Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 | |
Sektion 1.12. | Asien und deutsche sowie österreichische Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende: Einflüsse und Bedeutung Sektionsleiter | Section Chairs: Chin SangBum (Comperative Study of the World Literature in Korea) und Doo Haeng-Sook (Universität Sogang, Seoul) |
Die Reise als Initiationsweg:
Eine „afrikanische“ Lektüre von Hermann Hesses Roman Siddhartha (1)
Noel Kouagou (Universität Bayreuth) [BIO]
Email: noel_kouagou@yahoo.de
Der vorliegende Beitrag setzt sich zum Ziel, die Bedeutung der Reise in Hermann Hesses Roman Siddhartha auf ihren Symbolgehalt zu prüfen. Siddhartha schildert die Reise, die Erlebnisse und die inneren Wandlungen des Protagonisten im Spannungsfeld der profanen und der spirituellen Welt. Wegen der inneren Unruhe und aufgrund einer gefühlten Berufung entscheidet sich Siddhartha dazu sein Elternhaus zu verlassen und schlägt einen inneren Weg ein. Daher kann sein Lebensweg im doppelten Sinne gesehen werden: Zuerst als geographische Bewegung vom Elternhaus bis zum Fluss und dann als Weg vom Unwissenden bis zum Erleuchteten. Jene zweite Reise entspricht seiner inneren spirituellen Entwicklung. Die physische Reise wird durch die Notwendigkeit einer spirituellen Erfahrung angetrieben. Das Erlebnis, das anhand der geographischen Reise beschrieben wird, ist spiritueller At. Bei dieser Reise durchläuft Siddhartha mehrere Stadien eines äußeren sowie geistigen Werdegangs bis hin zu seiner letzten Stufe, bei der er als Fährmann die Weisheit und Erleuchtung findet. Auf seinem Weg zur Erleuchtung erlebt er räumliche sowie geistige Übergänge, Prüfungen, eine kultisch-rituelle Handlungskette, die Präsenz eines spirituellen Helfers, Tod und Wiedergeburt, wobei die Suche zur Initiationsreise wird. Dadurch stehen Siddharthas Umherirren und die eingeschlagenen Irrwege in einem engen Zusammenhang mit seiner spirituellen Wandlung. Der Beitrag möchte zuerst dazu anregen, sich mit der Symbolik bzw. der symbolischen Beziehung oder Wechselwirkung zwischen dem geographischen Weg und der inneren Route des Protagonisten im Roman Siddhartha auseinanderzusetzen. Darüber hinaus soll ein Augenmerk auf die Rituale geworfen werden, um dann die Interpretation in einem afrikanischen Boden zu verankern. Anhand Hesses Erzählung werden einige Aspekte der afrikanischen Tradition herausgearbeitet.
1. Perspektivierung einer „Afrikanischen“ Lektüre
In seinen Untersuchungen über das Sakrale(2) zeigt Mircea Eliade auf, dass „für den religiösen Menschen der Raum nicht homogen ist“(3). In der Einleitung trifft er die für den ganzen Text entscheidende Unterscheidung zwischen den beiden Formen des In-der-Welt-Seins, nämlich die profane und die sakrale Seinsweise. Das Heilige ist in der göttlichen Sphäre eingeschlossen, während das Profane, das Weltliche, dem Bereich menschlichen Lebens außerhalb des Heiligen Bezirks angehört. Für den religiösen Menschen – den homo religiosus – besteht ein starker Wunsch, in einem geheiligten Raum zu leben. In der afrikanischen Tradition ist das Verhältnis des Menschen zu Gott nicht so direkt entstanden wie bei den von Gott bevorzugten Propheten in den monotheistischen Religionen. Es gibt kein heiliges Buch wie die Bibel oder den Koran oder noch die Upanischaden, um die Kraft der Überzeugung der Existenz Gottes zu erwerben. Für den Schwarzafrikaner liegt diese Kraft nicht außerhalb der kreatürlichen Welt.(4) Auf seiner Suche nach einer Einheit von Mikrokosmos und Makrokosmos legt der religiöse Mensch in den afrikanischen Kulturen auf jedes Element der Natur – Stein, Wasser, Wald, Feuer, Himmel – einen bestimmten Wert und einen besonderen Sinn und etabliert dadurch eine Verbindung zwischen sich und dem transzendentalen, dem kosmischen Bereich. Für den Afrikaner südlich der Sahara liegt in jedem dieser Elemente eine Kraft. Dieser Glaube wird oft als „Animismus“ verstanden, der dem afrikanischen religiösen Glauben von europäischen Ethnologen wegen der Wahrnehmung einer heiligen Kraft in den Naturdingen zugeschrieben wird. Mit dem „Animismus“ bezeichnet man im Allgemeinen den Glauben an die Beseeltheit der Naturdinge(5). Dieser Aspekt der Religion taucht auch in Siddhartha auf. Auf seinem Weg zur Erleuchtung, also auf seinem Initiationsweg legt Siddhartha auf Naturdinge wert.
In Afrika sind mit der Initiation häufig Prüfungen verbunden: Trennung von der Mutter, Isolierung im Busch oder in einer Hütte, gewisse Körpermutilationen und –deformationen wie Beschneidung, Hodenextirpation, Zahnverstümmlung, Tätowierung, Lippen- und Ohrendeformation und Fingerverstümmelung.(6) Durch die Initiation werden den Neophyten geistige Werte vermittelt, wobei sie den Zugang zu einer kulturellen Seinsweise erhalten. Es ist eine grundlegende existentielle Erfahrung, die den Menschen ermöglicht, die Seinsweise seines Kulturbereichs in vollen Umfang auf sich zu nehmen.(7) In einer gewissen Analogie führt Siddhartha kultische, religiöse Handlungen durch, opfert Tiere im Wald, trennt sich von seiner Familie und unterzieht sich physischen sowie geistigen Prüfungen, um zur Erleuchtung zu gelangen.
Die Initiation ebenso wie die Esoterik und die Spiritualität sind als literarische Themen in der afrikanischen Literatur präsent.(8) Eine Gemeinsamkeit, die sich durch die Religionen der meisten Kulturen in Afrika zieht, ist die Praxis der traditionellen Initiation, in der die Unterscheidung zwischen traditionellen Kulten, der Wahrsagung, der Hexerei und der Esoterik nicht leicht erscheint(9). Herskovits hebt die gemeinsamen Strukturen der afrikanischen Religionen(10) hervor. Er stellt zwar eine Mannigfaltigkeit der schwarz-afrikanischen Religionen fest, deren Kosmologien und religiöse Systeme, die von Mythen bestimmt sind, regelmäßig wiederkehrende und überprüfbare Strukturen aufweisen. Diese unterscheiden sich von anderen religiösen Systemen und verleihen ihnen einen deutlich eigenen, afrikanischen Charakter(11). Als Komponenten, die in diesen Systemen erscheinen, erwähnt er u. a.: Den Hochgott (den Schöpfer, die erste Ursache), die Gottheiten, die lokalen Geister, die Ahnen und die Seelen, das Schicksal der Einzelmenschen und die Magie(12).
In Europa entspricht Initiation(13) heutzutage eher der Schulbildung, der beruflichen Ausbildung oder einfach dem Übergang vom Kind zum Erwachsensein. In der traditionell afrikanischen Gesellschaft wiederum definiert sich die Integration durch spezifische spirituelle Erfahrungen. Die Integration in die Gesellschaft erklärt sich durch den Status und die Rolle, in die das Kind eingebunden ist. Bereits seit seiner Geburt übernimmt das Kind eine Rolle in der Gesellschaft. Es fungiert als Bindeglied zweier Generationen, zwischen der Welt der Verstorbenen und der der Lebenden, weshalb die Notwendigkeit besteht, es in das Mysterium der Welt einzuführen. Die Entwicklung der Persönlichkeit verwirklicht sich im Rhythmus der großen Perioden des Körperwachstums, von denen jede einzelne einem Grad der Initiation entspricht. Diese spirituelle Dimension wird in einer Reihe afrikanischer Werke dargestellt.
Der Roman L’Enfant Noir(14) von Camara Laye behandelt den Initiationsvorgang eines Protagonisten. Er lebt in einem mystischen Universum, wo die Dinge und die Tiere, die er sieht, eine transzendentale Bedeutung haben. Seine Initiation beginnt in der Werkstatt seines Vaters, wo er in das Geheimnis des Schmiedhandwerkes(15) eingeführt wird. In den ersten Jahren lernt er auch die Bedeutung der schwarzen Schlange – als Totem des Vaters – und ihre Rolle in der Familie kennen. Wie viele andere afrikanische Kinder geht der Protagonist durch die unausweichliche Einführungsprüfung, die in zwei Etappen geteilt ist; er tritt in die Gemeinschaft der Nicht-Eingeweihten ein, denen die unbeschnittenen Jugendlichen im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren angehören. Später erlebt der Protagonist die Prüfung der Beschneidung.
Wie in L’Enfant Noir befasst sich auch Comme une piqûre de guêpe(16) mit dem Ritus der Beschneidung und deren Bedeutung in der Familie. Hier geht es um Faganda, einen Jungen, den man durch den Ritus der Initiation auf das Mannesleben vorbereitet. Die Initiation des Jungen versteht sich als Teil einer langen Tradition, die den Jugendlichen den Glauben der Alten weitergibt. In einer Warnung nimmt der Autor die Bedeutung des Ritus vorweg: « circoncire se dit de façon métaphorique k’a bolo ko (laver les mains du jeune garçon au seuil de la puberté) »(17) Faganda macht sich schon früh mit den Realitäten des spirituellen Lebens seiner Familie vertraut, wonach er den Ritus der Beschneidung selbst durchläuft.
Amadou Hampaté Bâ schildert die Initiation des jungen Amkoullel in die religiöse Bruderschaft. In Kaydara lässt er die drei Figuren – Hammadi, Hamtoudo und Dembouro – mental, intellektuell und spirituell an dem Initiationsvorgang teilnehmen, wobei der Held Hammadi einundzwanzig Jahre lang auf seiner Initiationsreise unterwegs ist. In Bezug auf Kaydara zeigt Werner Glinga in seinem Buch Literatur in Senegal auf, dass die Initiation die „Suche des Menschen nach geistiger Vollendung oder nach ‚science et sagesse‛“ darstellt.(18) Olympe Bhêly-Quénum ist es gelungen, die Essenz der Initiation bis hin zur Esoterik zu illustrieren. Im Gegensatz zu Hampâté Bâ, der seine Figur an der Initiation lediglich teilnehmen lässt, erscheinen in Olympe Bhêly Quenums Werken die Figuren bereits in einem fortgeschrittenen Stadium, wo sie ihre esoterischen Fähigkeiten umsetzen. Seine Werke spiegeln die spirituelle Entwicklung der Protagonisten wider. Seine Vertrautheit mit der Welt der Initiation, die ein Ergebnis des Umgangs mit seiner Mutter, der Vodounsi ist, ermöglicht ihm, die Initiation als Teil der Naturkräfte im traditionellen Afrika nachzuzeichnen. L’initié, Le chant du lac, Les Appels du Vodou sind Initiationsgeschichten traditionell afrikanischer Gesellschaften. Im Roman L’initié geht es um den Protagonisten Marc Tingo. Er Arzt und versteht sich als Intellektueller Wissenschaftler. Seine Kenntnisse im medizinischen Bereich hat er in einer europäischen Schule erlernt. Marc Tingo fügt diesen Kenntnissen jedoch ein überliefertes Wissen hinzu. Seine Kraft kommt von der esoterischen Einführung in afrikanische Mysterien. In der Praxis der Medizin bedient sich Marc manchmal der Kraft „der ersten Wörter“. Es handelt sich um Beschwörungsformeln, die ihm sein Onkel enthüllt hatte, als er fünfzehn Jahre alt war. Allerdings hat er Angst vor dem schrecklichen und überaus mächtigen Hexer Djessou. Der Kampf zwischen Marc und dem Hexer Djessou – Djessou bedeutet Tod –, der sich der dunklen Kräfte für seine persönlichen Interessen bedient, um der Gesellschaft zu schaden, wird ihn letztendlich zum Tode verurteilen. Die Erzählung Promenade en Forêt handelt die Suche nach der ursprünglichen Quelle, das heißt eine Suche nach reinen, primitiven Traditionen durch eine Initiationsreise ins Königreich der Toten. Der Autor beschreibt auch in Les Brigants und Suite fantastique die Begeisterung eines Menschen mit übernatürlicher Kraft.
Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung lässt sich Siddhartha, wie auch viele afrikanische Werke, wie ein Prototyp der Initiationserfahrung lesen, in der die kosmologischen und metaphysischen Dimensionen überwiegen. Siddhartha bewegt sich vom Status des Nichtinitierten zum der Erleuchteten. Sein Übergang wird durch Trennungen, kultische Handlungen, physische sowie geistige Prüfungen, symbolischen Tod und Wiedergeburt dargestellt, wobei sein Entwicklungsweg zum Göttlichen die Form einer Initiation annimmt. Es geht hier darum, den Entwicklungsweg des Protagonisten und sein Verhältnis zum Numinosen zu untersuchen und daraus einige Aspekte der traditionellen Initiation in Afrika hervorzuheben. Im folgenden Kapitel sollen die Schlüsselbegriffe unserer Analyse erklärt werden.
2. Reise als geographischer Weg
Die Motivation für Siddharthas Aufbruch ist seine geistige Unzufriedenheit. Begleitet von seinem Freund Govinda verlässt der Brahmanensohn Siddhartha, seine Familie und seine Heimat, um auf die Suche nach dem Sinn des Lebens zu gehen. Er will vor allem den „Atman, ihn, den Einzigen, den Alleinen“ (vgl. S. 9)(19) im Ich entdecken. Grund des Aufbruchs ist also, dass er keine Erlösung im Brahmanismus gefunden hat. Die Reise führt ihn auf verschiedene Wege und Stationen: Die Station des Elternhauses, der Samanas, des Buddha, der Kurtisane Kamala, des Kaufmannes Kamaswani und schließlich des Fährmannes Vasudeva.
Die verschiedenen Punkte seiner Reise entsprechen jeweils dem spirituellen Zustand oder dem Wandlungsgrad von Siddhartha während der physische Aspekt der Welt kaum beschrieben wird. Vielmehr legt der Autor Wert auf die gegensätzliche Wirkung des geographischen Weges auf den geistigen Zustand des Reisenden und umgekehrt. Auf dem Weg unterwirft sich der Protagonist einer Reihe von Prüfungen und pflegt die religiösen Rituale, die ihn letzten Endes zur inneren Wandlung und zur Erleuchtung führen. In diesem Sinne ist Siddhartha nicht einfach ein Reisender auf der Suche nach dem Fremden und dem Exotischen, sondern auch auf dem Weg zur spirituellen und ontologischen Statusänderung. Die innere Reise, die Suche, die Entwicklung, die Übergänge von der Kindheit zum Erwachsensein, vom profanen zum spirituellen Leben und der Wille danach ein anderer zu werden, stehen im Mittelpunkt seiner Reise. Davon ausgehend spricht Siddharthas Reise den Leser auf einer anderen Ebene der menschlichen Erfahrung an. In Anlehnung an Simone Vierne möchte ich in ähnlicher Weise den Sinn der Reise in dem Beitrag darlegen:
Le voyage conçu comme une quête a un but, qui va au-delà du dé-paysement, même si le voyageur n’en est pas toujours conscient : Il s’agit pour lui de transcender l’humaine condition, en touchant comme Ulysse aux portes de la mort, ou comme Enée en descendant aux enfers, et d’en ressortir autre, selon un schème initiatique bien connu.(20)
Im Roman Siddhartha geht die spirituelle Entwicklung mit der geographischen Reise einher. Die räumliche Bewegung des Protagonisten ermöglicht ihm zugleich die Erfahrung transzendenter Werte und der Selbstfindung zu machen. Die Reise ist in der Erzählung ein Motiv für die spirituelle Suche und den Übergang vom profanen zum sakralen Leben. Dadurch entsteht eine Beziehung zwischen der geographischen Reise und dem Weg der spirituellen Suche, die im übertragenen Sinne als Initiation betrachtet werden kann.
3. Reise als Initiationsweg
Etymologisch betrachtet ist der Begriff Initiation vom lateinischen Wort initium abgeleitet, was so viel wie „Anfang, Beginn, Eintritt, Einweihung“ bedeutet. Bezeichnet wird der Vorgang des Hineingehens, besonders die Einweihung in Mysterien oder Geheimnisse esoterischer Natur. Was die Griechen in der Antike als Mysterien bezeichneten, waren Rituale, die über das Verstehen der Menschen hinaus gingen. Die Jugendlichen wurden mit Riten in das religiöse und soziale Leben des Volkes eingeführt, insbesondere in ihre sozialen Rollen. Die Initiation von Eleusis(21), Mithras(22) und die Mysterien der Isis und des Osiris(23) sind berühmte Beispiele. Auch die Aufnahme in einen Standes- oder Berufsverband kann den Charakter einer Initiation haben. Der Begriff, der im Laufe der Geschichte weitere Bedeutungen angenommen hat, sollte in seinen verschiedenen Anwendungsbereichen, geklärt zu werden. Im folgenden Teil geht es darum, den Begriff „Initiation“ in der Ethnologie, in der Religionswissenschaft und in der Literaturwissenschaft zu präzisieren.
3. 1. Kulturanthropologische Betrachtung der InitiationIn die Anthropologie wurde der Begriff „Initiation“ erstmals 1724 von dem französischen Jesuiten Joseph-Francois Lafitau eingeführt, als er die Reifefeier der Irokesen und Kariben mit den Weihezeremonien antiker Mysterienkulte verglich(24). Diese Zeremonien bezeichnete er in seinem Buch Moeurs des sauvages ameriquains, comparées aux moeurs des premiers temps(25) als „le principe, le commencement, et l’entrée de la vie“.
Als Initiation bezeichnen Anthropologen und Ethnologen ganz allgemein die durch festgelegte rituelle Abläufe geprägte, individuelle oder kollektive Einführung in eine neue Lebensphase, in ein neues sakrales oder profanes Amt oder in eine neue soziale Gruppe.(26) Die Phase des Übergangs dient zur Erziehung der Initianden zu vollwertigen Stammesangehörigen, wobei oft Mut, Geschicklichkeit, spezifisches Wissen oder Verlässlichkeit auf die Probe gestellt werden. Bei den so genannten Naturvölkern vollziehen sich diese Pubertätsriten häufig in Verbindung mit Beschneidung, Markierung, Zähneverstümmelung oder Tätowierung.(27)
Arnold van Gennep präsentierte ein Schema des Ablaufs der Initiation in drei Phasen: der Trennung (séparation), des Übergangs (marge) und der Einführung in einen neuen Status (agrégation). Diese Phasen werden stets von einem festgelegten Ritus begleitet. Diesen bezeichnete er als rites de passage. Dazu gehören alle Zeremonien, die gesellschaftliche Krisen im Leben eines Individuums begleiten und die dieser Struktur entsprechen:
In jeder Gesellschaft besteht das Leben eines Individuums darin, nacheinander von einer Altersstufe zur nächsten und von einer Tätigkeit zur anderen überzuwechseln. Wo immer zwischen Alters- und Tätigkeitsgruppen unterschieden wird, ist der Übergang von einer Gruppe zur anderen von speziellen Handlungen begleitet, wie sie etwa der Lehre bei unseren Handwerksberufen entsprechen.(28)
Die Initiation dient demzufolge als Markierung der grundsätzlichen Entfaltungs- und Entwicklungsstufen im menschlichen Leben. Für Van Gennep wird die Geburt, die Heirat und den Tod von Übergangsriten begleitet, wobei sich jede in ihrem Ablauf unterscheidet. Victor Turner bestätigt in seinem Buch The ritual process Arnold van Genneps dreiteiligen Verlauf der zeremoniellen Initiation.(29)
Mircea Eliade definiert „Initiation“ aus einer Sicht der Religionswissenschaft als „eine Gesamtheit von Riten und mündlichen Unterweisungen, die die grundlegende Änderung des religiösen und gesellschaftlichen Status des Einzuweihenden zum Ziel hat. Philosophisch gesagt, entspricht die Initiation einer ontologischen Veränderung der existentiellen Ordnung. Am Ende seiner Prüfung erfreut sich der Neophyt einer ganz anderen Seinsweise als vor der Initiation: er ist ein anderer geworden“.(30)
Initiation ist die Bezeichnung für eine Folge von kultischen Riten und mündlichen Belehrungen, die den Initianden in eine höhere Welt einführen und dabei seinen sozialen und religiösen Status entscheidend ändern. Bei einer Initiation werden die Neophyten einer rituellen Prüfung unterzogen, in deren Verlauf sie symbolisch Tod und Wiedergeburt erleben. Der Neophyt überschreitet in der Initiation „die natürliche Seinsweise“, die des Profanen, und gewinnt das „übernatürliche Wesen“, das des Sakralen.(31) Es gibt mehrere Formen der Initiation, die den unterschiedlichen sozialen Strukturen und verschiedenen historischen Kulturen entsprechen. Trotz der zahlreichen Unterschiede lassen sich aber Gemeinsamkeiten erkennen.
Eliade unterscheidet drei wesentliche Kategorien(32) der Initiation: die Kollektivrituale, durch welche sich der Übergang von Kindheit oder Jugend zum Alter des Erwachsenen vollzieht. Sie werden Pubertätsriten, Stammesinitiation, Altersklasseninitiation genannt. Diese Riten sind kollektiv und für alle Mitglieder der Gesellschaft verpflichtend. Die zweite Kategorie der Initiation fasst alle Riten der Aufnahme in eine Geheimgesellschaft oder Bruderschaft zusammen und wird meistens individuell oder in kleinen Gruppen vollzogen. Schließlich wird eine dritte Kategorie durch die mystische Berufung zum Medizinmann oder Schamanen definiert, im Fall von Siddhartha zum Erlebnis der Erleuchtung. Das Hauptmerkmal dieser letzten Initiation ist, dass der Berufene durch Prüfungen ein besonderes persönliches und religiöses Erlebnis erfährt. Vor allem die dritte Kategorie interessiert uns im Hinblick auf unser Thema. Die Initiation ermöglicht einen Doppelübergang: « Il s’agit, d’une part, de faire passer le néophyte de la vie infantile à la société des hommes, et, d’autre part, de le faire passer de la vie profane à la vie sacrée »(33). Es geht bei der Initiation nicht nur um eine soziale Statusänderung, sondern auch um Wiedergeburt, um eine ontologische Veränderung. Ähnlich geht es bei der Reise in Siddhartha um das Verständnis des Göttlichen im Ich und um die Erfahrung des sakralen Lebens.
Es sollte nicht Ziel dieser Arbeit sein, die vielfältigen Begriffsverwendungen in allen Bereichen darzustellen. Vielmehr geht es um die für unsere Arbeit relevanten Definitionen des zu untersuchenden Phänomens. Darum scheint es notwendig, die Beziehungen von anthropologischer und literaturwissenschaftlicher Wahrnehmung der Initiation aufzuzeigen.
3. 2. Fixierung der Initiation in der Literatur1943 führten zum die amerikanischen Literaturwissenschaftler Robert Penn Warren und Cleanth Brooks(34) den Begriff initiation story erstmal in die amerikanische Literaturkritik ein. Seitdem ist der Begriff zum Forschungsgegenstand der Literaturwissenschaft geworden. Der Begriff „Initiation“ war den amerikanischen Autoren des 19. Jahrhunderts zwar geläufig, doch wurde von ihnen nie deutlich definiert. Peter Freese stellt fest:
Von den etwa einhundert Kritikern, in deren Arbeiten der Initiationsbegriff in diesem neuen und übertragenen Sinn als Bestandteil des literaturkritischen Vokabulars gefunden wurde, benutzt der weitaus größte Teil initiation als eine offenbar selbstverständliche Vokabel, andere deuten entweder durch den Kontext, in dem sie den Terminus verwenden, oder durch kurze erläuternde Hinweise auf das von ihnen Gemeinte hin, und weniger als zehn bemühen sich um eine detaillierte Definition.(35)
In seiner 1971 erschienenen Monographie systematisiert Peter Freese(36) – wie van Gennep in der Anthropologie – die literaturkritischen Beiträge zum Initiationsgeschehen. Er bezieht seine Ergebnisse auf die Erkenntnisse der Anthropologie, Religionsgeschichte, Soziologie und Psychologie, wobei er eine Definition der literarischen Initiation aufstellte. Freese erweitert das Konzept, indem er eine Reihe von Initiationen ausführlich beschreibt und sie letzten Endes mit der Reise verbindet. Anhand der Vielzahl von Begriffsverwendungen betont er vier immer wiederkehrende Aspekte der Initiation: die Entdeckung der Existenz des Bösen, den Verlust der Unschuld und Gewinn an Reife, die Einführung in die Gesellschaft und schließlich die Selbstfindung, wie auch die Selbstverwirklichung.(37) Nachdem er eine Anzahl der verwendeten Bedeutungen in Werken der Literaturkritik dargelegt hat, fasst er die wesentlichen Aspekte des Initiationsvorgangs folgendermaßen zusammen:
Dementsprechend definiert Peter Freese das Phänomen der Initiationsreise als „einen nach außen projizierten inneren Ablauf, einen als reale Reise gestalteten Initiationsvorgang, bei dem die Stufen von Aus-, Über- und Eingang als Ausbruch, Aufenthalt in der Fremde und Rückkehr verdeutlicht und die Phasen des innermenschlichen Geschehens als die Stationen einer geographisch lokalisierbaren Reiseroute verwirklicht werden“(39). Diese Definition stellt eine enge symbolische Beziehung zwischen dem äußeren, geographischem Weg und dem inneren Weg des Protagonisten her. Die Initiationsreise wird oft von rituellen Handlungen begleitet und ist darüber hinaus entweder von vornherein nicht funktions-, und zielorientiert oder verliert unterwegs eine solche Zielorientierung.(40)
Die Initiation zielt vor allem auf eine vollkommenere Teilhabe am Heiligen oder auf eine ontologische Statusänderung des Einzuweihenden ab; sie bewirkt den Übergang vom weltlichen Zustand in den transzendenten Zustand.(41)
Die vorliegende Arbeit soll versuchen, die Initiationsreise bzw. den Weg zur Erleuchtung von Siddhartha, seine Wandlungen, seine Übergänge vom Kind zum Erwachsenen oder vom Unwissenden zum Vollendeten zu untersuchen. Die Reise des Protagonisten, die in drei Phasen verläuft, wird im Folgenden dargelegt.
4. Die initiatorische Struktur der Reise in Siddhartha
Laut van Gennep verläuft ein Übergangsritus in drei Phasen. Auch in der Struktur von Siddharthas Reise sind diese von van Gennep postulierten drei Phasen der Initiation zu erkennen. Der literarische Aufbau des Romans Siddhartha spiegelt die Dreiphasigkeit von Ausgang aus der Heimat (Trennungsphase), Aufenthalt in der Fremde (Schwellen- bzw. Umwandlungsphase) und Eingliederung (Angliederungsphase) wider. Somit sind die inneren Übergangsphasen durch den Ausgang aus der alten Existenzform, sowie den Übergang und Eingang in eine neue Existenzform strukturiert. Man unterscheidet drei große Sequenzen von ungleicher Länge. Die erste Phase stellt die Vorbereitung auf die zweite Phase – den Initiationstod – dar. Im Allgemeinen ist die zweite die am ausführlichsten beschriebene Phase. Die dritte besteht aus der Wiedergeburt und der Eingliederung in eine neue Gruppe. Der Handlungsablauf lässt sich so in drei klar getrennte Phasen aufteilen:
Die erste Phase der Initiation ist der Aufbruch aus der gewohnten Umgebung. Die Initiation verlangt, dass die Initianden die gewohnte Umgebung verlassen. Somit werden sie an einen entfernten Ort, meist in einen Wald oder in eine Hütte geführt. An solchen Orten erleben die Neophyten das Sakral.
Siddharthas Leben in der Familie ist vor seinem Ausbruch geistig orientiert. Er wächst in einer frommen brahmanischen Umgebung auf. Im Elternhaus nimmt er am religiösen Leben des Stammes teil, übt sich mit seinem Freund Govinda im Redekampf und betreibt die Kunst der Betrachtung und der Meditation. Wegen der Berufung und seiner inneren Unzufriedenheit wendet er sich von den Eltern ab und begibt sich auf die Suche, wobei er viele Prüfungen besteht und Wandlungen erlebt.
Prüfungsweg und Wandlungen
5. 1. Die Berufung und der Aufbruch
Siddharthas Reise wird durch seine Berufung zur religiösen Erleuchtung in die Wege geleitet. Der Zugang zu den religiösen Überlieferungen verlangt dem Suchenden bestimmte Eigenschaften, nämlich einen geistigen Wert sowie eine Fähigkeit, das Sakrale zu erleben und die Mysterien zu verstehen, ab. In Bezug darauf schreibt Mircea Eliade:
Die religiöse Erfahrung und Kenntnis enthalten Stufen und immer höhere Ebenen, die naturgemäß nicht unterschiedslos jedem zugänglich sind. Die Vertiefung der religiösen Erfahrung und Kenntnis erfordert eine besondere Berufung oder außergewöhnliche Willenskraft und Intelligenz.(42)
Zu Beginn des Romans wird Siddhartha als ein außergewöhnlich begabtes Kind dargestellt. Er ist intelligent, wissbegierig, stolz und schön: „Allen schuf er Freude, allen war er zur Lust“(S. 7). Der Vater ist sicher, dass sein Sohn ein großer Weiser und Priester sein wird. Govinda erkennt in Siddhartha die hohe Bestimmung einer Heiligung und Vollendung. Govinda weiß, dass Siddhartha kein gemeiner Priester sein wird:
Govinda wusste: dieser [Siddhartha] wird kein gemeiner Brahmane werden, kein fauler Opferbeamter, kein habgieriger Händler mit Zaubersprüchen, kein eitler, leerer Redner, kein böser, hinterlistiger Priester, und auch kein gutes, dummes Schaf in Herde der vielen. (S. 8)
In jenem Abschnitt wechselt der Erzähler den Erzähltempus vom epischen Präteritum zum Futur und versinnbildlicht damit den kommenden Handlungsverlauf, er stellt einen Hinweis auf das Ergebnis dar. Alles, was Siddhartha unternimmt und sagt, gefällt seinem Freund. Er liebt Siddharthas Gang, den vollkommenen Anstand seiner Bewegungen. Er bewundert vor allem „seinen Geist, seinen feurigen Gedanken, seinen glühenden Willen, seine hohe Berufung“ (S. 8). Somit sind die wichtigen Vorbedingungen der Initiation von Siddhartha gegeben. Darum will Govinda ihm als sein Schatten folgen, wenn er „einstmals ein Gott würde, wenn er einstmals eingehen würde zu den Strahlenden“ (S. 8). Govinda entpuppt sich als Wahrsager, der die Zukunft von Siddhartha vorhersagt. Diese Praktik der Wahrsagung ist in der afrikanischen Tradition verbreitet. Dabei spielen kosmische Elemente wie Feuer, Wasser, Luft, Erde eine wichtige Rolle. Mit diesen versucht man Vorzeichen für die Zukunft lesen zu können. Alphonse Obelitala verweist folgendermaßen auf die Bedeutung der Wahrsagung in Afrika: «En fait, prise dans son ensemble, l’Afrique Noire use d’une grande variété de Divinations, utilisant les divers éléments de la nature: Les animaux, plantes, éléments atmosphériques. »43) Die Divination, die in der Kultur der Yoruba, Ewe oder Fon bekannt ist, beruht auf der Punktierkunst von Fa, dem Gott der Zukunft. Die Wahrsager, „Bokonon“ genannt, sollen ein vorbildliches Leben führen, um Ärger der Gottheiten zu vermeiden.(44) In den sudanesischen Gebieten heißt es: «on sacrifie le poulet sur l’autel et on le jette à terre; s’il expire le ventre en l’air la réponse est favorable; la disposition des ailes, du corps, des pattes, des viscères fournit des détails supplémentaires.»(45)
Im Gegensatz zum Vater, der voraussieht, dass Siddhartha „ein zukünftiger großer Priester“ werden wird, erhebt ihn Govinda zum Gott, so dass man nicht allein von einer Wahrsagung, sondern von einer „Vergottung“ sprechen kann. Damit sind der Prüfungsweg und der Übergang des Helden vom menschlichen Dasein ins göttliche bestimmt. Auf diese Weise gewinnt Siddharthas Reise den Charakter eines Übergangsritus.
Durch die Beschreibung von Siddharthas Eigenschaften, wird deutlich, dass er sich in seiner Kindheit von den anderen Kindern unterscheidet. Diese Merkmale deuten schon voraus, das Siddhartha ein Auserwählter in der „Herde der vielen“ (S. 8) ist. Das Auserwähltsein ist eine unerlässliche Vorbedingung der Einweihung. Um die Beziehung zum Göttlichen erfahren zu können, braucht Siddhartha besondere Eigenschaften, wie sein höheres Verständnis der Sachen. Dadurch kann er eine Verbindung mit einer kosmischen Macht herstellen. Siddharthas Erlebnis der Berufung vollzieht sich allmählich und wird von ihm selbst erst später bewusst wahrgenommen. Im Laufe der Zeit fühlt er sich aus sich selbst heraus berufen. Als er sich später bei den Kindermenschen aufhält, erinnert er sich an sein ganzes bisheriges Leben und fühlt dann in seinem Herzen: „ Ein Weg liegt vor dir, zu dem du berufen bist, auf dich warten die Götter“ (S. 69). Des Weiteren vernimmt er immer wieder eine innere Stimme, die ihm ständig sagte: „Weiter! Weiter! Du bist berufen!“ (S. 69). Dadurch weist Siddharthas Berufung eine auffällige Ähnlichkeit mit der des Schamanen auf. Nach den Vorstellungen vieler schamanischer Traditionen kann ein Mann oder eine Frau nur durch Berufung Schamane werden. Die Berufung zum Schamanen kann in verschiedener Weise erfolgen. Der Betroffene fühlt sich aus sich selbst heraus berufen.(46) Außer dieser vorbestimmten Berufung und diesen besonderen Bedingungen, die ihn als prädestiniertes Kind erscheinen lassen, führt Siddhartha Rituale durch, die ihm auf seinem spirituellen Weg weiterhelfen. Diese Rituale können als äußere Begleitformen der Initiation betrachtet werden. In Bezug darauf schreibt Peter Freese folgendes:
Die äußeren Begleitformen wie das Anlegen neuer Kleider, das reinigende Bad, die Periode der vorbereitenden Abschließung von der Welt, die Fastenvorschriften, das Abscheren der Haare und die Annahme eines neuen Namens zum Zeichen eines neugewonnenen Lebens findet sich hier ebenso wie bei den Ritualen der Primitiven.(47)
Unter dem Gesichtspunkt der Symbolik sind die Verweise auf die traditionelle Form der Initiation offensichtlich: die Riten im Wald, die heiligen Waschungen, der Kleiderwechsel und das Fasten.
In der Familie unterwirft sich Siddhartha einer Reihe von religiösen Ritualen. Seine Lektüre sind die heiligen Bücher.
Sonne bräunte seine lichten Schultern am Flußufer, beim Bade, bei den heiligen Waschungen, bei den heiligen Opfern. Schatten floß in seine schwarzen Augen im Mangohain, bei den Knabenspielen, beim Gesang der Mutter, bei den heiligen Opfern, bei den Lehren seines Vaters, des Gelehrten, beim Gespräch der Weisen. (S. 7)
In diesen Ritualen findet man bekannte Requisiten der Initiation. Das Ritual der Waschung soll den jungen Siddhartha von seinen Sünden reinigen und eine Annäherung zur Transzendenz ermöglichen. Siddhartha hat die Ritualsprache gelernt und beherrscht sie schon. Er kennt die Essenz des Wortes „Om“ und weiß genau dessen Bedeutung im Leben des Individuums.
Schon verstand er, lautlos das Om zu sprechen, das Wort der Worte, es lautlos in sich hineinzusprechen mit dem Einhauch, es lautlos aus sich herauszusprechen mit dem Aushauch, mit gesammelter Seele, die Stirn umgeben vom Glanz des klar denkenden Geistes. (S. 7)
In dieser Übergangszeit erlernt Siddhartha wichtige Worte und bestimmte Lebenspraktiken. Dies erinnert an Zaubersprüche, die die Initianden während ihrer Initiation lernen oder wiederholt sprechen müssen. Siddhartha kennt die tiefe Bedeutung des magischen Wortes „Om“ und anderer Worte. Er weiß auch: „wer solche Worte beherrscht, geht täglich in die himmlische Welt“ (Vgl. S. 10). Mit seinem Freund Govinda pflegte er die Versenkung. Oft gehen sie zum Banyanenbaum, und setzen sich „zwanzig Schritte“ voneinander. Nach der Versenkungsübung gehen sie zum Fluss, um dort „die Waschung der Abendstunden vorzunehmen“ (S. 11). Diese Fähigkeit des Meditierens bringt Siddhartha und seinen Freund stufenweise aus dem Bereich des Unsichtbaren hervor. Während der Meditation verinnerlicht Siddhartha sich die heilige Silbe „Om“. Mit diesem Ritual kann er in Versenkung, „Om denkend, seine Seele als Pfeil dem Brahman aussenden“ (S. 11).
„Om“ ist eine Silbe des Sanskrits, die bei den Hindus und Buddhisten als heilig gilt. In allen hinduistischen Religionen gilt es als das heiligste aller Mantren.(48) Mit dem Wort „Om“ will Siddhartha seinen Geist erheben. In diesem Sinne wirkt das heilige Wort Om als spirituelle Nahrung und Stärkungsmittel für ihn. Om ist voller göttlicher Energie und verweist auf eine Manifestation der spirituellen Kraft, deshalb versteht Siddhartha das Wort. Er wiederholt murmelnd den Vers:
„Om ist Bogen, der Pfeil ist Seele,
Das Brahman ist des Pfeiles Ziel,
Das soll man unentwegt treffen“
Trotz seiner Bemühungen ist es ihm aber noch nicht gelungen, in die himmlische Welt einzutreten. Sie scheint ihm oft nah, aber dennoch erweist sich der Eintritt in die Sphäre des Sakralen als schwierig. Diese Schwierigkeit ist auf Siddharthas Umgebung und seine Vorstellung vom Om zurückzuführen. Er gebraucht die Ritualsprache nur, wenn er im Stress steht oder verzweifelt ist.
Da das Sakral im alltäglichen Leben manchmal nicht erfahrbar ist, geht er in den Wald, um Tiere zu Opfern: „Wandelnd auf den rosigen Wegen des Feigengartens, sitzend im bläulichen Schatten des Hains der Betrachtung, waschend seine Glieder im täglichen Sühnebad, opfernd im tiefschattigen Mangowald, von vollkommenem Anstand der Gebärden […]“(S. 8). Der beschriebene Schauplatz erinnert an die traditionelle Initiation. Die Initiation findet meistens im Busch, im entfernten Ort des Dorfes, im Hain oder in einer Lichtung statt. Die Neophyten werden von der übrigen Gesellschaft isoliert und in Hütten oder in den Busch gebracht. Die Bedeutung der Distanz der Neophyten zum alltäglichen Leben bringt Simone Vierne folgenderweise zur Sprache: „Le lieu sacré, hors de l’espace courant, et la purification ont ceci de commun qu’elles impliquent pour le futur initié, une rupture avec le monde profane“(49). Die Isolierung der Initianden versinnbildlicht den Bruch vom profanen Leben.
Der Opferritus dient als kultische Handlung u. a. als Sinnbild des Verzichts auf irdische Güter zugunsten einer Verbindung mit Gott, Göttern oder Ahnen. Nach Dominique Zahan hat die Opfergabe eine Schlüsselrolle in den afrikanischen Religionen: „il constitue la prière par excellence, celle à laquelle on ne saurait renoncer sans compromettre gravement les rapports entre l’homme et l’invisible“(50). Für John S. Mbiti gehört die Darbringung von Opfern zu den allgemein üblichen religiösen Handlungen, die man bei afrikanischen Völkern findet.(51) Während der Zeremonien werden den Ahnen oder den Gottheiten oft Tiere geopfert. Der Wert der Opfergabe besteht in dem vergossenen Blut der Tiere. Durch das Opfern strebt Siddhartha danach, übernatürliche Mächte für sich zu gewinnen. Er hofft, dass das Opfern und die Reinigungsriten seinen existentiellen Zustand ändern werden. Das Blut spielt eine bedeutende Rolle dabei. In den traditionellen Initiationen symbolisiert es die Speise der Geister oder Totenseelen. Des Weiteren schreibt Mbiti: Das Darbringen von Opfern „bietet Gelegenheit, eine Bindung zwischen Gott und dem Menschen, den Menschen und den Geistern, d. h. also der spirituellen und physischen Welt, zu schaffen bzw. zu erneuern“(52). In den traditionellen Religionen Afrikas existiert die Vorstellung, dass Gott weit entfernt und auf diese Weise nicht direkt erreichbar ist.(53) Deshalb braucht man die Vermittlung der Geister durch die Opfer- und Weihegaben, um ihn zu erreichen. Siddhartha vollzieht die Opferrituale nicht nur „im tiefschattigen Mangowald“, sondern mit „vollkommenem Anstand der Gebärde“: die Opferrituale als symbolische und kultische Handlung. Louis-Vincent Thomas schreibt: « pour approcher des puissances surnaturelles, il importe de suivre le rituel précis, de ‚calculer‛ ses gestes, de ‚mesurer‛ ses paroles, d’“observer“ un protocole rigoureux »(54). Deshalb opfert Siddhartha Tiere mit „anständigen Gebärden“. Zu beobachten ist hier ein ritualisiertes Handeln, eine Wiederholung von mimischen Handlungen, die über das bloße Sichtbare hinaus eine symbolische bzw. religiöse oder magische Bedeutung hat. Die kultischen Handlungen des Opferns versinnbildlichen einen Verzicht auf irdische Güter, zugunsten einer Verbindung mit den Göttern oder den Ahnen. Siddhartha vollzieht im Wald ein Verbindungsritual zwischen dem Profanen und dem Sakralen. Der Wald wird als ein Ideal des Himmels gesehen. Er ist also ein Verbindungsort zwischen der Erde und dem Himmel bzw. zwischen dem Profanen und dem Sakralen. Es handelt sich um einen privilegierten Ort, wo die Umwandlung, der Austausch zwischen beiden Welten stattfinden. An diesem Ort verwirklicht sich das Mysterium der Transzendenz. Siddhartha schafft im Wald eine Möglichkeit, in der er in Kontakt mit der sakralen Kraft treten kann. Bevor er in diesen sakralen Raum tritt, wäscht sich Siddhartha den Körper im täglichen Sühnebad. Durch Waschungen will er sich von der Unreinheit reinigen.
Trotz seines Willens den inneren Durst durch Meditation, Versenkung und andere Rituale zu stillen, fühlt er spirituelle Verunsicherung, die er durch den Aufbruch von zu Hause verdrängen will.
5. 2. Existentielle Verunsicherung von Siddhartha
Obwohl die weisen Brahmanen ihm ihre Weisheit vermittelt haben, war sein „wartendes Gefäß“ nicht voll, sein Geist war nicht begnügt und seine „Seele unruhig“ (S. 8). Seine Initiation wird hier metaphorisch durch eines Bild des Gefäßes veranschaulicht, das bereits in seiner Form vorgegeben ist und weiteren Inhalts bedarf, um die Erleuchtung zu erreichen. Trotz der Belehrung von den Weisen bleibt sein Geist unruhig. Diese Unruhe kommt ihm aus seiner Umgebung, „dem Rauch der Opferrituale“ und den Versen der Rig-Veda entgegen: „Träume kamen ihm und Ruhelosigkeit der Seele, aus den Opfern gerauscht, aus den Versen der Rig-Veda gehaucht, aus den Lehren der alten Brahmanen geträufelt“ (S. 8). Die Liebe seines Vaters und die Liebe der Brahmanen beglücken, stillen und sättigen ihn nicht. Die Unzufriedenheit lässt ihn denken, dass ihn nur ein spirituelles Leben, das nach dem Ich gerichtet ist, befriedigen kann.
Aus dem Zweifel an den überlieferten Handlungen der Brahmanen und dem Sinn der Tradition entschließt sich Siddhartha, den Weg der Askesen zu gehen. Seine Hinwendung zur Religion drückt sich durch Gebete, Opfer oder Versenkung aus. Das Murmeln von Worten, die Meditation mit Hilfe des Wortes Om und Gebete bringen Siddhartha nicht das Gefühl, dass er dem Göttlichen, der Weisheit näher kommt. Er will nicht nur die Riten durchführen, sondern vielmehr den Atman näher kennen lernen. Bezüglich der inneren Unzufriedenheit beginnt Siddhartha über existentielle Fragen zu grübeln. Davon ausgehend beginnt die Verinnerlichung der Suche nach dem Atman, die in folgenden Sätzen deutlich ausgedrückt wird:
Und wo war Atman zu finden, wo wohnte Er, wo schlug Sein ewiges Herz, wo anders als im eigenen Ich, im Innersten, im Unzerstörbaren, das ein jeder in sich trug? Aber wo, wo war dies Ich, dies Innerste, dies Letzte? Es war nicht Fleisch und Bein, es war nicht Denken noch Bewußtsein, so lehrten die Weisesten (S. 9).
Hierbei steht der spirituelle Charakter im Mittelpunkt seiner Suche. Siddhartha strebt daher nach der Erfahrung des Sakralen im Ich. Mit diesen Fragen dieser Art tritt er seine Reise an. Seine einzige Hoffnung für die Zukunft besteht aus dem Weg nach innen. Er entscheidet sich dazu seinem Vater mitzuteilen, dass ihn „verlangt“ das Haus zu verslassen und zu den Asketen zu gehen. Er will seiner Berufung, seiner inneren Stimme folgen, da sein Verlangen so stark ist, dass er auf die Reise gehen muss. Aufgrund der Berufung und der Verunsicherung in der Familie richtet Siddhartha sein ganzes Sein auf die Zukunft hin aus. Seine Entwicklung steht nunmehr im Zeichen des Vorwärtsdrangs, des Strebens nach dem Atman, dem Einzigen, dem Göttlichen, das im Ich wohnt. Joseph Campbell stellt die Berufung als Schwelle dar, die überschritten werden muss, falls die gewohnte Umgebung nicht mehr sicher ist:
Immer aber entschleiert sie [die Berufung] das Geheimnis einer Verwandlung, einen Ritus oder Augenblick geistigen Wechsels, der in seinen vollen Konsequenzen einem Sterben und Wiedergeborenwerden gleichkommt. Eine solche Schwelle ist zu überschreiten, wenn der gewohnte und vertraute Horizont zu eng geworden ist und die alten Begriffe, Ideale und Verhaltensweisen nicht mehr passen wollen.(55)
Siddhartha muss die Schwelle der Berufung überschreiten, die im Zeichen der Verwandlung oder des geistigen Wechsels steht. Eine baldige Entscheidung ist demnach nicht mehr weit. Der einzige Sohn der Familie, der die rituellen Handlungen weiter vollziehen muss, entscheidet in die Fremde zu gehen. Diese Entscheidung kann die Welt der Götter und der Familie beeinträchtigen, deshalb wird Siddharthas Ablösung vom Elternhaus nicht einfach.
5. 3. Trennung von der Familie und Weg zur Erleuchtung
Der Auslöser Siddharthas Trennung von der Familie ist seine existentielle Verunsicherung. Durch den Zweifel an den Werten seiner Umwelt löst er sich von der Familie und der Tradition der Brahmanen und sucht einen neuen Weg der Lebensgestaltung. Er sucht ein Leben, dessen Sinn nicht aus einseitiger Durchführung der Rituale und des Wissens anderer besteht, sondern die verschiedenen Formen der eigenen Erfahrungen einschließt. Siddhartha zieht vor, seinen eigenen Weg zu gehen, mit der Absicht sein Ich zu zerstücken und in ihm daraufhin das Göttliche zu entdecken: „Atman suchte ich, Brahman suchte ich, ich war gewillt, mein Ich zu zerstücken und auseinanderzuschälen, um in seinem unbekannten innersten den Kern aller Schalen zu finden, den Atman, das Leben, das Göttliche, das Letzte“ (S. 35). Bei der Ich-Zerstückelung ist eine klassische Initiationsstruktur erkennbar, in welcher die von den Schamanen berichtete Zerstückelung als Vorbedingung der Wiedergeburt im Zentrum steht.(56) Bei der Zerstückelung des Ich will Siddhartha den Zustand der Befreiung oder der Erleuchtung also das Nirvana, das höchste, transzendente Bewusstsein erreichen. Der Weg Siddharthas zum heiligen Ich führt ihn zunächst zu einer Gruppe wandernder asketischer Samanas, die im Urwald leben.
Die erste Phase der Initiation, die Trennung von der Familie verläuft schmerzhaft. Als Siddhartha sich entscheidet seinem Vater mitzuteilen, dass er morgen aufbricht und das Leben der Samanas beginnen will, warnt ihn sein Freund vor den Schwierigkeiten, die er beim Überzeugungsversuch seines Vaters haben werde. Wie Mircea Eliade es erklärt, geschieht die Trennung von der Familie oft auf mehr oder weniger dramatischen Weise. Es handelt sich manchmal um einen recht gewaltsamen Bruch mit der Welt der Kindheit. Der Bruch vollzieht sich auf eine solche Weise, dass es einen starken Eindruck auf die Mutter so wie auf die Novizen macht.(57) So verläuft auch Siddharthas Trennung von der Familie wehmütig. Er weiß, dass er vor einer Schwelle steht und sie überschreiten muss wie schon zuvor bei seiner Berufung. Siddhartha teilt seinem Vater mit, dass er ihn verlassen und zu den Asketen gehen will: „Ein Samana werden ist mein Verlangen“ (S. 14). Mit dem Verb „Verlangen“ spielt Hesse auf die innere Berufung an, der er folgen will. Dieses Verlangen ist ein Zeichen seiner Wissbegierde und seiner Bereitschaft auf die Suche zu gehen. Der Vater will davon nichts hören. Durch große Beharrlichkeit erreicht er doch die Zustimmung. Siddhartha bleibt in der Kammer seines Vaters stehen und lehnt ab, diese zu verlassen, es sei denn das Weggehen würde ihm erlaubt. Es soll noch nicht in Frage kommen, dass sein Sohn die Riten aufgibt. Wegen Siddharthas Entschlossenheit, wird der Vater ist unruhig. Er verlässt das Zimmer, sucht sein Lager auf und legt sich nieder. Da er nicht schlafen kann, blickt er durch ein Fenster in die Kammer und sieht seinen Sohn unverrückt mit „gekreuzten Armen“ (S. 13) an derselben Stelle stehen. Die ganze Nacht hindurch steht der Vater immer wieder auf, geht zwischen seiner Kammer und seinem inzwischen gesuchten Lager hin und her, blickt in die Kammer. An dieser Stelle vollziehen sich die Trennungsriten. Nach einer Ablehnung muss der Vater endlich Siddhartha das Weggehen erlauben, weil er bemerkt hatte, „dass Siddhartha schon jetzt nicht mehr bei ihm und in der Heimat weile“ (S. 14). Er nimmt die Hand seines Sohnes, segnet ihn daraufhin für die jetzt zu unternehmende Reise. Im diesem Moment erscheint ihm der Sohn groß und Fremd (S. 13). In dieser äußerlichen Erscheinung seiner Gestalt, lässt schlussfolgern, dass Siddhartha eine äußere sowie innere Wandlung erlebt hat, deshalb erscheint er seinem Vater „fremd“ und „groß“ zu sein. Nach dem Aufbruch des Sohnes geht er an den Fluss, um die heilige Waschung vorzunehmen:
„Du wirst“, sprach er [der Vater], „in den Wald gehen und ein Samana sein. Hast Seligkeit gefunden im Walde, so komm und lehre mich Seligkeit. Findest du Enttäuschung, dann kehre wieder und laß uns wieder gemeinsam den Göttern opfern. Nun gehe und küsse deine Mutter, sage ihr, wohin du gehst. Für mich aber ist es Zeit, an den Fluß zu gehen und die erste Waschung vorzunehmen.“ (S. 14)
Der Vater ahnt, dass Siddharthas Reise voller Hindernisse sein würde. Siddhartha kann im Wald entweder die Seligkeit oder auch die Enttäuschung finden. Der Vater ermahnt ihn zur Rückkehr, um ihn Seligkeit zu lehren oder um wieder den Göttern zu opfern. Danach verneigt er sich vor seinem Vater, nimmt küsst seine Mutter zum Abschied und verlässt die Stadt in dieser ritualisierten Form des Trennungsritus.
Der Abschied von den Eltern ist auch der Abschied von den Verpflichtungen aus der Vergangenheit. Nach Mircea Eliade symbolisiert die Trennung „den Bruch mit der Welt der Kindheit, die sowohl die mütterliche und weibliche Welt als auch der kindliche Zustand der Unverantwortlichkeit und Seligkeit, der Unwissenheit und Geschlechtslosigkeit ist.“(58) In dieser Phase erfährt Siddhartha, wie er von den inneren negativen Bindungen an seine Eltern – und möglicherweise auch von Bindungen an andere Personen – Abstand gwinnen und sich von fremden Erwartungen und Forderungen, die sein Leben bestimmen, freimachen kann. Jetzt wird er lernen, Schuldgefühle, Ängste, Schmerz und Leiden allein anzunehmen und zu überwinden. Die Vergangenheit loszulassen, Mitgefühl und Frieden in der Beziehung zu seinen Eltern und anderen wichtigen Personen zu erlangen heißt, den ersten wesentlichen Schritt hin zur inneren Befreiung zu gehen.
Die Berufung und dann die seelische Unzufriedenheit veranlassen Siddhartha dazu, die Familie zu verlassen. Die Sehnsucht nach der göttlichen Erkenntnis des Ich wird somit zum Antrieb für seinen Aufbruch und dann zu seiner Entwicklung. Das mütterliche Universum ist das der profanen Welt. Das Universum in das Siddhartha jetzt eindringt, ist das der heiligen Welt. Der Übergang von der profanen zur sakralen Welt impliziert auf die eine oder andere Weise die Erfahrung des Todes. Siddhartha muss einer bestimmten Existenz absterben, um zu einer anderen gelangen zu können. In diesem Vorgang stirbt der Siddhartha der Kindheit und der Unwissenheit, das heißt des profanen Daseins ab, um eine höhere Existenz zu erreichen; jene die die Teilnahme am Sakralen ermöglicht. Denn „man kann nur dann zu einer höheren Seinsweise gelangen oder an einem Einbruch des Heiligen in die Welt und in die Geschichte teilhaben, wenn man im profanen, unerleuchteten Dasein »abstirbt« und zu einem neuen, regenerierten Leben aufersteht“(59). Hier beginnt Siddharthas wirklicher Aufbruch zu seiner Initiationsreise. Die Ablösung von seiner Umgebung wird ihm ermöglichen, seine spirituelle Entwicklung weiter zu fördern. Die Reise wird nicht einfach; er muss zuerst mit Prüfungen rechnen und sich durch Mutproben und Ausdauer beweisen. Sein Initiationsweg führt ihn über fünf Stationen der Prüfungen, die initiatischen Charakter haben: die Samanas, Buddha, die Kurtisane Kamala, den Kaufmann Kamaswani und letztlich den Fährmann Vasudeva.
Zuerst schließt sich Siddhartha einer Gruppe von Samanas an. Da er sich von der gewohnten Umgebung getrennt hat und sich den Asketen anschließt, verschenkt er seine Kleider und trägt nur noch eine Schambinde. Mit dieser Trennungsrite leitet Siddhartha eine andere Phase seiner Initiation ein. Siddhartha soll somit symbolisch seine ehemalige Persönlichkeit ablegen. Den Kleiderwechsel zählt man zum äußeren Ritual der Initiation. Auch in Siddhartha findet sich die äußere Begleitform, die geprägt durch Rituale, eher für die so genannten primitiven Gesellschaften typisch ist. Wie eine Schlange, die ihre Haut wechselt, um eine neue zu bekommen, legt Siddhartha seine bürgerliche und weltliche Kleidung ab und schenkt sein Gewand einem armen Brahmanen auf der Straße. Anschließend legt er sich neue an: „Er trug nur noch die Schambinde und den erdfarbenen ungenähten Überwurf“ (S. 15). Der Vorgang ist mehrdeutig. Äußerlich sieht man, dass Siddhartha seine Kleider gewechselt hat. Die Entkleidung deutet darauf hin, dass Siddhartha das Elternhaus endgültig verlassen hat. Des Weiteren verdeutlichen die neuen Kleider Siddharthas Anderssein und seine neue Angehörigkeit zu einer besonderen Gesellschaft nämlich der der Samanas. Die Kleidung verbirgt Siddharthas individuellen Aspekt des Körpers und veräußerlicht seinen neuen inneren Weg. Sie ist ein Zeichen der Abkehr für den Tod der alten Person und die Geburt einer neuen. Also: « Le pélerin doit changer ses vêtements habituels contre un vêtement spécial qui le sacralise. C’est le dépouillement du vieil homme et le revêtement de l’homme neuf, dont parle Saint Paul, la purification préalable au passage. »(60) Das Wechseln der Kleider ist vielerlei Art ein Symbol für den Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt, eine neue Gemeinschaft von den Samanas. Die „Schambinde“ symbolisiert in Zukunft, dass der Initiand den weltlichen Freuden, dem alltäglichen Leben abgesagt und einen inneren Weg eingeschlagen hat. Seine neuen Kleider stehen als Symbol für die Überwindung der irdischen Leiblichkeit und zugleich auch als Symbol für sein neues spirituelles Leben. Dieser Prozess wird als Eingliederungsritus interpretiert.
Bei den Samanas strebt er nach der Abtötung seines egoistischen Ich. Er unterwirft sich hier den strengsten Askeseübungen wie der Entselbstung, der Meditation, der Versenkung und dem Fasten. Er „aß nur einmal am Tage“(S. 15). So fastete er „fünfzehn Tage“, „achtunzwanzig Tage“ und aß „niemals Gekochtes“ (S. 15). Da Fasten auch die sexuelle Abtinenz bedeuten kann, enthält sich Siddhartha Frauen und weltlichen Lebens. Mit Verachtung blickt er auf die Menschen herab, deren Leben sich nur um Geld und, aus seiner Sicht, oberflächliche Dinge dreht. Sein Ziel ist, sich von eben diesem Leben abzulösen. Er will innere Ruhe finden, indem er sein Leben nur auf sein Ich beschränkt und versucht Gefühle wie Hunger und Leid zu überwinden: „Eisig wurde sein Blick, wenn er Weibern begegnete; sein Mund zuckte Verachtung, wenn er durch eine Stadt mit schön gekleideten Menschen ging“ (S. 15). Siddhartha hatte ein einziges Ziel: „leer werden, leer von Durst, leer von Wunsch, leer von Traum, leer von Freude und Leid. Von sich selbst wegsterben, nicht mehr Ich sein, entleerten Herzens Ruhe zu finden, im entselbsten Denken dem Wunder offenzustehen, das war sein Ziel“ (S. 15). Um das Ziel zu erreichen, übt Siddhartha also die Entselbstung, die Versenkung, fastet und unterwirft sich den strengsten Prüfungen. Unter diesen Bedingungen verliert Siddhartha seine weltlichen Eigenschaften und gewinnt indes spirituelle: „Heiße Träume flackerten aus seinen vergrößerten Augen, an seinen dorrenden Fingern wuchsen lang die Nägel und am Kinn der trockne, struppige Bart.“ (S. 15)
Drei Jahre lang unterwerfen sich die beiden Suchenden, Siddhartha und Govinda, der strengsten Askese und der härtesten Kasteiung. Siddhartha lernt seinen Körper durch den Geist zu beherrschen. Er lernt Hunger und Durst, Schmerz und Müdigkeit durch Meditation zu überwinden. Mit all diesen Übungen tötet Siddhartha seine Sinne ab und kann sogar aus seinem Ich in tausend fremde Gestaltungen schlüpfen: Er „war Tier, war Aas, war Stein, war Holz, war Wasser“ (S.16). Siddhartha macht Seelenwanderung, deshalb kann er sich in Naturdinge verwandeln. Nach drei Jahren stellt er fest, dass alle diese Fasten-, Atem-, und Versenkungsübungen nichts anderes als eine Flucht vor dem Ich waren, Kunstfertigkeiten der Selbstenttäuschung und der Betäubung. Diese Kunstfertigkeiten sind aber eine nötige heilsame Niederlage, um endlich den richtigen Weg zu finden und die Welt anzunehmen. Der Zweifel ist der Grund für die baldige Trennung von den Samanas und des Übergangs in die Welt von Gautama.
In diesem verzweifelten Moment erreicht Siddhartha und seinen Freund Govinda die Kunde, dass Gotama, der Erhabene, der Buddha, erschienen sei und das Leid der Welt überwunden habe. Die beiden Suchenden wollen Buddha ausfindig machen und seine Lehre hören. So entscheiden sie sich die Samanas zu verlassen. Der Abschied fällt schwerer als Siddharthas damaliger Abschied von seinem Vater. Der Älteste der Samanas gerät in Zorn, als er erfährt, dass die beiden Neulinge ihn verlassen wollen. Während der verbrachten Zeit bei den Samanas hat sich Siddhartha übernatürliche Kräfte angeeignet. Jetzt will er sie auf den Alten ausüben:
Indem er sich nahe vor dem Samana aufstellte, mit gesammelter Seele, fing er den Blick des Alten mit seinen Blicken ein, bannte ihn, machte ihn stumm, machte ihn willenlos, unterwarf ihn seinem Willen, befahl ihm, lautlos zu tun, was er von ihm verlangte. Der alte Mann wurde stumm, sein Auge wurde starr, sein Wille gelähmt, seine Arme hingen herab, machtlos war er Siddharthas Bezauberung erlegen (S. 23).
Hier geschieht etwas Unerwartetes. Der Älteste der Samanas, der normalerweise mehr Wissen und übernatürliche Kräfte als Siddhartha besitzen soll, muss machen, was sein Schüler ihm befiehlt. Siddhartha hat also einen höheren Zustand in seiner Initiation erreicht. Er ist um eine Stufe höher gestiegen. Eine Umwandlung ist in ihm vollzogen, deshalb kann er seinen Mentoren bezaubern. Da Siddhartha den Alten der Samana bezaubern kann, bedeutet es, dass er einen höheren spirituellen Zustand als der alte Samana erreicht hat. Mit der Bezauberung verneigt sich der Alte, vollzieht segnende Gebärden und spricht stammelnd einen frommen Reisewunsch.
Govinda und Siddhartha begeben sich zu Buddha. Die Begegnung mit Buddha schenkt Siddhartha die Erkenntnis, dass er von nichts weniger weiß als von sich selbst. Während Govinda Zuflucht zur Lehre Buddhas nimmt, setzt Siddhartha allein seine Wanderschaft fort. Er gelangt an einen Fluss und will sich dort das Leben nehmen. Er fällt in einen langen und tiefen Schlaf. Bei dem Erwachen fühlt er sich wie ein Neugeborener: „ich bin erwacht, ich bin in der Tat erwacht und heute erst geboren.“ (S. 36). Siddhartha erlebt hier ein regressus ad uterum und daraufhin den symbolischen Tod und die Wiedergeburt. Er erlebt eine tiefe Umwandlung, die er mit dem „letzten Kampf der Geburt“ (S. 37) vergleicht. In einer auktorialen Perspektive überliefert Hesse Siddharthas innere Wandlung folgendermaßen: „Er, der in der Tat wie ein Erwachter oder Neugeborener war, er mußte sein Leben neu und völlig von vorn beginnen“ (S. 36). Die zentrale Bedeutung der Vorstellung von Tod und Wiedergeburt in einem Initiationsvorgang wird von Mircea Eliade betont:
Die meisten Initiationsprüfungen umfassen auf mehr oder weniger erkennbare Weise einen rituellen Tod, auf den eine Auferstehung oder Wiedergeburt folgt. Das zentrale Erlebnis jeder Initiation wird durch die Zeremonie dargestellt, die den Tod des Neophyten und seine Rückkehr zu den Lebenden symbolisiert. Aber er kommt als neuer Mensch ins Leben zurück, der eine andere Seinsweise auf sich genommen hat. Der Initiationstod bedeutet gleichzeitig das Ende der Kindheit, der Unwissenheit und des profanen Zustandes.(61)
Nach diesem Erlebnis will Siddhartha nicht mehr bei einem Lehrer lernen. Mit dieser Absicht gibt er sein mönchisches Dasein auf und nähert er sich nun dem sinnlichen Leben. Zum ersten Mal verlässt er seinen Wald und begegnet der Kurtisane Kamala, die ihn die Kunst der Liebe lehrt. Seine Berührung mit der Welt der Sinne wird von einem Traum vorausgedeutet. Darin sah Siddhartha seinen Freund Govinda in einem Asketengewand. Govinda sah traurig aus und als Siddhartha ihn küssen wollte, war es nicht mehr Govinda, sondern ein Weib (S. 43).
Das Weib, das Siddhartha in seinem Traum küsst, ist die Kurtisane Kamala. Der Ort, wo sie lebt, wird als „Lusthain“ (S. 45) bezeichnet ganz gegensätzlich zum „heiligen Hain“, wo Buddha seine Lehre verkündet. Die Beschreibung der Optik der Kurtisane betont ihre Sinnlichkeit; Siddhartha sieht „ein sehr helles, sehr zartes, sehr kluges Gesicht, hellroten Mund wie eine frisch aufgebrochene Feige, Augenbrauen gepflegt und gemalt in hohen Bogen, dunkle Augen klug und wachsam, lichten hohen Hals aus grün und goldenem Oberkleide steigend, ruhende helle Hände lang und schmal mit breiten Goldreifen über den Gelenken“ (S. 45). Es gelingt ihm Kamalas Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. Sie führt ihn in die Sexualität ein. Zum ersten Mal berührt er eine Frau. Kamala verkörpert die Eigenschaften des sinnlichen Lebens. Siddhartas Erscheinung ist nicht unbedingt das, was ihm auf Anhieb Achtung und Ansehen verschafft. Immer noch trägt er die allerdürftigste Kleidung eines Bettelasketen, welche charakteristisch für sein noch nicht verlassenes, religiöses Leben ist. Er sieht ungepflegt und furchtbar aus. Er trägt immer noch seinen struppigen Bart, lange Haare und hat Staub in den Haaren. Deshalb flohen sogar Kinder „scheu vor dem fremden Samana“ (S. 44), als er in einem Dorf ankam. Wegen seines äußeren Erscheinens wird er von Mägden und Dienern verspottet. Sie betrachten ihn „verächtlich, mißtrauisch, abweisend“ (S. 46), weil dieses Bild den gesellschaftlichen Normen der sinnlichen Welt nicht entspricht. Will Siddhartha in die neue Gesellschaft eingegliedert werden, muss er seine äußere Erscheinungsform pflegen. Das bekommt er auf Schritt und Tritt zu spüren. Die Gunst der Kurtisane wird ihm auch dann erst zuteil, wenn er sein Äußeres den gängigen Normen angepasst hat. In der Stadt freundet er sich mit einem Barbiergehilfe an. Mit der Absicht Kamala zu besuchen, lässt „er sich von dem Barbiergehilfen den Bart rasieren und das Haar beschneiden, dass Haar kämmen und mit feinen Öl salben“ (S. 46). Dazu kleidet er sich neu ein. Er vollzieht dabei profane Riten, die seine Angliederung in das sinnliche Leben ermöglichen.
Hier findet man das Ritual des Kleiderwechsels. Als sich Siddhartha von seiner Familie abgelöst und die Samanas angegliedert hatte, verschenkte er seine weltlichen Kleider und trug nur eine „Schambinde und den erdfarbenen ungenähten Überwurf“. Die neuen Kleider symbolisierten seine Abkehr von dem weltlichen Leben und seine Annahme des geistigen. Sie versinnbildlichten seine Eingliederung in die Gruppe der Samanas, weil sie damals dasselbe Ziel hatten. Im Gegensatz dazu muss Siddhartha nun wieder weltliche Kleider anlegen, damit er in der neuen Gesellschaft akzeptiert wird. Im Alltag ist der äußere Aspekt wichtig. Dem Ritual des Kleiderwechsels ist der sakrale Charakter entnommen, weil es keine Verbindung mit dem Sakralen oder dem Göttlichen zum Ziel hat.
Da Kamala Geld und schöne Kleidungen von ihm verlangt, muss er beim Händler Kamaswani arbeiten. Er verdient beim Kaufmann viel Geld, aber seine Seele ist nicht beim Handel. Obwohl er äußerlich die Eigenschaften eines Menschen im Sinnesleben hat, bleibt sein Geist bei dem Samanatum. Er hat sich innerlich und geistig nicht von diesem asketischen Leben getrennt:
So leicht es ihm gelang, mit allen zu sprechen, mit allen zu leben, von allen zu lernen, so ward ihm dennoch bewusst, dass etwas sei, was ihn von ihnen trennte, und dies Trennende war sein Samanatum. (S.59)
Er vollzieht sich weiterhin die religiösen Rituale. Er speist immer noch nur „einmal am Tag“, trinkt weder Wein noch isst er Fleisch. Siddhartha hat sich der Welt der Sinne nicht ganz angepasst. Er betreibt den Handel, nur um die Wünsche der Kurtisane Kamala zu erfüllen. Die Übergangsphase zum weltlichen Leben ist wichtig, damit Siddhartha den wahren Wert des geistigen Lebens erfahren kann. Nach langem Umherirren gelangt Siddhartha an den Fluss, an dem der Fährmann Vasudeva lebt. Der Fährmann, der hier als Initiationshelfer betrachtet werden kann, lehrt ihn den Fluss zu hören und sehen. Vasudeva rät ihm, dem Strom tiefer als bisher zu lauschen:
und wenn Siddhartha aufmerksam diesem Fluß, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht auf das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alle hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieß Om: die Vollendung (S. 109).
In dieser Stunde hört Siddhartha auf mit dem Schicksal zu kämpfen. Vasudeva erkennt die Wandlung, die sich in Siddhartha vollzogen hat. Es ist der Augenblick, auf den der Greis gewartet hat. Nach dem Wendepunkt geht er in die Wälder, um dort zu sterben. Dort endet auch Siddharthas Reise, weil er die Erleuchtung erreicht hat und nichts mehr zu suchen braucht. Er übernimmt dann den Beruf des Fährmanns.
Der Beruf von Vasudeva lässt seine neue Rolle in zwei Richtungen deuten: Zuerst setzt er Menschen physisch über den Fluss. Im Fall von Siddhartha, den er das verborgene Geheimnis des Flusses lehrt – denn Siddhartha kann am Ende den Fluss hören und dessen verschiedene Stimmen unterscheiden – kann er als Fährmann vom sinnlichen zum geistigen Ufer betrachtet werden. In der Gestalt des Ältesten der Samanas, des Buddha und des Fährmanns kann die Figur der Mentoren oder der Wegweiser erkannt werden. Ihre Aufgabe ist es, Siddhartha und seinem Freund wichtige Kenntnisse zu vermitteln, damit sie den Übergang vom weltlichen in einen transzendenten Zustand erleben können. Peter Freese merkt an:
Ob die Initiation als kollektive Einweihungsinstanz eine ganze Generation erfasst und zwangsweise den Riten der Pubertätszeremonien unterwirft oder ob sie als ein individuelles Geschehen auf den einzelnen beschränkt ist, der sich ihr freiwillig unterzieht, immer gibt es neben dem Novizen oder Neophyten den Initiationshelfer, -paten oder Mentor, der als Führer und Leiter den Ablauf der Zeremonien bestimmt und dem Initianen ratend und helfend zur Seite steht.(62)
Siddhartha hat die Erleuchtung erreicht und trifft seinen Freund Govinda wieder. Beim Gespräch teilt er ihm mit, was er während seiner spirituellen Suche gelernt hat:
„Dies hier“, sagte er [Siddhartha] spielend, „ist ein Stein, und wird in einer bestimmten Zeit vielleicht Erde sein, und wird aus Erde Pflanze werden, oder Tier oder Mensch. Früher nun hätte ich gesagt: Dieser Stein ist bloß ein Stein, er ist wertlos, er gehört der Welt der Maja an; aber weil er vielleicht im Kreislauf der Verwandlungen auch Mensch und Geist werden kann, darum schenke ich auch ihm Geltung. (S. 115)
Der Glaube bzw. die Verehrung von Naturdingen, der fast am Ende des Romans beschrieben wird, ist auch bei vielen afrikanischen Religionen ein wesentlicher Aspekt. Bei dieser Form des Glaubens spielen Verwandlungen des Menschen und Geistes zu Naturdingen eine wesentliche Rolle. Siddharthas erreichter höherer Zustand ermöglicht ihm, die mystische Einheit aller Wesen zu erleben. Dies ist das Zeichen seiner errungenen Weisheit während der Initiation.
Die Liebe, o Govinda, scheint mir vor allem die Hauptsache zu sein. Die Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Erfurcht betrachten zu können.“ (S. 117)
Fazit
Mit der Erzählung Siddhartha stellt Hermann Hesse nach seinen eigenen Worten ein „indisch-meditatives Lebensideal“(63) dar. Neben der Verarbeitung seiner indischen Erlebnisse(64) beschreibt der Nobelpreisträger für Literatur 1946 in seiner „indischen Dichtung“ Siddharthas Suche nach dem Selbst, seinen Irrwegen und Wandlungen und schließlich seiner Erleuchtung. Siddharthas Bewegung im geographischen Raum verläuft parallel zu seiner inneren Reise, bei der die Transzendenz, die Erleuchtung bestrebt wird. Die Reise geschieht in Form eines Übergangs, bei dem der Protagonist eine Reihe von Riten vollziehen und Prüfungen durchstehen muss, um endlich die Vollendung erlangen zu können. Im Laufe der Reise wandelt sich Siddhartha stufenweise zum Wissenden und letztlich zum Erleuchteten, nachdem er den symbolischen Tod und die Wiedergeburt erlebt hat. Mit Hilfe von den Samanas, dem Buddha, und besonders von Vasudeva kann er die Vollendung finden und das für ihn Wichtigste im Leben erkennen: die mystische Liebe zu allen Wesen der Welt. Reise und Initiation stehen im Roman in enger Beziehung und wirken im Verlauf der Erzählung gegenseitig aufeinander ein.
LITERATURANGABEN
Anmerkungen:
1 Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung meines Beitrages, den ich im Rahmen eines Kolloquiums unter dem Titel „Weg und Wandlung: Zur Initiationsreisen in Hermann Hesses Siddhartha“ vorgetragen hatte. Der Aufsatz wird in einem Publikationsband des Kolloquiums, das vom 04. bis zum 08. Dezember 2007 in Lomé (Togo) über „Reisen im Zeitalter der Intermedialität. Reiseliteratur - Wahrnehmung der Fremdheit am Beispiel Afrikas“ stattfand, veröffentlicht.1.12. Asien und deutsche sowie österreichische Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende: Einflüsse und Bedeutung
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