Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | März 2006 | |
10.1. Innovationen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL) |
B. Brecht: "Wenn die Haifische Menschen wären". Die Erzählung als Anregung zur Abfassung und Illustration eigener literarischer Texte
Vladimíra Krotká [BIO] (Budějovice)
Interpretation eines literarischen Textes als Projektunterricht in Form eines Studentenworkshops ("Auf Kafkas Spuren mit den Prager und Augsburger Gymnasiasten")
Tamara Bučková (Karlsuniversität Prag, Tschechische Republik) [BIO] / Viktoria Kreileder (Maria-Ward-Gymnasium Augsburg, Deutschland) [BIO]
Vladimíra Krotká [BIO] (Gymnasium in Moravské Budějovice, Tschechische Republik)
Die neue Stellung der deutschen Sprache im Fremdsprachenunterricht in Tschechien (im Zusammenhang mit dem neu eingeführten Rahmenprogramm im tschechischen Schulwesen , u. a. Deutsch als Zweitsprache; Englisch als Fremdsprache Nr. 1) verstärkt die Ausrichtung auf die sog. kommunikativen Kompetenzen (d.h. in Alltagsituationen situationsgemäß zu reagieren, zu argumentieren, sich gut in einem gelesenen oder gehörten Text zu orientieren oder einen einfachen Text zu schreiben). Der Raum, in dem sich eine positive Beziehung der Schüler zur deutschsprachigen Literatur entwickeln könnte, wird immer enger, besonders weil die literarischen Texte mit anderen Medien (wie z. B. Internet, Fernsehen, Video oder CD-ROM) konkurrieren müssen.
Nicht nur für die Fremdsprachen-, sondern auch für die Tschechischlehrer wird es deshalb immer schwieriger, die Schüler zum Lesen zu motivieren.
Die Wahl des literarischen Textes als erster Schritt (als Voraussetzung zur erfolgreichen Arbeit)
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der erfolgreichen Arbeit mit der deutschsprachigen Literatur im Fremdsprachenunterricht und zwar an einem Gymnasium in Moravské Budějovice. (Tschechien). Die Gymnasiasten, von denen in diesem Beitrag berichtet werden soll, sind 15 bis 16 Jahre alt und lernen Deutsch seit drei, bzw. vier Jahren. Deutsch ist für sie die sog. Zweitsprache (die erste Sprache ist Englisch.)
Aufgrund meiner Unterrichtserfahrungen in Deutsch sowie in Tschechisch entschied ich mich für einen kurzen, bekannten Text von Bertolt Brecht, den ich für diese Schülergruppe passend fand. Es geht um die Erzählung "Wenn die Haifische Menschen wären".
Der Text ist kurz; man muss nämlich daran denken, dass die Lesekompetenzen der Schüler und ihre Fähigkeit längere und anspruchsvolle Texte zu lesen und sie zu begreifen immer geringer werden. Wenn man die Schüler zum Lesen bringen will, muss man mit kürzeren Texten beginnen. Dann müssen diese Texte interessant, ideenreich, bzw. geheimnisvoll sein. Diese Kombination sollte auch mit Humor "gepfeffert" sein. Der gewählte Text entspricht dieser Forderung. Vor allem müssen die Schüler in der Lage sein, mit ihren Weltkenntnissen das literarische Werk zu begreifen, um sie nicht schon am Anfang der Arbeit von dem literarischen Text abzuschrecken.
Es geht auch um die intertextuellen Aspekte. Wer sind die Haifische und wen stellt die Fischleinwelt dar? Es wurden Fragen gestellt und mit den Antworten soll dann das bei den Schülern vorausgesetzte historische Hintergrundwissen überprüft werden. Kreativ, selbstverständlich!!
Im Fremdsprachenunterricht können sich auch der für die Schüler unbekannte Wortschatz und die anspruchsvolle deutsche Grammatik als problematisch erweisen, falls die literarischen Texte nicht "didaktisiert" - d.h. angepasst oder vereinfacht - sind. (Es gibt zwar eine Reihe von "vereinfachter" Lektüren auf Deutsch, aber mit dieser Problematik beschäftigt sich dieser Beitrag nicht.)
Am Anfang war es nötig die Ziele der Arbeit mit dem Text zu bestimmen. - das finde ich auch wichtig, weil wir uns im Folgenden dem Workshop widmen wollen - d.h. den Schülern musste im voraus erklärt werden, dass der literarische Text sie schöpferisch inspirieren sollte. In diesem Fall hatte ich vor die Schüler zu motivieren, nach der gelesenen Erzählung Bilder zu machen oder einen kurzen literarischen Text zu schreiben.
Wie immer musste der Text von mir (als Lehrerin) den Schülern vorgestellt werden - es wurde ihnen erklärt, wer Bertolt Brecht war, was eine Erzählung ist und in welcher Zeit das literarische Stück entstand - die Vorbereitungsphase Nr. 1. (Zum Leseverstehen nutzte ich die Methode des lauten Vorlesens. Dabei konnte die Aussprache geübt werden - die Vorbereitungsphase Nr. 2.) Dann konnten wir den Text in kürzere Teile teilen, damit die Kinder schneller die Erzählung durchlesen und begreifen konnten: Arbeit mit dem Text (Phase Nr. 3).
Nach dem Lesen und nach der Verstehenskontrolle (Phase Nr. 4) kam die gewünschte kreative Phase (Nr. 5) für die Schüler - die Schüler konnten sich selbst entscheiden, ob sie einen eigenen Text oder ein Bild zur Erzählung machen wollten. Die Kinder schrieben kurze Texte, in denen sie den Titel der Erzählung änderten: statt über die Haifische schrieben sie über ein anderes beliebiges Wesen aus der Tierwelt, das sich wie ein Mensch verhalten würde und dann was alles diese Verwandlung mit sich bringen könnte. Andere Schüler wählten dann die Möglichkeit, eine Illustration zum Text zu schaffen.
Bei dem Schreiben des eigenen Textes gingen die Schüler von ihrem eigenen Blick auf die Welt aus, wie sie die Welt betrachten und auffassen. Ihre Einstellungen zu dem in dem Text "Wenn die Haifische Menschen wären" dargestellten Thema sollten sie, dem Stil des Autors entsprechend, auch in Metaphern und Allegorien umformen. Es entstanden also interessante "literarische Werke" unter den Titeln: "Wenn die Vögel (bzw. Hunde, Bienen, Ameisen, Laubfrösche, Katzen) Menschen wären", in denen die Kinder versuchten, die veränderte Welt zu beschreiben und zu charakterisieren. (Sie ließen sich von den vorausgesetzten Eigenschaften der Tiere inspirieren - die Ameisen leben in einem Kollektiv, also wären sie als Menschen opferwillig usw., die Bienen sind unermüdlich und fleissig; auch die "Bienenmenschen" sollten so sein! ...)
Die Arbeit mit dem literarischen Text in dieser Art kann als das Schreiben nach einem Muster, nach Regeln oder Vorbildern bezeichnet werden, weil die Schüler ein literarisches Vorbild hatten, dessen Grundgedanke sie verwerteten.
Auch die Bilder, die die Schüler schufen, zeigten, wie die Kinder Brechts Text verstanden. Meistens war auf den Bildern zu sehen, dass die Schüler Brecht ganz verstanden und in seiner Erzählung die Warnung vor jeder Art von Diktatur sahen, die den "Fischmenschen" ihre Freiheit nimmt. Auf den Bildern können wir also Fische im Gefängnis, die Fischschule im Rachen des Haifisches sehen usw.
Bei der Arbeit mit dem erwähnten literarischen Text wurden verschiedene Sprachkompetenzen der Schüler natürlich entwickelt - die Schüler lasen den Text (Lesen) und übersetzten ihn (Verstehen), es wurde über ihn auf Deutsch diskutiert (freies Sprechen), die geschaffenen Bilder wurden von den Autoren beschrieben, die Texte (Schreiben) wurden vorgelesen und kommentiert.
An dieser Stelle möchte ich jetzt betonen, dass der Lehrer den Schülern nicht nur den Text vermitteln, sondern auch zum Begleiter der lesenden Schüler werden sollte. Die Schüler müssen den Kern des literarischen Textes selbst entdecken, sich eine eigene Meinung über ihn bilden und eine eigene Interpretation des Textes finden. Nur dann können sie hoffentlich ihren eigenen Weg zur Literatur finden.
Die kreative Arbeit mit dem literarischen Text hilft dem Lehrer, den Schülern einen fremdsprachlichen Text interessant und attraktiv näher zu bringen, sie lässt die Phantasie der Schüler frei spielen und bringt ihnen schöpferische Freude.
Es muss erwähnt werden, dass die Arbeit mit dem literarischen Text in dem FSU in den Pflichtlehrplänen leider nicht verankert ist. Der neu vorbereitete Bildungsrahmen in Tschechien lässt für die Arbeit mit originalen belletristischen Texten nur wenig Raum. Deshalb bleibt es jeder Lehrerin und jedem Lehrer überlassen, ob sie oder er im Fremdsprachenunterricht einen entsprechenden Platz für die originalen deutschen Texte finden und ihren Schülern die Schönheit der deutschen Literatur vermitteln können.
© Vladimíra Krotká (Gymnasium in Moravské Budějovice, Tschechische Republik)
Tamara Bučková (Karlsuniversität Prag, Tschechische Republik) [BIO] / Viktoria Kreileder (Maria-Ward-Gymnasium Augsburg, Deutschland) [BIO]
Die Grundlage, von der ich bei der Wahl des Themas für dieses Referat ausging, bildete die Literatur im Fremdsprachenunterricht sowie ihre Bedeutung und Stellung in dem genannten Fach. Das engere Thema wurde durch eine verhältnismäßig seltene Unterrichtsform, den Projektunterricht, bestimmt. Im ersten Teil meines Beitrages beschäftige ich mich mit ausgewählten, mit dem Literaturprojektunterricht verbundenen, theoretischen Aspekten. Im zweiten Teil möchte ich am konkreten Beispiel, am Projekt "Auf Kafkas Spuren mit Prager und Augsburger Gymnasiasten" zeigen, wie es gelang, die angedeuteten theoretischen Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Ich konzentriere mich auf die Interpretation des literarischen Textes und auf die folgenden schöpferischen Aktivitäten der Schüler, die ich für sehr wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler halte. (Bei der IRICS-Konferenz bildete der Schülerfilm "Franz Kafka und wir und heute und in Prag" den letzten Teil meines Referates. Den Film sollen Fotos aus der Schülerausstellung "Kafkas Prag" ersetzen, die ich Dr. H. Arlt, dem Herausgeber dieser Publikation, sehr gerne zur Verfügung stelle.)
Am Anfang möchte ich einen interessanten Abschnitt aus einem Schülergespräch wiedergeben, dessen Ohrenzeuge ich vor kurzem, zufällig und ungewollt an der Bushaltestelle wurde:
"Heute geht mir die Penne am A...vorbei! Erstens ist es Freitag, der goldene Tag, zweitens haben wir heute keinen Unterricht, wir machen ein Projekt!"
"Na schön! Und wir sollen wie die Idioten in den Bänken hocken und uns irgendetwas in die Köpfe stopfen! - Ihr sollt ganz still sitzen und schön lernen! -" äffte der Schulkamerad seinen Klassenlehrer nach.
Ein gar nicht seltenes Alltagsgespräch, nach dessen Interpretation, die für die Projekte spricht, nicht lange gesucht werden soll:
Projekte bilden sehr oft eine Art Gegensatz und Ausgleichsmittel für "den klassischen Unterricht" innerhalb der Schule, der in pädagogischen Dokumenten die Rolle der "die formale Bildung garantierenden Institution" zugeschrieben wird.
Projektunterricht verbindet die "schulischen" mit den Freizeitaktivitäten. Diese werden zwar von der Schule angeregt, müssen aber nicht unbedingt von ihr organisiert oder anders gefördert werden. Diese Aktivitäten können gerade durch ihre Realisierung in der Freizeit das Können und die Kenntnisse der Schüler sehr positiv beeinflussen.
Der Projektunterricht kann als Lernen nach dem "geheimen Lehrplan" charakterisiert werden. Zu Wort kommen die motivierende Funktion(1), die dynamisierende Funktion beim Spracherwerb, sowie die Befestigung, Vertiefung und Weiterentwicklung verschiedener (kognitiver, kommunikativer, sozialer) Kompetenzen.
Die Projekte stellen einen Typ des handlungsorientierten Unterrichts dar.
Überlassen wir das Wort einem der größten Klassiker auf dem Gebiet der Pädagogik, Jan Amos Komenský (Comenius):
"Alleine mit Schweigen erreichst du nie die Aufmerksamkeit, geschweige denn gute Ergebnisse des Schülers... Je mehr Du ihn zur stummen Aufmerksamkeit zwingst, desto mehr wirst Du ihn lähmen... Gäbest du ihm aber etwas zu tun, so wirst du ihn behende aufwecken und seinen Sinn fesseln." ("Pouhým mlčením nikdy nedosáhneš, aby žák dával pozor, a o mnoho ještě, aby prospíval... Ba čím více ho budeš nutit k němé pozornosti, tím více ho otupíš... Avšak dáš-li mu něco dělat, brzy ho povzbudíš, brzy upoutáš jeho mysl.)"(2).
Alle Projekte und vor allem Literaturprojekte sollten dem Schüler nicht nur neue Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten in einem Fach vermitteln, sondern auch einen Beitrag zum Wissen über eine andere Kultur leisten. Wir sprechen über literarische Kompetenzen und folglich auch über interkulturelle Kompetenzen. Die "reinsprachlichen", das heißt die kognitiven und kommunikativen Sprachkompetenzen sind die Voraussetzung, das Mittel und teilweise auch das Ziel aller Aktivitäten. Die soziale Kompetenz der Schüler, wie sie in ihrer literarischen Sozialisation zum Ausdruck kommt, steht im Hintergrund ihres Bildungsstandes und ihrer Ansichten zu den verschiedenen Themen unserer Realität(3).
Im Rahmen literarischer Kompetenzen bilden sich interkulturelle Kompetenzen. Die Werke fremdsprachlicher Schriftsteller werden mit den Texten der eigenen, muttersprachlichen Literatur verglichen. Wir befinden unsim Bereich des Unterrichtsfaches Deutsch (als Fremdsprache) oder Tschechisch (als Muttersprache), wobei in beiden Fächern die Aufmerksamkeit der Sprache sowie der Literatur gewidmet wird. Es geht um die Literaturgeschichte und Literaturtheorie. Unter Literatur versteht man dann einerseits historisch eingeordnete literarische, künstlerische, philosophische und gesellschaftsgeschichtliche Strömungen und andererseits das literarisch-theoretische Spektrum der Gattungen oder Themen, die in einem Kanon repräsentativer Texte in den entsprechenden Lesebüchern dargestellt werden(4).
Die im Rahmen der literarischen Sozialisation erworbenenKompetenzen werden mit Hilfe der bei der Lektüre gewonnenen Erfahrungen ins eigene Leben projiziert. Es werden neue Kenntnisse und neue Einstellungen erworben; es sollte zu einer neuen Suche nach dem eigenen Ich oder zu einer neuen "Überprüfung" dieses Ichs kommen; es geht um eine neue Einbeziehung des eigenen Selbst ins "Mikroklima" (Raum, Zeit, menschliche Umgebung) des eigenen Lebens, wobei die Gesellschaft als "Makroklima" verstanden werden soll. Im Unterricht handelt es sich um die Arbeit mit dem literarischen Text und vor allem um seine Interpretation.
Literarische Kompetenzen im FSU stehen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Spracherwerb. Es soll dabei berücksichtigt werden, dass die Sprache des literarischen Werkes (Fremdsprache) als Code literarischer Texte verstanden wird, die Muttersprache stellt in diesem Fall meistens die Metasprache dar(5). Die Frage, mit der sich jeder Fremdsprachenlehrer beschäftigen muss lautet: Wie weit können und sollen die literarischen Kompetenzen im fremdsprachlichen Literaturunterricht entwickelt werden?
Das Beispiel eines Projektes, das sich nicht nur auf die "klassische Arbeit in der Schule" beschränkte, sondern auch in eigener schöpferischer Arbeit der Schüler mündete, soll in diesem Beitrag unter dem Titel "Auf Kafkas Spuren mit Prager und Augsburger Gymnasiasten" vorgestellt werden.
Das Projekt entstand im Jahr 1999 als Teil einer ganzen Reihe von Kulturveranstaltungen in Augsburg und Prag in diesem Jahr. Im Programmheft lesen wir:
"Die seit 1994 jährlich stattfindende Literaturreihe der Stadt Augsburg, die 1999 Franz Kafka gewidmet war, wurde erstmals zu einem Kulturaustauschprojekt erweitert. Dies lag nahe, da Kafka in Prag geboren wurde und lebte. Gleichzeitig sollte diese Veranstaltungsreihe als kleiner Beitrag zu den derzeitigen Annäherungen zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik verstanden werden. Die Einbeziehung österreichischer Institutionen sollte nicht zuletzt verdeutlichen, dass Franz Kafka zu seiner Zeit, ein deutsprachiger Jude in der tschechischen Hauptstadt des Königreichs Böhmen´ war, einem "Teil des österreichischen Nationalitätenstaates" (Heinz Polizer) - Prag stand bis 1918 unter habsburgischer Herrschaft." (PROGRAMMHEFT DER KULTURREIHE AUGSBURG, 1999)
Die Studenten der Tschechischen Republik repräsentierten die Schüler des Gymnasium in Libeň (Prag) unter Leitung von Dr. Tamara Bučková. Zu ihrer Partnerschule wurde das Augsburger Maria-Ward-Gymnasium. An diesem Gymnasium wirkte eine Schülerinnenbühne, die unter Leitung von V. Kreileder arbeitete. Die Schülerinnen ließen sich vom Erbe Kafkas inspirieren und nach den Motiven von Kafkas "Verwandlung" schrieben sie ihre eigenen Texte, die sie dann auch selbst spielten. Das Stück bekam den Namen "Die Verrücktheiten" (vgl. Anhang). Die Herausforderung vor der die Prager Gymnasiasten standen, war klar: sie sollten sich mit dem Autor Franz Kafka auseinandersetzen, sie sollten das Gegenstück der vorbereiteten Theatervorstellung bilden, in dem auch ihr sprachliches Handikap beseitigt werden sollte. Bei der Interpretation des Autors stand der Aspekt der Intertextualität im Vordergrund. Es entstanden eine autobiographische Ausstellung, die von zweisprachigen Abschnitten (deutsches Original und tschechische Übersetzung) aus Kafkas "Brief an den Vater" begleitet wurde, und ein kurzer Schülerfilm (auch in einer zweisprachigen Tonfassung), der vom heutigen Prag aus einen Blick auf den Schriftsteller werfen wollte.
Es ging um ein langfristiges (einjähriges), internationales, in verschiedenen schulischen Institutionen (zwei Gymnasien aus zwei Ländern) realisiertes, thematisch orientiertes (das Dachthema bildete Franz Kafka), für die 16 - 18jährige Jugend bestimmtes Projekt. Der literarische Text wurde als Grundlage für den Schülerworkshop aufgefasst, die Art der Textinterpretation bestimmte den abschließenden gemeinsamen Auftritt der Gymnasiasten zuerst in Augsburg und später auch in Prag. Das Projekt wurde an den Gymnasien von erfahrenen Fachlehrkräften vorbereitet, die sich schon mehrere Jahre erfolgreich damit beschäftigen, der Jugend Kunst nahe zu bringen. Auch das Projekt "Auf Kafkas Spuren" wurde durch das Engagement beider Seiten zu einem großen Erfolg. Der folgende Bericht soll die Arbeit "des Prager Teams" Schritt für Schritt beschreiben und Antworten auf alle wichtigen W-Fragen geben (was, mit wem, unter welchen Bedingungen und wie in so einem solchen Projekt zu lösen ist)(6). Das soll in der Hoffnung geschehen, dass der Bericht zu einer Anregung für die Einen oder zu einer Bestätigung für die Anderen werden kann.
Wie entstand das ganze Projekt an unserer Schule und wie kam es zum Finale? Franz Kafka als einer der bedeutendsten Prager Schriftsteller stellt ein einerseits sehr schönes, aber andererseits auch sehr kompliziertes Thema dar. Gewisse Kenntnisse über Franz Kafka ließen sich bei den SchülerInnen vorauszusetzen, tiefere Kenntnisse waren sicher erreichbar. Zugleich musste man berücksichtigen, dass alleine der Nachweis von Kenntnissen für ein derartiges Projekt nicht genügte, sollte es bestmöglich sein und wirken. Kenntnisse über den Schriftsteller und seine Bücher waren wichtig, noch wichtiger war das Verständnis für den Autor, am wichtigsten aber erschien die Interpretation seiner Werke. Wie nehmen junge Leute im Alter von 16, 17 oder 18 Jahren diesen längst klassisch gewordenen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts wahr? Wie werden sie diesen Autor und seine Texte interpretieren?
Am Projekt begannen wir im Oktober 1998 zu arbeiten.
Als ersten Schritt mussten wir eine richtige Schülergruppe zusammenstellen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen wollte und konnte. Das Gymnasium Libeň in Prag ist ein vierjähriges Gymnasium (Schüler im Alter von 15 bis 19 Jahren), in dem sog. "allgemeine" Klassen, Klassen mit spezialisiertem Programm (Fachrichtung Informatik, Computertechnik) sowie Klassen mit "lebendigem" Englisch, Deutsch oder Spanisch (4 Stunden pro Woche) vertreten sind. Alle Klassen sind beim Fremdsprachenunterricht (in Gruppen mit circa 15 Schülern) geteilt, die erste sowie die zweite Fremdsprache werden 4 Jahre lang mit 3 Stunden pro Woche unterrichtet (Pflichtstundenzahl für das Abitur: 3 Stunden). Für das Projekt wählte man die Klasse 3. A. Die Schüler dieser Klasse, die von der Grundschule mit dem erweiterten Fremdsprachenunterricht (Deutsch) auf das Gymnasium gewechselt waren, standen 1 Jahr vor dem Abitur und waren 17 - 18 Jahre alt.
Der zweite Schritt war, richtig auf den Partner zu reagieren, das heißt das gegebene Thema so aufzufassen, dass das entsprechende Gegenstück der Augsburger Produktion entstehen konnte. Wir entschieden uns für die Interpretation verschiedener Texte Kafkas, vor der wir den übernächsten Schritt nicht formulieren wollten. Wir hatten vor, in enger Zusammenarbeit mit der Tschechischlehrerin, den Schülern die Initiative zu überlassen. In den Tschechischstunden wurde die Erzählung "Die Verwandlung" vorgelesen, in Deutsch wurde der Film "Das Schloss" vorgeführt, die Referate über Kafka wurden in beiden Stunden gehalten, um dieses Thema in beiden Sprachen möglichst gut bewältigen zu können. Diese Etappe wurde mit der Vorlesung vom Prof. Dr. Jiří Veselý aus dem Institut für Translatologie der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Prag beendet. Die Vorlesung bezog sich auf das Thema "Kafkas Prag". Die Orte, an denen Kafka gelebt und geschrieben hatte, wurden in einen Zusammenhang mit Kafkas " Brief an den Vater" gestellt. Die Vorlesung erwies sich als entscheidend für den weiteren Verlauf des Projektes. Nach mehreren, unendlich langen und mühsamen Wochen hatten die Studenten ihren Ausgangspunkt gefunden: "Wir müssen etwas in der Hand haben, was der anderen Seite fehlen muss. Prag ist unser Kapital".
Den dritten Schritt stelltedie Suche nach "unserem Blickwinkel" auf Kafkas Werke dar. Prag und die Gegenwart boten einen Ausgangspunkt für intertextuelle Aspekte bei der Interpretation der Leitmotive in Kafkas Schaffen. Franz Kafka wechselte in seinem nicht langen Leben alleine in Prag 17mal den Wohnort und nur sehr schwer wäre in Prag ein mit den Mythen oder den alten geheimnisvollen Prager Sagen verbundener Ort zu finden, an dem dieser von der seltsamen Prager Atmosphäre umgebene Autor nicht gelebt oder geschrieben hätte. Nennen wir z. B. die Goldene Gasse oder den Altstädter Ring.
Der vierte Schritt kann als Beginn des Workshops charakterisiert werden. Wir entschieden uns die Ausstellung "Kafkas Prag" vorzubereiten.Die Ausstellung sollte in der Pause der Theateraufführung präsentiert werden. Einen selbstständigen Bestandteil der Präsentation sollte, als eine "Filmschleife" der Ausstellungskulisse (auch in zweisprachiger Fassung), der Schülerfilm mit dem Titel "Franz Kafka und wir und heute und in Prag" bilden.
In der Klasse wurden 3 Teams gebildet, von denen 2, ein Fotografinnen- und ein Filmteam, im Terrain arbeiteten. Das dritte Team bearbeitete das gewonnene Material in der Schule und gab der Ausstellung ihre endgültige Form. Die Fotografinnen besuchten und dokumentierten alle in der Vorlesung genannten Orte. Es wurde zweimal fotografiert. Das erste Mal ging es um alt aussehende Schwarzweiß-Fotos, die in verschiedenen braunen und gelblichen Farbtönen angefertigt wurden, um sie authentischer erscheinen zu lassen. Das zweite Mal ging es um Farbaufnahmen der gleichen Orte. Diese sollten einen Kontrast zu den "authentischen" Aufnahmen bilden und so den Gegenwartsaspekt ausdrücken. So entstand eine Ausstellung von 9 Paneelen mit Fotos, Karten und Kafka-Portraits. Wir gingen von dem "Brief an den Vater" aus, in dem wir mehrere thematische Schwerpunkte fanden, die sich in allen Werken Kafkas wider finden und die - dem "Brief" nach - in folgender Weise in unserer Ausstellung gegliedert wurden: "Brief an den Vater", die ersten Zeilen und Gedanken; Kafkas Ängste vor dem Vater und Kafkas Liebe zum Vater; Fluchten; Rettung im Judentum; die Stellung des Vaters zum Schreiben seines Sohns; Berufswahl und Vorahnung der Krankheit; Heiraten als Befreiung vom Vater, Schlussworte des Briefes. Die Abschnitte aus dem Buch bildeten den Begleittext zur Ausstellung. Für die zweisprachige Fassung dieses Textes wählten wir 2 verschiedene Schriften, die den gewünschten Kontrast zwischen dem Anfang des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart noch verstärken sollten. Für die deutsche Sprache war das die Schrift "Matura", für das Tschechische die Schrift "New Times".
Auch das Filmteam hatte vor, die Vergangenheit und das Heute zu konfrontieren. Dominant sollte das heutige Prag sein. Aus mehr als 60 Minuten der Dreharbeiten, vor allem in der Altstadt, auf dem Altstädter Ring, auf der Kleinseite oder dem Hradschin, entstand ein 6 Minuten langer Film. Im Film wurden die Orte, an denen Franz Kafka gelebt und geschrieben hatte, als ein historisches Erbe dargestellt, das die Verbindung der drei im Prag der 20er Jahre zusammenlebenden Kulturen symbolisiert: das Verbindende des Tschechischen, Deutschen und Jüdischen. Im Filmkommentar und in Gesprächen mit Touristen der verschiedenen Nationen wurden Kafkas Themen so dargestellt, dass sie keiner zeitlichen oder räumlichen Begrenzung unterliegen, unabhängig davon, aus welcher Kultur oder Nation der eine oder andere Mensch stammt. Der Film mit seinen malerischen Bildern und der schönen Musik wurde zu einem Element, das die Ausstellung "Kafkas Prag" noch interessanter und "lebendiger" machte. Von den Prager Gymnasiasten wurde so eine Einheit (Ausstellung und Film) geschaffen, die ein klassisches Thema des Literaturunterrichts ganz neu und unklassisch bearbeitete.
Den letzten Schritt stellte die Präsentation unserer Ergebnisse dar. Die Prager Gymnasiasten verbrachten im März 1999 5 schöne kulturvolle Tage im gemütlichen Augsburg, mit 3 Aufführungen des Theaterstückes der Augsburger Partnerschule. Ähnlich war es im Mai 1999 in Prag, als die Schülerinnen des Maria-Ward-Gymnasiums Prag besuchten. Die Theater- und Filmvorstellung und die Ausstellung fanden beim Publikum in beiden Schulen und auch im Elternkreis das verdiente Lob. Die Bewunderung und das gewonnene Ansehen waren in diesem Fall aber nicht das Wichtigste.
Und der allerletzte Schritt? Die Abschlussworte? Das Projekt wurde für alle SchülerInnen zu einer wichtigen Lebenserfahrung und ganz sicher auch zu einem der größten Erlebnisse ihrer Gymnasialzeit, von dem sie auch in der Zukunft werden zehren können.
© Tamara Bučková (Karlsuniversität Prag, Tschechische Republik) / Viktoria Kreileder (Maria-Ward-Gymnasium Augsburg, Deutschland)
ANMERKUNGEN
(1) Aus der Sicht der objektiven, vom Lehrer erreichten Kompetenzen, handelt es sich um die kognitive, soziale und Leistungsmotivation, aus der Sicht der Schülerpersönlichkeit kommen zu den genannten Motivationen noch die subjektiv gefühlte, äußere und innere Motivation. Vergleiche: Hrabal, V.; Man, F.; Pavelková I, 1984.
(2) Komenský, J. A.: Nejnovější metoda jazyků. Vybrané spisy Jana Amose Komenského. Svazek III. Praha, 1964.
(3) Vergleiche: Gemeinsames europäisches Bildungsprogramm, für die Tschechische Republik (für die 3. Stufe) ausgearbeitet im folgenden Dokument: Rámcový vzdělávací program pro gymnaziální vzdělávání: pilotní verze /online/. Praha: VÚP v Praze, červen 2004. WWW: www.vuppraha.cz (Letzter Zugriff: 3. 3.2006)
(4) Vergleiche: BOGDAL, K.-M.; KORTE, H. (2002)
(5) Vergleiche: Kommunikationsmodell, bei Čermák, F. (2001, S. 18)
(6) Vergleiche: Boschma, N. (1987, Einführung); Bieler, K. H. (1985, Vorwort); Swantje Ehler (1998, Kap. VII)
LITERATUR:
Kafka, Franz: Brief an den Vater. Praha. Vitalis 1997.
Kafka, Franz: Dopis otci a jiné částečné povídky. Praha, Akropolis 1996.
SEKUNDÄRLITERATUR
Komenský, J. A.: Velká didaktika. Vybrané spisy J. A. K., sv 1, Praha, SPN 1964.
Chlup, O. - Komenský, J. A.: Pedagogika. Praha 1967.
Komenský, J. A.: Nejnovější metoda jazyků. Vybryné spisy J. A. K. Svazek III, SPN 1964.
GUDJONS, H.: Handlungsorientiert lehren und lernen: Schüleraktivierung - Selbständigkeit - Projektarbeit. 3. erweiterte Aufl. Bad Heilbrunn/obb.: Verlag Julius Klinkhardt, 1992.
JIRÁK J./KÖPPLOVÁ: Média a společnost.Praha: Portál, 2003.
Hrabal, V.; Man, F.; Pavelková, I.: Psychologické otázky motivace ve škole. Praha, SPN 1984.
Čermák, F.: Jazyk a jazykověda. Praha, Carolinum 2001.
Klausnitzer, R.: Literaturwissenschaft. Begriffe, Verfahren, Techniken. Walterde-Gruyter, Berlin 2004.
SCHRUTTE, J.: Einführung in die Literaturinterpretation. Vierte Auflage. J.B.Metzler, Stuttgart, Weimar 1997.
BOGDAL, K.-M.; KORTE, H.: Grundzüge der Literaturdidaktik, dtv München, 2002.
Boschma, N. et al.: Lesen, na und? Ein literarisches Arbeitsbuch für die ersten Jahre Deutsch. Langescheidt. Berlin-München-Wien-Zürich-New York. 1987.
Bieler, K. H.: Miteinander.Text- und Arbeitsbuch für Fortgestrittene. Deutsch als Fremdsprache. Max Huber Verlag. München 1985.
Swantje Ehler: Lesetheorie und Fremdsprachliche Lesepraxis. Gunter Narr Verlag. Tübingen 1998.
ZURÜCKKafkas "Verwandlung" als Inspiration für die "VERRÜCKTHEITEN"
(ein eigenes Theaterstück von der Schülerinnenbühne des Maria-Ward-Gymnasiums)
"Verrücktheiten" - Das war der Titel der Eigenproduktion der Theatergruppe des Maria-Ward-Gymnasiums Augsburg im Schuljahr 1999. Anlass dazu bot die Auseinandersetzung mit Kafka und seinem Werk im Rahmen des Kafka-Projekts des Kulturbüros der Stadt Augsburg. Verknüpft damit fand ein Schüleraustausch mit dem Gymnasium Praha 8 - Liben unter der Leitung von Frau Dr.phil. Tamara Buckova statt.
Die Entstehungsgeschichte des Stückes entwickelte sich in der Zusammenarbeit mit allen Schülerinnen und den beiden Kursleiterinnen der Theatergruppe (Frau Noppen- Eckart und Frau Viktoria Kreileder). Ausgehend von dem Erzählbeginn von Kafkas, Die Verwandlung wurden Überlegungen zum Thema anhand eines Fragebogens angestellt. Im ersten Teil sollten die Schülerinnen Fragen beantworten, die Gelegenheit boten zur Selbsteinschätzung im Hinblick auf ihre Stärken und Schwächen, ihre Träume und Wünsche im Zusammenhang mit Rollen, die sie selbst gerne einmal auf der Bühne spielen würden. Im zweiten Teil waren sie aufgefordert "Verrücktheiten" zu definieren und zu bewerten. Aus dieser thematischen und persönlichen Reflexionsphase entwickelten sich erste Ideen, die teils szenisch, teils in Form schriftlicher Rollenbiografien umgesetzt wurden. Im Anschluss daran wurde den Schülerinnen durch weitere Prosatexte von Kafka die Gelegenheit geboten ihre eigenen Entwürfe der literarischen Tradition gegenüber zu stellen. Folgende Texte fanden dabei besondere Beachtung:
- Der Ausflug ins Gebirge
- Der Fahrgast
- Vor dem Gesetz
- Ein Bericht für eine Akademie
Diese Phase diente dazu den Schülerinnen einen Zugang zu einer Ebene zu verschaffen, die einerseits persönliche Betroffenheit zuließ, andererseits sie aber nicht bloß stellte, und damit eine Möglichkeit bot eigene Wünsche, Vorstellungen und Probleme zu gestalten.
Zusätzlich war festzustellen, dass die nun auf Anregung neu überarbeiteten Szenen und Texte nicht nur ein sprachlich höheres Niveau hatten, sondern auch mehr die eigenen Erlebnisse abstrahierten.
Auf der Bühne konnte durch die selbst entworfene und selbst gestaltete Szenenfolge ein Stück eigener Verrücktheit ausgelebt werden und sie gewann durch die Einbindung der gesamten Theatergruppe und die literarische Tradition einen spielerischen Charakter, der nicht nur zur eigenen Identitätsfindung beitrug, sondern auch den Zuschauern Vergnügen bereitete. Die Produktion, die entstand, wurde dem Publikum an ungewöhnlichen Orten, nämlich in der schuleigenen Kollegstufenbibliothek des Maria-Ward-Gymnasiums in Augsburg und in einer alten Schulturnhalle in Prag präsentiert. Die Darstellung von Extrem- und Grenzsituationen, die durch Gefühle der Einsamkeit und Verlassenheit geprägt waren, fanden dabei ebenso Raum wie die Erfüllung von Wunschträumen, die den jeweiligen Schülerinnen in ihrer Rolle Gelegenheit bot, ihre Talente ins Rampenlicht zu stellen.
ZURÜCK10.1. Innovationen in der Kinder- und Jugendliteratur (KJL)
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