Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 15. Nr. | November 2005 | |
10.4. Virtualisierung von Raum,
Wahrnehmung und Kultur Buch: Das Verbindende der Kulturen | Book: The Unifying Aspects of Cultures | Livre: Les points communs des cultures |
Thomas Cohnen (Kaiserslautern)
Bereits ein flüchtiger Blick in einschlägige Fachzeitschriften für Fotografie oder auch einfach nur in die Werbeprospekte und Schaufensterauslagen von Fotogeschäften lässt erkennen, welche enorme Entwicklung die Digitalfotografie in den letzten Jahren vollzogen hat.
Längst sind digitale Kameras mit Auflösungsvermögen, die das analoge Filmmaterial in den Schatten stellen, zu erschwinglichen Preisen und damit auch für Hobby- und Amateurfotografen erhältlich. Zudem gehört es für immer mehr Entwicklungslabors heute schon zum Standardangebot, entwickelte Filme mit einem geringen Aufpreis zu digitalisieren und dem Kunden neben den üblichen Papierabzügen eine CD-ROM mit den gespeicherten Bildern zukommen zu lassen, um so auch den Besitzern konventioneller Fotoapparate die Möglichkeiten zu eröffnen, die die digitale Fotografie ihrem Anwender bietet: variable Archivierung, rasche Reproduktion mit dem heimischen Drucker und v.a. die computer-gestützte Bildbearbeitung.
Denn auch Bildbearbeitungssoftware ist mittlerweile so leistungsfähig und dabei so günstig geworden, dass sie jedem Hobbyfotografen im Besitz eines heute üblichen Rechners ein breites Spektrum manipulativer Möglichkeiten erschließt, wie es bislang dem Bereich professioneller Bilderzeugung vorbehalten war. Wer heute eine Werbefotografie in einer Illustrierten betrachtet, kann fast sicher davon ausgehen, dass sie mit einer Digitalkamera aufgenommen, auf jeden Fall aber mit Hilfe des Computers mehr oder weniger aufwendig nachbearbeitet worden ist: Augen und Zähne werden weißer, kleine Falten getilgt, die Lippen voller und leuchtender in ihrer roten Farbe. Wohl kaum eine Fotografie aus der Werbebranche ist heutzutage nicht mehr durch technische Manipulation geschönt oder - will man es bösartig sagen - verfälscht. Dieses ist im Großen und Ganzen bekannt und wird in den breiten Kreisen der Rezipienten auch weitgehend akzeptiert - man erwartet von der Werbung schließlich nichts anderes.
Dass aber auch dokumentarische Fotos, deren Wirklichkeitsgehalt man doch vertraut, keinem geringeren manipulativen Zugriff zugänglich sind, lässt den einen oder anderen vielleicht doch mit einem mulmigen Gefühl innehalten. Zeigen die Fotografien in der Zeitung tatsächlich noch das, was sie vorgeben zu zeigen? Glauben wir noch zu Recht an die Faktizität der Inhalte fotografischer Abbildungen? Denn das Tatsächliche zu zeigen, unverstellt und in seiner ganzen Fülle, ist doch der originäre Anspruch der Fotografie, seitdem sie in Form der Daguerreotypie von dem Physiker Dominique Francois Arago am 3. Juli 1839 in einer Ansprache vor der französischen Deputiertenkammer einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
"Ein Vorteil, den die Erfindung der Fotografie gebracht hat, ist der Umstand, daß sie es uns ermöglicht, in unsere Bilder eine Vielzahl kleinster Details aufzunehmen, die die Wahrheit und Realitätsnähe der Darstellung steigern helfen und die kein Künstler so getreu in der Natur abkopieren würde," schreibt Henry Fox Talbot, als Schöpfer des Negativ-Positiv-Verfahrens stets gemeinsam mit Daguerre als Erfinder der Fotografie genannt, in seinem 1844 erschienen Buch "Der Stift der Natur"(1) und bringt damit nicht nur eben diesen Anspruch der Fotografie auf Realitätsnähe zum Ausdruck, sondern erläutert in nuce auch, worauf er sich gründen lässt.
Wenn Talbot nämlich darauf hinweist, dass die fotografische Darstellung die Natur getreuer kopiert als eine von Künstlerhand hervorgebrachte es vermag, führt er die Objektivität der Fotografie auf die Ausschaltung jeglicher subjektiven Instanz im fotografischen Prozess zurück. Die vollkommene Mechanisierung der Bildherstellung, wie sie in der Fotografie durch die Entwicklung lichtempfindlicher Trägerschichten erreicht worden ist, hat für Talbot dazu geführt, dass sich die Dinge gleichsam selbst, also ohne Vermittlung durch einen stets interpretierenden Menschen darstellen.
Damit wurde ein Verständnis von Fotografie geschaffen, wie es noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa von Frederick Evans vertreten wurde:
"Die Fotografie ist ein Mittel, Atmosphäre und Detailreichtum der Natur nicht durch Linien, durch Lavuren oder andere konventionelle graphische Zeichen, sondern durch eine Wiederholung der Sache selbst anzudeuten."(2)
Und eben weil "der Akt des Fotografierens eine relative Unabhängigkeit vom Körper des Fotografen besitzt"(3), traut man auch heute noch der einzelnen Fotografie zu, eine Tatsache objektiv wiederzugeben - die Verwendbarkeit von Fotografien als Beweisstücke vor Gericht mögen dafür nur der augenfälligste Hinweis sein.
Ein Mittel zur objektiven Wiedergabe der faktischen Wirklichkeit - wenn man die Definition der Fotografie so strikt formuliert, scheint es fraglich, ob die digitale Fotografie - zumindest in ihrer manipulierten Form - überhaupt als Fotografie bezeichnet werden kann. Verlieren also digitale fotografische Bilder in dem Moment, in dem sie einer Nachbearbeitung oder gar weitergehenden Manipulation unterzogen werden, ihren Status als Fotografien?
Voraussetzung für eine solche Konsequenz wäre freilich, dass die theoretische Bestimmung der Fotografie zumal in den ersten Jahrzehnten nach ihrer Einführung mehr ist als ein aus dem damaligen Geist des Positivismus heraus entwickeltes Argument zur Legitimation und Propagierung eines neuen Mediums.
Aber hat der damals und seitdem immer wieder formulierte und heute noch verinnerlichte Anspruch jemals uneingeschränkte und unwidersprochene Gültigkeit besessen?
Ein neuerlicher Blick in die Dokumente der Geschichte der Fotografie lässt dies fraglich erscheinen.
Lewis Hine, wohl einer der bekanntesten Vertreter der frühen sozialdokumentarischen Fotografie, also einer Sparte der Fotografie, in deren Wahrheit auch heute noch ein hohes Maß an Vertrauen gesetzt wird, stellt etwa während eines Vortrags 1909 fest:
"Die Fotografie zeichnet ein gesteigerter Realismus aus; sie besitzt eine innere Anziehungskraft, die den anderen Mitteln der Illustration fehlt. Aus diesem Grund glaubt der normale Zeitgenosse, daß die Fotografie nicht lügen kann. Natürlich wissen Sie und ich, daß dieses grenzenlose Vertrauen in die Fotografie oft brutal erschüttert wird, denn wenn Fotografien auch nicht lügen, so können doch Lügner fotografieren."(4)
Was Hine hier in den Blick nimmt, ist die besondere Rolle, die der Fotograf beim Akt des Fotografierens trotz aller Mechanisierung immer noch spielt. So unabhängig dieser Prozess auch von seinem Körper abläuft, so wenig also das Verfahren der fotografischen Bildproduktion in seiner Hand liegen mag - der Fotograf behält es doch weitgehend im Griff. Und zwar insofern, als er durchaus das apparative Programm, das der Bilderzeugung zu Grunde liegt, innerhalb bestimmter, keineswegs enger Grenzen steuert.
Sowohl die Wahl des Ausschnitts, der Perspektive, evt. auch der Beleuchtungsverhältnisse vor Betätigen des Auslösers wie auch die Auswahl einzelner Bilder aus der Fülle der Abzüge nach dem Entwickeln und Vergrößern des Filmmaterials eröffnet dem Fotografen eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Beeinflussung der Bildwirkung. Beträchtlich erweitert werden diese noch durch das Retuschieren von Negativen, ein Verfahren, das sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit unter den Portraitfotografen erfreute und unter Kunstkritikern durchaus als Mittel anerkannt war, Fotografien malerischer zu gestalten und sie dadurch als neue Kunstform anerkennenswerter zu machen.
Die prominentesten Beispiele für retuschierte Fotos aus dem Bereich der politischen Dokumentarfotografie sind wohl heute noch jene Bilder aus der Stalin-Zeit, auf denen Trotzki und andere unliebsame Gegner des Diktators einfach getilgt wurden, nachdem sie bei ihm in Ungnade gefallen waren.
Auch wenn Hine von diesen Formen des Lügens mit Fotografien noch nichts wissen konnte, so bringt er doch pointiert zum Ausdruck, was schon vor ihm zahlreiche Fotografen immer wieder betont haben, um sich als Künstler Anerkennung zu verschaffen: dass auch die Fotografie zahlreiche Möglichkeiten der kreativen Gestaltung des Bildes enthält - und damit auch zu dessen "Verfälschung".
War Fotografie damit in gewisser Hinsicht nicht immer schon eher ein Mittel zur Konstruktion als zur Abbildung der Wirklichkeit gewesen? War Fotografie also nicht immer schon virtuell?
Die Beantwortung dieser Frage hängt im Wesentlichen davon ab, wie man die Begriffe der Virtualität einerseits und der Wirklichkeit andererseits versteht.
Der Begriff des Virtuellen hat durch die Computerwissenschaft und -technologie Eingang in den populärsprachlichen Gebrauch gefunden. In dem Maße, in dem Computer das Leben in unserer Gesellschaft zunehmend bestimmen, ist denn auch immer häufiger von Virtualität und Virtualisierung die Rede: Organisationsprozesse in Firmen werden virtuell vollzogen, Fabrikationsabläufe virtuell gesteuert, Geldgeschäfte virtuell abgewickelt. Und in den Chat-Rooms des Internet werden Beziehungen, ja sogar Identitäten virtuell.
Vor allem im Rahmen der Wendung "virtuelle Realität" hat das Virtuelle dabei den Charakter eines Gegensatzes zum Wirklichen gewonnen, was durchaus in seiner ursprünglichen Bedeutung begründet liegt.
Vom lateinischen virtus - "Tugend", "Kraft", "Tüchtigkeit" abgeleitet bezeichnet virtuell das, was zwar der Möglichkeit nach vorhanden, aber eben noch nicht verwirklicht, also noch nicht fähig ist zu wirken. Als zusätzliche Bedeutungskomponente findet sich daher auch die Übersetzung "scheinbar" (so etwa im Brockhaus, 8. Auflage). Eine virtuelle Realität ist demnach eine Wirklichkeit, die erst noch eine werden muss, weil sie noch im Zustand des Möglichen verharrt. Von der Wirklichkeit als dem Inbegriff dessen, was ist, weil es verwirklicht wurde, hebt sich das Virtuelle dabei als das Scheinbare und Uneigentliche ab.
Doch wie steht es tatsächlich um diesen Gegensatzcharakter zwischen dem Virtuellen und dem Wirklichen? Verkennt die Behauptung eines solchen Konkurrenzverhältnisses nicht, dass ´Wirklichkeit` immer schon ein fragwürdiges Konzept war?
Die Unterscheidung von bloß virtueller (also scheinhafter) und eigentlicher (wahrer) Wirklichkeit verrät in der Tat ein Denken, das sich nach dualistischen Ordnungsprinzipien organisiert, ein Denken, wie es bei Parmenides seine vorbildhafte Ein- und bei Platon seine systematische Ausführung erfahren hat. So verwundert es denn auch nicht, dass die Metaphern aus Platons Höhlengleichnis bis heute die Grundlagen einer Kritik an den elektronischen und zumal computergestützten Medien bilden, für die Virtualität auf eine "Auslöschung des Wirklichen"(5) hin angelegt ist und daher als dessen Bedrohung begriffen werden muss. Die Relativierung der Realität, wie sie in der Neuzeit bereits mit der Erfindung der Zentralperspektive durch die Malerei der Renaissance eingeleitet wurde, scheint dabei vergessen zu werden. Deren Einsicht, dass Wirklichkeit nicht einfach gegeben ist, sondern sich immer nur vom Standpunkt eines Betrachters aus erschließt, scheint ebensowenig Berücksichtigung zu finden wie Kants Diktum, wonach wir die Welt nicht so erkennen, wie sie ist, sondern wie sie uns erscheint, oder schließlich Nietzsches "Abschaffung der wahren Welt". Das Argument, dass das Bild einer einheitlichen Realität längst einer "Pluralisierung und Diversifikation der Wirklichkeit"(6) gewichen ist, wird denn auch immer wieder angeführt, um die polare Unterscheidung von virtueller und nicht virtueller Realität als unhaltbar zurückzuweisen. Mit dem Hinweis, dass die Realerfahrung nie ganz von der Illusionserfahrung zu trennen gewesen ist, da Erlebnis- und Wahrnehmungsformen immer schon von Mustern der Imagination geprägt waren - zunächst durch Religion und Ritual, später durch die Kunst und heute eben durch die elektronischen Medien(7) - wird eine dualistische Scheidung von wirklich und virtuell als unangemessen qualifiziert.
Ist die Fotografie so gesehen also tatsächlich nicht immer schon virtuell gewesen, da auch die ihr zu Grunde liegenden Wahrnehmungsformen von imaginären Mustern geprägt waren und sind?
Wäre es aber in diesem Zusammenhang dann überhaupt noch gerechtfertigt, von einer Virtualisierung der Fotografie infolge des Einsatzes der Computertechnologie in diesem Bereich zu sprechen und damit zu meinen, dass die Fotografie ihrer originären Fähigkeit, Wirklichkeit getreu wiederzugeben, verlustig geht?
Stellt die Fotografie also nicht einfach nur eine apparative Weiterentwicklung ihrer analogen Form dar, die die immer schon existierenden Manipulationsmöglichkeiten lediglich quantitativ erweitert?
Oder hat durch ihre Digitalisierung die Fotografie nicht doch eine neue Qualität erhalten, die sie von ihrer bisherigen Erscheinungsweise radikal unterscheidet.? Dann aber stellt sich die Frage, worin diese besteht und mit welcher Begrifflichkeit sie sich angemessen rekonstruieren lässt.
Wer die fototheoretischen Schriften der jüngeren Zeit sichtet, bemerkt rasch, dass immer wieder Beschreibungsmodelle Anwendung finden, die entweder direkt der Peirceschen Zeichentheorie entlehnt sind oder sich doch stark an diese anlehnen.(8) Dies hat auch seinen guten Grund. Denn nicht zuletzt war es Peirce selbst, der erstmals seine Zeichentheorie auf die Fotografie anwandte und damit ihre Tauglichkeit zu deren Beschreibung bewies.
Nach Charles Sanders Peirce vollzieht sich jegliches Denken und Erkennen in Zeichen. Ein Zeichen ist dabei für ihn etwas, was für etwas anderes steht und für jemanden Bedeutung besitzt und damit als Stellvertreter für etwas fungiert. Damit diese Repräsentationsfunktion erfüllt werden kann muss dreierlei gegeben sein: das Zeichen selbst, das Zeichen in Beziehung zu seinem Objekt und das Zeichen in Beziehung zu seinem Interpretanten, d.h. zu einem interpretierenden Bewusstsein, das Zeichen und Objekt in einem semiotischen Prozess aufeinander bezieht und so dafür sorgt, dass das Zeichen als etwas Bedeutendes überhaupt zustande kommt.
Zeichen besitzen also eine triadische Struktur, wobei jeder dieser drei Aspekte des Zeichens nochmals trichotomisch untergliedert werden kann. Für die weitere Betrachtung mit Bezug auf die Fotografie in ihrer analogen bzw. digitalen Form können die Differenzierungen des Zeichen- und des Interpretantenaspekts außer Acht gelassen werden. Es genügt, sich die Einteilung des Objektaspekts in Ikon, Index und Symbol näher vor Augen zu führen.
Ikons sind für Peirce Zeichen, die mit ihren Objekten in einem Ähnlichkeitsverhältnis stehen. Sie stellen das Objekt dank eigener Qualitäten dar, was impliziert, dass das Objekt nicht wirklich existieren muss, sondern fiktiv sein kann.
Indizes stehen mit ihren Objekten in einer physischen Verbindung, was bedeutet, dass sie auf ihre Objekte angewiesen sind, auch wenn sie letztlich eine individuelle, vom Objekt abgelöste Existenz führen.
Symbole schließlich stehen in einer konventionalisierten Beziehung zu ihren Objekten; sie werden erst dadurch zu Zeichen, dass sie als solche interpretiert werden.
Aus dieser kurzen Zusammenfassung seines Zeichenmodells dürfte verständlich werden, dass Peirce die Fotografien in ihrer analogen Form der Zeichenklasse der Indizes zuordnete.(9)
Demnach handelt es sich bei der traditionellen, d.h. fotochemisch erzeugten Fotografie um die bildhafte Repräsentation eines Objekts, mit dem sie über die vom Objekt reflektierten Lichtstrahlen in einem direkten physischen Kontakt gestanden haben muss, damit sie überhaupt zustande kommen konnte. Im Foto als indexikalischem Zeichen hat das reale Objekt gleichsam seine Spuren hinterlassen, weshalb wir ihm auch wenigstens eine gewisse Ähnlichkeit mit dem dargestellten Objekt zutrauen. Mag das Foto das abgebildete Objekt auch noch so inszeniert zur Anschauung bringen und damit unfähig bleiben, es in seinem vom fotografischen Blick unabhängigen Sein zu zeigen, so bezeugt es als "Emanation des Referenten"(10) nichtsdestotrotz, dass es im Moment der Aufnahme real existiert hat: "Jede Photographie ist eine Beglaubigung von Präsenz."(11)
Bei der digitalen Fotografie verhält es sich ganz anders. Das Bild repräsentiert nicht mehr ein reales Objekt, sondern Bits, also Informationseinheiten in Form binärer Zustandspaare der Art 0 oder 1, aus oder an, wahr oder falsch. Die Bildpunkte entstehen damit nicht mehr auf der Grundlage einer physischen Beziehung des Mediums zur außermedialen Realität, sondern innermedial auf der Basis mathematischer Zuordnungen: "Was dem Bild vorangeht, ist nicht der Gegenstand (die Dinge, die Welt ...), das abgeschlossene Reale, sondern das offensichtlich unvollständige und approximative Modell des Realen, also seine durch reine Symbole formalisierte Beschreibung."(12) Daher wäre es auch angemessener, im Zusammenhang mit digitalen Fotografien eher von Präsentationen als von Repräsentationen zu sprechen. Denn hier wird nicht mehr real Dagewesenes (erneut) vorstellig gemacht, sondern von Maschinen künstlich Hergestelltes, dem nichts Reales mehr vorangehen muss. An die Stelle der Wirklichkeitsbezeugung der analogen tritt damit die Simulation der Wirklichkeit durch die digitale Fotografie. Digitale Fotografien stellen nicht das Wirkliche dar, wie es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in seiner abgeschlossenen Gegebenheit zeigt. Seine "immanente Veränderbarkeit"(13) verleiht dem digitalen Foto einen originär experimentellen Charakter, der bewirkt, dass es stets unfertig bleibt und infolgedessen immer nur Mögliches präsentieren kann. Insofern erfährt die Fotografie durch ihre Digitalisierung also durchaus eine wesentliche Veränderung, die man mit Recht als ´Virtualisierung´ beschreiben kann.
Dass die meisten Hobbyfotografen ihre digitalen Fotoapparate im Alltag nicht anders benutzen als ihre analogen, stellt diese Diagnose nicht in Frage. Auch wenn es auf den ersten Blick so erscheint, als wäre bloß das Speichermedium ersetzt worden, als würden die Objekte mithin auch weiterhin ihre Spuren hinterlassen, nur eben nicht mehr auf fotosensiblen Schichten, sondern auf elektronischen Chips, so hat sich doch eine entscheidende Verschiebung vollzogen.
Während nämlich der Zustand des belichteten und entwickelten Negativs selbst die Rekonstruktion des Prozesses erlaubt, der den Bildträger in diesen Zustand versetzte (und damit auch Manipulationen offenbart), ist dieser Nachvollzug beim Chip nicht mehr möglich. Natürlich kann dessen informationeller Zustand von einem Objekt durch physischen Kontakt erzeugt worden sein, er muss es aber nicht mehr notwendigerweise. Er kann auch vollständig maschinell produziert sein - ohne Vorhandensein irgendeines Objekts.
Demnach muss der Fotograf bei seiner Motivsuche sein Motiv auch nicht mehr konkret aufsuchen, er muss mit dem Objekt seiner Abbildung nicht mehr zusammengetroffen sein, wie es für das Erstellen eines fotochemischen Abbildes noch unbedingte Voraussetzung war. Stattdessen könnte er das Bild auch aus Versatzstücken komponiert oder gar pixelweise konstruiert haben.
Die Art und Weise seines Zustandekommens ist also für das digitale Bild prinzipiell nicht mehr nachvollziehbar. So kann es kaum überraschen, dass auch die digitale Fotografie nicht vom Misstrauen verschont bleibt, das den anderen elektronischen Medien ob ihrer Virtualität entgegenschlägt. Denn auch hier wird nun das Wirkliche durch das Mögliche in Form der Projektion einer Software substituiert. Unabhängig von der Beantwortung der Frage, ob digitale Fotografien streng genommen überhaupt noch als Fotografien bezeichnet werden können, bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass digitale Fotos mit dem Verlust ihrer indexikalischen Beziehung zum Objekt ihrer Darstellung den Charakter des Dubitativen erhalten: "Das Dubitative, das als geneigt zu zweifeln oder als dem Zweifel anheimgegeben definiert wird, war in der Fotografie zwar lange schon gegenwärtig, nun aber stellt es ihren springenden Punkt dar."(14)
Dass Fotografien infolge ihrer Digitalisierung zweifelhaft geworden sind, zeigt, dass sich ihre Rezeptionsweise grundlegend verändern muss. Offensichtlich ist die lange gepflegte Unterscheidung "zwischen dem Foto als dokumentarischem Beweisstück und dem Foto als Gegenstand der Kunst"(15) (in der Peirceschen Terminologie: zwischen dem Foto als Index und dem Foto als Ikon) hinfällig geworden, freilich ohne dass dies den digitalen Fotografien ohne weiteres anzumerken wäre. Denn auch in ihrer digitalisierten Form treten die Fotos weiterhin auf, als wären sie jene indexikalischen Zeichen, die sie vormals uneingeschränkt waren, solange es sich nicht um Produkte der Kunst handelte. Die Fotografie scheint sich also zunehmend nahtlos in das Unternehmen der computergestützten Medien einzufügen, um uns "mehr und mehr ein künstliches Universum entstehen" zu lassen, "das immer unsichtbarer und unbegreifbarer wird"(16) und so die Wirklichkeit durch ihre Simulation zu ersetzen. Mit der Virtualisierung der Fotografie scheint sich also eine Entwicklung fortzusetzen, die auf eine Tilgung der Wirklichkeit in ihrer wie auch immer empfundenen Widerständigkeit hin angelegt ist.
Welche weiter reichenden Folgen dies für das Welt-, aber auch Selbstverständnis von uns Fotorezipienten haben wird, wäre zu diskutieren.
© Thomas Cohnen (Kaiserslautern)
ANMERKUNGEN
(1) Henry Fox Talbot, Der Stift der Natur (1844), zitiert nach: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie I. 1839-1912, München 1999, S. 62
(2) Frederick Evans, Glas gegen Papier (1905), zitiert nach: Kemp, Theorie...I, a.a.O., S. 244
(3) Boris Groys, Das Versprechen der Fotografie. In: Katalog zur Ausstellung "Das Versprechen der Fotografie - Die Sammlung der DG Bank. München 1998, S. 28
(4) Lewis Hine, Sozialfotografie: Wie die Kamera die Sozialarbeit unterstützen kann. Ein Lichtbildvortrag (1909), zit. nach: Kemp, Theorie...I, a.a.O., S. 271
(5) Jean Baudrillard, Illusion, Desillusion, Ästhetik. In: S. Iglhaut, F. Rötzer, E. Schweeger, Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität. Ostfildern, Cantz, 1995, S. 92
(6) Stefan Münker, Was heißt eigentlich: "Virtuelle Realität"? In: S. Münker, A. Roesler (Hrsg.), Mythos Internet. Frankfurt/M. 1997, S. 118
(7) Vgl. Wolfgang Welsch, "Wirklich". In: S. Krämer (Hrsg.), Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien. Frankfurt/M. 2000, S. 205
(8) Als Beispiel sei nur genannt: Rosalind Krauss, Das Photografische: eine Theorie der Abstände. München 1998
(9) Vgl. Ch.S.Peirce, Semiotische Schriften. Bd. I, hrsg. und übersetzt von C. Kloesel und H. Pape, Frankfurt/M. 1986, S. 193
(10) Roland Barthes, Die helle Kammer. Frankfurt/M. 1989, S. 90
(11) Barthes, a.a.O., S. 97
(12) Edmont Couchot, Die Spiele des Realen und des Virtuellen, in: Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Hrsg. Von Florian Rötzer. Frankfurt/M. 1991, S. 348
(13) Peter Lunenfeld, Digitale Fotografie. Das dubitative Bild. In: Paradigma Fotografie. Bd. I, hrsg. von Herta Wolf. Frankfurt/M. 2002, S.165
(14) P. Lunenfeld, a.a.O., S. 167
(15) P. Lunenfeld, a.a.O., S. 170
(16) E. Couchot, a.a.O., S. 351
10.4. Virtualisierung von Raum, Wahrnehmung und Kultur
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