Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Juni 2006 | |
6.6. Das Jiddische als Kulturvermittlung |
Astrid Starck Adler (Basel, Schweiz)
[BIO]
Als Vermittler jüdischer und nicht-jüdischer Kulturen spielt Jiddisch eine interessante, vielseitige und verbindende Rolle. Überall nämlich wo eine jiddische Kultur und Literatur von Jiddischsprechern und -sprecherinnen geschaffen wurde, zuerst in West- und Osteuropa, später in den Emigrationsländern - in Nord- und Südamerika, Südafrika, Australien und Israel(1) -, trug sie sowohl die Züge der "alten Heimat"(2) als auch diejenigen des Gastlandes; mit anderen Worten umfasste sie gleichzeitig das Eigene und das Fremde. Hinzukommt, dass von der jüdischen Aufklärung, der sogenannten Haskalah, an in Europa eine jüdische Literatur und Kultur in der jeweiligen Landessprache geschaffen wurde. Es kam zu einer erstaunlich reichen und vielfältigen literarischen Produktion. Der Prozess, der sich infolge der Emigration im 19. Jahrhundert entwickelte und sich im 20. Jahrhundert durchsetzte, hat zu einer jiddischen Weltliteratur und -kultur geführt, für welche die Bezeichnung "Jiddischophonie" mir äußerst angebracht scheint. Zuerst möchte ich kurz auf den Begriff Jiddischophonie eingehen und ihn mit demjenigen der Francophonie, der ihr «Pate» gestanden hat, vergleichen. Später werde ich dann die Jddischophonie am Beispiel Südafrikas gründlich untersuchen. (3)
Das Wort Francophonie stammt aus dem Jahre 1880 und wurde vom französischen Geographen Onésime Reclus (1837-1916) geschaffen, um Leute und Länder zu bezeichnen, die sich aus ganz unterschiedlichen, meist historisch-politischen Gründen, der französischen Sprache bedienten. So war das Vorhandensein des Französischen in der Schweiz auf Bündnissen, in Kanada auf Emigration, in den ehemaligen Kolonialstaaten auf Eroberungspolitik zurückzuführen. Heutzutage umfasst die Francophonie zahlreiche Länder auf mehreren Kontinenten. Im zentralistisch-orientierten Frankreich galt lange Zeit nur eine orts-(Paris) und schichtgebundene Sprache (Aristokratie und Bourgeoisie) als korrekt. Alles andere wurde als fehlerhaft und geschmacklos gebrandmarkt. Heute ist es anders und die verschiedenen Länder, die nun zur Francophonie gehören, erheben Anspruch auf einen gewissen Partikularismus, was eine interessante Vielfalt zur Folge hat, denn Sprache und Literatur tragen jeweils die Züge des Landes, aus dem sie hervorgehen oder hervorgegangen sind. In unserer multikulturellen Gesellschaft wird nun die Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit gepriesen und gepflegt, wofür die frankophone Literatur mit ihren unzähligen Werken aus den verschiedensten Ländern (Frankreich, Belgien, Luxemburg und der Schweiz) und Erdteilen (Nord- und Westafrika, der Karibik, Kanada, Vietnam usw.) ein hervorragendes Beispiel liefert. Lässt man von der Globalität dieser Produktion ab, um wiederum jedes Land einzeln, sowie jeden Schriftsteller separat ins Auge zu fassen, so fällt einem auf, wie sich Originalität und Spezifität durch Land- und Geschichtsgebundenheit in den Werken widerspiegeln. Neben der frankophonen Literatur gibt es in den mehrsprachigen Ländern gleichzeitig Literaturen in den jeweiligen Landessprachen (z.B. auf Arabisch, in afrikanischen oder kreolischen Sprachen, auf Englisch, Vietnamesisch usw.). Ist für einen in Frankreich geborenen und ansässigen Franzosen Französisch die einzige Sprache, über die er verfügt, so hat ein aus der französischen Karibik Gebürtiger z. B. die Wahl zwischen mindestens zwei Sprachen, Französisch und Kreolisch. Greift er zur französischen und nicht zur kreolischen Sprache, so hängt das von komplexen Faktoren ab, nicht zuletzt von der Leserschaft, die er erreichen will, und von der Schicht, welcher er angehört. Es gibt jedoch zweisprachige Schriftsteller wie Raphaël Confiant, die sowohl auf Kreolisch als auch auf Französisch schreiben und dazu ihr kreolisches Werk auf Französisch übersetzen.(4) Das wesentlichste Merkmal jedoch der frankophonen Literaturen, die von einem mehrsprachigen Hintergrund herrühren, ist der Prozess der «Übersetzung des Eigenen» ins «Fremde» Französisch. Dieser Prozess, obwohl in einem minderen Masse, existiert auch in den mehrsprachigen Provinzen Frankreichs (in der Bretagne, im Elsass wo Elsässerdeutsch, aber auch Jiddisch und Jenisch hinzukommen, im Baskenland usw.): da wird im Grunde genommen auch die «Muttersprache» auf Französisch «übersetzt», oder, vom französischen Standpunkt aus gesehen, das «Fremdsprachige» ins «Einheimische». Dabei geht es hier um einen sprachlich-kulturellen Übersetzungsprozess. Somit entsteht dann ein subtiles, äußerst bereicherndes Wechsel- und Abwechslungsspiel. Exemplarisch dafür sind z. B. die Schriftsteller Patrick Chamoiseau aus der Martinique und Ahmadou Kourouma aus der Elfenbeinküste.
Während Französisch als edle Schrift- und Kultursprache galt, haftete der jiddischen Sprache von Anfang an etwas Berüchtigtes an, weil sie als zweitrangig eingestuft und minderwertig empfunden wurde: als verschriftete Umgangssprache galt sie zuerst als «weiblich»(5), dann ausschließlich als Volkssprache. Dauernd wurde sie dem Hebräischen, der «Ursprache», untergeordnet. Da sie mit keinem Land zusammenfiel, wurde sie lange nicht als Landessprache registriert,(6) was zur Zeit des starken, an ein Territorium gebundenen Nationalgefühls, wie es dem 19. Jahrhundert eigen war, einerseits als Hindernis angesehen werden konnte, andrerseits jedoch von großem Vorteil war, wirkte sie doch als grenzüberschreitend und übernational. Als Sprache Westeuropas, die sich im Osten weiterentwickelt hatte, war Jiddisch zuerst eine europäische Sprache gewesen: die Sprache der aschkenasischen Juden. Dann, infolge der massiven Emigration, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte, schaffte es diese Minderheitssprache, zu einer «Weltsprache» zu werden. Und dies bis heute, wenn auch, infolge der Vernichtung, in einem weit geringeren Maße. Stützt man sich auf die aktuellen Ergebnisse des «Yidishn veltrats far yidisher shprakh un kultur», so kann man auf der ganzen Welt die Orte lokalisieren, wo Jiddisch weitergepflegt oder wiedereingeführt wird. Dies betrifft die Emigrationsländer, aber auch die ehemaligen ursprünglich jiddischsprachigen Gebiete in Osteuropa, die heute sozusagen wieder «jiddischisiert» werden. Ein interessantes Verfahren, das berücksichtigt werden muss und im Vergleich zur Einführung des modernen Hebräisch in Palästina/Israel untersucht werden sollte. Die wichtigste Voraussetzung zur Erhaltung und Neubelebung einer Sprache ist der Zustand und das Niveau seiner Literatur. Deswegen schaffen gegenwärtige Schriftsteller, die bisher in einer anderen Sprache geschrieben haben, neue Werke und greifen zur jiddischen Feder, um somit der jiddischen Sprache neues Leben einzuflößen und die Literatur zu bereichern (ich denke hier zum Beispiel an den gegenwärtig in Israel lebenden Dichter Lev Berinski, sicherlich einen der größten heutzutage). Dass es nach der Schoah zu keinem Stillstand kam, sondern zu einer Weiterführung und -entwicklung von Sprache und Literatur, ist zwei Faktoren zu verdanken: einerseits dem Überleben bedeutender jiddischer Schriftsteller wie Avrom Sutzkever und Itzik Manger in Israel oder Isaac Bashevis Singer in den Vereinigten Staaten, andrerseits dem Vorhandensein einer regen jiddischen Kultur in den jeweiligen Emigrationsländern. Überall auf der Welt erhoben sich Stimmen auf Jiddisch, sogar in Deutschland, in München, wo David Wolpe, ein gebürtiger, in Dachau inhaftierter Litauer, nach seiner Genesung als Sekretär des Penclubs das literarische Leben von Neuem organisierte und die Veröffentlichung von Büchern förderte.(7) Über den Umfang und das Ausmaß der literarischen Produktion der Nachkriegszeit kann man nur staunen, umso mehr, wenn man sie mit dem unaufhörlichen Diskurs über das Verschwinden der Sprache vergleicht.
Die Einführung und Entwicklung der jiddischen Sprache und Kultur in den Emigrationsländern bis zum Zweiten Weltkrieg beruhte auf verschiedenen, komplexen und oft entgegengesetzten Faktoren. Einerseits spielte die Erinnerung an die alte Heimat und die Aufrechterhaltung der Verbindung mit den Zurückgebliebenen eine wichtige Rolle. Jedoch waren die Emigrationsländer als Zufluchtsort aus Elend und Pogrome ein günstiges Sprungbrett für berühmte Autoren, ihr bereits in Europa begonnenes and erfolgreiches Werk zu vervollkommnen, dies vor allem in Amerika. Jüngeren, noch unbekannten Autoren erlaubten sie, in die Modernität einzutreten und die neuen Zustände, die sie vorfanden, zu schildern: aus den literarischen, künstlerischen und musikalischen Strömungen schöpfend, ließen sie sie in ihr eigenes, auf Jiddisch geschriebenes Werk einfließen. Umgekehrt bildete die jiddische Literatur und Kultur eine Art unterschwellige Basis für diejenigen, die später in der landesüblichen Sprache wie z. B. Englisch schrieben. In beiden Fällen haben wir es mit einem Prozess der Übersetzung zu tun, einer Übersetzung aus der eigenen Umgangssprache Jiddisch in eine «fremde», übernommene «Kultursprache», Englisch, Französisch usw. Allen voran aber steht eine «ursprüngliche» Kultur, die aus dem Hebräischen stammt, über Jiddisch vermittelt wurde und nun in die jeweilige Landessprache mündet. Jiddisch fungiert als Ausdrucksmittel entweder ausschließlich der yidishkayt oder aber der Weltliteratur, ihrer Probleme und Experimente. Denn Jiddisch bewirkte schon immer eine interessante, gratwandernde Symbiose zwischen dem Eigenem und dem Fremden. Es bietet bekanntlich keine in sich geschlossene, sondern eine nach aussen offene Kultur, die in sich die unzähligen und vielfältigen kulturellen Austausche widerspiegelt, die seit eh und je aus den verschiedenen Gast- und Emigrationsländern hervorgingen. Diese führten zu einer Aufeinanderschichtung verschiedener Ebenen, die es nun abzutragen gilt, um diesem geologischen Prozess unter dem gemeinsamen Nenner der Sprache auf die Spur zu kommen. Unter diesen Blickpunkt des Wechselspiels und Austausches zwischen Jiddisch und den jeweiligen anwesenden Kulturen soll der Begriff der Jiddischophonie gestellt werden. Wir werden nun das weniger bekannte,(8) von mir seit längeren Jahren erforschte Beispiel Südafrikas anführen, um das zu illustrieren, was ich unter Jiddischophonie verstehe.(9)
Die multikulturelle Gesellschaft Südafrikas, so wie wir sie heute seit dem Ende der Apartheid kennen und die als Regenbogengesellschaft bezeichnet wird, eine Bezeichnung, die sich sowohl auf die Hautfarbe als auch auf die Anwesenheit verschiedener Sprachen und Kulturen bezieht, gliedert sich in eine Weltanschauung ein, die vom ausgehenden 20. Jahrhundert institutionalisiert wurde. Der Begriff des Multikulturellen und der Mehrsprachigkeit ist ein intellektueller Begriff. Er ermöglicht es, die auf Überbewertung und Verherrlichung beruhende Andersartigkeit oder aber den auf Verachtung und Minderwertigkeit basierenden Unterschied als Werturteilsfaktor aufzuheben und im Gegenteil die Porosität der Kulturen und der Sprachen zu analysieren, um das Eigene und das Fremde aus der Perspektive eines wechselseitigen Prozesses zu erforschen und darüber hinaus als identitätsschaffenden Katalysator wahrzunehmen. Es geht also um eine Identitätsproblematik, um eine phänomenologische, könnte man behaupten, denn sie beruht auf dem dialektischen Prozess der Wahrnehmung des Aussenstehenden - des Fremden - einerseits und des Bewusstseins des Nahestehenden - des Eigenen - andrerseits. Dieses äusserst komplizierte, sowohl individuell als auch gesellschaftlich bedingte Verfahren wirft folgende Fragen auf: Wie steht es mit der Annerkennung der verschiedenen Kulturen? Geht sie vom Prinzip der Gleichheit und Ebenbürtigkeit aus? Verfällt sie nicht einem unbewussten Eurozentrismus, der eine implizite Hierarchie einführt, die innerhalb des "Multi" eine Rangordnung etabliert und mehr auf die Unterschiede denn auf die Verschiedenartigkeit aus ist? Wie kann man sich einer jahrhundertealten Gewohnheit der Deutung - der Missdeutung - entziehen? Seit eh und je waren es gerade die kulturellen Verzweigungen und Übergriffe, die Verflechtungen und Grenzüberschreitungen, welche zu jenen Merkmalen führten, die letzten Endes als "Bricolage", als puzzleartig-zusammengesetztes Gefüge das Spezifische an den Kulturen ausmacht. Dieses Ineinanderfließen, diese Wechselbeziehungen möchten wir nun an einem typischen Beispiel illustrieren: am Beispiel des Jiddischen in Südafrika und dessen wenig bekannter literarischer Produktion.(10) Eben durch diesen außereuropäischen Stempel aber gewinnt die jiddische Sprache, die als "Schmelzsprache" an sich schon eine spannende Schaffung ist, noch an Ausprägung, denn ihr wird somit eine zusätzliche Dimension verliehen: über die Funktion als "Ursprache", als Erinnerungssprache hinaus, wird ihr die Rolle einer "Entdeckungssprache" zuteil, die neue Aspekte, neue Elemente in sich aufnimmt, um die fremden südafrikanischen Verhältnisse widerzuspiegeln.(11) Diese beiden Sprachschichten stehen in einem fruchtbaren Spannungsfeld zueinander: zwischen der ehemaligen Heimat, der alter heym, und der neuen Wirklichkeit, a heym oyf dos nay, versuchen sie eine Symbiose herzustellen. Überall, wo sich die jiddischsprachigen aschkenasischen Juden, die im 19. und im 20. Jahrhundert von Osteuropa auswanderten, niederließen, vollzog sich derselbe Prozess: in Südafrika, in Südamerika und in anderen Ländern auf der Welt. Ins Leben gerufen wurde eine multikulturelle jiddische Literatur, die, das Eigene und das Fremde beinhaltend, als Teil des gesamtjiddischen Schaffens zu betrachten ist und dem Begriff der "Jiddischophonie" entspricht.
Nach Südafrika emigrierten die "litauischen" Juden - sie bildeten die Mehrheit der Emigranten, aber unter ihnen befanden sich auch russische und polnische Juden - erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, denn die Dutch East India Company ließ am Anfang nur Protestanten einwandern. Die ersten jüdischen Ansiedler stammten größtenteils aus England, Deutschland und Holland und drückten sich in den sogenannten Kultursprachen aus. Erst in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts, mit dem Strom der russischen Einwanderer, die vor den Pogromen flohen, und der litauischen Juden, die das Elend fortgetrieben hatte, tat sich der Wunsch nach jiddischsprachigen Organen - Vereinen (Yidisher Arbeter Club),(12) Presse (Di Proletarishe Shtime, Dos Naye Vort, Dorem Afrike) Literatur und Theater (Yidisher Literarisher Fareyn) -, kund. Sie wurden dann auch geschaffen, nicht zuletzt unter dem Einluss der lithauischen Juden, für die Jiddisch als Kultur- und Erziehungssprache eine vorherrschende Rolle spielte(13). Es ist bemerkenswert, dass bis heute eine südafrikanische Literatur auf Jiddisch erscheint.(14) Zu erwähnen wäre zuerst die wichtige langjährige literarische Zeitschrift Jewish Affairs, die viermal im Jahr in Johannesburg erscheint und sich mit südafrikanischen jiddischen Texten und deren Übersetzung auf Englisch befasst.(15) Dann die vor kurzem durch den Peretz Verlag in Tel Aviv veröffentlichte Autobiographie des Dichters David A. Volpe, Ikh un mayn velt, der am Anfang der fünfziger Jahre aus der Sowjetunion nach Südafrika emigrierte. Die zwei Bände umfassen eine Zeitspanne von 90 Jahren (1908-1998) und schildern das jüdische Schicksal sowohl in Europa als auch in Südafrika.(16)
Von Anfang an wurden die jiddischsprachigen Emigranten mit dem Sprachproblem konfrontiert: die Voraussetzung zur Einwanderung war das Beherrschen einer europäischen Sprache. Jiddisch gehörte nicht dazu, galt es doch seiner hebräischen Rechtschreibung wegen als "orientalisch". Nach einer längeren Auseinandersetzung mit der Regierung und der Veröffentlichung eines Pamphlets, Yiddish - Is it a European Language?- wurde es 1905, also noch vor der Cernowitzer Konferenz, als europäische Sprache anerkannt. Wichtig war dieser Beschluss auch für die Händler, denen es erlaubte, weiterhin ihre Kontobücher auf Jiddisch zu führen.(17) Doch obwohl von nun an Jiddisch in Südafrika zu den Landessprachen - Englisch oder Afrikaans - zählte, wurde sie für die zweite Generation, wie in den anderen Einwanderungsländern, eine mögliche, nicht aber die einzige Sprache. Denn die ostjüdischen Emigranten, für die Südafrika ein fremdes - Afrike iz an ander velt -, aber vielversprechendes Land - Afrike iz dos land fun goldun diamantn - war, fanden sich über kurz oder lang vor die Wahl gestellt, entweder ihre Muttersprache weiterzupflegen oder sie zugunsten einer der übrigen Landessprachen aufzugeben. Die Gründe dafür sind nicht zuletzt im politischen oder wirtschaftlichen Bereich zu suchen. Während die Bundisten für die Beibehaltung der Sprache kämpften, versuchten arme russische Juden sich sprachlich zu assimilieren, um so ihr "Entreebillet" in die wohlhabende, aus Westeuropa stammende jüdische Gesellschaft zu erkaufen:
Mankhe fun di rusish-yidishe kremers, hendlers, spekulantn u.a.v., velkhe zaynen gevorn mer farmeglekh, flegn zikh shemen, un hobn gekrogn a vider-gefil un mindervertikeyt-kompleks fun dem, vos zey zaynen rusishe yidn; zey hobn zikh gevolt dervaytern fun der frierdiker oremkeyt ....
Zey hobn genumen plaplen a shlekhtn english; es flegt poshet griltsn in di oyern, ven ot di rusishe yidn flegn aroystretn oyf farzamlungen fun der khevre-kadishe, oder fun andere gezelshaftn mit redes in a tsekalietshetn english.(18)
In Südafrika verlief der Sprachenstreit nicht anders als in Europa; auch hier fungiert er als Abbild des Ost-West-Antagonismus. Er machte sich in den verschiedenen Organisationen sowie im wirtschaftlichen Leben bemerkbar: die führende Rolle hatten im großen Ganzen diejenigen, die Englisch sprachen und nicht Jiddisch:
Di englishe un daytshishe onfirershaft hot nit anerkent un nit tsugelozn yidish - di shprakh fun di rusishe yidn, di shprakh fun der merheyt fun di yidn fun yohanesburg - tsu der gezelshaftlekher efntlekhkeyt " (19)
Die Sprachproblematik, ein komplexes Thema, das einer ausführlicheren Erforschung bedürfte, zeugt sowohl von den innerjüdischen als auch von den südafrikanischen Verhältnissen. Englisch war die Kultursprache, an die man sich anpasste. Später, zur Zeit der rassistischen Regierung, wollte Afrikaans als Machtsprache herrschen. Als auferzwungenene rassistische Sprache machte sie sich verhasst.
Die Emigranten hatten zuerst mündlich,(20) später schriftlich eine Zweitsprache erlernt. Im jüdischen Milieu gewann Englisch neben Afrikaans die Oberhand - einige wenige Schriftsteller bedienten sich des Afrikaans, so der jiddische Schrifsteller Jakob Mordechai Sherman und die Lyrikerinnen Sarah Goldblatt und Olga Kirsch(21) - und so wurde die Zweisprachigkeit Jiddisch/Englisch zu einer Tatsache, die wir zu berücksichtigen haben.(22) Man könnte sogar behaupten, dass gewisse englische Texte wie eine "Übersetzung" jiddischer Texte zu lesen sind. Interessant ist auch, dass Jiddisch und Englisch als Weltsprachen fungierten und den Kontakt zur Aussenwelt begünstigten, vor allem zu den Vereinigten Staaten, die für die jüdische Minderheit(23) und auch für die südafrikanische Mehrheit eine so wichtige Rolle spielten.(24) Eine Anzahl englischer Ausdrücke sind auch ins Jiddische geflossen. Unsere Beispiele stammen meistens aus Kurzgeschichten und Gedichten, die 1971 in Buenos-Aires unter dem Titel Antologye. Dorem-afrikanish erschienen sind und von Shmuel Rozhansky zusammengestellt wurden(25). Sie erzählen von der neuen Wirklichkeit, auf die wir noch zurückkommen werden. Es sind dies: trayer/trayeray, tshans, biznes, olrayt, konseshn shop/stor, greyps, pitshes, votermelen, car (Chevrolet, Ford), travler, Palestayn, Zayonist u.a.m. Die Zweitsprache konnte je nach Ort und Beschäftigung auch Zulu sein und die Zweisprachigkeit Jiddisch/Zulu. Hier einige Beispiele dessen, was ins Jiddische aufgenommen wurde: Tula tulapikanin (Schlaf Kindchen), kraal (Dorf), Sakabona (Guten Morgen) Ussindile (gerettet), mili (Mais), asegay (Spieß) u.a.m. Der Roman von Fayvl Zygelboim, Di Uhamas,(26) der das Leben eines jungen Zulu auf dem Land und in der Stadt schildert und der als Opfer in den Unruhen von Sharpeville fällt, weist Parallelen auf mit dem jüdischen Schicksal und wurde auch in diesem Sinne verfasst. Da geht es, über den bloßen Wortschatz hinaus, um eine Schilderung der Weltanschauung und der Zulus zwischen Tradition und Modernität und auch um deren Folklore, aber keineswegs in einem nostalgisch-exotischen Sinne. Es geht um ein Zeugnisablegen erlebter jüdischer und Zulu-Geschichte.(27)
Die Sprache als Spiegel bleibt ein hilf- und aufschlussreiches Mittel, die Texte nach dem Eigenen und dem Fremden zu erforschen. Unsere Untersuchung geht immer wieder vom Jiddischen als eigentlicher "Ursprache" aus. An ihr misst man die Diskrepanz zwischen der alten und der neuen Welt,(28) die durch die erste Generation eingeführt wurde:
"The younger girls went to the nearest government junior and senior schools. Soon they were speaking English among themselves; Yiddish they used only in conversation with their mother." (29)
Mit der zweiten Generation vollzog sich dann die sprachliche Assimilation, was zum Verlust des Jiddischen führte, aber auch zur Entstehung einer englischsprachigen Literatur, die wie durch einen roten Faden von jiddischen Reminiszensen durchzogen wurde:
"The grandchildren had nothing to do with their grandfather - they were busy at school, playing rugby and cricket, they could hardly speak Yiddish, and they were embarassed by him in front of their friends; and when the grandfather did take any notice of them it was only to call them Boers and goyim and shkotzim." (30)
Das Aufeinanderprallen zweier Welten, zweier Kulturen, welches das eigentliche Thema dieser Kurzgeschichte Dan Jacobsons bildet und wunderbar geschildert wird, betrifft sowohl das Fremde innerhalb als auch außerhalb der Familie. Paulus, der Zulu Bediente, der vom "Hausboy" als dessen "Bruder" im afrikanischen Sinne der Großfamilie empfohlen wurde, um sich um den störischen, immer wieder ausreißenden Großvater zu kümmern, verkörpert das Fremde an sich, das Furcht erregt:
«Paulus knew only Zulu, the old man knew only Yiddish.» (id. 178)
Vergessen wir nicht, dass mit dem Kontinentenwechsel die Ostjuden eine Lage vorfanden, die sie am eigenen Leibe empfunden hatten: die Unterdrückung. Diesmal aber trat für sie eine grundsätzliche Änderung ein: das Ausgestoßensein als Juden kehrte sich um in eine Zugehörigkeit als Weiße. Denn in Südafrika stießen die Einwanderer auf eine rassengetrennte Gesellschaft, in der die schwarze Mehrheit, die von den weißen Eroberern in blutigen Kämpfen besiegt worden war, als "fremde" Minderheit behandelt wurde, die weder zum Land noch zur Menschengattung gehörte; infolgedessen sprach man ihr jegliches Recht auf Menschenwürde ab:(31)
Dos rov fun di vayse hobn nit batrakht di hintershtelike afriker far mit-mentshn.
Men hot zey farakhtet, un di haltung tsu zey iz geven, vi tsu shklafn. Der afriker hot nit gedarft geyen oyfn trotoir; er hot nit getort geyen in gas nokh akht azeyger in ovnt on a derloybenish fun balebos. Di derloybenish flegt oft gegebn vern fun dem balebos a kleyn kind.(32)
In der angeführten Kurzgeschichte, "Der Zulu und der Zeyde", wird diese Problematik anhand der Gestik, die als Körpersprache an sich wichtig ist, aber auch dazu verhilft, das Unverständnis aufzuheben, thematisiert:
«The young bearded Zulu and the old bearded Jew from Lithuania walked together in the streets of the town that was strange to them both... They could not sit on the bench together, for only whites were allowed to sit on the benches... And neither Paulus nor old man Grossman were aware that when they crossed a street hand-in-hand, as they sometimes did when the trafic was particularly heavy, there were white men who averted their eyes from the sight of this degradation, which could come upon a white man when he was old and senile and dependant.» (33)
Diese körperlichen Kontakte werden dann von der Sprache übernommen, die zu verstehen gibt, dass Paulus dem alten Mann nähersteht als seine eigenen Großkinder:
«Baas Zeyde, Paulus called the old man, picking up the Yiddish word for grandfather from the children of the house.»(34)
Die Sprache als gegenseitiger Überbrückungsversuch dient auch in den Beziehungen zwischen den russischen Juden, den kaferitnikes - besser geredt di leshoynes fun di shvartse vi ale iberike in der kaferite - (35) und den afrikanischen Minenarbeitern in den compounds :
Nit kenendik keyn english, hobn di yidn ongehoybn reydn a "kikh-zulu" un di afriker hobn in a sakh faln geredt yidish. Oftmol hobn zey oykh oysgelernt sikh zingn yidishe lider. Bay religieze yidn flegn zey zaltsn fleysh far di balebatim un shtreng ophitn kashres. Zey flegn afile visn di spetsifishkeyt fun yedn yidishn yontef.
Es zaynen geven faln, ven nokhn oparbetn in yidishe hayzer etlekhe yor hobn zey, tsurikkumendik in zeyere heymen, geredt yidish, meynendik az zey redn english.(36)
Was einem hier auffällt ist der Versuch, sich gegenseitig zu verständigen. Dies ist nicht immer der Fall, denn es kommt öfters vor, dass man den Zulus verwehrt, auch nur ein paar Brocken in einer europäischen Sprache zu sprechen. Dieses Beispiel der Mehrsprachigkeit ist aber tiefgründiger und deutet auf eine Multikulturalität hin, wenn auch in einem negativen Sinne. Was ist ein kaferitnik? Ein typisch jüdischer südafrikanischer Beruf.(37) Die Benennung wurde nach dem arabischen Wort kafer - ungläubig - gebildet, das von den Buren benutzt wurde, um von den Xhosa zu sprechen. Dieser Ausdruck wurde zu einem Schimpfwort, mit dem man die Afrikaner bezeichnete, bis er später dann auf Jiddisch durch Afriker ersetzt wurde.(38) Als Inbegriff der Verachtung schlechthin wurde er auch für außenstehende, verpönte Weiße verwendet - wie zum Beispiel solche, die eine afrikanische Lebengefährtin hatten. Mit dieser Thematik befassen sich die Kurzgeschichten "Vayse kafers" (1934) von Shmuel Leibowitz und "Der "vayser kafer" (1935) von Rakhmiel Feldman.(39) Der kaferitnik ist der Besitzer einer kaferite, einer Kantine für Schwarze, die in ihren armseligen Siedlungen in der Nähe der Minen, compounds, wohnten, bis sie mit einer Lungenkrankheit - teyses - wieder in ihre Dörfer zurückgeschickt wurden, um dort eines elenden Todes zu sterben:
Di kaferite - a yidish vort, geshafn in Transvaal. S'iz a restoran far kafers. S'iz dos same heslekhste ort, vu mentshn esn. Di ferd in shtal voltn sikh gekent groyshaltn mit zeyere lebns-badingungen. S'iz fintster un shmutsik, un der shlekhter reyekh iz umdertreglekh un ibelt tsu khaloshes ...
Far vos vart men biz dos fleysh heybt on tsu shtinken eyder men brengt es in kaferite ? Der entfer iz geven a posheter: ven dos fleysh iz nokh mer oder veyniker frish, hot es a preyz; ven s'vert alt un der reyekh vert shtark, krigt men es kemat bekhinem. Un loytn bagrif fun di "kaferitnikes" iz far kafers keyn zakh nisht tsu shlekht. Men rekhnt sikh nitsh mit zey vi mit mentshn, un azoy vi zey zaynen dokh fort mentshn, krign zey nisht afile di oyfmerkzamkeyt, vos yeder balebos git zayn ferd.(40)
Wegen der politischen Verhältnisse, die auf dem Rassismus beruhten, wurde jeglicher Umgang mit den Afrikanern verpönt. Die Verachtung, die das Schimpfvort kafer enthält, geht auf den kaferitnik über, das zum zidlvort wird und als Spottname gilt. In seiner Erzählung "Der kaferitnik" setzt sich Rakhmiel Feldman mit einem solchen Schicksal auseinander,(41) mit dem Verlust der Identität - Ven men hot geredt vegn im, flegn im ale onrufn "kaferitnik", epes azoy vi keyn ander nomen volt er nisht gehat (51) -, einem Verlust, den der kaferitnik am Ende aber in ein Identitätsbekennnis umwandelt: indem er sich zu seinem Beruf bekennt und sein ganzes Vermögen einem großen Projekt widmet, nämlich einer Kette von kaferites, erlangt er seinen eigentlichen Namen zurück, Mister Daminsky.(42) In einer anderen Kurzgeschichte, "Gold un diamantn", berichtet derselbe Autor über das Sckicksal eines jungen litauischen Juden, der die Heimat verlässt, um in Südafrika sein Glück zu versuchen.(43) Umsonst! Er bringt es nicht einmal zum kaferitnik. Wieso? Er will keine Risiken eingehen, aus Furcht, die paar Pfund, die er mit Müh und Not verdient und monatlich seiner zurückgelassenen Familie schickt, zu verlieren. So wird er zum ewigen grinem,(44) zum ewigen Grünhorn - im Gegensatz zum geln -, dem niemand eine feste Anstellung gibt und der es zu nichts gebracht hat. Für ihn bleibt die Heimat an ihm haften wie:
a shteyn arum haldz. Oyf yedn shrit muz men shtendik hobn in zinen di, velkhe men hot ibergelozt in Lite un far gor a sakh iz es oft a shvere farantvortlekhkeyt, vos shtert yedn frayen trit., vos men volt gekont un gevolt makhn.
Bringt es der kaferitnik ein bisschen weiter, so ist er schon ein kontsesnik, das heißt, dass er ein kontsesnik-store besitzt und als balebos, als Besitzer eines Geschäftes im Mienengebiet Angestellte beschäftigt.(45) Ein wichtiger Platz wird in dieser Erzählung der Musik zuteil, sowohl der afrikanischen, die ihm fremd erscheint, als auch der jiddischen, dessen Aufgabe es ist, als Erinnerung an Herkunft und Vergangenheit, als identitätsbildender Faktor zu wirken. Die bedeutende, überbrückende Rolle der Musik wird auch in Zygielboims schon erwähntem Roman Di Uhamas hervorgehoben.
Der zweite Beruf, den ein Grünhorn ausüben konnte, war trayer, und auch mit diesem Wort wird eine Identität geschaffen, die alles frühere aufhebt. Das vergangene Leben ist so gut wie ausgetilgt. Der eydeler yunger man, a lomdn, verliert seinen Namen zugunsten des neuen Berufs, dem er nun nachgeht, nämlich der trayeray:
Der trayer, a rikhtiker afrikaner nomen, vos in der eyropeischer tsivilizirter velt iz men gor nisht mesugel tsu farshteyen zayn batayt. (46)
In seinem Theaterstück DiTrayers schildert Rakhmiel Feldman das Leben der Neueinwanderer, die sich entweder nach ihrem idealisierten shtetl zurücksehnen oder sich in die neue Gesellschaft eingliedern wollen, indem sie die Vorurteile der Mitbürger übernehmen, insbesondere gegen die Afrikaner.(47) Das Stück könnte eine jiddische Adaptation von Lessings Theaterstück Die Juden sein. Da geht es um einen armen, jedoch guten und ehrlichen Afrikaner, der ungerechterweise des Diebstahls beschuldigt wird, dessen Tugenden aber im letzten Augenblick ans Licht kommen. Das Wort trayer bedeutet soviel wie Hausierer und wurde vom Englischen to try - probieren, versuchen - abgeleitet. Obwohl das Hausieren in der jüdischen Welt nichts Neues ist, weist diese Beschäftigung, in Verbindung mit dem fremden Land, spezifische Merkmale auf: zuerst muss der trayer sein Aussehen den anderen anpassen und seine traditionelle Kleidung aufgeben - diese wird einem Afrikaner verkauft, was bei ihm metaphorisch zu einem äußerlichen Identitätswechsel führt); er versucht es mit dem An- und Verkauf verschiedener Waren: zuerst mit Hühnern und Eiern, dann mit Früchten, die in der Heimat unbekannt waren: Mangos, Aprikosen, Wassermelonen, Bananen, einheimischen Pfirsichen und Trauben; alle diese Versuche scheitern, weil er zu unbeholfen ist. Doch das Unerbittlichste bleibt das unmenschliche Wetter: eine brennende Sonne, die unerträgliche Hitze, gegen die man sich nicht schützen kann. Da ihm nichts gelingt, muss unser trayer immer wieder von vorn anfangen, doch umsonst. Schließlich spannt er sich an sein Wägelchen an:
Er fartreibt fun sikh die rukhnies un tsit in gantsn aroyf di gashmies.(48)
Sowie der kaferitnik gehört auch der trayer nicht zu den Auserwählten, die in Südafrika das erträumte Eldorado finden. Er endet als Fuhrmann, fern der Heimat und von seinem Gelehrtentum:
Dovidl iz dervayl a rikhtiker balagole, arbet shver, punkt vi zayn ferd, un fardint koym oyf lebns-mitl ...
Un fun dem amolikn sheynem zayd iz gevorn a proste serminke... (49)
Haben wir den Akzent auf typische Merkmale der südafrikanischen Gesellschaft gelegt, die in der jiddischen Literatur als Leitmotiv anwesend sind, so möchten wir zum Schluss noch einige Punkte ins Auge fassen, die der südafrikanischen Wirklichkeit entsprechen, Im Zusammenhang mit der Sonne steht das Gold, das sowohl als Wirklichkeit als auch als Metapher fungiert. Des Goldes wegen hat man diese lange Reise unternommen, des Goldes wegen schmachten die Goldgräber irgendwo auf der Suche nach ihm. Luft, Landschaft und Licht werden durch das Gold verklärt: Baym rand fun gold,(50) Afrike iz dos land fun gold,(51) heißt es in den Gedichten und Geschichten. Das Gold als Sinnbild der Hoffnung, das die armseligen Häuser und schmutzigen Zimmer in der düsteren, hinter sich gelassenen Heimat erhellt, zeigt, wie di alte heym rückblickend wahrgenommen wird. Die Metapher des Metalls, diesmal der Bronze, wird auch für die Beschreibung des afrikanischen Körpers, dessen dunkle Nacktheit wie eine majestätische Skulptur wirkt, verwendet. Auch hier spielt die Wahrnehmung - oder Nichtwahrnehmung - des Fremden, das rückwirkend auf die eigene Vorstellung verweist, eine aufschlussreiche Rolle. Die Beschreibung der Afrikaner in der jiddischen Literatur und deren Darstellung - oft als Fremde im eigenen Lande -(52) wäre ein Thema, mit dem man sich heutzutage beschäftigen sollte, sowohl im Vergleich und im Zusammenhang mit der koterritorialen weißen südafrikanischen Literatur - wir denken hier z. B. an die Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer - als auch mit der amerikanisch-jiddischen Literatur.
Die Begegnung mit einer völlig anderen Welt, mit ihren zum Teil fremden Bewohnern, ihrer großartigen Landschaft, ihrer unbekannten wilden Fauna (Elefanten, Leoparden, Schakale) und erstaunlich schönen Flora (Weihnachtsblumen, Hibiscusbäume) fand ihren Niederschlag in den Schriften, die von den jüdischen Dichtern und Schriftstellern - auf Jiddisch, Englisch oder Afrikaans - geschrieben wurden; nicht nur die Natur, sondern auch die ungerechten südafrikanischen Rassenbeziehungen, welche an die frühere Lage in Osteuropa erinnerten, wurden in verschiedenen Werken geschildert. Dem Thema gemäß haben wir uns vor allem auf die jiddische Literatur in Südafrika konzentriert und sie in Bezug auf Mehrsprachigkeit und Multikulturalismus untersucht. Ab und zu haben wir auch einige Beispiele aus der englisch-jüdischen Literatur, die eine ähnliche Problematik aufwarf und auf jiddische Wörter und Ausdrücke zurückgriff, angeführt. Denn die Literatur auf Jiddisch ist eigentlich nur ein Bruchteil der gesamtsüdafrikanischen mehrsprachigen Literatur, die Werke in europäischen und in südafrikanischen Sprachen umfasst. Das Hin und Her zwischen der alten und der neuen Heimat, - a geografish pintl mayrev leyam -,(53) hat eine äußerst produktive sprachliche, geographische und menschliche Grenzüberschreitung bewirkt, die eine Symbiose zwischen zwei weitentfernten Kontinenten zur Folge hatte. Allein eine multikulturelle Untersuchung unter dem Blickpunkt der Jiddischophonie kann solchen Vorgängen gerecht werden und deren Reichtum sowie deren Komplexität aufdecken, gewahr werden, und weiterführen.
© Astrid Starck Adler (Basel, Schweiz)
ANMERKUNGEN
(1) Über dieses breite Spektrum der jiddischen Literatur siehe Sol Liptzin: A History of Yiddish Literature. New York 1985. Jiddisch in Israel muss im Rahmen des Sprachenkampfs zwischen Jiddisch und Hebräisch betrachtet werden.
(2) Unter «alter Heimat» ist in der Entstehungsphase des Jiddischen das Land Israel gemeint, das der Diaspora gegenübersteht; in den Emigrationsländern ist sie mit Osteuropa gleichzusetzen.
(3) Teil dieses Artikels erschien unter dem Titel «Multilingualism and Multiculturalism in South African Yiddish», in Speaking Jewish - Jewish Speak. Multilingualism in Western Ashkenazic Culture. Studia Rosenthaliana , Vol. 36 (2002-2003), 2003 (157-170).
(4) Z. B.. Mamzelle Libellule, das zuerst unter dem Titel Marisosé erschien.
(5) Astrid Starck: «Wie weiblich ist Jiddisch?». Tagung des Instituts zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Kulturprozesse (INST): Das Verbindende der Kulturen. Wien 2003.
(6) Erst auf der Cernowitzer Sprachkonferenz im Jahre 1908 wurde Jiddisch von der österreichisch-ungarischen Monarchie als Sprache anerkannt.
(7) David Wolpe: Ikh un mayn velt. Oytobiografishe bleter. Bukh 1 & 2. Peretz Farlag, Johannesburg Jerusalem 1997-1999.
(8) Joseph Sherman übersetzte südafrikanisch-jiddische Erzählungen auf Englisch. Cf From a Land far off. A Selection of South African Yiddsih Stories. Ed. by Joseph Sherman.With a Foreword by Dan Jacobson. Cape Town 1987.
(9) Die genauen Angaben finden sich weiter unten.
(10) Cf. Shmuel Rozhansky, "Optsveygen fun der yidisher literatur in yeshuvim", in: Antologye. Dorem-afrikanish., Musterverk fun der yidisher literatur, bd. 50, Unter der redaktsie fun Shmuel Rozhansky, Yivo, Buenos-Aires 1971. S. 10-13.
(11) Cf. David Volpe, "Yidish loshn un vortshafung in Dorem-Afrike", in: Antologye, ibid., S. 296- 313.
(12) Hängt das Streben nach sprachlicher Assimilation mit dem Wunsch nach sozialem Austieg zusammen, so entspricht die Bewahrung des Jiddischen einer politischen Stellungnahme, meistens vonseitendes Bundes oder der Südafrikanischen Kommunistischen Partei. Der Yidisher Arbeter Club (Jewish Workers Club), der 1929 gegründet wurde, ist in dem Sinne wichtig, weil er nicht nur für die weißen, sondern auch für die schwarzen Arbeiter kämpfte. cf Gideon Shimoni, Jews and Zionism, The South African Experience (1910-1967), Oxford University Press 1980, S. 52 sq.
"The Club was founded ... by a group of Yiddish.speaking Jews who had in common their distinctly leftist outlook and their artisan occupations or employee status in shops and small scale business ... Its programme consisted mainly of debates and lectures on political and social questions, mostly conducted in Yiddish but sometimes also with English-speaking guests, including, on occasions, also Indians and Blacks."
Diese Beschäftigung mit der schwarzen Arbeiterklasse findet ihren Wiederhall in zahlreichen Erzählungen und Romanen, denn die Auseinandersetzung mit dem Rassenproblem bildet das Wesentlichste bis zum Ende der Apartheid.
(13) Cf. Gideon Shimoni, op. cit., S. 54 sq.
(14) Für einen Überblick über die südafrikanische jiddische Literatur, cf. Sol Liptzin, A History of Yiddish Literature, New York 1985, S. 377-388.
(15) Eine neuere Nummer (Vol. 52, Nr. 3, Spring 1997) ist außschliesslich der Literatur gewidmet.
(16) David A. Volpe, op. cit.
(17) Cf Gideon Shimoni, op. cit., S. 15 sq.
(18) Leybl Feldman,Yidn in Yohanesburg, Johannesburg 1956, S. 62 sq. Eine englische Übersetzung von Veronica Belling, Bibliothekarin an der Western Cape University in Kapstadt, soll demnächst erscheinen.
David Starfeld, ein "anglisierter" russischer Jude, ging so weit und schalt Jiddisch eine "mamzer-sphrakh", eine Bastardsprache. ibid., S. 63.
(19) Leybl Feldman, ibid., S. 63.
David Starfeld, ein "anglizirter" russischer Jude, ging so weit und schalt Jiddisch eine "mamzer-sphrakh". ibid., S. 63.
(20) Russische und deutsche Juden, die mit den Buren in Kontakt waren, auf dem Land oder in Burischen Städten, eigneten sich genug Afrikaans an, um sich mit ihnen verständigen zu können und gute Beziehungen zu hegen. cf Leybl Feldman, ibid., 65 sq.
(21) Cf. Veronica Belling: Bibliography of South African Jewry. 1997.
Sherman sprach Afrikaans und übersetzte aus dieser Sprache auf Jiddisch. Sarah Goldblatt, die in Oudtshoorn lebte, verfasste zwei Bände Gedichte auf Afrikaans (1920). Sie war die Assistentin des Cornelis Jakob Langenhoven, einem berühmter Afrikaans Dichter, der 1918 die Nationalhymne, Die Stem, schrieb, und von der eine Strophe in die jetzige Hymne, Nkosi sikelele Afrika, übernommen wurde. Auch Olga Kirsch, die 1997 in Israel starb, verfasste Lyrik. Sie sprach Englisch aber schrieb in Afrikaans, auch nachdem sie mit ihrer Familie nach Israel ausgewandert war. Von ihr sind sieben dünne Lyrikbände vorhanden (1946-1982)
Ferner machte mich die Autorin dieser Bibliographie darauf aufmerksam, dass P. Blum, den sie erwähnt, zwei Bücher (1958 & 1981) hinterlassen hat; sie hat aber bis jetzt noch nichts über sein Leben ausfindig machen können. Einige wenige Schriftsteller bedienten sich des Afrikaans, so der jiddische Schrifsteller Jakob Mordechai Sherman (1885-1958), die Lyrikerinnen Sarah Goldblatt und Olga Kirsch. Zu erforschen bleibt die Thematik dieser Werke in Beziehung zum Judentum.
(22) Als das Theater "Yungvarshe" geschlossen wurde und der jiddische Schauspieler Fayvl Zygelboim 1938 nach Südafrika emigrierte, lernte er sofort Englisch, um Shakespeare spielen zu können.
(23) Der Einfluss der amerikanisch-jiddischen Literatur auf die südafrikanisch-jiddischen Schriftsteller ist noch zu untersuchen.
(24) Wir denken an die amerikanischen Filme, die nach Südafrika exportiert wurden und an die Jazzmusik, die in den USA, aber auch in Südafrika, zu Beziehungen zwischen Juden und Afrikanern führte. Cf Astrid Starck, "Lionel Rogosin, un cinéaste contre l'apartheid", in Plurielles, N° 8, Eté 2000 Paris.
(25) Antologie. Dorem-Afrikanish, Musterverk fun der yidisher literatur, bd. 50, Unter der redaktsie fun Shmuel Rozhansky, Yivo, Buenos-Aires 1971.360 S.
(26) Fayvl Zygielboim, Di Uhamas, Tel Aviv 1971.
(27) cf Astrid Starck, "Apartheid and the Yiddish Novel: Fayvl Zygielboim's Di Uhamas, in Jewish Affairs, Vol. 51, Nr. 4, Summer 1996, Johannesburg, S. 49-55.
(28) cf ECHAD 2: South African Jewish Voices, ed. by Robert & Roberta Kalechofsky, 1982. 269 S.
Dieser Erzählband enthält Geschichten, in denen dieselbe Problematik zum Vorschein kommt. Jiddische Märchen, Lieder, Sätze sind in den Texten anwesend und rufen die noch anwesende Vergangenheit wach.. Was die Mehrsprachigkeit betrifft, so wäre hier hier vor allem die Schrifstellerin Jillian Becker zu erwähnen, deren Mutter gedichte aus dem Französischen, Russischen, Deutschen, Hebräischen und Zulu übersetzte..
(29) Dan Jacoson, Heshel's Kingdom,, London 1998, S. 62
(30) Dan Jacobson, "The Zulu and the Zeyde", in: S. 175.
(31) Bei der Volkzählung in Johannesburg galt gewöhnlich nur die weiße Bevölkerung. cf L. Feldman, Yidn in Yohanesburg, Johannesburg 1956, S. 241.
(32) ibid., S. 242.
(33) Dan Jacobson, "The Zulu and the Zeyde", in: S. 178.
(34) ibid., S. 179.
(35) Antologie, ibid., S. 56
(36) Leybl Feldman, ibid., S. 244.
(37) Über die typisch südafrikanischen Berufe cf cf David Fram, "Yerushe un hashpoes in yidishn vortzushtayer fun Dorem-Afrike", in: Antologie, ibid., S. 313-228.
(38) cf Rakhmiel Feldman, Shvarts un vays, CYCO, New York 1957: Biz 1950 hobn mir nit gehat dos vort "Afriker" far di shvarts-hoytike Eynvoyner. Yidn flegn zey tkhiles onrufn "kafers+, un ersht shpeter - shvartse (ze R. Feldmans artikl in "Afrikaner Idishe Tsaytung" fun 13tn Oktober 1950), S. 13
(39) In Jewish Affairs Vol. 52, Nr. 3, Spring 1997: "Vayse kafers", S. 64-70, auf Jiddisch; «Der "vayser kafer"», S. 58-63 auf Englisch; beide in der englischen Übersetzung von Joseph Sherman, bis vor kurzem Chefredaktor dieser Zeitschrift.
"Der "vayser kafer"» erschien zum ersten Mal auf Jiddisch im Erzählband Shvarts un vays, Polen 1935, S. 5-27. Mit Zeichnungen von der expressionistischen Malerin Irma Stern.
cf auch Glen S. Elder, "Decolonising the "Kaffir", in: ibid., S. 53-57, und Cedric Ginsberg, "Reclaiming a South African Yiddish Text", in ibid., S. 73-78.
(40) Rakhmiel Feldman, "Gold un diamantn", in: Anthologie. Dorem-Afrikanish., Musterverk fun der yidisher literatur, bd. 50, Unter der redaktsie fun Shmuel Rozhansky, Yivo, Buenos-Aires 1971. S. 105 sq.
Zum ersten Mal veröffentlicht in Shvarts un Vays, Polen 1935, S. 83-97.
(41) In Anthologie, ibid., S. 51-64.
(42) Für die Rassenverhältnisse und die jiddische Literatur und ihre Beziehungen zur Apartheid cf Astrid Starck, "South African Yiddish Literature and the Problem of Apartheid", in Jewish Affairs, Vol. , Nr. , Winter 1995, S. 39-45.
(43) In Anthologie, S. 99-109.
(44) Auch in Amerika gilt dasselbe Wort für die Einwanderer.
(45) Wolf Rybko, «Der "Kontsesnik"», in Oyf di pleynen fun Afrike, Johannesburg 1961, S. 33-41.
(46) Heyman Polski, "Der trayer", in: Anthologie, ibid., S. 21.
(47) cf Rakhmiel Feldman, "Di Trayers", in, Shvarts un Vays, CYCO, New York 1957, S. 193-231.
cf auch Astrid Starck, "Old Home vs Land of Opportunity: Rakhmiel Feldman's Trayers, in Jewish Affairs Vol. 52, Nr. 3, Spring 1997, Johannesburg, S. 79- 85
(48) Heyman Polski, ibid., S. 26.
(49) Heyman Polski, ibid., S. 27.
(50) So heißt der Untertitel des Gedichtes von N. Berger, A heym oyf dos nay, in Anthologie, ibid., S. 19.
(51) Rakhmiel Feldman, "Der kaferitnik", in Anthologie, ibid., S. 56.
(52) Es wäre interessant, Rakhmiel und Leibl Feldmans Auffassungen mit denen anderer jiddischer Autoren zu vergleichen.
(53) Antologye, op. cit. p. 299
6.6. Das Jiddische als Kulturvermittlung
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