in den verschiedenen Gegenden und Gemeinschaften und in den verschiedenen Lebensbereichen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich rasch und unterschiedlich weitgehend durchgesetzt worden.
In unserer Sprache und Denkweise wimmelt es nur so von Dualismen:
usw. usf.
Dualismus meint das Netz der aufeinander bezogenen und sich gegenseitig verstärkenden Dualismen, wobei nicht jede Unterscheidung, Dichotomie oder Polarität schon als Dualismus gilt. Vor allem ist Dualismus die Struktur des Symbolsystems einer Gesellschaft, in der die Macht - die materielle wie die Definitionsmacht - bei einer relativ kleinen Gruppe liegt. Die Angehörigen dieser Gruppe setzen sich politisch, ökonomisch, militärisch, spirituell, intellektuell als Maß aller Dinge - als die Herren-und-Meister (master) über alles Andere und alle Anderen. In diesen hierarchischen Beziehungen wird "das Andere" sowohl beherrscht und ausgebeutet als auch abgewertet, ausgegrenzt und einverleibt.
Innerhalb der dualistisch-hierarchischen Struktur, in dieser Wahrnehmung, in dem dadurch orientierten Handeln gilt es als vernünftig und richtig, daß "das Andere" als Unteres untertan, unterworfen und minderwertig ist:
Wer an der Selbstermächtigung "Macht Euch die Erde untertan" interessiert war, fand zu jeder Zeit Argumente dafür - sei es in der Bibel oder in der Wissenschaft.
Wer an einer nicht-dualistischen Weltsicht interessiert ist, findet kaum Worte: Alle europäischen Sprachen drücken die Trennungen, die Spaltungen aus. Wo es keinen Begriff vom ungeteilten Ganzen mehr gibt, gibt es auch keine Worte dafür. Weiß jemand, wie man vom Ganzen sprechen könnte, ohne von Körper und Geist (spirit) oder von Leib und Seele zu sprechen? Hat jemand einen Vorschlag, wie wir vom Ganzen der Welt, in der und von der wir leben, sprechen können, ohne mit dem Wort "Natur" bereits die dualistische Auffassung aufzurufen?
Sich auf die Seite des "rein Materiellen" zu schlagen und "Geistiges", "Seelisches", "Spirituelles" etc. als nicht existent zu betrachten, löst den Dualismus nicht auf. Etwas erst zu spalten und dann eine der Seiten zur einzigen Seite zu erklären, ist kein Weg zu irgendeiner Form von Ganzheit oder Ganzheitlichkeit.
Innerhalb dualistischer Weltsicht(en) ist Kultur das, was auf Seiten der "Vernunft" steht, zusammen mit dem "Geistigen" oder "Spirituellen" auf der Oberseite der Hierarchie. Kultur ist dann das, was die Herren-und-Meister haben, worin sie leben. Alle anderen sind "nur" Teil der Natur. Kultur wirkt so als Teil des Legitimationszusammenhangs für die Unterdrückung und Ausbeutung der/des Anderen. Sowohl Frauen, auch jene der herrschenden Schichten, als auch Angehörige ehemals kolonisierter Völker - "Wilde", "Naturvölker" - wissen davon ein Lied zu singen.
Ein kleines Problem gibt es dabei. Die Herren-und-Meister sind auch Natur, sind in sich dualistisch gespalten - ob sie ihre als geistlos aufgefaßten Körper als projizierte Idee (Platon) oder als mechanische Maschine (Descartes) verstehen, von ihren sexuellen Trieben ganz zu schweigen. Viele Techniken sind entwickelt worden, sich davon immer wieder zu reinigen, sei es durch Disziplin oder durch Beichte.
In einer dualistischen Struktur ergibt der Plural von Kultur keinen Sinn, zumindest nicht, wenn die Kulturen auf gleicher Augenhöhe miteinander vorgestellt werden sollen. Nur, was zu den Herren-und-Meistern gehört, ist "wirkliche" Kultur. Eine auf Christentum (oder Monotheismus überhaupt) wie auch eine auf Wissenschaft gegründete Gesellschaft will unterwerfen und missionieren, aber nicht anerkennen.
Soll die Formulierung vom Verbindenden der Kulturen eine praktisch relevante Bedeutung haben - soll es also um einen respektvollen Umgang mit gegenseitiger Anerkennung der Angehörigen verschiedener Kulturen miteinander gehen -, so wird damit der Dualismus notwendigerweise herausgefordert. Es wird danach gefragt, wie Menschen die Verschiedenartigkeit ihrer unterschiedlichen Kulturen anerkennen können, ohne sie deswegen in eine Hierarchie zu bringen. Diese Frage scheint mir für beide Interpretationen des Themas relevant: (1) Was verbindet die verschiedenen Kulturen miteinander? und (2) wie verbinden die verschiedenen Kulturen uns, die Menschen miteinander - wahrscheinlicher: wie können sie uns miteinander, untereinander verbinden, uns helfen, friedlicher und akzeptierender miteinander umzugehen?
Ein Dialog mit anderen Kulturen auf gleicher Augenhöhe hat für die westlich-abendländischen Kulturen eine wesentliche Voraussetzung: Sie müssen sich mit ihrer dualistisch-hierarchischen Weltauffassung auseinandersetzen und diese überwinden. Sollen die Menschen der verschiedenen Kulturen (und Ethnien, und Gesellschaften, und Geschlechter) einigermaßen friedlich zusammenleben, muß vor allem die dominante, die westliche Kultur Wege und Mittel zu einer (Selbst)Veränderung suchen und entwickeln. Das ist notwendig verbunden mit einer Veränderung des zutiefst dualistisch-hierarchischen Verhältnisses gegenüber dem grundsätzlich "Anderen": der Natur - in der und von der wir leben, von der wir auch ein Teil sind. Das ist wahrlich keine einfache Aufgabe, was auf einer praktischen Ebene bereits deutlich wird, wenn man nur die Bemühungen der Frauen innerhalb der westlichen Gesellschaften, sich aus Unterordnung und einer Zuordnung zu "Natur" zu befreien, betrachtet. Die Aufgabe ist aber auch auf der theoretisch-begrifflichen Ebene schwierig - schließlich ist unser Begriff von "Natur" selbst bereits ein Ergebnis dualistischer Spaltung des Ganzen.
Das Zentrum der Weltauffassung der abendländisch-westlichen Kulturen liegt in der Orientierung an Wissenschaft - und zwar eher in der Art der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts als in den Erkenntnissen und Vorstellungen jener Physik und Biologie, die auf ihre Weisen die Ganzheitlichkeit der Welt (wieder)entdeckt haben. Neben den religiös gefaßten Dualismen ist also vor allem eine Auseinandersetzung mit den Wissenschaften bzw. dem wissenschaftlich orientierten Weltbild notwendig.
Die Herausforderung ist weitergehend, als auf den ersten Blick vielleicht zu erkennen ist. Der zentrale Knoten des dualistischen Netzes ist der Vernunft-Natur-Dualismus. Das Überwinden der hierarchischen Einstellung und Praxis gegenüber anderen Kulturen verlangt das Überwinden der hierarchischen Einstellung und Praxis gegenüber der Natur - gegenüber Frauen, gegenüber nicht-weißen Völkern, aber auch gegenüber den anderen Lebewesen tierischer und pflanzlicher Art und den nicht-organischen Elementen der Welt.
Ein vorläufiger, noch sehr abstrakter Versuch, über das dualistische Verständnis von "Natur" hinauszugehen, könnte vielleicht so aussehen: Die Menschen (in ihrer Gesamtheit) sind ein Teilsystem, das auf unterschiedlichen Ebenen vielfach mit anderen Teilsystemen verbunden ist (Stichwort Ko-Evolution). Das Teilsystem Mensch versucht, seine Position im Ganzen, im großen Konzert aller Teilsysteme, aber auch seine eigene Mitwirkung in den verschiedensten Wechselwirkungsprozessen zu bestimmen. So gesehen ist das Ganze aller dieser Teilsysteme eine Natur, welche sich von der "Natur" aus dem dualistischen Modell einigermaßen unterscheidet - in ihrer Kreativität und Vernetztheit wie darin, daß sie die Menschen inklusive ihrer Kulturen in sich enthält, und damit auch den "Geist".
In Gesellschaften mit dualistisch-hierarchischer Tradition bedarf es auch einer Neubestimmung des Verhältnisses der Menschen zu ihrer eigenen Natürlichkeit oder Kreatürlichkeit, zu ihrer "inneren Natur". Hier geht es darum, das gespaltene und dann wieder additiv zusammengefügte Verhältnis von Körper-und-Geist zu überwinden: das dualistische Verständnis, der hierarchisch höherstehende, belebende, beseelende Geist wohne im Gefäß oder gar Gefängnis eines toten oder mechanisch-maschinellen Körpers.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Ich nehme nicht an, daß alle anderen Kulturen oder alle anderen Gesellschaften egalitär strukturiert oder gar irgendwie idyllisch wären. Aber die abendländisch-westliche Weltauffassung mit ihrer wissenschaftlichen Orientierung ist die zur Zeit dominante - und ihre Veränderung ist unsere Hausaufgabe, soweit wir EuropäerInnen etc. oder sonst wie grundsätzlich durch westliche Bildung sozialisiert worden sind und unsere Urteile und Handlungen durch sie bestimmen lassen.
Wissenschaft ist eine bestimmte Art und Weise, Erkenntnisse zu gewinnen, Wissen zu erzeugen. Sie tut dies auswählend und begrenzt. Sie ist dies unter anderen Weisen der Erkenntnisgewinnung und Wissensproduktion - auch wenn ihrem Selbstverständnis nach nur wissenschaftliche Erkenntnisse "wirklich" gelten. Wissenschaft ist auch eine vielfältige Gesamtheit von Institutionen, die zu diesem Zweck unterhalten werden und von Personen, die sich zu diesem Zweck einem bestimmten Regelwerk unterwerfen. Das alles immer im Kontext von und in Wechselwirkung mit jeweils konkreten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, militärischen, technischen, religiösen, politischen etc. Bedingungen.
Die Wissenschaft, wie wir sie heute kennen, wurde vor ungefähr 400 Jahren entwickelt und politisch durchgesetzt. Diese spezielle Art, die Welt zu sehen und Erkenntnisse zu erarbeiten, setzte sich nicht aufgrund überzeugend besserer Erkenntnisfähigkeiten durch, sondern wurde aus politischen (vorwiegend Stabilitäts-)Überlegungen durchgesetzt. Zu ihren wesentlichen Merkmalen gehört, daß nur sogenannte primäre Qualitäten - solche, die meßbar und mathematisierbar sind - als "wissenschaftswürdig" gelten. Auch seien nur solche Erkenntnisse verläßlich - "objektiv" -, welche als unabhängig von der Beziehung zwischen Erkennendem und Objekt der Erkenntnis gelten. Außerdem sollen Erkenntnis und Urteil/Bedeutung, also Wissen und Wert, nichts miteinander zu tun haben - Wissenschaft als vorgeblich wertfrei und unparteiisch.
Über Art und Grad von (Selbst-)Täuschung, die in diesen zu Annahmen gewordenen Vorschriften liegt, sind interessante Arbeiten geschrieben worden - auch darüber, welch drastische Reduktion und Beschränkung der menschlichen Erkenntnismöglichkeiten und -notwendigkeiten darin liegt. Aussagen dazu liegen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert vor. Am bekanntesten sind heute die von Goethe und von Feyerabend. Alle Erkenntnisse über ihre Beschränktheit hinderten bis jetzt nicht daran, daß Wissenschaft zur Zeit das offizielle und dominierende Modell ist, die Welt und uns selbst zu betrachten, zu verstehen und zu interpretieren. An ihrem Status als offiziell und dominierend ändert es nichts, daß einzelne Ansätze in verschiedenen Disziplinen - vorwiegend in solchen, die z. B. im englischen Sprachgebrauch gar nicht als science, sondern als humanities betrachtet werden - um ein ganzheitlicheres Verständnis ringen. Der Grad der Resistenz gegenüber Einsichten in die Beschränktheit, ja Gefährlichkeit dieser extrem dualistisch-hierarchischen Art der Erkenntnisgewinnung und Weltsicht legt es nahe, von Wissenschaft als der aktuellen "säkularen Religion" unserer Kultur zu sprechen. Als grundsätzliche Orientierung gesellschaftlichen Handelns ist sie mitverantwortlich für Konflikte und Krisen.
Nach wie vor gibt es nicht-wissenschaftliche Arten des Gewinnens von Erkenntnissen und des Erzeugens von Wissen: alltägliche, lebensweltliche, künstlerische, aus älteren Traditionen heimischen Ursprungs und aus anderen Kulturen stammende, verschiedene Reformbewegungen etc. Sie verschwanden mit dem Siegeszug der Verwissenschaftlichung allen Wissens keineswegs. Aber dieses Erkennen und Wissen wurde als un-wissenschaftlich bezeichnet - und damit gleichzeitig abgewertet. Und nach Möglichkeit wurde es zunehmend verwissenschaftlicht oder durch Wissenschafts-Wissen ersetzt.
Die nicht-wissenschaftlichen Erkenntnisweisen wurden durch diese Entwicklung aber auch verändert. Zum einen wurden sie in ihrem Erkenntnispotential bezweifelt und "heruntergestuft". Zum anderen gingen auch in ihre Strukturen dualistische Elemente ein. Man denke nur an das geminderte Ansehen, das z. B. lebensweltliches Wissen gerade noch genießt bzw. an die häufig empfundene Notwendigkeit, es gegen konkurrierendes wissenschaftliches Wissen zu verteidigen. Oder z. B. daran, daß das Selbstverständnis und die Ansprüche verschiedener Kunstrichtungen und Künstler und Künstlerinnen durch das Akzeptieren der Dualismen geprägt sind.
Bei aller widersprüchlichen Faszination, die von den nicht-wissenschaftlichen Erkenntnisweisen und Weltverständnissen oft ausgeht, erinnert das Verhältnis zu ihnen auch an ein anderes: Aberglaube ist der Glauben jener, die (an) etwas Anderes glauben als wir!
Kritik und Gegenrede gegen die Wissenschaft der Neuzeit hat es von Anfang an gegeben - und selbstverständlich jede Menge an Praxis, welche sich nicht an Wissenschaft orientierte. Mit Aufklärung und Industrialisierung wurde die wissenschaftliche Sicht auf die Welt dominierend - und alle konkurrierenden Auffassungen wurden zu Unterströmungen. Vielleicht sind es die Verzerrungen der subjektiven Perspektive, jedenfalls scheinen mir Unzufriedenheit mit und Widerspruch, Widerstand gegen den dualistischen und beschränkenden Charakter der wissenschaftlichen Erkenntnisweise wie überhaupt dieser Sicht auf die Welt seit Jahren zuzunehmen. Vielleicht ist der Widerspruch nur hörbarer geworden in dem Maße, in dem ihn auch hochrangige Wissenschaftler artikulieren. Über die Gründe, warum solcher Widerstand und Bemühungen um eine alternative Orientierung gerade jetzt zunehmen oder zumindest deutlicher vernehmbar werden, liegen keine Untersuchungen vor. Aber spekulieren läßt sich darüber.
Einer der GrFCnde könnte in Erscheinungen liegen, die sich unter "die Natur schlägt zurück" zusammenfassen lassen: Wir, die Menschen in den reichen Ländern, die in erster Linie von der Unterordnung und Ausbeutung des und der Anderen profitieren, leiden langsam selbst unter den von uns verursachten Veränderungen. Man denke an Beispiele wie Waldsterben, Rinderwahnsinn BSE, Allergien, Klima-Katastrophen, Überschwemmungen etc. Viele Menschen leiden auch seelisch unter den Auswirkungen der wissenschaftlichen Auffassung der Welt, zum Beispiel unter Entfremdung, Verlust des persönlichen Lebenssinns etc.
Außerdem zeigen die aktuellen Wissenschaften von der Komplexität der Welt - wie Quantentheorie, Chaosforschung etc. -, daß die wissenschaftlichen Grundannahmen nur für einen sehr eng begrenzten Bereich zutreffen. Und auch das nur, wenn man es nicht zu genau nimmt. Das führt dazu, daß Schritt für Schritt diese Grundannahmen bzw. die ursprünglich aufgestellten Regeln aufgegeben werden müssen. Das wirkt sich noch kaum in der Allgemeinbildung aus, wie sie in den Schulen vermittelt wird - aber doch in jener, die über Sendungen und Artikel in populärwissenschaftlichen Fernsehbeiträgen und Zeitschriften weiterentwickelt wird.
Verschiedene Vorschläge, Ideen, Forderungen für eine nicht-dualistische Art und Weise, Erkenntnisse zu gewinnen und Wissen zu erzeugen, liegen bereits vor. Die Frage, wie und wohin könnte, möchte, sollte Wissenschaft weiter- oder auch zu etwas Neuem entwickelt werden, macht also durchaus Sinn. Die "Arbeitsstellen", an denen kleinere oder größere "Bauteile" für dieses Unterfangen entwickelt werden, sind weit verstreut und häufig ohne Verbindung untereinander.
Die Vorschläge, das moderne, westliche Verständnis von Mensch, Natur und Wissen in Richtung einer Überwindung seines dualistischen Charakters zu verändern, sind verschieden und vielfältig - hinsichtlich der Breite der behandelten Themen und der Reichweite der jeweiligen Vorschläge als auch der Dringlichkeit und Leidenschaft, mit der sie vorgetragen werden. Wenn ich jedoch von der Vielfalt absehe und nach einer Art gemeinsamen Musters suche, zeichnen sich zunächst drei thematische Schwerpunkte ab. Selbstverständlich überschneiden oder überlappen sich diese Themen häufig und hängen auch voneinander ab - dennoch lassen sie sich als Schwerpunkte identifizieren.
Natur, Mensch in Natur
Zum ersten erscheint es als notwendig, Natur und Selbst neu zu bestimmen - die Selbst-Positionierung des Menschen in und nicht gegenüber der Natur neu zu entwerfen. Soweit sich absehen läßt, wird die Arbeit an dieser Aufgabe ein menschliches Selbstverständnis wie ein Verständnis von Natur ergeben, die sich beide von den dualistisch geprägten Vorstellungen von Mensch und Natur unterscheiden werden. Der Natur wie dem Menschen (als Teil des Ganzen) wird darin Abhängigkeit und Freiheit zukommen, vielleicht als jetzt noch widersprüchlich erscheinende Einheit von Determiniertheit und Unvorhersagbarkeit - für Mensch und Natur wird darin Subjektivität oder Handlungsmächtigkeit (agency) akzeptiert. Die eigene Natürlichkeit des Menschen im Sinne seiner Leiblichkeit wird in einem neuen, einem nicht-dualistischen Menschenbild vermutlich selbstverständlich sein - wie die ganz wesentliche Rolle seiner Sinne, seiner Affekte und Emotionen. Dieser Leib wird eine differenziertere und reichere Vorstellung sein als der Körper des naturwissenschaftlich-medizinischen Verständnisses, womit sich auch ein Geist-Körper-Problem bzw. Leib-Seele-Problem erübrigen wird. Möglicherweise werden unter der Perspektive der historischen wie fortlaufenden Ko-Entwicklung des Menschen in und mit seinen Um-Welten (oder besser: Mit-Welten) Dimensionen menschlichen Lebens, welche bisher einem abstrakten Geist zugeschrieben wurden, als emergente Qualitäten dieser Ko-Entwicklung gesehen werden.
Erkenntnis
Einen weiteren thematischen Schwerpunkt bilden die als notwendig erachteten Veränderungen im Verständnis von Erkennen, von Erkenntnisproduktion, von Wissenschaft. Zum einen wird die große Illusion der westlichen Wissenschaft von ihrem "außerweltlichen und außerkörperlichen Standpunkt", welcher ihr distanzierte und objektive Erkenntnis ermögliche, aufzugeben sein. Statt dessen ist der partizipative und subjektive Charakter allen Erkennens und die Beteiligung der bisher als Objekt betrachteten Welt an den menschlichen Erkenntnisprozessen anzuerkennen. Das bedeutet auch, daß, was bisher an Intuition, Leiblichkeit, Gefühlen auch in wissenschaftliche Erkenntnisprozesse eher vor- oder halbbewußt, relativ unreflektiert einfließt, zu Methoden zu entwickeln ist, mit denen Intersubjektivität von Erkenntnissen sichergestellt werden kann. Zum anderen wird die Beschränkung von als gültig, interessant und verläßlich akzeptierten Erkenntnissen auf die quantitative Dimension der Welt - auf Merkmale, die durch Apparate gemessen werden können - aufzugeben sein. Qualitative Merkmale werden mindestens so sehr interessieren: die Qualitäten der verschiedenen Teile oder Aspekte der Mit-Welt, vor allem in der Beziehung zwischen ihnen und den Menschen. Auch dafür sind Methoden, die einen gewissen Grad von Verallgemeinerung erlauben, zu entwickeln. Während die Suche nach der einen Formel, welche die ganze Welt erklärt, aufgegeben werden muß, sind notwendig Verfahren zu entwickeln, mit der Spannung zwischen Individuellem, Einzelnem, Konkretem und verschiedenen Niveaus von Verallgemeinerung umzugehen. Gelegentlich wird von neuer Vernunft gesprochen - Rationalität wie Emotionalität werden, sobald sie einander nicht mehr polar und hierarchisch gegenübergestellt werden, ihre Bedeutungen verändern.
Ethik
Der dritte thematische Schwerpunkt läßt sich unter der Überschrift Ethik zusammenfassen. Ein wesentlicher Punkt ist hier, daß Ethik als Lehre vom rechten Tun nicht mehr nur auf andere Menschen - und zwar alle anderen Menschen - bezogen sein, sondern auch die Natur, die Mit-Welt der Menschen, einbeziehen soll. Dazu gehört auch eine Ergänzung von an abstrakten Konzepten orientierter Pflicht-Ethik durch eine Tugend-Ethik, in der eine gewisse Sorge und Rücksichtnahme für andere nicht so sehr als Einschränkung, sondern auch als Bedürfnis von Menschen gesehen wird. Die Anerkennung und die Kultivierung von Einfühlung, Mitgefühl, Empathie und Emotionen spielen hier eine große Rolle. Ein weiterer Punkt ist, die Illusion einer wertfreien Wissenschaft, überhaupt die Politik einer Trennung von Wissen und Bedeutung, aufzugeben. Verantwortung bereits für die Wissensproduktion, demokratische Entscheidungen über Wissenschaft und Forschung sind Stichworte dieser Richtung, aber auch die Erarbeitung von Wissenszugängen zur Natur, für welche Ethik von Anfang an relevant ist.
Theoretische Ressourcen
Neben diesen inhaltlichen Schwerpunkten gibt es eine Reihe von Überlegungen zu theoretischen Ressourcen für solche Veränderungs-Bemühungen. Hier werden sowohl marginalisierte europäische Traditionslinien aufgerufen, als auch nicht-europäische Traditionen - vorwiegend süd-asiatische, speziell buddhistische - in den Blick genommen. Für ganz wichtig erachtet werden die innerwissenschaftlichen Problematisierungen des (noch) dominanten Wissenschaftsverständnisses in den Naturwissenschaften. Auch wird überlegt, wie weit das in den Geistes- und Sozialwissenschaften akzeptierte Modell der "Schulen"-Bildung für eine Pluralität im wissenschaftlichen Herangehen an einen Wirklichkeits-Ausschnitt für die Naturwissenschaften fruchtbar gemacht werden könnte. Für die Versuche, aus Erkenntnissen der neuesten Wissenschaften heraus (systemische Theorien, Chaos-Theorie, Quantenmechanik) neue Vorstellungen der Welt, des Menschen, des Erkennens zu entwickeln, wird zur Vorsicht gemahnt. Teilweise gibt es ein Bewußtsein des Risikos, daß diese Erkenntnisse in einer Weise verallgemeinert werden können - und teilweise bereits werden -, die zu einer möglicherweise noch schärferen Form des Geist-Körper-Dualismus führt. Für Anregungen aus marginalisierten Traditionslinien, seien sie europäischer oder z.B. buddhistischer Herkunft habe ich kaum derartige Warnungen gefunden - während eine gewisse Vorsicht bei einem Blick auf Implikationen und auf die Geschichte dieser Traditionen durchaus sinnvoll erschiene.
Interessant erscheinen die - nicht zahlreichen - Hinweise darauf, daß Veränderungen der angestrebten Art nicht rein intellektuell zu erreichen sein werden, daß also ein verändertes Verständnis - so es nicht wieder auf der Ratio-Seite eines Dualismus landen, sondern Dualismus selbst überwinden soll - auch einer veränderten Praxis bedarf: des bewußten und reflektierten Einbezugs von Leib, Sinnlichkeit, Emotion und Intuition wie der Demokratisierung und des Abbaus von Machtverhältnissen. Demokratisierung und "verleiblichte" Praxis und Pluralismus im wissenschaftlichen Herangehen an die Welt werden auch als Gegengewichte gesehen gegen ein Abheben in Erlösungsphantasien, in ihrerseits wieder paradigmen-versessene vertikale Utopien, welche "die Wahrheit" wissen und - durch "Verbesserung" der Welt - die Geschichte politisch oder esoterisch oder wie immer zu ihrem "gesetzmäßig vorbestimmten" oder sonst wie offenbarten Ende bringen wollen.
Möglichkeiten und Schwierigkeiten in Kontexten
Streckenweise erwecken die Vorschläge zur Veränderung den Eindruck, ihre Autoren und Autorinnen hielten es für eine Sache ausschließlich des guten Willens und/oder von Aufklärung, die dualistische Struktur des dominanten westlichen Weltbildes, insbesondere der cartesianisch geprägten Wissenschaft zu überwinden. Doch die Schwierigkeiten im Verfolgen solcher Veränderungen werden angesprochen. Eine Dimension dieser Schwierigkeiten ist sozusagen wissenschafts-intern. Das dominante dualistische Weltbild und seine Erklärungen, teilweise auch in seiner wissenschaftlichen Ausprägung, haben bis weit ins Alltagsbewußtsein hinein einen hohen Grad von Selbstverständlichkeit - die Welt IST einfach so, punktum. Die Sprache ist dermaßen vom Dualismus durchdrungen, daß es ausgesprochen schwierig ist, Nicht-Dualistisches einfach und verständlich oder gar elegant auszudrücken. Solche verkörperten und institutionalisierten Selbstverständlichkeiten zu erschFCttern wird als nicht einfach gesehen. Widerstände und Gegenwehr, welche eine solche Herausforderung auf den verschiedensten Ebenen vom eigenen Kopf über die scientific community bis zur Wissenschaftspolitik hervorruft, werden angesprochen.
Eine andere Dimension von Schwierigkeiten und Möglichkeiten bilden Veränderungen in gesellschaftlicher Organisation und gesellschaftlicher Praxis als Kontext - als Bedingungen, das dominante Welt- und Wissenschaftsverständnis in seinem Dualismus erneuernd anzupassen oder den Dualismus überwindend zu verändern. Für das Entstehen dualistischer Weltauffassung überhaupt und dann die Etablierung cartesianisch geprägter Wissenschaft sind Zusammenhänge mit gesellschaftlicher Hierarchisierung und Herrschaftsformen zwischen Menschen und in menschlichen Beziehungen zu Natur herausgearbeitet worden. Die Frage geht also nicht nur in die Richtung, wie ein verändertes, ein nicht-dualistisches Verständnis (von Welt, von Mensch und Natur und von Wissen) auf menschliche Praxis einwirken wFCrde/wird, sondern auch, welche Veränderungen in der Welt von gesellschaftlichen Machtverhältnissen, von Ökonomie und Technik und Politik und menschlichen Beziehungen zu Natur ermöglichen es, den dualistischen Charakter unseres Bildes von der Welt und von uns Menschen in ihr zu verändern. Dabei wird vor Blauäugigkeit in der Art einer holistischen Romantisierung von digitaler Vernetzung, ökonomischer Globalisierung etc. gewarnt - diese können auch gut mit höchst dualistischen, hierarchie-orientierten Strukturen funktionieren und expandieren.
Antriebe
Bei der Frage nach den Gründen dafür, warum überhaupt nach Wegen und Richtungen für eine Veränderung der dualistischen Strukturen, hier vor allem in der westlich-modernen Wissenschaft, gesucht wird, wird hauptsächlich die Sorge um das Überleben genannt. An prominenter Stelle stehen dabei mehr oder weniger dramatische Szenarios, wie ein noch dazu globalisiertes "weiter so" die natürlichen Lebensbedingungen (Biosphäre, Atmosphäre, Hydrosphäre) so schädigt, daß die Qualität oder sogar die Möglichkeit menschlicher Existenz deutlich verringert wird. Eine weitere wichtige Quelle, aus der sich die Energie, die für die Arbeit an Veränderungen notwendig ist, speist, sind Unzufriedenheit und Ärger über politische, ökonomische, kulturelle Unterdrückung, Ausbeutung, Mißachtung - wobei teils die sexistische, teils die rassistische, teils die euro/angloamerikanisch-bornierte Komponente hervorgehoben wird. Gerade dort, wo sich wissenschaftlich tätige Individuen im Geflecht der verschiedenen Dualismen eher in den jeweils oberen Positionen befinden, also weniger einfach fremdbestimmter Unterdrückung unterliegen, scheint die Energie für die Suche nach Veränderung aus einem Leiden an der "inneren" Unterdrückung zu stammen, aus einem Absterben der eigenen Lebendigkeit, einer Verarmung des Lebens gerade durch die erfolgreichen dualistischen Spaltungen und Hierarchisierungen. Schmerz aus dem mehr oder minder diffusen Empfinden eines Mangels wie auch Sehnsucht nach "Heilung", nach Versöhnung werden genannt.
Hinsichtlich der Frage, wie das Unterfangen einer den Dualismus überwindenden Gewinnung und Verarbeitung von Erkenntnissen, von Wissensproduktion, genannt werden könnte, wird teils negierend von nicht-dualistischer, von nach-cartesianischer Wissenschaft oder positiv von neuer Wissenschaft, anderer Wissenschaft, Wissenschaft von Qualitäten, manchmal auch von holistischer Wissenschaft oder ähnlichem gesprochen. Manche der (gerade für ein neues VerstE4ndnis von Erkenntnisprozessen) skizzierten Orientierungslinien für Veränderungen - wie beispielsweise leiblich-mimetisch-sinnliche Ausrichtung, Betonung auf Beziehung und Bedeutung, Einbeziehung des Intuitiven, des Emotionalen und der Einfühlung, Spannung zwischen dem Konkreten, Einzelnen und dem Allgemeinen etc. - lassen an jene Merkmale denken, die bei der Trennung von Wissenschaft und Kunst der Kunst zugeordnet wurden. Eine (Wieder)Verbindung von Wissenschaften und Künsten, eine Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen könnte möglicherweise den Weg, in der Wissensproduktion Dualismus, Hierarchien, Verantwortungslosigkeit etc. zu überwinden, gangbar machen. Wissenschaften und Künste, die sich darauf einließen, würden sich selbstverständlich in so einem Prozeß selbst laufend verändern - eine Wissenskunst könnte das vorläufige Ergebnis sein. Statt konkurrierend nach der einen, noch dazu endgültigen universalen Weltformel zu suchen, könnte so die Pluralität erkenntnis-gewinnender, wissen-produzierender Herangehensweisen an die verschiedensten Wirklichkeits-Ausschnitte als mehrstimmige, als polyphone Komposition im Prozeß gesehen werden.
Allerdings ergäbe sich daraus - beim gegenwärtigen Zustand der Wissenschaften wie der Künste - keineswegs automatisch, daß die Fragen von Entscheidungsbefugnis, Verantwortung, Ethik einbezogen würden. Insofern das Reflektieren über ethische Fragen häufig in religiösen und/oder philosophischen Formen auftritt, müßte eine Wissenskunst Wege finden, auch diese abgespaltenen Teile (wieder) zu integrieren, in die gemeinsame Veränderung einzubeziehen.
In vielen Teilen der Welt bemühen sich engagierte Menschen in unterschiedlichsten Zusammenhängen darum, sich mit dem Bildungsproblem konstruktiv auseinanderzusetzen, ihren pädagogischen Auftrag "besser" zu erfüllen. Dabei entwickeln sie in beachtlichem Ausmaß pädagogische Kreativität. Viele dieser engagierten Bemühungen gehen - mehr oder minder ausdrücklich reflektiert - auf die Kreativität der Lernenden ein. Dabei wird immer wieder darum gerungen, eine wichtige Einsicht in pädagogische Praxis umzusetzen - nämlich jene, daß die Lernenden nur dann etwas von lebendiger Bedeutung lernen, wenn man ihnen Raum, Zeit und Gelegenheit gibt, ihre eigene Kreativität in positiver Weise zu verwirklichen und das auch zu würdigen. Und im Bemühen darum, die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern, praktische Lösungen für manche Seiten des Bildungsproblems zu finden, machen sich PädagogInnen oft genau jene Aspekte - einzelne oder mehrere - zum Thema, die in den Versuchen, die Unzulänglichkeiten und Begrenztheiten von Wissenschaft zu überwinden, behandelt werden. Gleichzeitig gewinnt man/frau nur selten den Eindruck, daß sich diese engagierten PädagogInnen der Diskussion um die Weiterentwicklung oder auch Überwindung von Wissenschaft bewußt sind - welche Diskussion zu ihren eigenen Anstrengungen oft wie parallel erscheint. Ich bin der Auffassung, daß solche Projekte bereits damit begonnen haben, die praktische Seite einer neuen Pädagogik zu entwickeln, welche mit der Herausbildung einer vielfältigen Wissenskunst korrespondiert, sogar zu ihr beiträgt.
Überall auf der Welt verändern sich Kulturen und Gesellschaften, verändern sich Verhältnisse zwischen Gesellschaften und zwischen den Menschen und der mehr-als-menschlichen Welt, in welcher wir alle leben. Dies alles erfordert auch die Veränderung der Vorstellungen und Praktiken von Wissen und von Erkenntnisgewinnung. Und dies erfordert auch veränderte Vorstellungen und Praktiken davon, wie Gesellschaften die Individuen ihrer nachwachsenden Generationen darin unterstützen, sich zu kompetenten Persönlichkeiten zu bilden - zu Persönlichkeiten, die in diesen verschiedenen Veränderungsprozessen so tätig werden können und wollen, daß den Menschen (und nicht nur den Menschen) ein gutes Leben möglich ist und eine Chance für weitere Entwicklung gewahrt bleibt. Die Perspektive auf die Probleme in Gesellschaft, Wissenschaft und Bildung kann die Einsicht befördern, daß veränderte, den laufenden und sich ankündigenden Prozessen angemessenere Vorstellungen und Praktiken nötig sind. Die Perspektive auf bereits begonnene Prozesse von Wissenskunst und neuer Pädagogik - wie keimhaft, unvollständig, widersprüchlich und fragil auch immer - kann eine vielversprechende Entwicklungsrichtung aufzeigen und auch die faktische Möglichkeit angemessenerer Vorstellungen und Praktiken.
Schon mit dem Wunsch nach der Überwindung der dualistisch-hierarchischen Spaltung fällt es leichter, die Vorstellung von statischen und "reinen" Kulturen aufzugeben und zu akzeptieren, daß alle Kulturen immer schon in Veränderung begriffen und mehr oder minder hybrid sind. Die Initiierung von Bildungsprozessen kann an verschiedenen Seiten ansetzen, um Prozesse der Verbindung und des Dialogs oder Polylogs zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen zu befördern.
© Gertrud Kamper (Berlin)
ANMERKUNG
Umfangreiche Ausführungen mit näheren Angaben zu Dualismuskritik, zu den Arbeitsstellen der Veränderungsvorschläge und zu Projekten pädagogischer Kreativität sind zu finden in Kamper, G. "Kreativität und Wissenskunst", Peter Lang 2003, auch einsehbar im Internet über www.eugwiss.udk-berlin.de/kamper => kreativität und wissenskunst => pdf-dateien.
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For quotation purposes:
Lenka Kucírková (Praha): Developing Intercultural
Relations in Connection with the Specialist Translation within
the European Integration Research Project. In: TRANS. Internet-Zeitschrift
für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/08_3/kamper15.htm