Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | August 2006 | |
7.3. Bericht: Das Eigene und das Fremde. Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte |
Erika Garics (ELTE / Debrecen)
Es ist misslich, Aufzeichnungen zu erklären, es ist, als nähme man sie zurück.
IV:376
Sobald es >Text< heißt, bedeutet es etwas.
V:335
Die Gattung - der Begriff - Aufzeichnung ist erst seit den 90er Jahren und vor allem in ihrem Verhältnis zum Aphorismus in der germanistischen Fachdiskussion thematisiert worden.
In der Diskussion bestehen neben einander unterschiedliche Positionen, in der Frage nämlich, ob sich die Aufzeichnung als eigenständige Gattung definieren lässt. Friedemann Spicker redet über eine "mögliche Gattung", er fasst Aufzeichnung "als historisch gewandelte Form einer Geschichte des Aphorismus" auf. (Spicker 2004:7) Er betont die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung von Nachbargattungen mit Trennschärfe, so dass die arme Aufzeichnung sich bald - mit einem ironischen Ausdruck von Werner Helmich - als "Definitionsopfer" der Klarheit wegen fühlt. Hugo Dittberner geht von der Schriftlichkeit selbst als einem Schutz- und Freiheitsraum aus und sucht in einer offenen Stil- und Schreibgebärde das Charakteristikum der Aufzeichnung. (Spicker 2004:809) In der Diskussion wird immer mehr auf die 'Offenheit' der Aufzeichnung fokussiert. Betont werden außerdem die Gattungsmerkmale, die auch für den Aphorismus gelten, - also vor allem Dialogizität und Selbstdenken.
Aufzeichnungen sind also nichtfiktionale Texte in Prosa, die aber doch in einer Verbindung miteinander stehen können, eine Serie gleichartiger Texte bilden können, was eigentlich soviel heißt, dass sie - gemeinsam - eher eine offene Struktur - gedanklich aber auch in ihrer Form - aufweisen und kein 'System' bilden: keinen traditionell gemeinten Text, z. B. da hier die Reihenfolge ohne Sinnveränderung vertauschbar ist.
Die Komplexität des gattungstheoretischen Problems kann im Rahmen des vorliegenden kleinen Beitrags nicht behandelt werden. Ohne auf Gattungsprobleme näher einzugehen, soll hier nur soviel bemerkt werden, dass Aufzeichnung, aber auch Aphorismus eigentlich keine apodiktische Gattungsbestimmung haben. Es soll nur eine Eigenschaft hervorgehoben werden: Sie sind Gattungen, die ihrem Autor einen großen Spielraum lassen, sowohl gedanklich-inhaltlich als auch ihre Form betreffend.
Die Ungebundenheit und der "Grenzgängercharakter" der Gattung musste auch für Canetti eine Wichtigkeit haben, er war selbst im mehrfachen Sinn ein "Grenzgänger": in den Fragen seiner jüdischen und deutschen Identität aber auch in der Gattungswahl seiner Werke. Er bestimmte sich als "nicht Österreicher", der aber mit seinen Schriften österreichische Literatur leistet. (Walkowa 1979:8) Geschaffen hat er in vielen Gattungen, - Drama, Roman, Aphorismus, Tagebuch, Autobiographie ("Lebensgeschichte"), Essay - immer in Gattungen, welche meistens einen starken reflektierenden Charakter haben und an der Grenze zwischen Fiktionalität und Nichtfiktionalität (Belletristik und Sachtext) anzusiedeln sind.
In unserem Fall, in dem der Aufzeichnungen, bedeutet die oben geschilderte Problematik bei der Interpretation einerseits starke Kontextualisierung, andererseits aber wird das hermeneutische Prinzip der kotextuellen Isolierung bei der Interpretation einzelner Aufzeichnungen benötigt und angewendet. (s. Engelmann, AuA:11) In Canettis Poetik war nämlich das Einzelne ("den Einzelheiten ihre Würde zurückgeben", "Ich habe ...Respekt vor Worten. Ihre Integrität ist mir heilig."), das Kleine, das Unausgesprochene das wichtigste Engagement:
"Man müsste es in so wenig Sätzen sagen können, wie Laotse oder Heraklit, und solange man das nicht kann, hat man nichts wirklich zu sagen." (PM: 249)
"Sätze in einem Wort. Unendliche Sätze." (GU: 76)
"Sätze, die nicht mehr von ihm sind, das sind Sätze." (GU: 136)
Diese "Sätze" sind eigenständige poetologische Aufzeichnungen, wo die Konzentration auf der Plastizität der Darstellung liegt, das zu Sagende ist nur als "es" vertreten: Mit dem ersten ziemlich langen Satz kommen wir gerade in eine seltsame Nähe zum Schweigen. Die Erscheinung, genannt Aposiopese, eine poetische Grenzfigur (am Rande von Rede und Rhetorik) bedeutet das "Verschweigen des Wesentlichen", sie kann verbunden sein mit einer syntaktischen Ellipse, aber auch mit einem grammatisch vollständigen Satz. Die Verschweigung kann also (k)eine syntaktische Entsprechung haben. (Groddeck 193:4)
Unser Anliegen ist aber, die Aufzeichnungen zu untersuchen, welche sich auf Gott oder Götter beziehen. Solche gibt es auffallend viele. Glauben - Religion - Gott - Götter - und auch Mythos ordnen sich zu einer Motivkonstellation zusammen und bilden immer wiederkehrende Themen in den Aufzeichnungen. Verschiedene Kategorien können unter ihnen aufgestellt werden.
Von Göttern wird geschrieben, als seien sie die Vorläufer unserer eigenen menschlichen Unsterblichkeit (C IV:52), die nichts mehr bestimmen (C IV:57), die unter einander fremd seien, sich durch Sprachen nicht verstehen können, Kostüme tragen und einander betasten müssen, um sich zu verstehen (C IV:80). Sie seien sterblich (C IV:83), angebetet, "in Dichtern erinnert" (C IV:83), seien aber nicht mehr vor Vergessen gerettet, sie seien auch getäuscht worden über das Leben der Erde. (IV:91) Noch dazu schikanieren sie uns von unter Vitrinen. (C IV: 273) Annäherungen an sie seien in schönen Menschen erhalten geblieben. (C IV: 283) Sie stellen die Götter der Mythologien dar, sehr oft die Götter Indiens. Die Aufzeichnungen stammen aus den Jahren 1942-1993. Die Attribute der Götter erinnern an die Gottesdarstellung in der Literatur der deutschen Nachkriegszeit (wie bei Borchert und Eich) und an die Erschütterung nach der Shoah (etwa bei Celan). Es ist in der unmittelbaren Darstellung nicht die jüdische Auffassung vom Gott, doch steckt dahinter die jüdische Denkweise, und dementsprechend werden dem Gott bzw. den Göttern ausgerechnet die Attribute genommen, welche nach jüdischer Denkart sein Wesen ausmachen sollen: seine "Einmaligkeit", "Einzigartigkeit". Der Monotheismus und seine Allmacht: Allwissend zu sein und die Unsterblichkeit. Ihre Sterblichkeit ist durch den Menschen bedingt, eine Annäherung an die Götter sei nur noch mittels menschlicher Schönheit möglich. Nach jüdischer Auffassung sei Gott kein Körper und habe keinerlei körperliche Eigenschaften an sich, in Canettis Aufzeichnungen verfügen die Götter sogar über eine falsche Körperlichkeit, sie tragen Kostüme. Die göttliche Kommunikation sollte in der Offenbarung, d. h. im wahren Zeugnis Gottes zustande kommen, also in der Sprache, bei Canetti sind die Götter auf eine Körpersprache angewiesen, sie können sich nämlich durch Sprachen nicht verstehen. Damit ist die Sprache ihrer grundlegendsten Fähigkeit beraubt, nämlich, dass über Sachen geredet werden kann, die nicht vorhanden sind, was eigentlich auch die Schöpfung ermöglicht. Die Götter werden zum Verstummen gebracht auch dadurch, dass sie Sprachen haben - etwas, was in der Nach-Babel-Zeit die menschliche Welt charakterisiert. In der jüdischen Religion und der Ethik steht die Erinnerung im Mittelpunkt. In Canettis Aufzeichnungen wird an Götter "in Dichtern erinnert", was eine sehr hohe Anforderung an die Literatur stellt. Die Götter selbst "seien aber nicht mehr vor Vergessen gerettet worden". Das klingt laut jüdischer Ethik als eine besonders harte Strafe. In diesen Aufzeichnungen wird die Ordnung göttlicher - menschlicher Welt auf den Kopf gestellt: Statt der Götter urteilen hier Menschen über die unbeholfenen Götter, bzw. bestrafen sie.
Es gibt auch eine andere, eigenartige Gruppe der Aufzeichnungen über Götter. Aufzeichnungen mit dieser Struktur werden von Peter von Matt "phantastische Aphorismen genannt":
"Dort bleiben die Götter klein, während die Menschen wachsen. Wenn sie so groß geworden sind, dass sie die Götter nicht mehr sehen, müssen sie einander erwürgen." (C IV:269)
Die Menschen müssen einander erwürgen, denn sie können sonst das richtige Maß nicht sehen. Dieses Maß sollte laut jüdischem Glauben das menschliche Leben sein. Hier, in einer verrückten Welt, ist aber alles verkehrt, nämlich:"...die Atombombe ist das Maß aller Dinge geworden." (C IV:94)
Die Aufzeichnungen über Gott können eine Begrifflichkeit des jüdischen und auch des christlichen Glaubens haben.
Canetti war nicht gläubig.
Seine frühe Kindheit war zwar vom Praktizieren jüdischer Traditionen geprägt: In dem Zuhause in Rustschuk wurden jüdische Riten und Feste begangen, wie Purim und Pessach. In seinem autobiographischen Werk Die gerettete Zunge sind neben der Schilderung des Pessach-Festes die Beschneidung des jüngeren Bruders und der Besuch der Talmud-Thora-Schule in Wien dargestellt. Er hat aber eine Distanz aufgebaut - und sein ganzes Leben lang bewahrt - zur eigenen (eher: angeborenen) religiösen Tradition (galizisches chassidisches Judentum: Die Fackel im Ohr, Kap. Backenroth), wie übrigens auch zum Zionismus (FiO, Kap. Der Redner). Eine Assimilation in der Tradition des liberalen Judentums wird übrigens auch verweigert, in der Gestalt der Romanfigur Siegfried Fischer, genannt Fischerle (in Die Blendung) erscheint diese Möglichkeit nur als Karikatur, eine Art Satire. Die Assimilation heißt hier die Opferbereitschaft zur schmerzhaften Herstellung der neuen Identität, was aber mit dem Tod endet, also nirgendwohin führt.
Bekanntlich gibt es auch keine öffentliche Stellungnahme von Canetti zu seiner jüdischen / deutschen / deutsch-jüdischen oder jüdisch-deutschen Identität. Thematisiert oder in verschlüsselter Form behandelt wird die Frage aber vielerorts im Werk, im Drama Komödie der Eitelkeit (1933/34, Bücherverbrennung - Spiegelverbot - Ichverlust), in Masse und Macht (1934-60, Nationalsozialismus, Masse und Geschichte: der Auszug aus Ägypten), in den drei Bänden der Autobiographie und in den Aufzeichnungsbänden.
Für die Shoah musste Canetti mit seiner jüdischen Verwurzelung und seinem deutschen Sprachbewusstsein eine Erklärung und eine Einstellung finden. Er meint sie in der deutschen Inflation von 1922/23 gefunden zu haben - der Prozess der Inflation wiederhole sich also in der Behandlung der Juden, das heißt, der Prozess der Entwertung übertrage sich auf die Menschen, die als daran schuldig angesehen werden. (s. Gerald Stieg)
Die Ortodoxie, als eine (auch) historisch bedingte Möglichkeit für jüdisches Leben wird von Canetti abgelehnt, sie bedeutet für ihn nämlich eine nicht mehr akzeptable Gehorsamkeit, "Gottesgehorsam", mit dem Beispiel Abrahams. Aber der Glaube, seine Ausübung und seine Formen beschäftigen ihn tief. Er betrachtet sie zwar als fremd, als "Sammler" oder als Zeuge, er akzeptiert sie aber wie sie sind, er schreibt sich nur die Aufgabe der Darstellung zu. Er zeichnet 1946 auf:
"Es ist in Wirklichkeit jeder Glaube, was mir nahe geht. Ich fühle mich ruhig in jedem Glauben, so lange ich weiß, dass ich wieder fort kann. Es ist mir aber nicht daran gelegen zu zweifeln. Ich habe eine rätselhafte Bereitschaft zum Glauben und eine Leichtigkeit darin, als wäre es meine Aufgabe, alles wieder darzustellen, was je geglaubt worden ist. Das Glauben selbst vermag ich nicht anzutasten. Es ist stark und natürlich in mir, und bewegt sich auf alle Weisen. Ich könnte mir vorstellen, dass ich mein Leben an einem geheimen Zufluchtsort verbringe, der die Quellen, Mythen, Disputationen und Geschichten aller bekannten Glaubensformen birgt. Dort würde ich lesen, denken und mir langsam erglauben, was es überhaupt gibt." (C IV:103)
Gott, der in den Aufzeichnungen erscheint, ist der Gott der Bibel, wird auch als Eingott und Eingöttlichkeit erwähnt. Der Name, das Wort besitzt durch die Wiederholung die höchste Intensität, er selbst sei der höchste Hochmut des Menschen. Seine wichtigsten Eigenschaften sind, dass er nicht zu töten sei, aber auch keinen Menschen vom Tod retten könne. Der Tod sei jetzt (1944) wahrhaft Gott. Er wäre, wenn er wäre, das Wesen ohne Angst. Er sollte dem Menschen helfen. Er sei ein Ei der Philosophen, ein Fehler, polyglott, wie ein Stein - bedauert nichts - allwissend und deshalb elend, den Propheten erscheint er als gerecht, und Tolstoi hätte sein Bruder sein können.
Dieses Gottesbild zeigt sich, wie schon erwähnt, verwandt in mehreren Punkten mit dem der deutschen Nachkriegsliteratur in den Werken von Borchert, Eich und Celan. Canettis Aufzeichnungen stammen aber nicht ausschließlich aus den gleichen Jahren, sondern auch noch aus den 70er Jahren. Die Lektüre von Pascal (Pensées) ist auch spürbar (Konjunktivgebrauch).
Das Verhältnis zwischen Gott und seiner Welt, zwischen dem Menschen und Gottes Welt, wird aus der Perspektive der Schöpfung und des Jüngsten Gerichtes gezeigt. Gott verachtet seine missglückte Schöpfung, er nimmt seine Schöpfung zurück, oder er verheimlicht sie vor dem Menschen ("Und siehe da, es war nicht gut." - sagt Gott C IV:130) und versteckt sich vor uns aus Angst. Beim Jüngsten Gericht wagt er nicht zu richten, der da richtet, das seien die Auferstandenen, die ihn "anklagen". Und wir sind Gottes Henker in seiner Welt. Das Klagen und die Klagemauer sind wichtige Motive. In der folgenden Aufzeichnung wird auch geklagt:
"Es gibt keine gewaltigen Worte mehr. Man sagt manchmal »Gott«, bloß um ein Wort auszusprechen, das einmal gewaltig war." (IV: 63) 1943
In der Aufzeichnung aus dem Jahre 1943 ist ›Gott‹ ein Wort, ein einmal gewaltiges. Es geht nicht um das göttliche Wort, um die Erschaffung der Welt durch Gott, in der Sprache, es geht um die Gewalt der Sprache. Gott ist selbst nur noch ein Wort. Gott und der, der sich auf ihn beruft, sind ohnmächtig. "Es gibt keine gewaltigen Worte mehr" - im Satz lauert die Frage, was die Sprache und die Literatur vermag bzw. dass sie vielleicht nichts mehr vermag. Für Canetti war Literatur nicht nur mit Moral gleichzusetzen, er stellte sehr hohe Ansprüche an Literatur, an das "Dichtersein" (konnte sie selber nicht halten, sind gar nicht haltbar; Literatur als "Tat": "Wäre ich ein Dichter, hätte ich den Krieg verhindern können"). Eigentlich betrachtete er Literatur als Emigration / Exilland der Religion in einer schon säkularisierten Welt. ("Für jedes Wort, das man schrieb, stand man mit der ganzen Person ein.")
"Die Verantwortung, die der Mensch heute trägt: ohne Orakel, die sie ihm abnehmen, ohne Gottheit, die ihn hin und her schickt, ohne Begrenzung seines Wissens, in der alleinigen Gewissheit unaufhörlicher und immer eiligerer Veränderung alles dessen, was ihn berührt."
Diese Aufzeichnung stammt aus dem Jahre 1943. Regelmäßig begann Canetti Anfang 1942 Aufzeichnungen zu führen. Sie sollten ursprünglich einen Ventilcharakter haben und von der großen geistigen Anstrengung - der Arbeit an Masse und Macht ablenken. Mit ihnen aber trat Canetti auch in das kollektive jüdische Schicksal ein, in vielen Aufzeichnungen in der Zeit der Shoah wird darauf reflektiert, wie in den beiden folgenden Aufzeichnungen:
"Man kann nicht mehr Gott sagen, er ist für immer gezeichnet, er hat das Kainsmal der Kriege an seiner Stirn, man kann nur an das eine denken, an den einzigen Heiland: Unsterblichkeit." (C IV: 75)
In einer anderen Aufzeichnung wird der Messias als "verwünschtes Irrlicht der Juden" genannt. Damit wird ein Kernpunkt des Judentums verleugnet. Unsterblichkeit habe aber ursprünglich dem Menschen gehört, und der "Eingott" habe alle Unsterblichkeit "an sich gebracht". Das Kainsmal trägt Gott an seiner Stirn, als wäre das ein Gebetsriemen, aber - ein verratenes.
"Beim jüngsten Gericht wird aus jedem Massengrab ein einziges Geschöpf erstehen. Und dieses soll Gott zu richten wagen!" (C IV: 70)
Dieser Satz wurde auch 1943 aufgezeichnet. In beiden wird auf Geschichten im Alten Testament hingewiesen.
In der ersten Aufzeichnung trägt Gott das Kainsmal, das für den Mörder seines Bruders. Bei der zweiten Aufzeichnung erscheint der richtende Gott, der aber kein Recht mehr hat zu richten. Das Wort "Massengrab" verweist auf den Krieg, und zwar auf alle Opfer / Gefallenen des Krieges, nicht nur auf die Juden. Das Vokabular (Klagemauer, Massengrab, der richtende Gott, ...) verweist doch auf einen jüdischen Kontext, Canetti erlebt es aber als "die größte Versuchung meines Lebens", als Einengung - eine totale Identifikation mit dem Judentum.
In einer etwas späteren Aufzeichnung wird das Bild in einer Umkehrung erscheinen:
"Die Auferstandenen klagen plötzlich in allen Sprachen Gott an: das wahre Jüngste Gericht!" (C IV)
Für Canetti stellt die Umkehrung das wichtigste Mittel der Satire dar: "... die Umkehrung als Mittel der Satire. ... Der Satiriker vergreift sich an Göttern. Wenn es zu gefährlich für ihn ist, den Gott seiner eigenen Gesellschaft zu attackieren, holt er sich andere, ältere Götter eigens zu diesem Zweck herbei. Auf diese schlägt er öffentlich los, aber jeder spürt, wem die Schläge eigentlich gelten." (C IV: 307)
Warum so viel über Gott geschrieben wird von jemandem, der an ihn nicht glaubt?
Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage. Sie ist - vielleicht - in den kulturellen-religiösen Traditionen zu suchen. Ob sie dort auch zu finden ist?
Vielleicht:
"Er braucht Gott, um ihm auf die Schulter zu klopfen und ihm zu sagen, wie er ´s hätte machen sollen."(C IV:322)
oder:
"Gib mir einen Gott, dass ich ihn uns zur Hilfe berede." (V:342)
"Er gewöhnte sich Gott an und wurde Jude." (V:354)
© Erika Garics (ELTE / Debrecen)
LITERATUR
Elias Canetti Werke in zehn Bänden. Carl Hanser Verlag, München 2005
Wortmasken. Texte zu Leben und Werk von Elias Canetti. Fischer Verlag 1995
Groddeck, Wolfram: Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens. Stroemfeld, Basel - Frankfurt/Main 1995
Margalit, Avishai: Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer: Vorlesungen. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2000
Niemuth-Engelmann, Susanne: Alltag und Aufzeichnung. Untersuchungen zu Canetti, Bender, Handke und Schnurre. Königshausen & Neumann, Würzburg 1998
Spicker, Friedemann: Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert. Spiel, Bild, Erkenntnis. Niemeyer Verlag, Tübingen 2004
Walkowa, Irina: Gespräch mit Elias Canetti. In: Literaturen front, 18.10. 79. Nr. 42: 8
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