Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 15. Nr. Juni 2004
 

9.1. Kulturtourismus Kultur des Tourismus: eine Verbindung von Kulturen?
HerausgeberIn | Editor | Éditeur: Ingo Mörth (Universität Linz)

Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures


Touristen - Kulturschänder oder Retter in der Not?
Eine Untersuchung über die Vertretbarkeit von Ethnotourismus am Beispiel der Tuareg im Aïr-Massiv, Nord-Niger

Harald A. Friedl (Graz)
[BIO]

 

Abstract

Die Vorteile von Kooperationen zwischen Kultureinrichtungen im Allgemeinen und Museen im Besonderen und dem Sektor Tourismus scheinen zum Teil klar auf der Hand zu liegen: Kultur wertet das touristische Angebot auf und Tourismus liefert Geld für (die oft finanzielle nicht so gut gestellten) Kultureinrichtungen. Doch diese Beziehung ist in Wirklichkeit um einiges komplexer. Auf Seiten des Tourismus kann als klare Chance von Kooperationen die Schaffung eines für Touristen attraktiven Angebotes genannt werden. Durch ein qualitativ hochwertiges Ausstellungsprogramm etwa können zahlungskräftige Gäste angezogen werden, die bringen zusätzlichen wirtschaftlichen Nutzen für ein breites Feld an touristischen Anbietern. Die Kultureinrichtungen selbst können im Tourismus eine Chance sehen, um ein breiteres Publikum (als die einheimische Bevölkerung) anzusprechen und damit auch besser und kostendeckender - wenn nicht sogar gewinnbringend - arbeiten zu können. Ein weiterer Vorteil kann sein, sich besser zu präsentieren und ein Image aufzubauen. Doch nicht immer gelingt es, im Zuge von erfolgreicher und populärer Präsentation von Kultur, deren Authentizität zu wahren. Es wird innerhalb dieses allgemeinen Kontextes dargelegt, wie Museumsfachleute und Tourismusexperten solche Chancen und Vorteile - aber auch die Risiken und Nachteile von Kooperationen zwischen dem "Non-Profit"-Bereich Museum und dem "For-Profit"-Bereich Tourismus sehen. Die wechselseitigen Anforderungen werden im Detail entwickelt und Potenziale verbesserter Kooperation identifiziert. Als Perspektive ergibt sich abschließend das lebendige, seine fachgerecht gepflegten Bestände in interaktiven, multimedialen und multisensorischen Inszenierungen besucherorientiert präsentierende "Erlebnismuseum".

 

1. Ausgangspunkt: Die Frage nach der Vertretbarkeit von Ethnotourismus

Ist es vertretbar, als Tourist indigene Gesellschaften zu besuchen?

Ausgehend von dieser Frage verstehe ich unter Touristen - im Unterschied zu den klassischen Tourismus-Definitionen (vgl. etwa Cohen 1974, Smith 1977, Vorlaufer 1996, WTO, zit. in Roe et al. 1997: 12, Henning 1997, Prosser 1998, Burns 1999, Opaschowski 2002) - jene Menschen, die sich aus Bedürfnissen wie Lust, Neugier, Interesse, Sehnsucht oder ähnlichen Motiven freiwillig einer Ortsveränderung unterziehen. Touristen wollen eine fremde Welt "erfahren" (vgl. Leed 1993), ohne damit einen unmittelbaren Erwerbszweck zu verbinden. Hierin unterscheiden sich Touristen als Angehörige einer postmodernen Welt grundsätzlich von Angehörigen einer traditionellen Gesellschaft: Ein Tuareg-Nomade würde niemals auf die Idee kommen, Geld für eine Reise aus bloßer Neugier auszugeben oder gar aus Jux und Tollerei auf einen Berg zu steigen. Tuareg-Nomaden unternehmen lediglich Geschäftsreisen und Verwandtenbesuche, sie durchwandern die Wüste, um den harten Beruf eines Karawaniers auszuüben, ohne dabei irgendwelche Begeisterung für Dünen oder Sonnenuntergänge zu empfinden, und auf Berge steigen sie lediglich, um verirrtes Vieh zu finden. (Vgl. Spittler 1998: 231)

Für Touristen ist es darum erstrebenswert, möglichst "exotische" Ziele aufzusuchen, die hinsichtlich Landschaft und Kultur der einheimischen Bevölkerung in möglichst großem Kontrast zur eigenen, vertrauten Lebenswelt stehen. Dabei spielt Entfernung unter den heutigen Bedingungen einer postmodernen, globalen, fragmentierten Welt nur noch eine qualitative Rolle. So ist etwa der Ayers Rock in "Down Under", Australien, dem Österreicher heute "näher" als die nur wenige Tausend Kilometer entfernte Sahel-Stadt Agadez.

Die Frage der Vertretbarkeit touristischer Besuche bei indigenen Kulturen(1) resultiert aus der unter Tourismuskritikern lange Zeit verbreiteten und zuweilen heftig verfochtenen Annahme (vgl. Rotpart 1995, Suter 2000, Canestrini 2000, Suchanek 2000), indigene Kulturen würden durch Tourismus bedroht oder gar zerstört werden. Bei dieser Tourismusform erfolge ein Zusammenprall zwischen zwei völlig konträren Gesellschaftsstrukturen, einer vormodernen, traditional-segmentären einerseits und einer (post-)modernen, egalitären und liberalen andererseits; die an Dynamik überlegene Kultur des Westens würde die traditionelle Kultur durchdringen, überlagern und bis zur Unkenntlichkeit verändern; dabei würden Prozesse wie Demonstration, Assimilation und Akkulturation zur Verdrängung von traditionellen Werten führen (vgl. dazu Lüem 1985), was mit der Zerstörung der "bereisten" Kultur gleichzusetzen sei.

Die Tuareg in der Zentralsahara sind gleichsam der Inbegriff einer exotischen Kultur in einem extremen, für Europäer seit jeher faszinierenden Lebensraum. Die Tuareg gelten gleichsam als die Sahara-Bewohner par excellence. Die prachtvollen Bildbände und TV-Dokumentationen, in welchen die "Blauen Ritter der Wüste" mit ihren eindrucksvollen Salzkarawanen vor den mächtigen Dünen der Ténéré dargestellt werden, sind Legion. Gleichzeitig ist etwa seit den 60er Jahren in den Medien wiederholt vom Untergang dieser Kultur und von der "Letzten Karawane" die Rede(2), obwohl hinsichtlich der Karawanen für diesen Zeitraum keine signifikanten Veränderungen festgestellt werden konnten (Vgl. Spittler 2002: 27 f.). Unbestreitbar ist lediglich, dass sich die Lebensbedingungen der Tuareg in den letzten vierzig Jahren aufgrund von politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen sowie infolge zweier gravierender Dürrer grundlegend verändert haben. (vgl. Spittler 1989, Claudot-Hawad 1993, Bourgeot 1995)


Abbildung 1: Mythos Tuareg - eine blau verschleierte Wüstenvision

Während sich die Lebensbedingungen für traditionelle Kulturen in der Sahara verschlechtert haben, wurde es zunehmend einfacher, die Zentralsahara zu bereisen. Mittlerweile bietet eine wachsende Zahl europäischer Reiseveranstalter Pauschalreisen in den Niger an(3), die vor Ort von zahllosen heimischen Agenturen durchgeführt werden. Seit Jänner 2004 ist Agadez, das "Tor zur Ténéré", auch wieder per Direktflug von Paris aus zu erreichen. Auf dem Programm solcher Reisen stehen neben den obligaten Sonnenuntergängen in den Dünen stets auch die Besuche von Siedlungen oder Lagern der Tuareg-Nomaden.

 

2. Die sich wandelnde Sicht der Wissenschaft

Angesichts der generellen Befürchtungen des kulturellen Niedergangs der Tuareg drängt sich zwangsläufig die Frage auf, inwieweit "Tuareg-Tourismus" diesen Niedergang durch die vielfältigen potenziellen Auswirkungen des Tourismus in ariden Gebieten (vgl.Friedl 2002) beschleunigen kann. Wäre es letztlich Pflicht jedes verantwortungsbewussten Touristen, auf eine Reise zu den Tuareg zu verzichten, wie es sinngemäß André Heller vor 25 Jahren gefordert hatte(4)? Sucht man als unbedarfter Reisewilliger nach Antworten auf diese grundlegende Frage, so wird man in der Regel auf zwei konträre Ansichten stoßen:

Die Perspektive der Reiseveranstalter

Viele Reiseveranstalter kennen diese Region meist nur aus Katalogen oder bestenfalls aufgrund eigener touristischer Reisen. Dabei richtet sich ihr logisches Interesse auf den erfolgreichen Verkauf ihrer Produkte, weshalb sie die verbreiteten Klischees von den "stolzen" Tuareg bestätigen, sie stellen sie als besonders gastfreundlich dar und heben den Zauber ihrer Lebenswelt, der "Wüste", hervor. Insofern werden sie eine touristische Reise zu den Tuareg als unproblematisch beurteilen, solange man sich eines kompetenten Unternehmens (wie dem ihren) bedient, das die Begegnung mit der Wüste zum unvergesslichen Erlebnis machen wird.

Dass Tuareg in der Tourismuswerbung wie auch in Reisemagazinen letztlich zu austauschbaren Abziehbildern reduziert werden, die bestenfalls den Anblick von Dünen garnieren, resultiert aus einer wesentlichen Erfahrung. Die überwiegende Zahl der Sahara-Touristen ist weniger auf der Suche nach der Begegnung mit dem "edlen Wüstenritter" als vielmehr nach dem Erlebnis Wüste. Es ist der Mythos Sahara und die Ästhetik der Dünen, welche Europäer in diese Urlandschaft treibt. Das Interesse für die regionale Kultur ist zwar vorhanden, spielt aber nur eine nachgeordnete Rolle als zusätzliche "Abwechslung" im Reiseprogramm(5). Darum stehen in diesen Reiseangebote auch die landschaftlichen Aspekte im Vordergrund, und die Begegnung der Touristen mit Tuareg reduziert sich häufig auf den Kontakt mit den Allrad-Chauffeuren und den Köchen.

Eine wachsende Zahl von Spezialveranstaltern, von denen viele den Tuareg durch langjährige enge Kontakte und häufig auch durch engagierte Hilfsprojekte verbunden sind, weichen jedoch von diesem traditionellen Schema ab. Sie vermarkten die "authentische Begegnung" mit Tuareg als eigenes Reiseprodukt, indem sie die Tuareg als außergewöhnliche Menschen mit hervorragender Ortskenntnis präsentieren. Im Mittelpunkt solcher Reisen steht somit nicht mehr nur die Wüste als eine zu bezwingende, von westlicher Moderne verschonte Welt, sondern das Erlebnis der Sahara als eine "Welt der Tuareg", was am besten in Begleitung traditioneller "Wüstennavigatoren" per Kamel-Trekking zu bewerkstelligen ist. Die signifikant steigende Zahl der Angebote an Trekking-Touren im Vergleich zu Allrad-Touren(6) signalisiert den wachsenden Erfolg solcher Anbieter und die sich wandelnden Präferenzen der "neuen" Sahara-Touristen. (vgl. auch Popp 2000, 2001).

Der wesentliche Unterschied von Trekking-Touren gegenüber Allrad-Touren liegt in der bedeutenden Rolle der Tuareg als Betreuer und Führer für Menschen und Kamele und somit im höheren Grad der regionalen Wertschöpfung. Vor allem aber wird durch Trekking-Tourismus der Kontakt zwischen Touristen und der Bevölkerung zwangsläufig intensiviert, da diese Reisen im "Schritttempo" von statten gehen. Dadurch steht für Besuche von Nomaden-Lagern entlang der Reiserouten deutlich mehr Zeit zur Verfügung, und der Reisende hat keine Möglichkeit, sich in die schützende "environmental bubble" (Urry 1990: 836) des Fahrzeugs zurückzuziehen.


Abbildung 2: Kamel-Trekking in den Aïr-Bergen

Mögen auch die Kontakte zwischen Reisenden und Bereisten im Trekking-Tourismus häufiger und intensiver sein, für den Touristen selbst bleibt letztlich die einheimische Bevölkerung auf derselben Wahrnehmungsebene wie die Dünen: Tuareg als Attraktion, als Vehikel des Erlebnisses, als Projektionsfläche für eigene Sehnsüchte und Vorstellungen. Zur Überwindung dieses eurozentrischen Wahrnehmungshorizonts der Touristen wäre sehr viel mehr Zeit während einer Reise nötig. Doch derartige Voraussetzungen sind unter den Bedingungen einer Pauschalreise kann nicht zu erfüllen. Welcher Tourist hat schon vier und mehr Wochen Urlaub und das nötige Kleingeld zur Verfügung?

Insofern unterscheiden sich Kultur- oder Erlebnisreisen zu Indigenen nur graduell von klassischen Rundreisen. Die Strukturen des Tourismus, insbesondere seine kommerziellen Ziele und die damit verbundene Notwendigkeit der Erfüllung des Reisevertrags, ermöglichen die preiswerte körperliche Reise in exotische Welten. Das Erfolgsrezept dieser Reiseprodukte liegt in der Tatsache, dass die eigene Welt der Reisenden als mentales Sicherheitsnetz ständig mitgeführt wird: Stets bleibt der Tourist nur interessierter Beobachter, der die Szenerie vor seinem (fotografischen) Auge vorbeiziehen lassen kann. Niemals aber ist er gezwungen, sich auf die Menschen einzulassen, denn abhängig ist er nur von der Verlässlichkeit seines Veranstalters.

Aus eben diesem Grund unterliegen auch Reiseveranstalter, die möglichst umwelt- und sozialverträgliche Touren anzubieten versuchen, den Zwängen des touristischen Systems von Angebot und Nachfrage: Wollen sie ihre Produkte erfolgreich verkaufen, so müssen sie sich einer Sprache bedienen, die der Kunde versteht. Darum bleibt im Marketing oft nur wenig Platz für interkulturelle Zwischentöne.

Angesichts dieser Situation wird man als kritischer Reisender weitgehend ratlos bleiben. Man darf nun wählen, ob man dem Reiseveranstalter hinsichtlich seiner guten Absichten Glauben schenken will oder nicht. Es ist wohl anzunehmen, dass jene Tuareg, die unmittelbar im Tourismus arbeiten, dies auch freiwillig tun. Aber was ist mit den mittel- und langfristigen Folgen des Tourismus, was mit den soziokulturellen Auswirkungen?

Die Perspektive der Tourismuskritik

Die emanzipatorische und vor allem auch die populäre Tourismuskritik (vgl. etwa Adler 1988, Euler 1989, Hammelehle 1995, Bertram 1995) sieht dagegen keinerlei Anlass zur Ratlosigkeit. Sie setzt an den Rahmenbedingungen des Tourismus an und weist darauf hin, dass aufgrund der gravierenden Unterschiede im Bereich der jeweiligen Kulturen, der Lebenssituationen, der Wohlstandsniveaus und der Beziehungsauffassungen kein Verständnis zwischen den Kulturen möglich sei. Vor allem aber trage die Auffassung der Touristen von der großen Urlaubsfreiheit und die daraus folgende, weit verbreitete Missachtung lokaler Wertmaßstäbe zu soziokulturellem Wandel und Identitätsverlust der "Bereisten" bei. Das durch Tourismus erzielte Einkommen stehe gleichfalls in keinem Verhältnis zu den negativen Auswirkungen eben dieses Einkommens: Es beschleunige die Monetarisierung traditioneller Kulturen, fördere den Glauben an leicht zu verdienendes Geld, unterminiere somit die traditionelle Arbeitsmoral und trage zudem zu einer Folklorisierung traditioneller Rituale und Feste bei. Letztlich würden Indigene im touristischen Kontext immer nur zum Schauobjekt degradiert werden, weshalb ihre Vereinnahmung koloniale Züge trage und darum grundsätzlich abzulehnen sei.

Angesichts dieser zwei gegensätzlichen Positionen muss ein Rat suchender Tourist verzweifeln. Der Hauptgrund für diese scheinbare Unvereinbarkeit der Positionen von Touristikern und Tourismuskritikern liegt in deren gegensätzlichem Selbstverständnis. Während Touristiker in einer überwiegend ökonomisch fundierten Welt denken und agieren, argumentieren Tourismuskritiker, zu denen auch Ethnologen zählen, gleichsam für die Erhaltung ihrer zu erforschenden Welt.(7)

Die Perspektive der Entwicklungszusammenarbeit

Eine vermittelnde Position nehmen dagegen neuere Autoren ein, die das klassische Konzept des Kulturwandels und des Identitätsverlusts als simplifiziert und statisch zurückweisen (vgl. Burns 1999: 47 ff., Mayrhofer 1992: 213 ff., Rest 1995: 81 f., Thiem 1994, Henning 1997: 144). Als Tourismus in den 90er Jahre als Instrument der Entwicklungszusammenarbeit zur Integration marginaler Regionen wieder entdeckt wurde (vgl. Hagen 1995, Vorlaufer 1996, Steck/Strasdas/Gustedt 1999), mündete dies in eine breite Debatte über Ökotourismus (vgl. Weaver 1998, Fennel 1999) und zunehmend auch in eine stärkere interdisziplinäre Betrachtung dieser Problematik. Zu diesem Umdenken mochte auch der Umstand geführt haben, dass Vertreter beider Positionen zunehmend von einander abhängig werden: Immer mehr Ethnologen finden im Tourismus Beschäftigung, und Touristiker interessieren sich zunehmend für die Bewahrung indigener Kulturen, wenn auch abermals als ökonomische Ressource. Auch aus der Sicht der Entwicklungszusammenarbeit gewann - vor dem Hintergrund der fortschreitenden Verarmung der Landbevölkerung in der Dritten Welt - der wirtschaftliche Aspekt von "angepasstem" Tourismus an Bedeutung. Als "angepasst" werden solche Tourismusformen verstanden, die weitgehend auf Infrastruktur verzichten und insofern in maximaler Weise zur regionalen Wertschöpfung beitragen. Ein ausschlaggebendes Kriterium ist zudem die explizite Bereitschaft der betroffenen Bevölkerung für ein touristisches Engagement. Demgegenüber werden soziokulturelle Auswirkungen des Tourismus nunmehr differenziert und abwägend anstatt dogmatisch beurteilt(8).

Was also denkt die betroffene Tuareg-Bevölkerung über die Sahara-Touristen? Sind diese willkommen oder unerwünscht?

 

3. Die Position der Kel Timia

Im Herbst 1997 bereiste ich als Journalist die Tuareg-Region des nördlichen Niger, um über die Folgen der langjährigen Rebellion zu recherchieren. Auf Anregung der Wiener Tuareg-Referentin der "Gesellschaft für bedrohte Völker", Eva Gretzmacher, begleitete ich damals eine kleine Reisegruppe (acht Österreicher), die Frau Gretzmacher organisiert hatte und auch leitete. Damals trug ich wie jeder, der bereits von den "Tuareg" gehört hat die gleichen mythischen Bilder von einer faszinierenden und geheimnisvollen Ethnie, jener "Blauen Männer" und "Wüstenritter", in mir. Ich wusste, es waren Klischees, darum beabsichtigte ich, diese durch Gespräche mit Einheimischen zu hinterfragen und aufzubrechen. Insofern wäre für mich der Höhepunkt dieser Reise entsprechend dem Programm der Besuch des abgelegenen Bergdorfes Timia gewesen. Dort hielten wir jedoch nur kurz vor dem Dorf am Brunnen an, um unsere Wasservorräte zu erneuern und dann sogleich einige Kilometer weiter zum berühmten "Wasserfall"(9) zur Mittagspause zu fahren. Als Grund für diese mich enttäuschende Programmänderung wurde von der Reiseleiterin verlautbart, der Besuch des Dorfes mit der Reisegruppe würde die Intimität der Menschen stören und sei darum nicht zu vertreten.

Abbildung 3: Die Republik Niger in Westafrika.

Damals erschien mir diese Antwort plausibel und verantwortungsbewusst. Heute, sieben Jahre später - und nach einigen Forschungsaufenthalten in Timia - ist mir klar geworden, dass man einem Reiseleiter nicht alles glauben sollte! Welche tatsächlichen Motive damals hinter der Entscheidung der Reiseleiterin gestanden waren, die seit vielen Jahren mehrere Monate pro Jahr in Tuareg-Gebieten lebt, bleibt mir ein Rätsel. Tatsache ist, dass diese Begründung im völligen Gegensatz zu den Interessen der Kel Timia(10) steht, wie meine Befragung von 45 Personen aus Timia und dessen näherem Umfeld in der Zeit zwischen 1999 und 2001 ergab(11). Ob Dorfchef oder Karawanier, Ziegenhirtin oder Projektleiter, kein einziger Kel Timia äußerte den Wunsch, die Touristen mögen sich vom Dorf fernhalten. Vielmehr kritisierten 35 Personen(12) ausdrücklich das übliche Verhalten von Reisegruppen, die meiste Zeit abseits des Dorfes beim "Wasserfall" zu verbringen. Vor dem Dorf würden die meisten, wenn überhaupt, nur anhalten, um ihre Wasservorräte zu ergänzen. Dadurch verbliebe den Dorfbewohnern nichts weiter als die Abnutzung der Wasserpumpen und der aufgewirbelte Staub.

Abbildung 4: Das Tuareg-Dorf Timia in den Aïr-Bergen, Republik Niger

Befragt zu den klassischen Kritikpunkten am Dritte-Welt-Tourismus (unpassende Kleidung, respektloses Fotografieren und willkürliches Verteilen von Geschenken) stieß sich entgegen meinen Erwartungen daran nur eine verschwindende Minderheit. Nur 2 Personen sprachen explizit von störendem Verhalten. Eine siebzehnjährige Hirtin stieß sich am - selten vorkommenden - Nacktbaden bzw. an der spärlichen Kleidung von Touristen sowie an der Verteilung von Geschenken, was nach ihrer Ansicht die jungen Kel Timia zum Diebstahl anregen würde. Ähnliche Argumente brachte auch der zweite Kritiker, Aghali, vor. Er war der langjährige Assistent des deutschen Tuareg-Forschers Gerd Spittler, hatte bereits für zahlreiche Projekte gearbeitet und kennt auch Europa. Beide Kritiker wünschen trotz ihrer überzeugenden Rügen am Verhalten der Reisenden mehr Tourismus für das Dorf Timia.

Auf gezielte Fragen nach störendem Verhalten kritisierten acht der befragten Dorfbewohner die unangepasste Kleidung; sechs Personen stießen sich an der touristischen Fotojagd, wogegen 29 sich gern als Fotomodell zur Verfügung stellten. Einhellig war dagegen der Wunsch nach der Teilnahme von Touristen an traditionellen Festen, wobei deren fotografische Aktivität als wichtiger Werbeeffekt eingeschätzt wurde. In der Verteilung von Geschenken an Kinder sahen drei Personen die Ursache, dass Kinder die Touristen hemmungslos anbetteln. 13 Personen schrieben die Verantwortung dafür den Eltern oder den dörflichen Verantwortungsträgern zu. Neun Personen schätzten andererseits ausdrücklich die Verteilung von Geschenken, darunter auch stark modernisierte, gebildete Personen. Einem Großteil der Befragten waren die drei kritischen Bereiche weitgehend gleichgültig. Dagegen zog sich wie ein roter Faden der Wunsch durch die Antworten, man wolle mehr vom Tourismus profitieren, sowohl finanziell durch den Verkauf von Schmuck, kunstvoll geschmückten Lederprodukten und Erzeugnissen aus dem lokalen Gartenbau, als auch ideell durch Gespräche, Kontakt zu Europa, Abwechslung im monotonen Hirtendasein

Wagt man eine wissenschaftsdisziplinäre Grenzüberscheitung, so erscheint dieses Ergebnis vor dem Hintergrund Butlers Lebenszyklen von Destinationen (Butler 1980, 2000) oder des "Doxey's Irritex" (Doxey 1975; ein Index über die zunehmende Irritation der Bereisten bei wachsendem Tourismusaufkommen) keineswegs mehr so überraschend. Auch zahlreiche Studien über die Bevölkerung in österreichischen Tourismusorten (siehe z.B. Bachleitner/Penz 2000 über die Salzburger Tourismusregion) weisen ein typisches Muster hinsichtlich der Haltung gegenüber Tourismus auf.

Im Anfangsstadium des Kontakts mit Tourismus reagieren die Einheimischen in der Regel begeistert und hoffnungsvoll, bis infolge einer massiven Zunahme von Tourismusankünften eine Sättigung und letztlich die Übersättigung eintrete, die zu Widerständen seitens der Bevölkerung und auch zum Einbruch der Tourismuszahlen führe. Die Aufnahmekapazität der Bevölkerung und damit auch die soziokulturellen Ressourcen der Destination werden gleichsam verbraucht, doch könne dieser Prozess durch entsprechende Maßnahmen verlangsamt oder gar verhindert werden.

Was bedeutet dies für die Tuareg? Kann die gegenwärtige Form des Niger-Tourismus die Erwartungen der Kel Timia auch längerfristig erfüllen und ist sie insofern vertretbar? Oder unterliegen die Kel Timia einer gefährlichen Täuschung, indem sie in ihrem Urteil mögliche, mittelfristig destruktiv wirkende Effekte übersehen, woraus folgen würde, dass von organisierten Reisen zu den Tuareg abzuraten sei? Dazu bedarf es näherer Informationen über Besonderheiten der Kel Timia und des Tourismus im Niger.

 

4. Besonderheiten der Kel Timia

Die Kel Timia gehören der bedeutenden Tuareg-Gruppierung der Kel Ewey an, die etwa seit dem 16. Jahrhundert in den Aïr-Bergen siedeln, und die gegenüber anderen Tuareg-Gruppierungen einige Besonderheiten aufweisen (zum Folgenden vgl. Bernus 1993, Spittler 1993, Bourgeot 1995).

Abbildung 5: Das traditionelle Schamgefühl spielt bei den Kel Ewey-Tuareg noch immer eine bedeutende Rolle

Die Kel Ewey (wie auch die Tuareg insgesamt) haben seit ihrer Unterwerfung durch die französische Kolonialmacht im frühen 20. Jahrhundert einen grundlegenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel durchgemacht, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann. Für unseren Kontext wesentlich sind die ökologischen Krisen der 70er- und 80er-Jahre. Die damaligen verheerenden Dürren vernichteten die Herden, die Lebensgrundlage der Nomaden. Dadurch wurden viele junge Nomaden zu mittellosen und entwurzelten "Ischomars"(14). Wer von ihnen nicht in Flüchtlingslager ziehen wollte, suchte Arbeit auf den Ölfeldern in Algerien und Libyen. Viele folgten auch dem Ruf Gaddafis und traten in seine Islamische Armee ein.

 

5. Die Anfänge des Tuareg-Tourismus

Nach den Dürren entdeckten die Ischomars auch den Tourismus als neues Berufsfeld. Der junge und charismatische Mano Dayak mit seiner Agentur "Temet Voyages" hatte diese Möglichkeit eröffnet, und er war die treibende Kraft der "Targuisierung" des Niger-Tourismus. Bis zu diesem Zeitpunkt war das spärliche Aufkommen an Sahara-Touristen von einigen wenigen Europäern und einigen Haussa bedient worden. Aufgrund Manos guter Kontakte nach Europa und seiner Fähigkeit, den Mythos der Wüste und jenen der Tuareg als "Beherrscher der Wüste" zu instrumentalisieren, gelang es ihm, einen regelrechten Tourismus-Boom mit bis zu 3000 zahlenden Touristen pro Saison zu initiieren. Zu seinen Erfolgen zählte auch die Einrichtung einer direkten Charter-Linie von Paris nach Agadez sowie einmal jährlich die Stationierung der Rallye Paris-Dakar in der Sahel-Stadt Agadez.

Bezeichnend für Mano Dayaks Tourismus- Ideologie war seine ausdrückliche Aversion gegen Ethnotourismus, den er als "Zootourismus" (s. Dayak 1992: 78; Dayak 1996: 178) rigoros ablehnte. Nach seinem Konzept sollte allein die Vermarktung des Wüstentourismus die nötigen Devisen bringen, um die Dürre-geschädigte traditionelle Wirtschaft zu subventionieren, ohne die Bevölkerung mit dem Tourismus gleichsam zu "kontaminieren". Damals hatten die Tuareg-Nomaden noch kaum Erfahrung mit Tourismus und fürchteten sich generell vor Allrad-Fahrzeugen, über die zumeist nur die "Macht", also Staatsbeamte, verfügten. Die Erfahrungen der Tuareg gegenüber der "Macht" waren bis dahin sehr negativ. So sind etwa Nomadenkinder für den Schulbesuch unter Gewalteinsatz rekrutiert worden. Nomaden pflegten sich darum schon beim leisesten Motorgeräusch zu verstecken (Spittler 1998: 50).

Abbildung 6: Niger-Tourismus bedeutete in seinen Anfängen ausschließlich die Begegnung mit der Wüste

Der Tourismusboom kollabierte 1991, als eine Rebellion der Ischomars (zum Rebellionsverlauf vgl. Grégoire 1999) ausbrach. Auf Einladung des nigrischen Staates waren viele junge Männer aus Libyen zurückgekehrt und kamen wieder in schlecht organisierte Flüchtlingslager, anstatt wie versprochen mit Arbeit versorgt zu werden. Die Spannungen zwischen Ischomars und Militär eskalierten zu einem Massaker an Tuareg-Flüchtlingen durch das Militär, worauf sich Ischomars zu einer Rebellenfront zusammen schlossen, angeführt von Rhissa ag Boula, dem Buchhalter Manos. Kurz darauf wurde auch Manos Agentur behördlich geschlossen, und Mano übernahm selbst die Rolle des charismatischen Rebellenführers.

Die Tuareg-Rebellion zerfiel bald in zahlreiche unterschiedliche Fronten, die bestimmte Dörfer oder Familien repräsentierten und Sonderrechte zu erstreiten versuchten. Aufgrund dieser inneren Uneinigkeit zogen sich die Kampfhandlungen trotz zahlreicher Friedensverhandlungen und verträge bis 1997 hin. Letztlich trug der Druck der Bevölkerung über die Dorfchefs dazu bei, dass die letzten Rebellenfronten Ende 1997 ihre Waffen niederlegten.

Abbildung 7: Der Ausbruch der Tuareg-Rebellion ließ den Touristenstrom versiegen.

 

Für die Kel Ewey im Aïr hatte die Tuareg-Rebellion unterschiedlichste Folgen. Abgesehen von der vorübergehenden, weitgehenden Isolation von der Außenwelt hatten in dieser Zeit praktisch alle Entwicklungsorganisationen die Region verlassen, wodurch die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung katastrophal wurde. Zugleich erlebte die Bevölkerung eine Art soziokulturellen Modernisierungsschub. Viel mehr Eltern waren nunmehr bereit, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Unter Jugendlichen hatte sich - infolge des intensiven Kontakts mit den Ischomars - viele neue Vorlieben und Werte etabliert, etwa die Leidenschaft für die heroischen Rebellionsgesänge zu Elektrogitarren-Begleitung, aber auch gelegentlich uneheliche Kinder.

 

6. Der zweite Tourismus-Boom nach der Post-Rebellions-Ära

Zur Stabilisierung der Region hatten die EU und in weiterer Folge auch die Deutsche gtz (Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit) umfangreiche Projekte zur Integration der Flüchtlinge und zur Revitalisierung der regionalen Wirtschaft initiiert. Eine der wichtigsten Maßnahmen dabei war die Einbindung der Ex-Rebellen in die regulären Sicherheitskräfte. Viele dieser jungen Leute entdeckten jedoch den Tourismus als ihr neues "Kampffeld". Dies zeigte sich an den exorbitanten Agenturgründungen: knapp ein Dutzend hatte vor der Rebellion, über 70 bis zum Jahr 2001. Der neue Tuareg-Tourismus wies allerdings grundlegende Unterschiede gegenüber der ersten Boom-Periode auf:

Abbildung 8: Die Tourismus-Renaissance in Agadez: chaotischer Charme.

Diese vielfältigen strukturellen Mängel des Tuareg-Tourismus stehen einer geordneten und nachhaltigen Tourismusentwicklung entgegen. Auch liegt es in den Händen der Agenturen, inwieweit eine Integration der Bevölkerung entlang der üblichen Reiserouten möglich ist. Bislang werden jedoch die Tuareg-Siedlungen entgegen dem Wunsch ihrer Bewohner häufig unter dem Vorwand des Zeitmangels übergangen.

 

7. Tourismus als Devisenbringer

Agadez war früher das urbane Zentrum der Aïr-Tuareg und ist heute das administrative Zentrum der größten Region des Staates Niger. In den Dürreperioden wurde Agadez zur Rettung für viele Hungerflüchtlinge, was wesentlich zur massiven Bevölkerungsvermehrung der Stadt beitrug. Die wirtschaftliche Situation der Stadt, die im Wesentlichen vom Viehhandel, von Hilfszahlungen des maroden Staats und der westlichen Entwicklungsorganisationen abhängt, ist äußerst problematisch (vgl. Friedl 2000).

Abbildung 9: Der Verkauf von Tuareg-Schmuck ist eine der wichtigsten Einnahmequellen.

Abbildung 10: Auch Betreiber von Salzkarawanen sehen im Tourismus neue ökonomische Chancen.

Diese Auflistung verdeutlicht das bedeutsame wirtschaftliche Potenzial des Tuareg-Tourismus, dessen Nutzung jedoch die Kooperationsbereitschaft der Agenturen, aber auch die entsprechende Gestaltung der Reiserouten durch die europäischen Veranstalter voraussetzt. Die gegenwärtige Situation ist noch durch relativ begrenzte Kurzkontakte zwischen der Bevölkerung und den Touristen gekennzeichnet. Die damit verbundene geringere Wertschöpfung geht freilich auch mit dem geringen soziokulturellen Einfluss des Tourismus auf die Bevölkerung einher. Ist dieser Preis angesichts der eindeutigen Position der Kel Timia gerechtfertigt?

Abbildung 11: Bezahlte Vorführungen für Touristen sind unter Hirten begehrt.

 

8. Tourismus als potenzieller Zerstörer der Tuareg-Kultur?

Lässt sich eine Bilanz ziehen, inwieweit Tourismus zu negativen Entwicklungen bei den Kel Timia beiträgt? Seriös ist diese Frage kaum zu beantworten, weil die gesamte Lebenswelt der Kel Timia einem weitreichenden Wandel unterworfen ist. So wird von der Bevölkerung die Bereitstellung von Lastkraftwagen durch Hilfsorganisationen als eine der größten Errungenschaften der vergangenen Jahre bezeichnet. Durch diese Anbindung an die urbanen Märkte wurde für viele Hirten der Umstieg von der ertraglosen Karawanenwirtschaft auf die lukrativere Gartenbauwirtschaft möglich. Die Männer können das ganze Jahr bei ihren Familien verbringen, erzielen drei Ernten pro Jahr, und im Falle einer Dürre kann nach deren Ende gleich wieder produziert werden. Der Aufbau einer Dürre-geschädigten Herde benötigt hingegen mehrere Jahre.

Die Verdrängung der traditionellen Subsistenzwirtschaft durch die Einführung des Geldes und des Kriteriums der maximalen Produktivität ist eine Folge des enormen Bevölkerungswachstums. Die Einwohnerzahl des Einzugsgebiets von Timia stieg in den letzten 30 Jahren um 600 % auf rund 6.000 Personen! Der Mangel an Arbeitsplätzen wurde darum von den meisten der befragten Kel Timia als ihr größtes Problem betrachtet. Neue Probleme kommen auf Timia zu, denn mit der Ausweitung und Intensivierung der Bodennutzung geraten Gartenbauer und Hirten zunehmend in Konflikte um die Nutzung der knappen Böden, deren Ertragkraft sinkt. Und über diesen vergleichsweise kleinen Problemen hängt das Damoklesschwert des Klimawandels, dessen Auswirkungen - die Ausbreitung der Wüste und der Verlust an Biodiversität - die gesamte Bevölkerung elementar bedrohen. Angesichts dieser Sorgen wird die große Offenheit der Kel Timia für neue Einkommensquellen nachvollziehbar. Denn die seit den großen Dürren gepflogene Strategie, als Gastarbeiter nach Libyen zu ziehen, ist für die besonders heimatbezogenen Kel Timia hart und war in den wenigsten Fällen von wirtschaftlichem Erfolg gekrönt.(21)

Abbildung 12: Der Gartenbau als lukrativer Einkommenslieferant verdrängt die Karawane.

Seit dem Ende der Rebellion sind die Menschen mehr denn je bereit, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Mit den zusätzlichen Qualifikationen wird zumeist die Hoffnung auf bessere Aufstiegschancen verbunden, eine Hoffnung, die im Niger meist unerfüllt bleibt. Denn die jungen "Literaten" mögen zwar an gewissen modernen Kompetenzen gewinnen, doch der Staat Niger, selbst seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise(22), kann keine Jobs anbieten. Für die traditionellen Arbeiten sind sich die Schulabsolventen häufig zu gut, sie hoffen lieber auf Entwicklungsprojekte oder auf: Touristen.

Die jungen, scheinbar untätigen Menschen in Timia, die auf Kundschaft warten, sind nicht zu übersehen. Darum neigen manche Kel Timia zur Ansicht, der Tourismus sei verantwortlich für diese sinkende Arbeitsmoral der Jungendlichen, denen mehr am schnellen Geld als an harter Arbeit liege. Dabei wird die Bedeutung der Schule und der Rebellion, aber auch der Dürre als Modernisierungskatalysatoren übersehen. Zieht man noch die geringe Zahl der durchschnittlich 3.000 Touristen pro Jahr in Betracht, die sich auf etwa sechs Monate bzw. auf die 5000 km der wichtigsten Touristen-Routen verteilen, so wird die These vom Tourismus als "Kulturschänder" zunehmend fragwürdig.

Kommerzialisierungseffekte der traditionellen Feste konnten trotz des 2001 neu institutionalisierten "Festival de l'Aïr" in der Oase Iferouane(23) bislang ebenfalls nicht nachgewiesen werden. Vielmehr trug die enorme Popularität der Tuareg und ihrer "typischen" Insignien, der Gesichtsschleier "Tagelmust", spürbar zur Hebung des Selbstbewusstseins unter den Ischomars und den urbanen Tuareg bei: Heute wird in Agadez viel häufiger der Gesichtsschleier getragen als vor 20 Jahren, auch wenn sich der Wertehintergrund völlig verändert hat. War der Schleier früher Ausdruck des traditionellen Schamgefühls, so gilt es heute als "schick", einen Tagelmust zu tragen.

 

9. Risiken und Chancen des Tuareg-Tourismus: Verantwortung statt Laisser-faire

Die Umwelt- und Sozialverträglichkeit des Tuareg-Tourismus in seiner gegenwärtigen Form beruht paradoxerweise weitgehend auf seinen Konkurrenznachteilen gegenüber Algerien und Libyen. Hohe Kosten, schlechte Erreichbarkeit, mangelhaftes Marketing, katastrophale Kommunikationsverbindungen und der fehlende Komfort verhindern einen Massentourismus mit gravierenden Folgen, die in Algerien bereits spürbar wurden (vgl. Meier 2002). Denn völlig sauber und reibungslos läuft der nigrische Tourismus keineswegs ab. Immer wieder kommt es zu problematischen Interaktionen zwischen Touristen und Bevölkerung. Offensichtliche Respektlosigkeiten, wie rücksichtloses Fotografieren oder unpassende Kleidung, spielen eine vergleichsweise geringe Rolle. Weit problematischer ist die willkürliche Verteilung von Geschenken, insbesondere von Süßigkeiten und Medikamenten, was kurzfristig zu Zahnschäden bei Kindern oder zu Medikamentenvergiftungen bei Nomaden führen kann, mittelfristig jedoch strukturelle Schäden bewirkt. Durch die Beschenkung mit europäischen Medikamenten wird das Vertrauen der Bevölkerung in ihre traditionellen Heilmittel geschwächt und der Glaube an die Allmacht und Allwissenheit des Europäers gefördert.

Abbildung 13: Der fruchtbare Austausch zwischen den Kulturen ist möglich.

Derartige Verhaltensweisen wären durch fachkundige und verantwortungsbewusste heimische Führer ohne großen Aufwand zu regulieren. Doch über die dafür erforderlichen Kompetenzen verfügen nur wenige im Tourismus tätige Tuareg. Die meisten fühlen sich mehr der Zufriedenheit ihrer Kunden verpflichtet als einem abstrakten Respektsbegriff. Auch scheuen die Tuareg Konflikte mit ihrem "König Kunden", was sich in der Praxis als Laisser-faire-Strategie äußert. So konnte ich in Iferouane eine junge Dame beobachten, die in extrem knappen Shorts und schulterlosem T-Shirt durch das Dorf spazierte. Der Reiseführer, darauf angesprochen, rechtfertigte dieses Verhalten mit der großen Toleranz der Bevölkerung und dem Hinweis, dass es eben Touristen seien. Pikantes Detail: Der Reiseführer war niemand geringerer als der Präsidenten der nationalen Tourismusvereinigung ANPTH (Association nationale des professionnels du tourisme et de l'hôtellerie).

Gleichmaßen mangelt es auch den meisten Führern an Kompetenzen zur Vermittlung im interkulturellen Kontakt zwischen Touristen und Nomaden. Gespräche zwischen diesen kulturell so unterschiedlichen Gruppen werden zwar durch Übersetzungshilfe erleichtert, der Anstoß für solche Kontakte muss jedoch in der Regel vom europäischen Reiseleiter oder vom Touristen selbst kommen. Daher halten nur relativ wenige Agenturen in Timia, um zum Dorfbummel einzuladen. Die unkontrollierten Kontaktversuche von Touristen wiederum können wegen der großen kulturellen Unterschiede auch misslingen. Zwangsläufig verkommt ein unvermittelter Kontaktversuch zum Angriff mit der Kamera, hinter der der orientierungslose Tourist Schutz findet. Angesichts meiner vielfältigen Erfahrungen mit gravierenden Fehltritten von Touristen im direkten Kontakt mit Nomaden erscheint der Fotoangriff wahrlich als das geringere Übel.(24)

Durch den kulturell bedingten Kompetenzmangel der Tuareg-Führer wird eine wesentliche Chance vertan, zwischen Touristen und Einheimischen fruchtbare Begegnungen jenseits der reinen Handelsgespräche anzubahnen. Wo aber solche Kontakte etwa unter meiner Obhut - zustande gekommen waren, verspürten die Touristen meist große Sympathie und Respekt für einheimische Personen, es entstand das Bedürfnis wieder zu kommen oder gar eine bestimmte Person oder deren Dorf in irgendeiner Form zu unterstützen. Solche Beispiele beweisen letztlich, dass dem Sahara-Tourismus enorme konstruktive Potenziale zur Förderung der regionalen Bevölkerung innewohnen.

 

10. Fazit

Der Tuareg-Tourismus im Niger ist in seiner derzeitigen Form ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor für das urbane Zentrum Agadez. In der umliegenden Region trägt Tourismus bislang nur punktuell zur wirtschaftlichen Förderung gewisser traditioneller Wirtschaftsformen bei. Tourismus ist ein wichtiger Integrationsfaktor für Ischomars bzw. Ex-Rebellen und insofern eine bislang erfolgreiche Methode, das Wiederaufflackern der Rebellion präventiv zu unterbinden.

Das Touristenaufkommen ist bislang zu gering, um über diese punktuellen Vorteile hinaus von regionaler ökonomischer Relevanz sprechen zu können. Darin liegen zugleich die große Schwäche und die wesentliche Stärke des Tuareg-Tourismus. Denn auf der Basis der derzeitigen, ungeregelten Tourismusentwicklung könnte ein massenhaft auftretender Tourismus, bewerkstelligt etwa durch eine regelmäßige und billige Charterverbindung mit Paris oder Frankfurt, zu äußerst bedenklichen ökologischen und sozio-kulturellen Problemen führen. Die wesentlichsten Probleme würden dabei wohl aus der mangelhaften Umverteilung der Tourismuseinnahmen und den daraus resultierenden Konflikten entstehen. Im Extremfall könnte dies sogar zu einem Anstieg der bislang nur gelegentlich auftretenden Überfälle auf Touristen führen.

Vom "Kulturzerstörer Tourismus" lässt sich in diesem Kontext bis auf weiteres keinesfalls sprechen, ganz abgesehen davon, dass die Realität der "Tuareg-Kultur" kaum den europäischen Vorstellungen vom "Ritter der Wüste" entspricht (vgl. Sommer 2004). Spezielle Tourismusformen allerdings, insbesondere das Kameltrekking, sind aufgrund ihres speziellen Ablaufs jedoch besonders geeignet, zur Stärkung der traditionellen Kultur und Wirtschaft und damit auch zur Bekämpfung von Landflucht und anderen den Kulturwandel beschleunigenden Phänomenen beizutragen.

Die Frage nach der Vertretbarkeit von Reisen zu den Tuareg lässt sich somit grundsätzlich bejahen. Daraus folgt aber auch, dass eine generelle Verurteilung oder Befürwortung von "Ethno-Tourismus" zu indigenen Gesellschaften niemals generell, sondern stets nur fallweise beurteilt werden kann. Worauf es heute, 25 Jahren nach dem von André Heller geforderten Reiseverbot für Touristen, ankommt, ist nicht mehr das "ob", sondern das "wie" des Reisens (vgl. Friedl 2002a).

Was an dieser Stelle unbeantwortet bleiben muss, ist die Frage, ob es denn überhaupt sinnvoll sei, traditionelle Einrichtungen wie etwa die Salz-Karawane fördernd zu erhalten, obwohl sie von den Betreibern selbst nicht mehr als rentabel betrachtet werden. Würde dies nicht bedeuten, Strukturen, deren traditionelle "Bedeutung" in Auflösung begriffen ist, künstlich zugunsten der Sehnsucht des Europäers nach der guten alten Welt und nach ästhetischen Reizen zu erhalten? Oder sollte vielmehr die Regel gelten, dass Chancen zur Erhaltung traditioneller Strukturen in der Dritten Welt solange zu nutzen seien, als jede andere Überlebensvariante für diese Menschen noch ungewisser sei?

Die Beantwortung dieser Frage ist wohl rein akademischer Natur und wird an der sich wandelnden Realität der Tuareg nichts ändern. Was aber die Förderungswürdigkeit von Tuareg-Tourismus anbelangt, so lässt sich die gesamte Problematik ganz einfach auf den Punkt bringen:

Akademische Kritiker können organisierte Reisen zu den Tuareg nicht verhindern. Das vermögen nur Terroristen und Banditen. Was Kritiker aber verhindern können, ist die konstruktive Kanalisierung von touristischem Wildwuchs, der zu Benachteiligung, Konflikten und damit auch zu Terror und Banditentum führen kann, wie die Entwicklung in Algerien zeigte(25).

Abbildung 14: Der Autor während einer traditionellen Hochzeit bei den Kel Timia.

© Harald A. Friedl (Graz)


ANMERKUNGEN

(*) Anm. des Herausgebers: Der Text des Autors wurde (hinsichtlich Zitationsweise und ergänzender Bemerkungen in den Fußnoten) redaktionell bearbeitet.

(1) Im folgenden Ethno-Tourismus genannt; zur Definition von Ethno-Tourismus vgl. Kievelitz 1989.

(2) Vgl. die Chronologie des europäischen Tuareg-Bildes in Henry 1996, S. 265.

(3) Gemäß meinen eigenen Untersuchungen boten in der Saison 2003-04 die zwanzig größten französischen und deutschen Sahara-Reiseunternehmen mehr als 600 Touren an

(4) André Heller 1989 auf dem internationalen Tourismusforum in Lausanne, zit. in: Scherer 1995, S. 96 f.

(5) Dies ergab die Befragung von 56 Touristen in der Region Agadez.

(6) Das Verhältnis liegt mittlerweile bei etwa 50:50, wobei manche Veranstalter bereits einen Anteil von 80-100 % an Trekking-Touren aufweisen.

(7) So hatte der französische Anthropologe und Tuareg-Kenner André Bourgeot scherzhaft gemeint, er werde seinen Forschungsschwerpunkt auf Zentralasiens Nomaden verlegen, dort gebe es weniger Touristen

(8) Zur diesbezüglichen Rolle des Trekking-Tourismus in Wüstengebieten vgl. Popp/Hamza 2000, S. 4 ff.

(9) Bei diesem Rinnsal handelt es sich um eines der wenigen ganzjährig fließenden Gewässer im Aïr.

(10) "Kel Timia" bedeutet in der Tuareg-Sprache Tamaschek "Leute von Timia". Exkurs zu Sprache und Schrift der Tuareg (eingefügt vom Herausgeber): Die Sprache der Tuareg wird im Norden als Tamahak, im Süden als Tamaschek (Tamasheq) bezeichnet. Insgesamt existieren 7 Dialekte, die zwar im groben einen allgemeinen Zusammenhang besitzen, sich jedoch oft sehr in Grammatik und der Bedeutung einzelner Wörter unterscheiden (Im Aïr wird der Dialekt Tayert gesprochen). Bedingt durch die Handelsbeziehungen beherrschen viele Tuareg zusätzlich die offizielle Handelssprache Westafrikas, Haussa. Eine Besonderheit weisen die Enad'en (die Kaste der Schmiede, deren frühere Aufgabe das Schmieden von Schwertern für die "Blauen Ritter" und ihre Raubzüge war; heute leben diese Handwerker vom Herstellen von Schmuck und Souvenirs für Touristen und Einheimische), da sie eine Geheimsprache (Temet) besitzen, deren Kenntnisse sie nur innerhalb ihrer eigenen Schicht weitergeben. Die Tuareg verwenden als traditionelle Schrift das Tifinagh, hervorgegangen aus dem altlybischen Alphabet. Dieses besteht je nach Region aus 21 bis 27 streng geometrischen Schriftzeichen. Vokale fehlen, die Wortrichtung ist ebenfalls nicht festgelegt, d. h. man kann von oben nach unten, rechts nach links und umgekehrt schreiben. "Leider gerät das Tifinagh immer mehr in Vergessenheit und es ist zu befürchten, daß diese Schrift in den nächsten Jahrzehnten aussterben wird." (http://home.t-online.de/home/Petra.Bode/sprache.htm, Zugriff 30. 5. 2004)

(11) 33 Männer und 12 Frauen im Alter zwischen 17 und 67 Jahren (Altersschnitt 39,8 Jahre) aus allen in Timia vertretenen Berufen: Hirten, Karawaniers, Lehrer, Handwerker, Touristiker, Schüler, Projektleiter, Politiker etc. Ca. 60 % befinden sich nur vorübergehend in Timia. 23 Personen haben nie eine Schule besucht.

(12) 10 hatten diese Frage übergangen.

(13) (Anm. des Herausgebers, nach Rücksprache mit dem Autor): "asshak", verdeutscht zu"Eschek", ist eigentlich der Überbegriff, der für die Kel Ewey Werte wie Würde, Stolz und die Beherrschung vonVerhaltensregeln zusammengefasst. Innerhalb des "Eschek" gilt als die wichtigste Verhaltensnorm das "tekaraqit",übersetzbar mit ,Scham" oder "Zurückhaltung". Der Autor berichtete, dass in seinen Interviews die Gesprächspartner zumeist nur von "Eschek"und fast nie von "tekaraqit" gesprochen hätten

(14) Berberisierte Form des frz. Wortes "Chomeur", Arbeitsloser.

(15) Dies gilt auch für die Agenturen selbst, von denen nur eine Hand voll über fundiertes Informationsmaterial für ihre Führer verfügt.

(16) Zu den allgemeinen Hintergründen der Überfälle in der Aïr-Region und besonders des Überfalls auf eine österreichische Gruppe im Februar 2004 durch die algerische GSPC vgl. Friedl 2004.

(17) Die Tatsache, dass dieser Agentur-Chef über ein großes Haus in Agadez und mehrere moderne Allrad-Fahrzeuge verfügt, legt die Vermutung nahe, dass der Agentur-Chef bereits den westlichen Mythos von der Nomadenromantik und von der "Schlechtigkeit" des Tourismus übernommen hat.

(18) Vgl. die heroisierenden Darstellungen solcher Unterfangen von Gartung 1987 oder Perrotti 2002.

(19) Vgl. http://www.lesamisdetimia.org/afrique/adherer/pourquoi_adherant.htm (Zugriff 20. 5. 2004)

(20) Dieses Phänomen, wonach die Angehörige der postmodernen, globalen Gesellschaft zwar die eigenen Nachbarn nicht mehr kennen, dafür aber ein Dorf bei den Tuareg leidenschaftlich fördern, bezeichnet Ulrich Beck (1997: 119) als "delokalisierte Solidarität": "Wie die Armut und die Gewinne wird auch die Barmherzigkeit global", weil man zunehmend "ortspolygam" (ebd., S. 129) lebe und liebe.

(21) Vgl. die Studie über die Libyen-Gastarbeiter von Vilt 2000 sowie Grégoire 1999, S. 226 ff.

(22) Der Staat finanziert seine Investitionsausgaben zu 95 % und die laufenden Kosten bis zu 60 % durch Auslandshilfen. Die Auslandsschuld liebt bei über 1,3 Mrd. US$ (vgl. Adamou 1999, S. 211 f.).

(23)  Iferouane liegt 150 km nördlich von Timia und ist das Verwaltungszentrum des Ende der 80er Jahre definierten Aïr-Ténéré-Bioreservats, dem mit rund 75.000 km2 größten Naturschutzgebiet Afrikas.

(24) So hatte z. B. eine Reisende von einer Nomadin auf ihre Handzeichen hin einen Ring erhalten und dies als Geschenk aufgefasst. Als sie von mir über ihren Irrtum aufgeklärt wurde, warf sie der Nomadin den Ring wütend vor die Füße.

(25) Zu den Hintergründen der Entführung von 32 größtenteils deutschen und österreichischen Touristen in der algerischen Sahara im Jahr 2003 vgl. Friedl 2004


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9.1. Kulturtourismus Kultur des Tourismus: eine Verbindung von Kulturen?

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For quotation purposes:
Harald A. Friedl (Graz): Touristen - Kulturschänder oder Retter in der Not? Eine Untersuchung über die Vertretbarkeit von Ethnotourismus am Beispiel der Tuareg im Aïr-Massiv, Nord-Niger. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 15/2003. WWW: http://www.inst.at/trans/15Nr/09_1/friedl15.htm

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