Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

7.3. Bericht: Das Eigene und das Fremde. Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Andrea Horvath (Universität Debrecen) / Eszter Pabis (Universität Debrecen) / Tamás Lichtmann (Debrecen)

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Kultur als Text? Lesbarkeiten von kulturellen Prozessen

Andrea Horváth (Universität Debrecen)
[BIO]

 

Seit einigen Jahren ist es eine akademische Mode, an die Kultur die Frage zu richten, wie sie Identität und Alterität im Hinblick auf Ethnizität, Klasse und Geschlecht "repräsentiert", "konstruiert" oder "erfindet". Die Termini identity, difference und otherness sind zu Kernbegriffen des kulturwissenschaftlichen Diskurses avanciert. Ausgehend von der Neukonzeption der Cultural Studies in den USA, haben sich die Konstruktionen von culture, race, class und gender als ein Leitthema durchgesetzt und institutionell immer mehr auch im deutschsprachigen Raum etwa als Kulturanthropologie, Postkoloniale Studien oder Gender-Studien etabliert. In meiner Arbeit stelle ich vor, wie ausgehend von der Metapher Kultur als Text, die verschiedenen kulturellen Prozesse, im konkreten Fall von queer studies, lesbar werden.

Kulturanthropologie ist die Wissenschaft von (fremden) Kulturen, von ihrer Erfahrung, Analyse und Darstellung. Seit den 1970er Jahren ist sie zu einer Leitdisziplin für die Kulturwissenschaften geworden. Sie hat einen umfassenden cultural turn in den Humanwissenschaften ausgelöst, der in der sog. ‚anthropologischen Wende’ in den Sozial- und Geisteswissenschaften(1) ebenso manifest wird wie in einer "Anthropologisierung des Wissens"(2), in der anthropologischen Wende in den Literaturwissenschaften(3). Im Licht der Kulturanthropologie werden in den kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen nicht nur neue Gegenstandsbereiche und Themenfelder erschlossen, sondern auch gemeinsame, disziplinübergreifende Forschungseinstellungen entwickelt. Für die noch nicht abgeschlossene Profilierung der Kulturwissenschaften bietet die Kulturanthropologie wichtige konzeptuelle Anstöße.

Im Unterschied zur deutschsprachigen Tradition(4) einer philosophisch begründeten Anthropologie geht die Kulturanthropologie angloamerikanischer Prägung, die Ethnologie, ausdrücklich nicht von den anthropologischen Konstanten und universalisierbaren Wissenssystemen aus. Ihr Forschungsinteresse erwächst vielmehr aus der Auseinandersetzung mit kulturellen Differenzen und aus Fremderfahrung. Es ist die Kategorie des Fremden, mit der sie einen interkulturellen Untersuchungshorizont abgesteckt hat, der auch für andere Kulturwissenschaften fruchtbar geworden ist. Seitdem die Kulturanthropologie die Beschreibung und Darstellung fremder Kulturen von Macht, Autorität und einer kulturell geprägten Rhetorik durchzogen sieht, beleuchtet sie das Problem der kulturellen Repräsentation überhaupt, das auch in den anderen kulturwissenschaftlichen Fächern eine wichtige Rolle spielt.

Clifford Geertz gilt nicht nur als Vater der modernen Kulturanthropologie, sondern auch als der Begründer einer ihrer einflussreichsten Richtungen: der hermeneutisch und kultursemiotisch angelegten Interpretativen Kulturanthropologie. Sein Werk Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme(5) steht für eine hermeneutische Neuauffassung des Kulturbegriffs. Da freilich jegliches Verstehen anderer Kulturen immer nur der Versuch eines Fremdverstehens sein kann, wird der hermeneutische Prozess unvermeidlich durch Alterität gebrochen: "Was wird aus dem Verstehen, wenn das Einfühlen fehlt?"(6) Mit diesem Akzent auf einer Hermeneutik des Fremdverstehens findet die Kulturanthropologie ihre eigene Position gegenüber den Klassikern, auf die sie sich allerdings vielfach bezieht, wie etwa auf Johann Gottfried Herder, Georg Forster, Wilhelm Dilthey und Hans Georg Gadamer. Von dieser Position aus gibt diese Theorie starke Anstöße für kulturtheoretische und kulturwissenschaftliche Neuorientierung anderer Wissenschaften.

Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Metapher von Kultur als Text, die schon fast zur Formel verfestigt ist. Die Metapher hat Geertz im Anschluss an Paul Riceurs Texthermeneutik formuliert und in seinem Essay über Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf veranschaulicht. (Die soziale Praxis des balinesischen Hahnenkampfs ist als Text betrachtet für Geertz kein bloßes Interaktions- oder Kommunikationsereignis, sondern eine ausgestaltete "Kunstform", die dem Paradigma westlicher Literatur und Kunst nicht nachsteht. Wie ein Schauspiel ist der Hahnenkampf dadurch charakterisiert, dass er nicht in der Flüchtigkeit seiner aktuellen Inszenierungssituation aufgeht, sondern immer wieder erneut die losen Bedeutungsfäden von Alltagserfahrungen an Brennpunkten bündelt, ins Bewusstsein hebt und darstellt, ohne dass Konsequenzen im wirklichen Leben befürchtet werden müssten. Seine Funktion ist "der von King Lear und Schuld und Sühne bei Leuten mit anderem Temperament und anderen Konsequenzen zu vergleichen. Er greift deren Themen - Tod, Männlichkeit, Wut, Stolz, Verlust, Gnade und Glück - auf, ordnet sie zu einer umfassenden Struktur und stellt sie in einer Weise dar, die ein bestimmtes Bild von ihrem eigentlichen Wesen hervortreten lässt.) Sie richtet sich auf die Lesbarkeit und Übersetzbarkeit kultureller Praktiken (wie etwa des Hahnenkampfs) in Analogie zu Texten. Ein (fremder) Kulturzusammenhang wird objektiviert, indem ihm ein Textstatus zuerkannt wird. Damit lassen sich kulturelle Bedeutungen jenseits von Subjektsintentionen und flüchtigen, situativen Handlungsumständen festhalten und in einem gesellschaftlichen System von Bedeutung und kulturorientierter Selbstauslegung verankern. Kultur ist eine eigene Praxis der Signifikation, die Bedeutungen produziert. Sie ist das von den Mitgliedern einer Gesellschaft "selbstgesponnene Bedeutungsgewebe", durch das Handlungen permanent in interpretierende Zeichen und Symbole übersetzt werden(7). Symbole, Rituale, Praktiken, aber z.B. auch literarische Texte sind Darstellungsformen kultureller Selbstauslegung. Sie machen über ihre Ausdrucksdimensionen den Prozess der gesellschaftlichen Bedeutungskonstitutionen zugänglich. Somit gelten sie nicht nur als Objekte von Interpretationen, sondern ihrerseits als kollektive Deutungsinstanzen, insofern sie handlungsorientierende und gefühlsmodellierende ‚Konzepte’ ausbilden.

Wieweit ist die Metapher von ‚Kultur als Text’ methodisch zu konkretisieren? Grundlegend für die kulturanthropologische Interpretation sind nicht etwa schriftliche Texte, sondern die Lesbarkeit von Handlungszusammenhängen in ihrer Zeichen- und Textstruktur, d.h. in ihrer Aufladung mit kulturellen Kodierungen. Dieses Kulturverständnis ist nicht nur ein semiotisches, sondern auch ein holistisches. Denn Kultur gilt hier als ein Bedeutungszusammenhang, der auf synekdochische Weise rekonstruiert werden kann, d.h. ausgehend von signifikanten Einzelheiten als Brennpunkten des Ganzen(8). Was durch das Textmodell freilich ausgeblendet wird, sind zentrale Momente des sozialen Handelns und der kulturellen Erfahrung: Situationsabhängigkeit, Intentionalität, Mündlichkeit, die Dynamik kultureller Handlungen und Konfliktverläufe, die Prozesshaftigkeit performativer Ereignisse, die geschlechtsspezifische Differenzierung von Kulturbedeutungen sowie die dialogische Hervorbringung von Kultur. Kultur als Text aufzufassen heißt, ein gemeinsames Feld abzustecken, das nur durch disziplinübergreifende Fragestellungen zu bearbeiten ist. Kultur ist ein Bereich, der - ähnlich wie ein Text - zu verschiedenen Lesarten aufruft.

Der Ethnologe Clifford Geertz schlägt die Definition der "ethnographischen Beschreibung" als Aufzeichnung einer Deutung des sozialen Diskurses vor, die sämtliche symbolischen Dimensionen sozialen Handelns (Kunst, Religion, Ideologie, Wissenschaft, Gesetz, Ethik) betrifft.

Dass ‚Texte’ auch in ihrer formal-ästhetischen, narrativen und rhetorischen Feinstruktur zum Gegenstand ethnologischen Erkenntnisinteressen werden können, regt indessen die Literaturwissenschaft dazu an, literarische Texte als Medien gesellschaftlicher Selbstbeobachtung zu interpretieren und ihnen Beobachtungs- und Unterscheidungssemantiken zuzuschreiben, die ‚Realität’ als soziales Konstrukt überhaupt erst wahrnehmbar und kommunizierbar machen.

Ein Ineinanderwirken von Ethnographie und Literatur auf der Ebene der Texte selbst ist jedenfalls keineswegs neu. Neu hingegen ist eine Interpretationshaltung, die Ethnographien im Licht der Literatur und Literatur im Licht ethnographischer Einstellungen untersucht, um damit - über die Disziplinengrenzen hinaus - zu Grundlagen der Konstituierung kultureller Bedeutungen zu vorzustoßen. Verlangt wird eine Neusicht literarischer Texte: Literarische Texte sind Medien kultureller Selbstauslegung, deren Horizont die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet. Die Ausbildung einer ethnologischen Perspektive bedeutet auch für die Literaturwissenschaft eine Öffnung hin zu den Ausdrucksformen, in denen die Verschiedenheit von Lebensweisen und Alltagssituationen ausgestaltet wird, eine Hinwendung auch zu Oralität, zu Fremdkulturellem, zur kritischen Selbstreflexion der europäischen Kultur und des europäischen Literatur- und Kulturverständnisses.

Wenn das Konzept von "Kultur als Text" anfangs noch eng auf die ethnologische Forschung und den semiotischen Rahmen der Interpretativen Kulturanthropologie rückbezogen wurde, so wird es etwa seit Ende der 1990er Jahre in Anspruch genommen, um einen breiteren, disziplinübergreifenden Horizont der Kulturwissenschaften zu überspannen. "Kultur als Text" avancierte also von einer konzeptuellen Metapher der Verdichtung kultureller Bedeutungen zu einer sich frei bewegenden Bezugsformel kulturwissenschaftlicher Analysen, die seitdem verstärkt auf ihre Konkretisierbarkeit hin überprüft werden sollten. Erstaunlicherweise hat im Verlauf des kulturwissenschaftlichen Diskurses gerade das Konzept "Kultur als Text" trotz wachsender Kritik als beständiges Leitmodell gedient, das bis heute allerdings die Kulturdebatte längst als Begrenztheit eines holistischen Kulturverständnisses hinter sich gelassen hat. Der Diskussionsrahmen hat sich in den letzten Jahren verändert, denn die anthropologische Wende (in der Literaturwissenschaft) mündete zunehmend in eine umfassendere Debatte über (Literaturwissenschaft als) Kulturwissenschaft.

Die ethnologische Wende wurde zum Sprungbrett für fachübergreifende Wenden. Für mich scheint von großer Bedeutung die postkoloniale Wende zu sein. Wie ich schon erwähnt habe, hat der kulturanthropologische Kulturbegriff mit einem Plädoyer für die Verschiedenheit und Besonderheit von Kulturen begonnen. Mittlerweile scheint er gleichsam das Ende des Kulturbegriffs selbst einzuläuten, indem die Vorstellung von Kulturen als in sich abgrenzbare und homogene Ganzheiten aufgegeben wird. Mit dem Ziel einer umfassenderen Grundlegung der Kulturwissenschaften selbst wird vielmehr auf ein verändertes, nicht essentialistisches Kulturverständnis hingearbeitet, das auf Vermischungsprozesse ausgerichtet ist. Damit bleibt die Kulturanthropologie nicht nur auf eine empirische Wissenschaft beschränkt, die durch die ‚teilnehmende Beobachtung’ die Lebenszusammenhänge fremder Kulturen erforscht. Erst im Zuge der postkolonialen Theorie lockert sich die kulturalistische Fixierung auf den Kulturbegriff. Politik, Wirtschaft, Geschichte und geschlechtsspezifische Differenzierungen treten in den Vordergrund. Der Anstoß hierzu kommt bezeichnenderweise aber nicht von der Kulturanthropologie, sondern von der Literaturwissenschaft.

Rückgebunden an die Konstellation von Kolonialismus und Postkolonialismus betont Homi Bhabha, ein Hauptvertreter der postkolonialen Theorie, das Konzept der Differenz. Differenz wird zu einer Kategorie der kulturellen Interaktion. Mit ihr wird das traditionelle Kulturkonzept (und auch die ‚Kultur als Text’) aufgebrochen, davon ausgehend, "dass das Problem der kulturellen Interaktion nur an den signifikatorischen Grenzen von Kulturen auftaucht, an denen Bedeutungen und Werte (miss)verstanden oder Zeichen aus ihrem Kontext gerissen werden(9). Im Unterschied zur langen hermeneutischen Tradition der Kulturanthropologie mit ihrem Schwerpunkt auf Fremdverstehen werden die Kategorien der Differenz, der Brüche, der produktiven Zwischenräume und Grenzzonen, der Vermischungen und des Missverstehens zu wichtigen neuen Ausgangspunkten der Kulturanalyse.

Die postkoloniale Perspektive (besonders der Blickwinkel der nicht-europäischen Literatur) ist eine entscheidende Antriebskraft für eine Modifikation der Kulturanthropologie und ihres Kulturkonzeptes. Sie umreißt den Horizont für eine Kulturkritik, die auf ein Umschreiben der hegemonialen Repräsentationssysteme zielt bzw. die Selbstrepräsentation der bisher marginalisierten Kulturen und Subjekte fördert. Die traditionellen Schlüsselkonzepte wie der Andere/Fremde, teilnehmende Beobachtung und kulturelle Identität bzw. Kulturübersetzung werden redefiniert. Nicht mehr die Decodierung von Bedeutungen steht im Vordergrund, sondern eher die Vorgänge, die sich bei der Auseinandersetzung um Handlungsfähigkeit, um die Macht der Symbolik und um die Bewältigung von Bedeutungskonflikten zwischen sozialen Gruppen und Kulturen abspielen.

Kultur als konfliktreicher Prozess des Aushandelns (von Differenzen, die damit nicht mehr länger als Wesensunterschiede festgeschrieben werden) tritt zunehmend an die Stelle von Kultur als Text. Hybridisierung, Ungleichzeitigkeiten, dritte Räume für Heimatlosigkeit und gebrochene Identitäten in kulturellen Zwischenwelten sowie Spannungsräume interkultureller Auseinandersetzung öffnen den Blick für Äußerungen marginalisierter Subjekte und Gesellschaften sowie für die damit verbundene Durchsetzung indigener Interessen. Dies führt weit hinaus über die bloße Lesbarkeit von Bedeutungszusammenhängen, wie sie durch Selbstauslegung zusammengehalten werden. Mit der Einsicht der Asymmetrie der Kulturen selbst wird somit das Problem der ethnologischen Repräsentation und Übersetzung an der Gelenkstelle zwischen Kulturanthropologie und postkolonialer Theorie politisch aufgeladen. Es führt zu kulturpolitischen Ansätzen, die es für notwendig halten, pragmatische Strategien für ein selbstbewusstes Aushandeln kultureller Differenzen gerade auch in nicht-europäischen Gesellschaften zu entwickeln.

Kulturen im globalen Zeitalter stehen unter dem Vorzeichen einer Überlagerung und Transformation der vielschichtigen Zugehörigkeiten und Diaspora. Dadurch wird die Vorstellung von Kultur als einer ‚reinen’, in sich geschlossenen traditions- und identitätssichernden Instanz immer fragwürdiger. Ein holistisches Kulturverständnis wird immer brüchiger. Kulturen konstituieren sich als Übersetzung(10) bzw. als Prozess der Überlagerung und Vermischung verschiedener Kulturen (Hybridität, Synkretismus, Kreolisierung). Die dennoch weltweiten kulturellen Hierarchien und ihre ungleiche Machtverteilung stellen freilich auch die Kulturanthropologie vor neue, postkoloniale Herausforderungen. Die Kulturanthropologie ist dabei, sich neu zu orientieren angesichts einer transnationalen Weltgesellschaft, deren ökonomisch-kulturellen Verflechtungen die traditionelle Fremdheitskategorie außer Kraft setzen, indem sie eher auf globale Vereinheitlichungen statt auf globale Vielfalt zielen.

Unter derart veränderten Vorzeichen lenken Kulturanthropologie und Postkolonialismus die Aufmerksamkeit nicht nur auf Differenzen und Übersetzungen zwischen den Kulturen, sondern innerhalb von Kulturen. Solche Übersetztheit von Kultur wird als Hybridität bezeichnet (Bhabha 2000). Auch die Kulturanthropologie richtet den Blick verstärkt auf Phänomene von Konflikt, Überlagerung, Vermischung. Dies führt zu neuen methodischen Differenzierungen des Kulturverständnisses und des Kulturvergleichs. So ist davon auszugehen, dass Kulturen nicht vorgängig existieren. Sondern dass sie durch kulturelle Kontakte überhaupt erst Gestalt annehmen: Im Sinne von Kontaktzonen, vom ‚Dritten Raum’ der Übersetzung kultureller Differenzen bzw. von interkulturellen Zwischenräumen(11). Es geht um eine handlungstheoretische, akteursorientierte Überarbeitung des Kulturverständnisses. Nicht mehr primär die Beziehungen zwischen (kulturellen) Texten und Bedeutungen treten hier ins Blickfeld, sondern Faktoren wie Macht, Prozesse des Aushandelns von Bedeutungen im Kontakt der Kulturen, Interkulturalität - bis hin zu den neuen Herausforderungen durch grenzüberschreitende Aktivitäten, aber auch Zumutungen und Verluste einer globalen Kultur und Wirtschaft.

Was aber bedeutet dieses veränderte Kulturverständnis für die Literaturwissenschaft? Auch die Literaturwissenschaften machen ihre eigene Wende durch - indem sie nicht stehen bleiben beim Konzept von "Kultur von Text", sondern den zugleich ausgelösten Prozess der Kultur- und Textreflexion weitertreiben. Erstrebenswert wäre hier nicht nur eine veränderte "Theorie der Texte, die sowohl in wie auch zwischen den Kulturen das Ausagieren von Dispositionen, Positionen und Ordnungszwängen in den Blick bringt", so dass literarische Texte sich nicht auf Texte einer Kultur festlegen lassen, schon gar nicht im Sinne kanonischer Texte. Vielmehr werden sich auch solche Modelle von Texten zwischen den Kulturen erst dann bewähren, wenn man versucht, von dem spezifischen ästhetischen Horizont dieser Texte auf globale Zirkulation von Texten überhaupt auszugreifen. Wie auch die Kulturanthropologie nicht stehen bleibt bei der Analyse fremder Kulturen , sondern sich zur Makroethnologie des Globalisierungszeitalters weiterbildet und transnationalisiert. So ist auch die Literaturwissenschaft herausgefordert, sich in Anschluss an ein zugleich umfassendes wie spezifisches Verständnis von "Kultur als Text" transnational in der entsprechenden Weltgesellschaft zu verorten und sich dabei den Literaturen der Welt auszusetzen. Dazu genügt es allerdings nicht, literarische Texte in größere Diskurs- und Kulturzusammenhänge einzubinden. Über die "Situierung literarischer Diskurse im Prozess der Zivilisation" hinaus geht es vielmehr um eine deutlichere Lokalisierung im interkulturellen Beziehungsfeld. Das Konzept von "Kultur als Text" stößt hier freilich an die Grenzen seines eigenen Kulturbegriffs. Doch gewinnt es zugleich eine weitere Dimension, sobald eben nicht mehr nur die Hermeneutik des Kulturverstehens, sondern die Dynamik der kulturellen Entwicklungsprozesse selbst zum Treibstoff der kulturwissenschaftlichen Forschung wird. Betroffen ist die globale Zirkulation von Texten, aber auch die spezifischen Verknüpfungszusammenhänge und zugleich Differenzen zwischen Kulturen, Texten und anderen Medien.

Im Folgenden wird von der Arbeit versucht, die queers studies gezielt als eine Lesbarkeit von Kulturen und von Differenzen vorzustellen.

Der fremde theoretische Hintergrund, vor allem Poststrukturalismus und Dekonstruktion, verlockte zur Aneignung. "Queerness ist ein kulturelles Projekt, das Identität erforscht, indem es sie problematisiert, und ein Projekt, das über schwierige Zusammenschlüsse [...] mit dem Ziel einer neuen Identifikation reflektiert, die solche Zusammenschlüsse transzendiert."(12)

Zu den Erkenntnissen von postcolonial studies und queer theory, die sich im letzten Jahrzehnt nahezu als Gemeinplatz durchgesetzt haben, gehört jene von der Interdependenz der Konzepte von ‚Rasse’ und Geschlecht, der Unmöglichkeit, das eine ohne das andere adäquat zu analysieren.(13) Auch im deutschen akademischen Diskurs wird dieser Ansatz weitgehend anerkannt - mit einer wichtigen Ausnahme: der Analyse der deutschen Gesellschaft. Hier dominiert noch immer die Überzeugung, dass ‚Rasse’ ein Konzept sei, das im deutschen Kontext - bis auf die Jahre 1933-45 - irrelevant sei und so außer Acht gelassen werden könne.

Im Folgenden möchte ich anhand des Beispiels queer identity aufzeigen, dass diese Annahme höchst problematisch ist und im Gegenteil eine Analyse der auch für die deutschen Verhältnisse determinierenden Verbindung von Sexualität, gender und race. Es ist wichtig, auch im deutschsprachigen Raum innovative Beiträge zu queer theory und postcolonial studies zu leisten, sie könnten auf die deutsche politische und soziologische Praxis angewandt werden. Ursprünglich geht es in dieser Theorie um die Assimilation von weißen Lesben und Schwulen an ein europäisches System, die später zu der Problematik von marginalisierten Identitäten hinausführte.

Das Konstrukt der ‚Rasse’ wird europäische Gesellschaften betrachtend den Faktoren ‚Klasse’ und ‚Geschlecht’ untergeordnet. Deshalb ist die Orientierung der Diskurse problematisch. Im westlichen Denken ist Sexualität zum wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand geworden, sie ist eng mit dem Konzept von ‚Rasse’ verbunden. Nur den Weißen wird die Fähigkeit zugeschrieben, ihre sexuellen Instinkte zu domestizieren und zu kontrollieren, und durch diese ‚Reinigung’ wird eine zivilisierte Ordnung hergestellt. Alle anderen ‚Rassen’ versagten in dieser Beziehung, zeigten eine ‚abweichende’ Sexualität auf. Erst als diese Trennung vollzogen und die weiße Überlegenheit erneut bewiesen worden war, wurde auch die europäische Bevölkerung selbst anhand der entworfenen Kriterien untersucht. Nach der These von Fatima El-Tayeb ließ die rigorose Anwendung der bereits in der Rassenforschung erprobten Normen schließlich nur noch den weißen, bürgerlichen, heterosexuellen Mann als völlig normal erscheinen. Im späten 19.Jahrhundert begannen sich die Studien des ‚Anormalen’ immer mehr auf eine durch das Verletzen dieser sexuellen Normen hervorgerufene ‚Degeneration’ der weißen Gesellschaft zu konzentrieren. Frauen, deren Verhalten als abweichend definiert wurde, z.B. Lesben und Prostituierte, wurden ebenso für diese Degeneration verantwortlich gemacht wie Männer, die ihre Rollenvorgabe nicht angemessen erfüllten, d.h. Schwule. Sie alle waren ‚abweichend’ aus denselben Gründen, aus denen ‚Wilde’ es gewesen waren. Dieser Haltung zum Trotz zieht sich die Verbindung von ‚Rasse’ und Sexualität auch durch die deutschsprachige Geschichte, sie wird jedoch noch weniger als in anderen Nationen zur Kenntnis genommen.(14) Die verbreitete Illusion, ‚Rasse’ sei, dank der mono-ethnischen Zusammensetzung des deutschen Volkes ein Begriff ohne Bedeutung für den nationalen Diskurs, wird jedoch angesichts eines Ausmaßes an rassistischer Gewalt, das weit über dem europäischen Durchschnitt liegt, ad absurdum geführt. Sie wird dennoch aufrecht erhalten, indem die Ursache für diese Gewalt letztlich in der, angeblich besonders für Ostdeutsche, ungewohnten und allgemein das Ausmaß des Erträglichen überschreitenden Anwesenheit von ‚Fremden’ gesucht und das Problem so wieder nach ‚außen’ verlagert wird.

Die Option bürgerlicher Normalität für sexuelle und andere Außenseiter geht mit einem Erstarken eines Modells kulturalistischer Anomalität. Das vereinte Europa definiert sich zunehmend über ethnische und ökonomische Bindungen, zur Gemeinschaft zu gehören, bedeutet primär, Zugang zu wirtschaftlichen Privilegien zu besitzen, auf die Nicht-Europäerinnen keinen Anspruch mehr haben. Die Festung Europa beinhaltet, dass Nicht-Europäer möglicherweise allein durch ihre Anwesenheit zu Gesetzesbrechern werden. Während sich die Zugehörigkeit definiert, sieht die Praxis anders aus. Die Abschottung nach außen ging einher mit der Grenzöffnung nach innen. Wenn allgemeine Grenz- und Passkontrollen aber wegfallen, muss die Zugehörigkeit auf anderem Wege determiniert werden, nämlich durch eine gängige, breit anerkannte ‚sichtbare’ Alltagsdefinition von ‚Europäisch-sein’: In der Praxis heißt das zumeist ‚weiß sein’. Auch wenn kein europäisches Land seine Einwohner offiziell nach ‚Rassen’ kategorisiert und es einige Millionen nicht-weißer Europäer gibt, ist es diese Kategorie, die in der Praxis sowohl für die Behörden als auch für die Allgemeinbevölkerung das entscheidende Erkennungsmerkmal der Zugehörigkeit darstellt.(15)

Die Forderung nach Einschluss in die bestehenden Verhältnisse, ohne grundsätzliche Kritik an ihnen, zeigt so die Ambition, zu einer In-Group zu gehören, die sich immer mehr nach außen abschottet. Die Konzentration auf Inklusion bedeutet Solidarisierung mit dem mainstream, statt Solidarität der Marginalisierten, indem Ausgrenzungsmechanismen bloßgelegt und so Möglichkeiten zu Veränderung geschaffen werden. Die Kampagne für die eingetragene Partnerschaft war zu sehr an einer Normalisierung von Lesben und Schwulen orientiert, entsexualisierte die Homosexualität durch die Betonung ‚traditioneller Familienwerte’ wie Verantwortungsbewusstsein, Monogamie, Häuslichkeit, etc. Der Versuch, sich so vom Stigma des sexuellen Außenseitertums zu befreien, bedeutete gleichzeitig die Absage an einen grundsätzlichen Angriff auf den Prozess der Stigmatisierung. Das Sünden-bock-Prinzip westlicher Gesellschaften wurde nicht problematisiert, lediglich darauf bestanden, nicht mehr selbst in diese Rolle gedrängt zu werden. Eine Assimilation in den mainstream, ohne Sexismus und Rassismus zu reflektieren, bedeutet aber ein implizites in Kauf Nehmen seiner Ausgrenzungspraktiken. Die vermeintliche ‚Homogenisierung’ der Gesellschaft, die den Gegensatz zwischen homo und hetero verwischt, bedeutet die Übertragung der Normen der Mehrheitsgesellschaft auf die queer community. Ausgeschlossen werden diejenigen, die dem mainstreaming im Wege stehen, da sie die Normen nicht erfüllen wollen, etwa weil sie keine Lebenspartnerschaft anstreben und so die Rolle des moralischen Außenseiters behalten bzw. auch vom homosexuellen mainstream zugewiesen bekommen, und mehr noch diejenigen, die die Normen nicht erfüllen können, da sie aufgrund anderer Kriterien ‚abweichend’ sind, so z.B. queer of color.

Der deutsche (bundesrepublikanische) Diskurs ist in seiner Gesamtheit von der Annahme geprägt, alle Subjekte, d.h. alle diejenigen, die sich am Diskurs beteiligen können, seien erstens deutsch, zweitens weiß und drittens christlich sozialisiert (wobei die Kategorien als notwendig miteinander verbunden betrachtet werden), alle anderen erscheinen als Objekte über die, aber nicht mit denen man spricht. Besonders deutlich wird diese generelle Tendenz naturgemäß an Teildiskursen, die diese ‚Anderen’ zum Thema haben. Diskussionen um Staatsbürgerschaftsrecht, ‚Zuwanderungsgesetz’, Asylmissbrauch oder ‚fremdenfeindliche’ Gewalt werden mit aller Selbstverständlichkeit unter Mehrheitsdeutschen geführt - die bei Bedarf die Interessen ‚der Ausländer’ vertreten und so deren direkte Beteiligung überflüssig machen.

Dieser Autismus erstreckt sich auf den grössten Teil der queer community. Sowohl im mainstream als auch im internen Diskurs erscheint die deutsche Mehrheitsgesellschaft als ausschließlicher Bezugspunkt, die homosexuelle Orientierung als primäre Differenz und ihre gesellschaftliche Anerkennung als einzige Voraussetzung zur Assimilation. Komplexere Bezüge werden ebenso ignoriert, wie die Existenz von queer of color innerhalb der eigenen Gemeinschaft. Sie werden in der community meist zur Kenntnis genommen, wenn es gilt, die eigene ‚Buntheit’ zur Schau zu stellen oder Fragen von Asyl und Migration explizit zu thematisieren.(16) Im Allgemeinen werden der andere Erfahrungshorizont und die zusätzlichen Loyalitäten nicht-mehrheitsdeutscher queers jedoch nicht in die gemeinsame queere Identität integriert, sondern entweder negiert oder als ‚problematisch’ interpretiert. Eine Kenntnis etwa der (im Vergleich zum Christentum wesentlich reichhaltigeren und toleranteren) Darstellung von Homosexualität in der klassischen islamischen Literatur ist ebenso wenig notwendiger Bestandteil einer progressiven, ‚multikulturellen’ queer identity in deutschsprachigem Raum wie eine Auseinandersetzung mit dem Beitrag nicht-weißer Theoretiker zum anderen (nicht nur lesbisch-schwulen) ‚Kanon’. Stattdessen werden gesamtgesellschaftliche Marginalisierungsprozesse wiederholt und Nichtdeutsche/Nichtösterreichische über einen Mangel definiert, indem progressive, westliche andere Welt und traditionelle, homophobe, rückständige ‚Ursprungskultur’ einander gegenüber gestellt werden. Die schwierige Position von queers of color innerhalb der Gemeinschaft erklärt sich folglich nicht aus dem Rassismus der community, der keinen Platz für Unterschiede lässt, sondern aus dem Emanzipationsdefizit der nicht mehrheitsdeutsch Sozialisierten. Queers of color erscheinen als Anomalität, die die gewohnheitsmäßige Gegenüberstellung von queer community und ‚Ausländern’ nicht in Frage stellt - und damit die Aufrechterhaltung der Behauptung erlaubt, Rassismus würde Erstere nichts angehen (auch dies in Einklang mit der gesamtgesellschaftlichen Haltung).(17)

Dieses mangelnde Bewusstsein von Diversität als Normalzustand führt dazu, dass auch diejenigen, die den Widerstand der community gegen Rassismus einklagen, die Trennung in ‚wir’ und ‚sie’ nicht überwinden(18). Wenn gefordert wird, dass die sexuell andere Gemeinschaft die Verbindungen von Homophobie und Rassismus erkennt und damit Letzteren als auch für sie relevant begreift, bleiben erneut diejenigen, die diesen Zusammenhang verkörpern und damit aus den akzeptierten Mustern fallen, ausgeklammert. El-Tayeb bringt als Beispiel das ungewohnt politische Motto des Berliner Christopher Street Day 2001 - ‚Berlin stellt sich que(e)r gegen rechts’ - zwar in der lesbisch-schwulen Presse begrüßt, aber allgemein durch ein ‚wir könnten die nächsten sein’ motiviert. Symptomatisch der Leitartikel in gaypress.de: "Als Minderheit sind wir ‚Betroffene’ und wegen unserer sexuellen Orientierung potenzielle Angriffziele von Rechtsextremen und dabei auf die Solidarität der Mehrheitsgesellschaft angewiesen."(19) Nirgendwo findet sich die Erkenntnis, dass ein Teil der eigenen community bereits jetzt von rechtsextremer Gewalt und Alltagsrassismus betroffen ist und dass weiße Schwule und Lesben in diesem Kontext nicht nur Opfer, sondern auch Täterinnen sein können. So wird die Polarität von implizit mehrheitsdeutschen Lesben und Schwulen auf der einen und implizit heterosexuellen ‚Ausländern’ auf der anderen Seite aufrechterhalten. Eine Anerkennung der permanenten Vermischung beider Kategorien hieße das Aufgeben einer autoritativen Position (die Homosexualität, die den Migranten erklärt wird) und ein Akzeptieren der Heterogenität der queer commuity; die eigene Position müsste relativiert, die als selbstverständlich genommene Hegemonie aufgegeben werden. Wären weiße queers mit ihrer eigenen Dominanzpolitik konfrontiert, erschiene die Auseinandersetzung mit Rassismus nicht mehr als großzügiger Akt der Solidarität, sondern als eingeklagte Notwendigkeit. Dass diese Konfrontation in Deutschland kaum stattfindet, liegt nicht daran, dass queers of color sich nicht zu Wort melden würden, sondern an der geschilderten Ausgrenzungspraxis, die ihre Äußerungen als nicht relevant wahrnimmt. Kritik tritt so meist ‚gefiltert’ in den Diskurs ein, oft im Kontext der queer theory.

Diese befindet sich in einer zwiespältigen Lage. Einerseits wächst ihr Status innerhalb des akademischen Diskurses, so löst sie inzwischen immer mehr die traditionellen Frauenstudien ab, wenn es um gender-Fragen geht, andererseits ist ihr Anspruch, zumindest theoretisch, weniger die Integration in den Kanon als seine Unterwanderung.(20) Ein Anspruch, der sich allerdings in der lesbisch-schwulen Praxis kaum widerspiegelt. Hier dominiert stattdessen zunehmend jene Identitätspolitik, die von der queer theory als politische Sackgasse interpretiert wird. Tatsächlich erlaubt ein Ansatz, der nicht von ‚natürlichen’, klar definierten Identitäten, sondern ihrer Konstruiertheit ausgeht, Gemeinsamkeiten im Umgang mit Marginalisierten zu erkennen und einen Kontext sichtbar zu machen, in dem der Einschluss ‚akzeptabler’ Anderen/Außenseiter und der gleichzeitige Ausschluss anderer als ‚inakzeptabel’ nicht als isolierte Entwicklungen, sondern Teil eines Prozesses erscheinen. Eine Umsetzung der theoretischen Erkenntnis mittels konkreter politischer Bündnisse fehlt jedoch. Wohl u.a. deswegen, weil die queer theory, trotz ihrer Abwendung vom ‚ethischen Modell’ der Homosexualität, d.h. dem Glauben an eine aus gemeinsamen Erfahrungen und Lebensumständen resultierende klare Gruppenidentität mit gemeinsamen politische Zielen, die sexuelle Differenz priorisiert. Queer als Oberbegriff marginalisierter Sexualitäten (Identitäten?) trägt einerseits der Tatsache Rechnung, dass diese immer auch stark durch ‚Rasse’ und Klasse - bestimmt wurden, andererseits wird die konstituierende Rolle dieser Konzepte für den westlichen Sexualitätsdiskurs in der Analyse zu oft vernachlässigt(21). Trotz des einschließenden, grenzüberschreitenden Anspruchs wird insbesondere whiteness zu oft als unhinterfragte Norm gesetzt, statt als ‚Kopie ohne Original’, das ebenso wie die Heterosexualität, immer wieder neu konstruiert werden muss und ‚ethnische Identitätsmodelle’ entwickelt, die für ethnische Minderheiten ebenso problematisch sind wie für Lesben und Schwule.(22)

In Deutschland findet eine akademische Auseinandersetzung mit der permanenten Interaktion race und gender kaum statt, sind doch auch die queer Theoretiker zum großen Teil im oben dargestellten begrenzten Diskurs gefangen, der verlangt, Differenzen streng voneinander getrennt zu behandeln. So kommt es zwar vereinzelt zu einer Kritik an rassistischer Ausgrenzung als konstituierendem Moment des vereinten Europa, die Opposition des ‚Wir’ der sexuell Marginalisierten auf der einen und der Migrantinnen auf der anderen Seite wird jedoch nicht in Frage gestellt, so dass die Forderung nach Koalitionsbildung ohne konkrete (Theorie)Ansätze bleibt.(23) Eine ‚Kreuzung’ der Disziplinen, die sich der Konstruiertheit von geschlechtlicher wie ethnischer Identitäten bewusst ist und so etwa in queer studies resultiert, die Konzepte von whiteness analysieren(24), bleibt so vorerst noch utopisch.

Dennoch bietet die queer theory ein Analysemodell, das sich in der gegenwärtigen Situation insbesondere für queer of color als nützlich erweisen könnte. Es ist jedoch die Frage, wie eine queer community zu definieren ist, innerhalb derer eine fruchtbare Auseinandersetzung stattfinden kann. Dass der Inhalt von queer nie klar zu bestimmen ist, aber nie insgesamt erfasst werden kann, gehört schließlich zu den Grundprinzipien dieser Theorie. Ist also eine auf Normalisierung und Assimilation ausgerichtete lesbisch-schwule Bewegung überhaupt queer? Ist angesichts des zunehmenden innerdeutschen Rassismus und des Ausbaus der Festung Europa die sexuelle Orientierung ausreichend, um eine gemeinsame Interessenbasis für ganz unterschiedlich von diesen Entwicklungen Betroffene zu schaffen? Oder ist es sinnvoller, nach praktischen Ansätzen einer queeren Politik außerhalb ihrer landläufigen Definition zu suchen? So etwa im Gründungsmanifest von Kanak Attak (einer Gruppe, in der nicht zufällig zahlreiche queer of color vertreten sind):

"Kanak Atak bietet eine Plattform für Kanaken aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen, denen die alte Leier vom Leben zwischen zwei Stühlen zum Hals raushängt und die den Quatsch vom lässigen Zappen zwischen den Kulturen für windigen, postmodernen Kram halten. Kanak Attak will die Zuweisung von ethnischen Identitäten, das ‚Wir’ und ‚Die’ durchbrechen."(25)

Die Bedeutung der Butlerschen Theorie der diskursiven Subjektkonstituierung für das Entstehen einer ethnischen Minderheitsidentität liegt ebenso auf der Hand wie die Nützlichkeit von Erkenntnissen über Lesben als stumme ‚Unsubjekte’ des Sexualitätsdiskurses für ein Analysieren der Position ethnischer ‚Unsubjekte’, Afro-Deutscher, Türkisch-Deutscher etc., zwischen Norm, d.h. ‚deutsch’, und Abweichung, also ‚Ausländer’. Ein strategischer Umgang mit den zugeschriebenen essentiellen Identitäten gehört für diese Gruppen ohnehin mehr zu den täglichen Notwendigkeiten als es für mehrheitsdeutsche Lesben und Schwule noch der Fall ist und eine queere Performanzpraxis - ohne dass es notwendigerweise zur theoretischen Reflektierung kommt - lässt sich heute eher in der von ‚Bindestrich-Deutschen’ dominierten HipHop-Szene(26) finden als im LVSD.

Die europäische Weigerung, sich mit der eigenen rassistischen Tradition und Praxis offensiv zu konfrontieren, manifestiert sich im eingangs genannten EU-Beschluss ebenso wie in lesbisch-schwuler Politik. Diese Weigerung könnte angesichts der heutigen gesellschaftlichen Realitäten größere Auswirkungen auf die Situation von queers of color haben als die Einführung der eingetragenen Partnerschaft. Daher erscheint es sinnvoll, die queer theory beim Wort zu nehmen und das Scheitern einer lesbisch-schwulen Bewegung anerkennend neue queere Koalitionen zu schließen. Koalitionen, in denen mehrheitsdeutsche Lesben und Schwule, die sich nicht durch eine Assimilationspolitik vertreten sehen, ebenso Bündnispartner sein können wie Nicht-Mehrheitsdeutsche, die bereit sind, das queering ethnischer Identitäten um die Auseinandersetzung mit sex und gender zu ergänzen.

© Andrea Horváth (Universität Debrecen)


ANMERKUNGEN

(1) Lepenies, Wolf: Anthropologische Tendenzen in der Wissenschaftssoziologie. In: Biruta Schaller u.a. (Hgg.): Schau unter jeden Stein. Merkwürdiges aus Kultur und Gesellschaft. Festschrift für Dieter Claessens. Frankfurt a.M./Basel 1981, S.179-197.

(2) Frühwald, Wolfgang et al. (Hg.): Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.

(3) Bachmann-Medick, Doris: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Fischer, Frankfurt a.M., 1996.

(4) Cassirer, Ernst: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1961.

(5) Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a.M..: Suhrkamp 1983. (Orig.: The Interpretation of Cultures. Selected Essays. London: Hutchinson 1973.)

(6) A.a.O., S.290.

(7) Geertz, 1983, S.9

(8) Bachmann-Medick 1998, S.22

(9) Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000 (orig.: The Location of Culture. London/New York: Routledge 1994), S.52.

(10) Bhabha 2000, S.57.

(11) Bhabha 2000, Bachmann-Medick 1998 und 2002, Wolf 2000

(12) J. Weeks: Sexualität, Subversion, Bürgerpartizipation. In: Zeitschrift für Sexualforschung 8 (1995)3, S.233.

(13) Fatima El-Tayeb erklärt in ihrer Arbeit Begrenzte Horizonte. ’Queer Identity’ in der Festung Europa, dass es in dieser Diskussion um ’Rasse’ als wissenschaftliches und politisches Konstrukt von immensem Einfluss, nicht um ’Rasse’ als biologische Realität geht. Die Erkenntnis, das letztere nicht existiert, kann jedoch nicht allein durch die Vermeidung jeder Referenz auf Rassenkonzepte zum Allgemeingut werden. Denn so werden einerseits die enormen politischen und ökonomischen Ungleichheiten, die die soziale Wirksamkeit der Rassenhierarchie mit sich brachte und noch bringt, ignoriert, d.h. struktureller Rassismus kann nicht adäquat analysiert werden. Andererseits wird das Widerstandspotenzial sozialer Gruppenidentitäten, die sich als Reaktion auf rassische Zuschreibungen bildeten, negiert .

(14) Vgl. El-Tayeb, Fatima: Schwarze Deutsche. Der Diskurs um ’Rasse’ und national Identität 1890-1933. Frankfurt am Main: Campus, 2001.

(15) Hier bezieht sich El-Tayeb auf das Eurometer 2000. Dass allein dunkelhäutige Menschen ihre Pässe vorzeigen müssen, wenn der BGS Grenzkontrollen in Zügen oder Bussen durchführt, ist zudem eine Tatsache, die zumindest denjenigen, die zu den immer wieder Kontrollierten gehören, mehr als deutlich bewusst ist.

(16) Vgl. Castro Varela, Mariad o Mar/Gutiérrez Rodríguez, Encarnación: "Queer Politics im Exil und in der Migration." In: Nico Berger u.a. (Hg.): Queering Demokratie. Berlin: Querverlag, 2000

(17) Symptomatisch die Titelgeschichte des lesbisch-schwulen lifestyle-Magazin Outline im August 2000: "Ich bin stolz, ein Gay-Skin zu sein!", die es weitgehend versäumte zu hinterfragen, inwieweit die Akzeptanz der (Selbst)Definition schwuler Skins als ’unpolitisch’ eine Unterstützung rassistischer Gewalt bedeutet, wenn sie sich auch auf diejenigen erstreckt, für die das Tragen rassistischer Symbole lediglich eine Modefrage ist - und eine Ausgrenzung derjenigen, für die das Vorhandensein dieser Symbole Anzeichen einer tödlichen Bedrohung sein kann.

(18) Vgl. Hark, Sabine: Durchquerung des Rechts. In: Berger, Nico u.a. (Hg.): Queering Demokratie. Sexuelle Politiken. Berlin: Querverlag, 2000

(19) Gaypress.de, Nr.6, Juni/Juli 2001,4

(20) So erklärt Judith Butler in Imitation und die Aufsässigkeit der Geschlechtsidentität, nicht ganz überzeugend: "Ich verstehe den Begriff ‚Theorie’ nicht und habe kein Interesse daran, als deren Verfechterin vereinnahmt zu werden und noch weniger als Teil einer elitären Clique schwul-lesbischer Theoretikerinnen bezeichnet zu werden, die schwul-lesbische Studien in der akademischen Welt legitimieren und domestizieren wollen." (In: Hark, Sabine (Hg.): Grenzen lesbischer Identitäten. Berlin: Querverlag, 1996, S.17)

(21) Ebenfalls problematisch ist die Abgrenzung vom Feminismus, die mit einer Vernachlässigung feministischer Analysen zur sozialen Funktion von Geschlechts- aber auch ethnischer Identitäten einhergeht und so wieder zu einer ahistorischen Abstrahierung sozialer Konstrukte beiträgt. Ein Prozess, der insbesondere für diejenigen, die auf mehr als eine Art marginalisiert sind, große Gefahren birgt.

(22) Gleichzeitig kommt es im Zuge der Institutionalisierung von queer studies zu einer Marginalisierung von queers of color, die von akademischen Netzwerken noch weitgehend ausgeschlossen sind (Gutiérrez Rodriguéz , in Gelbin 1999). Die Arbeiten insbesondere schwarzer Theoretikerinnen zur Interaktion von race, class und gender werden auch von der queer theory genutzt, ohne dass es jedoch zu einer entsprechenden Einbindungen nicht-weißer Akademikerinnen kommt.

(23) Vgl. Beger, Nico: "Wider lokale ’Scheuklappen’". In: Quaestio: Nico Beger, Antke Engel, Sabine Hark, Corinna Genschel und Eva Schäfer (Hg.): Queering Demokratie. Berlin: Queerverlag, 2000

(24) Breger, Claudia: "’Gekreuzt’ und queer. Überlegungen zur Rekonzeptualisierung von gender, Ethnizität und Sexualität." In: Kati Röttger und Heike Paul (Hg.): Differenzen in den Geschlechterdifferenz. Berlin. Schmidt, 2000

(25) Kanak Attak: Ein Manifest gegen Mültikültüralizm, gegen demokratische und hybride Deutsche sowie konformistische Migranten. [http://www.passagiere.de/ka/manifest/], 1998

(26) Menrath, Stefanie: ’Dem no no egen?’ Der Umgang Deutschlands mit seiner Kolonialgeschichte: Einige vorläufige Gedanken. (unveröffentliches Manuskript), 2001


7.3. Bericht: Das Eigene und das Fremde. Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte

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For quotation purposes:
Andrea Horváth (Universität Debrecen): Kultur als Text? Lesbarkeiten von kulturellen Prozessen. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_3/horvath16.htm

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