Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. August 2006
 

7.3. Bericht: Das Eigene und das Fremde. Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte
HerausgeberInnen | Editors | Éditeurs: Andrea Horvath (Universität Debrecen) / Eszter Pabis (Universität Debrecen) / Tamás Lichtmann (Debrecen)

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Tom Lanoye - der erste Antwerpener Stadtdichter

Gert Loosen (Universität Debrecen)
[BIO]

 

Der Sohn fragt seinen Vater: "Vater, was ist eigentlich Politik?"

Der Vater antwortet: "Ganz einfach, mein Junge. Hör zu. Ich bringe das Geld nach Hause, also bin ich der Kapitalismus. Deine Mutter entscheidet, was damit geschieht, also ist sie die Regierung. Großvater sieht zu, dass alles ordentlich verläuft, somit ist er die Behörde. Das Dienstmädchen ist die Arbeiterklasse. Wir alle haben nur ein Ziel: dein Wohlbefinden. Deswegen bist du das Volk. Dein kleines Brüderchen, das noch in den Windeln steckt, ist die Zukunft."

Der Sohn denkt nach, und fragt, ob er nun mal eine Nacht darüber schlafen darf. Nachts wacht er auf, weil sein kleines Brüderchen in die Windeln gemacht hat und laut schreit, weil niemand zu ihm kommt. Er weiß nicht, was zu tun ist und geht ins Schlafzimmer seiner Eltern hinein. Dort schläft seine Mutter so tief, dass er sie nicht wecken kann. Sein Vater ist auch nicht da.

Er geht ins Zimmer des Dienstmädchens, wo er seinen Vater bei ihr im Bett sieht, beide intensiv beschäftigt mit etwas ihm ganz Fremdem. Er bemerkt, dass der Großvater währenddessen durchs Fenster schaut. Alle sind so beschäftigt, dass ihn keiner bemerkt. Darum geht er wieder ins Bett und versucht zu schlafen. Am nächsten Morgen fragt ihn der Vater, ob er nun weiß, was Politik ist.

"Ja," sagt der Sohn. "Der Kapitalismus missbraucht die Arbeiterklasse, währenddessen die Behörden einfach zuschauen und die Regierung schläft. Das Volk wird ignoriert und die Zukunft steckt im Dreck."

 

Meine Damen und Herren, wir sind nicht hier, um uns mit der Frage zu beschäftigen, was Politik sei. Aber dieser Witz, den ich in einem Internetforum in verschiedenen politischen Prägungen gefunden habe(1) - verbindet verschiedene Themen, die in diesem Vortrag wenigstens kurz erwähnt werden, und die alle Bezug zur Hauptfigur haben, die persona pratica und persona poetica Tom Lanoye.

Der Witz ist ein sprachliches Spiel, durch welches durch ein kindisch-naives Sprachrohr der damaligen und in diesem konservativeren Zeitalter fast wieder restaurierten heiligen Stütze der Gesellschaft, der Familie, die Maske abgerissen wird. Zugleich bekommt die andere, aktuelle politische heilige Kuh eine linke Gerade.

Wat kunstenaars niet moeten doen, is beginnen hopen dat de mensen die ze rechtstreeks of onrechtstreeks aanschrijven, Antwoorden zouden geven op hun vragen. Dat er iemand in de Wetstraat mea culpa zou slaan en zeggen: "Meneer, dank u, uw roman heeft dit land gered!"(2) Überlassen wir die Politik den Politikern und den Künstlern, die in splendid isolation auf Dachböden und Ateliers schöpfen und kreieren? Wie kann ein engagierter Künstler einen Beitrag zu einer besseren Gesellschaft liefern? Die deutsche Künstlerin Käthe Kollwitz hatte schon am Anfang des 20. Jahrhunderts Schwierigkeiten damit, und ich kenne wenige Künstler, in deren Leben die Politik derartig vernichtend gewirkt hat wie in ihrem, trotzdem schämte sie sich, dass sie sich nicht auf eine parteipolitische Seite stellte, sondern dafür lieber die irdischen Sachen auf sich einwirken ließ, aus deren Kraft schöpfte und der Welt dann einen Spiegel vorhielt.(3)

Oder sollte es so sein wie bei Nick Cave, der in een interview met mijn gazet [gezegd heeft], dat politiek te vuil is om ervan te zingen(4): Politik sei zu schmutzig, um ihr ein Lied zu widmen.

Über das Verhältnis zwischen Politik und Kunst kann man selbstverständlich viel mehr sagen als nur dies, ich wollte aber diese zwei Eckpunkte, eingenommen von Künstlern, die mir persönlich viel bedeuten, als Orientierungspunkte verwenden, um Tom Lanoye zu situieren.

In einem Land, wo de vlaming in zijn zelfgebouwd kasteeltje alle rolluiken naar beneden kan doen ratelen om in het aardedonker te kijken naar steeds meer commerciële kanalen op zijn breedschermteevee, van lieverlee denkend dat het leven bestaat uit kakelende eks-missen belgië, uit amerikaanse series vol detectieven en uit spotjes voor ontbijtvlokken met honing en inlegkruisjes met vleugels(5) - in einem solchen Land führt eine literarische Sendung, oder besser gesagt, ihre komplette Abwesendheit im öffentlichen Rundfunk, zu endlosem Palavern und vielen Vornehmen, während die Teilnehmer unter der Angst vor Langeweile leiden und die Programmdirektoren am Opfertisch der Einschaltquote Besprechungen führen. In diesem Land wird Antwerpen, nach u.a. Bombay und New York, von der UNESCO zum World Book Capital gewählt.

Und in dieser Bücherhauptstadt wird Tom Lanoye als erster Stadtdichter angestellt.

Damit wir das alles gut verstehen, versuche ich zunächst drei Fragen zu beantworten:

Was ist ein Stadtdichter?

Was sind Stadtgedichte?

Wer ist Tom Lanoye?

Das Lemma stadsgedicht findet man im Van Dale Groot Woordenboek der Nederlandse Taal nicht, was schon den archaischen Aspekt vermuten lässt. Im allgemeinen kann man sagen, dass Stadtgedichte Aspekte städtischer Kultur beschreiben. Das ist aber zu allgemein. Es handelt sich um eine Gattung, laus urbium, die in der Antike sehr populär war und in den Niederlanden, und dort durch die Neo-Lateinische Literatur die niederländischsprachige betreten hat.

In den zu wahnsinnig hohem Wohlstand aufgeblühten Niederlanden geht es im 17. Jahrhundert zumeist um schamlose Lobpreisungen, in denen der Reichtum, die Schönheit und die Macht einer Stadt besungen wird.

O herelijke MAAGD! Vorstin der ed'le steden
Van 't machtig Holland, bron van wijsheid, die de rede
Uw plaats geeft, als gij 't woord 't eerst van uw' zust'ren doet.
O moeder van de deugd, van kunst en hoge moed!
Beschutster van het land, verwinster in het strijen,
Vreemaakster in geschil, en pronk der oude tijen,
Sieraad der graven, en vertoonster van haar pracht,
Bewaarster van het recht, schat van des oorlogs kracht.
Hoe blaakt mijn ziel, om u, naar uw waardij, te prijzen!
Maar wie kan u de eer, die gij verdient, bewijzen? (Blaeu 1966 I: fol. ij A2 d)

O herrliche Magd! Fürstin der edlen Städte
Des mächtigen Holland. Quelle der Weisheit, der die Rede
Ihren Platz gibt, wenn Du erst über Deine Schwester redest.
O Mutter der Tugend, der Kunst, des hohen Mutes!
Schützerin des Landes, Gewinnerin im Kampf,
Friedensbringerin in dem Streit, Prunk der alten Zeiten.
Zier der Grafen, denen Du Dich voller Pracht zeigst.
Bewahrerin der Gerechtigkeit, Schatz der Kriegsgewalt.
Wie brennt mir die Seele, Dich würdig preisen zu können.
Wer aber könnte Dir die Ehre, die Du verdienst, zuteil werden lassen? (GL)

Dies ist - ja, doch - ein Gedicht über Dordrecht. Jacob Lescaille benützt das metaphorische Verfahren der Personifikation, mit der die Stadt zu einer Frau wird.

Es ist auch das erste Gedicht, das Gelderblom in seinem Aufsatz De Maagd en de Mannen(6) zitiert, in dem er Niederländische Stadtgedichte aus dem 17. Jahrhundert einer Psychokritik unterwirft, wie es Jacques Lacan hätte machen können.

Nicht nur die Literaturwissenschaft, sondern auch die Psychoanalyse beschäftigt sich mit der Forschung nach Deutung von und in Texten. Als zunächst Freuds Ausgangspunkte und Techniken für die Interpretation literarischer Texte angewandt wurden, legte sich der Autor mít seiner Arbeit auf die Couch des Analytikers/Literaturforschers. Diesen hineininterpretierenden Biographismus ließ man aber hinter sich und die literarischen Texte an sich wurden zum Forschungsobjekt. Innerhalb der Psychokritik entstanden zwei Richtungen. Charles Mauron beschäftigte sich mit dem literarischen Werk eines einzelnen Schriftstellers. Für die Literatur der Renaissance und des Klassizismus gibt es aber noch eine zweite Möglichkeit, nämlich die Forschung eines Corpus aufgrund thematischer Ähnlichkeiten. Deze literatuur kent immers duidelijke conventies en daardoor bepaalde inhoudelijk én formeel samenhangende soorten teksten, die zich bedienen van een vaste voorraad stilistische figuren. Bovendien garanderen de traditionele en alom toegepaste technieken van translatio en imitatio dat er binnen de tekstsoorten bij de produktie van nieuwe specimina een voortdurende assimilatie van bestaand literair materiaal plaatsvindt.(7)

Die Ergebnisse aus der Gelderblom-Untersuchung sind verblüffend. Es stellte sich heraus, dass die stadsmaagd alles andere als eine maagd, d.h. Jungfrau, sei. Sie öffnet den Händlern aus aller Welt ihren Schoss, hat ständig neue Liebhaber und jedes erotisches Vergnügen lädt schon zum nächsten ein; sie lässt sich nicht befriedigen. Sie hat eine große Palette an Partnern aus den verschiedenen Ländern, mit denen Handel geführt wird und sie hört einfach nicht auf. Sie schwillt vor Wollust, Üppigkeit und Schwangerschaft, gebärt starke Kinder auf Niederländischem Boden und ernährt die Stadt und die Region.

Natürlich ist das Verfahren, das eine Stadt in eine Frau verwandelt, nicht das einzige Merkmal dieser Gattung. Laut dem einflussreichsten theoretischen Handbuch über die Kreation von Stadtgedichten sind die drei wichtigsten topoi die geographische Lage der Stadt, ihr Ursprung oder Geschichte und die Leistungen ihrer Einwohner. (So beschrieb es J.C. Scaliger in seinen Poetices libri septem - in den Niederlanden hat man seine poetischen Auffassungen kennengelernt, nachdem sie von seinem Sohn, dem berühmten Leidener Professor Josephus Justus Scaliger, verbreitet wurden.(8))

Stadtgedichte sind in der Literatur und so weit ich weiß, auch in der Forschung eine Randerscheinung. Behalten wir aber in Gedanken, was Scaliger vorschrieb und was sich bei Gelderblom herausgestellt hat.

Was ist ein Stadtdichter?

Eine nicht lexikalisierte (den Terminus findet man im Van Dale Groot Woordenboek der Nederlandse Taal nicht), sondern akzeptable Arbeitsdefinition wäre:

Een Stadsdichter is een dichter die door het bestuur van een stad is aangesteld om jaarlijks meerdere gedichten bij bijvoorbeeld actuele gebeurtenissen binnen de gemeente te schrijven. Het is gebruikelijk dat deze dichter hiervoor een vergoeding ontvangt.(9)

Es ist ein literarisches Phänomen, das seine Wurzel in der Kultur der Rederijkerskamers (Sprachgesellschaften) hat.

Het spontane volksvermaak in de stad, voor en door iedereen, wordt geleidelijk aan vervangen door strak georganiseerde kijkspelen, die de moraal en de idealen van de elite uitdrukken en waaraan de gewone burger zich kan vergapen zonder mee te mogen doen. In Brussel wordt het instrument voor de organisatie hiervan gevormd door de vier à vijf plaatselijke redelijkerskamers alsook de Broederschap van de Zeven Weeën. Zij organiseerden vele toneelvoorstellingen, processies en rederijkersfeesten, in opdracht van of gesteund door het stadsbestuur. Dat stelde ook in 1474 een stadsdichter aan, in de persoon van Colijn Caillieu, aan wie met zoveel woorden de opdracht verstrekt wordt om het gewone volk te vermaken. Hij krijgt een jaargeld om ‘metter cunst der retoriken, van dichten, spelen, esbatementen, baladden, refreynen ende dier gelike dagelix ter eeren van deser stad ende in recreacien van den gemeynen volke der selver stad voert te stellene’(10)

Und dann, Antwerpen 2003. Wie schon gesagt wurde, zeichnete die UNESCO Antwerpen zur Bücherhauptstadt der Welt 2004(11) aus. Und dasStadt(12) ruft Tom Lanoye zum ersten Stadtdichter aus.

Wer aber ist Tom Lanoye?

Lanoye, 1958 in Sint-Niklaas geboren, hatte den flamingantisch geprägten Altphilologen und Priester-Dichter Cyriel Coupé (Anton van Wilderode) als Lehrer, studierte germanische Philologie in Gent. Als literarischer Künstler ist er ein Hans Dampf in allen Gassen: Dichter, Kolumnist, Polemiker, Theaterautor, Romancier, Redakteur, bibliophiler Herausgeber seiner eigenen Werke, Leiter seiner eigenen AG (so ist er als flämischer Autor selbständig und nicht länger Unterstützungsempfänger), Podiumdichter, Kritiker.

Vor allem ist er ein literarisches Phänomen, aber mit seinen literarischen Tätigkeiten und Kreationen untrennbar verbunden, ist seine unerschöpfliche Neugier und sein offener Blick auf die Welt. Sein Dutzend Designerbrillen und unlöschbares Talent geben ihm einen scharfen Blick auf die Geschichte und Aktualität. Er zeigt in seiner ganzen Arbeit und in seinem Leben ein gesellschaftliches Engagement und kritische Haltung.

Ist das Ferne fremd? Er wohnt den ersten freien südafrikanischen Wahlen bei und berichtet darüber in HUMO.

Ist das Nahe fremd? Er spornt die Flamen an, ihre französichsprachigen Landsmänner, die Wallonen, besser kennen zu lernen.

Wird das Nahe durch Hass und Ausländerfeindlichkeit bedroht? Er zieht nach Antwerpen, Hochburg des unverhüllt xenophoben Vlaams Blok (jetzt Vlaams Belang) um. Bei den Gemeinderatswahlen 2000 unterstützt er die Liste der flämischen Grünen, auf der er einen nicht wählbaren Platz wahrnimmt. Er hat viele persönliche Wählerstimmen - trotzdem hat der Vlaams Blok ein Drittel der Stimmen.

Wird er in den Niederlanden wegen seines gesellschaftlichen Engagements kritisiert? Er möchte immer ein bisschen Boon bleiben (er meint damit Louis Pool Boon, den flämischen, sozialistisch engagierten, gesellschaftskritischen und modernisierenden Schriftsteller, der den Menschen ein Gewissen eintreten wollte) und er verteidigt sich: Meine Phantasie ist der belgischen Realität weit unterlegen, und er schreibt eine Trilogie, in der er die aktuellen belgischen Ereignisse, den belgischen Schlammpfuhl einbaut und übersteigert.

Erwacht das katholische Flandern zuguterletzt aus dem betrügerischen Dreifaltigkeitstraum von hetero, Ehe und Happy Family? Er riecht den Kaffee. Sein zweiter Roman, Kartonnen Dozen, erzählt, wer und was ihn zum Schreiben veranlasst hat, stellt autobiographische Elemente aus seiner Jugend dar, schildert warm und gnadenlos Flandern, die Flämische Bewegung und Flaminganten in einem Hass-Liebe-Verhältnis, als ob er ein Neffe von Jacques Brel und Geer Van Istendael wäre. Als roter Faden läuft die tragische Geschichte seiner Liebe für einen anderen Jungen durch das Buch. 1996 unterschreibt er, mit seinem niederländischen Freund René Los, den ersten Partnerschaftsvertrag Belgiens für schwule Paare.

Vergisst man die Gräuel des Ersten Weltkriegs aufgrund des Mangels an schriftlich überlieferten Zeugnissen, verursacht durch weitestgehenden Analphabetismus unter dem flämischen Kanonenfutter? Er übersetzt englische War Poets, damit dieser blinde Fleck in der flämischen Literaturgeschichte weggewischt wird.

Im Hochzeitssaal des Antwerpener Rathauses kommt das alles zusammen. Die Politik bzw. die Politiker der Stadtverwaltung, ernennen Tom Lanoye zum ersten Stadtdichter Antwerpens. Anspielend auf den Partnerschaftsvertrag, den er im selben Gebäude unterschrieben hatte, sagt er, er sei stolz, einen fast auβerehelichen orgiastischen Vertrag mit der ganzen Stadtverwaltung gleichzeitig schließen zu dürfen. Einen Vertrag, in dem, genau so wie in einer Ehe, beiderseitige Rechte und Verpflichtungen festgelegt worden sind. Aber wo, trotz allen Vertragsregeln, der echte Grund selbstverständlich auf gegenseitigem Vertrauen und unvergleichlicher gegenseitiger Liebe basieren sollte. (LANOYE 2005, Übersetzung G.L.)

Der zweite Vertragspartner ist die Stadtverwaltung, seine Geliebte aber wird die Stadt sein, die stedemaagd Antwerpen. Er verspricht, sein Bestes zu tun, aber auch nicht kritiklos zu loben. Denn, er betrachte sich dafür zu viel als Geliebten dieser Stadt. Als einen echten Geliebten. Ich trage ja Brillen, deren Linsen so stark sind, so dass ich niemals direkt in die Sonne blicken darf - oder mein Hinterkopf verbrennt. Ein echter, aufrechter Liebhaber ist nicht blinder als ein Maulwurf. Blinde Liebe ist keine. Sie ist die Kreuzung von Selbstbetrug und Kitsch. Kitsch, das geht noch - aber Selbstbetrug? Das nie. Echte Liebe sieht die Wahrheit, und liebt trotzdem. Der wahre Liebhaber sucht bei seiner (m) Geliebten zunächst den wunden Punkt, und dann erst etwas anderes. (LANOYE 2005, Übersetzung G.L.)

Der Genter Student, der in Studentenkneipen auf die Tische sprang, damit man ihn trotz seiner bescheidenen Körpergröße sehen konnte, wurde zum offiziellen Antwerpener Stadtdichter - zwei Konstanten sind aber geblieben, wenn nicht sogar verstärkt worden. Als Literat mit einer Vorliebe für orale Literatur will er unbedingt seinem Publikum ein Gewissen eintreten, wie es bei L.P.Boon heißt.

Als belesener Schöpfer verfolgt er die Tradition des Stadtgedichtes, wie es von Scaliger be-, bzw. vorgeschrieben wurde, und er übernimmt die Darstellung der Stadt als Frau (imitatio). Andererseits konkurriert er sozusagen in einem literarischen Wettbewerb mit seinem Vorbild. Damit er ihm gleichkommt, ja ihn sogar übertrifft, formuliert er dann eine aemulatio à la Lanoye: kenne die Geschichte, stelle dir Regeln auf und werfe diese dann über Bord. Oder wie er zukunftsgerichtet beim Akzeptieren seiner neuen Funktion sagte:

Regel 1. Als erste Tat soll der Stadtdichter eine ausgeschmückte Rede halten, in der er im Großen und Ganzen seine Politik erklärt, damit er ab dem nächsten Tag diese großen Umrisse mit Schwung in den Wind schlagen kann. (LANOYE 2005, Übersetzung G.L.)

Meine Phantasie ist der belgischen Realität weit unterlegen, hatte er schon früher gesagt. Lanoye schreibt gerade sein erstes Stadtgedicht, als die ganze Stadtverwaltung Antwerpens wegen eines Betrugskandals kündigen muss.

Wenn wir die Genrekonventionen, mit denen er spielt, sein gesellschaftliches Engagement und die an Skandalitis erkrankte antwerpische Aktualität mit einander vermischen, haben wir den Hintergrund für das erste Stadtgedicht von Tom Lanoye. Mijn moeilijk lief (d.h. Meine schwierige Geliebte). Die erste Strophe voller Kritik und leidenschaftlicher Liebe und Treue hört sich so an:

Vervloekt heb ik u,meer dan Beerschot ooit
Verloor. Verlaten? In gedachten meer
Dan eb en vloed uw kaden konden boenen.
Verraden? Nooit. Maar des te kwader vaak,
Lijk iedere Sinjoor, loop ik uw straten door
Waarin zoveel zo grondig werd verklooid.(13)

Verflucht habe ich Dich, mehr als Beerschot je
verloren hat. Verlassen? In Gedanken schon viel
öfter als Ebbe und Flut Deine Kaie haben bohnern können.
Verraten? Nie. Um so böser aber oft,
wie jeder Sinjoor, laufe ich durch Deine Strassen,
in denen so vieles versaut wurde. (G.L.)

(Beerschot: eine nicht gerade erfolgreiche Antwerpener Fußballmannschaft; Antwerpen liegt an der Schelde, weswegen die Stadt fast immer ein wichtiges Handelszentrum war; Sinjoor: Beiname für Antwerpener.)

In diesem Vortrag kann ich leider nicht ausführlich alle Stadtgedichte von Lanoye besprechen.

Ich werde also nichts sagen können über

Pleinvrees (d.h. Agoraphobie/Platzangst): eine Klage des Theaterplatzes, eines wichtigen sozialen und ökonomischen Knotenpunkts der Stadt, der in schlechtem Zustand auf seine Restaurierung wartet;

Roma Aeterna : wo er voller Nostalgie den Charme alter Kinotempel besingt, von denen einer von einer großen Gruppe Freiwilliger restauriert wurde. Diese aktive Beteiligung der Einwohner, dieser Respekt für einen alten Kulturtempel, diese Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Einwohnern wird von der Stadt(verwaltung) anerkannt, indem der Stadtdichter dies alles literarisch lobt und dokumentiert. Nicht so selbstverständlich auf der Hand liegend in einer so schwierigen, immer klagenden, versauerten, sehr rechtsextrem orientierten Stadt.

Pepto Bismo 2003: geschrieben bei Kunstwerken Antwerpener Künstler

Zwei Texten möchte ich aber Aufmerksamkeit schenken: der Brottüte und A tale of two towers. Das hat einen naheliegenden Grund. Beide sind die tollsten, auffälligsten, stärksten Knotenpunkte von vielem - ich wage nicht hier von allem zu sagen - was den Mann begeistert, was er kennt, absorbiert und verarbeitet hat.

Brot, Symbol unseres Tagesbedarfes, Produkt liebevollen Knetens, eines leidenschaftlichen Handwerks. De koffiekoek, flämisches Gebäck, das meistens beim Sonntagsfrühstück und bei Bestattungen gegessen wird, Symbol der Urgemütlickeit und der alltäglichen Gastronomie. 100.000 Brottütchen wurden an einem Sonntagmorgen in den Bäckereien der Stadt den Kunden überreicht und vom Autor selbst wurden 700 davon, mit zwei koffiekoeken (Mehlspeisen) bestückt, auf dem Groenplaats verteilt. Auch an einige Obdachlose, die die Tüte annahmen, die Kuchen aßen, die Tüte wegwarfen und sich wieder in die Reihe stellten.

Zwei Türme hat Antwerpen, die dem Namen gerecht werden. Der Onze-Lieve-Vrouwetoren der Kathedrale; ehrwürdiges, matriarchales, gotisches Monument, vor 50 Jahren so schön besungen von dieser anderen Frau aus der unvollendeten Vergangenheit, der Antwerpener Volkssängerin La Esterella.

Und der robuste und elegante Bauernturm im Art déco Stil, fast 100m hoch, der erste Wolkenkratzer Europas, errichtet in der Zwischenkriegszeit. Der Schriftsteller Willem Elsschot hat noch vergeblich versucht, während des Anbaus des Turms, riesige Werbeoberflächen zu verkaufen.

Der Bauernturm und die Kathedrale, der eingewanderte Dichter und die Antwerpener Sängerin, fast doppelt so alt wie er, der katholische und der Geldgott. Auf gigantischen Tüchern lässt Lanoye auf dem Bauerturm der Kathedrale eine Liebeserklärung schreiben -und was Willem Elsschot nicht gelungen war, schafft er mit den später entfernten poetischen Billboards: nämlich einen Riesengewinn zu machen. Die Auktion der Tücher brachte €21000 ein - das Auktionshaus und der Rotaryclub trugen weiteres dazu bei und so empfing ein Alphabetisierungsprojekt auf Mali €50.000 Unterstützung.

Die Kathedrale antwortet. Mündlich. Durch die tiefe Stimme der verehrenswürdigen La Esterella. Nicht gesungen, sondern auf die Weise eines islamischen Muezzin. (Hören Sie mal entsprechendes dazu im Internet(14)).

Danke Gott, dass Tom Lanoye existiert, schrieb die literarische Beilage von De Standaard. Und Der Stadtdichter nach Lanoye bekommt ein giftiges Geschenk. Eine andere Zeitung, De Gazet van Antwerpen, schrieb: Prince hat Alphabet Streetbesungen. Antwerpen ist Alphabet Stadt, und Tom Lanoye unser Prins der Letteren (Prinz der Literatur)(15)

Ich hoffe, dem Phänomen des Stadtdichters im 21. Jahrhundert und dessen Gestaltgebung durch Tom Lanoye auf dieser Weise außerhalb der Grenzen des niederländischen Sprachgebietes ein wenig Bekanntheit verschafft zu haben.

© Gert Loosen (Universität Debrecen)


ANMERKUNGEN

(1) www.politics.be

(2) "Was Künstler nicht machen sollten, ist hoffen, dass die Leute, an die sie sich in ihren Werken richten, ihre Fragen auch tatsächlich beantworten würden. Dass mal jemand in der Wetstraat [wo sich in Brüssel Parlement und Regierung befinden- G.L.] aufsteht, sich schuldig erklärt und ruft: Geehrter Herr, Ihr Buch hat das Land gerettet!" ( ROEGIERS 1998, p.104. Übersetzung G.L.).

(3) "Ich schäme mich, dass ich noch immer nicht Partei nehme und vermute fast, wenn ich erkläre, keiner Partei anzugehören, dass der eigentliche Grund dazu Feigheit ist. Eigentlich bin ich nämlich gar nicht revolutionär,
sondern evolutionär ... Man hätte mich eben ganz in aller Stille lassen sollen. Man kann ja auch von einem Künstler, der noch dazu Frau ist, nicht erwarten, dass er sich in diesen wahnsinnig komplizierten Verhältnissen
zurechtfindet. Ich hab als Künstler das Recht, aus allem den Gefühlsgehalt herauszuziehen, auf mich wirken zu lassen und nach außen zu stellen. So hab ich auch das Recht, den Abschied der Arbeiterschaft von Liebknecht
darzustellen, ja den Arbeitern zu dezidieren, ohne dabei politisch Liebknecht zu folgen. Oder nicht ?!"

Käthe Kollwitz, zitiert beim Holzschnitt In memoriam Karl Liebknecht (Holzschnitt, dritte, endgültige Version) im Käthe-Kollwitz-Museum Köln. Ich bedanke mich bei Frau Katja Lambert, Mitarbeiterin des Museums.

(4) "..., der in einem Gespräch mit meiner Zeitung [De Morgen: progressiv-intellektuelle Zeitung - G.L.] gesagt hat, Politik sei zu schmutzig zum Singen" (LANOYE 2005)

(5) der Flame, in seiner selbstgebauten Burg alle Rollläden runterrasseln kann, damit er sich im Stockdunkeln immer mehr Privatsender auf seinem Grossbildschirm anzuglotzen vermag, nach und nach denkend, dass das Leben aus gackernden Ex-Miss Belgien, amerikanischen Krimis und Werbespots für Frühstücksmüsli mit Honig und Damenbinden mit Flügeln existiert. (LANOYE 1997, Übersetzung G.L.)

(6) GELDERBLOM 1991

(7) Denn diese Literatur kennt deutliche Konventionen und genau deswegen sind es in inhaltlicher und formaler Hinsicht zusammenhängende Texte, die sich eines festen Vorrats stilistischer Figuren bedienen. Außerdem versichern traditionellerweise angewandte Techniken wie translatio und imitatio, dass innerhalb der Textgattungen bei der Produktion neuer Spezifika eine ständige Assimilation existierender literarischer Materialien stattfindet. (GELDERBLOM 1991, Übersetzung G.L.)

(8) http://www.dbnl.org/tekst/meij001verl01_01/meij001verl01_01_0003.htm

(9) www.epibreren.com/stadsdichter : " Ein Dichter, der durch die Stadtverwaltung einer Stadt angestellt worden ist, um jährlich mehrere Gedichte zu zum Beispiel aktuellen Ereignissen innerhalb der Stadt zu schreiben. Meistens bekommt er dafür eine Geldsumme." (Übersetzung G.L.)

(10) Das spontane Volksvergnügen in der Stadt, für jeden, von jedem, wird allmählich ersetzt durch streng organisierte Schau-Spiele, die der Moral und den Idealen der Elite Ausdruck geben, und die die Bürger ohne zu partizipieren, bestaunen können. In Brüssel wird das Instrument für deren Organisation formiert von vier bis fünf der örtlichen Rederijkerskamers (...). Sie organisierten viele Theatervorstellungen, Prozessionen und Rederijkersfeste, beauftragt oder unterstützt von der Stadtverwaltung. Die hat 1474 auch einen Stadtdichter angestellt, Colijn Caillieu, der beauftragt wird, das einfache Volk zu amüsieren. Er bekommt ein Jahrgeld dafür. (PLEIJ 2003)

(11) www.abc2004.be

(12) Auf niederländisch ist de stad ein weibliches Nomen, genauso wie auf deutsch; die Antwerpener sprechen aber über ihre Stadt als het Stad - das Stadt.

(13) LANOYE 2005

(14) http://www.abc2004.be (Antwerpen als Weltbücherhauptstad; Tonfragment: vrijdag 27 augustus 2004 - DE KATHEDRAAL ANTWOORDT)

(15) Alles wie auf der Rückseite von LANOYE 2005; Übersetzung G.L.


BIBLIOGRAPHIE

Letzter Zugriff zu allen Internetseiten: 30 Mai 2006

www.politics.be en daar: http://forum.politics.be/archive/index.php/t-663.html

http://www.stadsdichterpodcast.be/

http://nl.wikipedia.org/wiki/Tom_Lanoye

www.lanoye.be (leider nicht so up to date wie der Wikipedia-Artikel...)

http://www.gva.be/subs/popups/tomlanoye/

(ein schöner Überblick von Tom Lanoye, Ramsy Nasr, Bart Moeyaert auf der Website der Antwerpener Zeitung Gazet Van Antwerpen)

http://www.abc2004.be (Antwerpen als Weltbücherhauptstadt; Tonfragment: vrijdag 27 augustus 2004 - DE KATHEDRAAL ANTWOORDT)

www.epibreren.com/stadsdichter

http://www.belgiumview.com/belgiumview/tl1/view0000024.php4

www.dbnl.nl (Digitale Bibliografie van de Nederlandse Letteren)

Gelderblom, Arie Jan: De maagd en de mannen. Psychokritiek van de stadsuitbeelding in de zeventiende en achttiende eeuw. In: De Nieuwe Taalgids (1986), S.193-206. Aufgenommen in die DBNL: WWW: http://www.dbnl.org/tekst/geld008maag01/geld008maag01_001.htm

Lanoye, Tom: Stadsgedichten, Manteau/Prometheus 2005.

Pleij, Herman: De wereld volgens Thomas van der Noot, boekdrukker en uitgever te Brussel in het eerste kwart van de zestiende eeuw. Aufgenommen in die DBNL: http://www.dbnl.org/tekst/plei001were01/plei001were01_0004.htm (© 2003 dbnl / Herman Pleij))

Pruis, Marja: Dieper! Harder! Herman Brusselmans, Tom Lanoye, Jeroen Olyslaegers en Ramses Meert over de kelderlucht van het Belgische trauma. In: De Groene Amsterdammer, 3-11-99.

M.A. Schenkeveld-vander Dussen et al.: Verloofde koninksbruidt. Lodewijk Meyer (editie Werkgroep Untrechtse neerlandici). Aufgenommen in die DBNL: http://www.dbnl.org/tekst/meij001verl01_01/index.htm (© 2005 dbnl / M.A. Schenkeveld-vander Dussen et.al.).

Vanegeren, Bart (samenst.): Naamloze Vennootschap Lanoy, Amsterdam: Prometheus, 1980.

Van Gorp, Hendrik e.a., Lexicon van literaire termen, Leuven: Wolters, 1991 (5 de volledig herziene druk).


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For quotation purposes:
Gert Loosen (Universität Debrecen): Tom Lanoye - der erste Antwerpener Stadtdichter. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/07_3/loosen16.htm

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