TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. Februar 2010

Sektion 1.12. Asien und deutsche sowie österreichische Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende: Einflüsse und Bedeutung
Sektionsleiter | Section Chairs: Chin SangBum (Comperative Study of the World Literature in Korea) und Doo Haeng-Sook (Universität Sogang, Seoul)

Dokumentation | Documentation | Documentation


„Alle Bäume erzählen es“

Japanische Natur und europäische Perspektive
in Max Dauthendeys Die Acht Gesichter am Biwasee (1911)

Michael Mayer (Universität Bayreuth) [BIO]

E-Mail: michael.mayer@uni-bayreuth.de

 

1. Die narrative Reise

In seinem Roman Raubmenschen aus dem Jahr 1911 lässt Max Dauthendey den Protagonisten Rennewart die Worte formulieren:

Aber wir bedenken nicht, dass uns kein Billett, keine Eisenbahn, kein Schiff in ein anderes Land bringen kann. Wir selbst, unser Körper, unsere gewohnte Art zu empfinden, unsere Art zu denken – nichts von uns kommt jemals in einem fremden Land an.(1)

Diese Aussage fungiert nicht nur als Absage an jegliche Xenologie, wie sie Dauthendeys Zeitgenosse Victor Segalen in seiner Ästhetik des Diversen (1908-1918) entwickelt,(2) sondern führt auch den Sinn des Reisens an sich ad absurdum. Wenn man sowieso nicht da ankommt, wo man hin möchte, erscheint die Reise als Akt überflüssig. In Dauthendeys Geschichtenzyklus Die acht Gesichter am Biwasee (1911) geht es nicht um die Thematik einer Reise. Hier werden Liebesgeschichten erzählt, die in einer reich ausgestalteten japanischen Landschaft spielen. Der im Titel erwähnte Biwasee fungiert dabei als zentraler Ort und Katalysator verschiedener Handlungsstränge.

Dennoch steht die zitierte Passage in einem Verhältnis zu den Geschichten, nämlich in sofern, dass der Geschichtenzyklus die Aussage der Figur Rennewart narrativ negiert. Es ist demnach zu fragen, ob der Autor Max Dauthendey in der narrativen Konzeption der Geschichten in „seinem Denken“ doch in einem „fremden Land“ ankommt.(3)

Auf der Ebene des Erzählers wäre noch eine andere Frage zu stellen: Der Erzähler gibt sich große Mühe, die Landschaft am Biwasee mit aller Farbenpracht und einer detaillierten Beschreibungsmethodik darzustellen. Die Figuren sind japanische Charaktere, die in etwaigen Spannungsverhältnissen zu den Europäern oder Amerikanern in ihrem Land stehen. Es gibt keine europäischen Reisenden, die die japanische Landschaft wahrnehmen. Somit ist die Wahrnehmung des Erzählers in den Fokus der Analyse zu rücken, um herauszustellen, aus welcher Perspektive dieser „Japan“ konstruiert. Wie erwähnt, gibt er sich große Mühe bei der Schilderung der japanischen Natur, und es hat den Anschein, als wäre keine europäische Perspektive vorhanden. Diese Analyse möchte nun ausloten, ob der Erzähler seine textimmanente europäische Prägung zu verbergen vermag oder ob und in welchen Textpassagen er sich als Europäer verrät. Die Vermutung geht dahin, dass europäische Perspektive und Naturdarstellung zusammenhängen. In dem methodischen Verfahren eines „close readings“(4) werden dafür die Naturbeschreibungen in einigen exemplarischen Geschichten betrachtet werden.

Die Absicht, einen europafernen Ort aufzugreifen, um die damit verbundenen narrativen Möglichkeiten zu aktiveren, deutet sich an. Um ein harmonisches Zusammenleben von Natur und Mensch zu zeigen, braucht es eine europaferne Region In Europa, beziehungsweise in Deutschland, ist eine literarische Darstellung der Natur Anfang des 20. Jahrhunderts kaum von Interesse gewesen.(5).

In Dauthendeys Geschichten geht es nicht nur um die Thematisierung der Natur, sondern die Texte beziehen ebenfalls – aus europäischer Perspektive – asiatisch-japanische Kulturelementen in die Erzählkonzeption mit ein.(6)

Die zentrale These der Interpretation ist, dass der Erzähler die Natur überdeterminiert. Das erweist sich als narrative Strategie, da er dadurch versucht, seine eigene europäische Perspektive zurückzunehmen und zu verbergen. Der Erzähler macht das Fremde der japanischen Natur, die er erst aufwendig konstruiert, für sich fruchtbar.(7) Die These findet Ausdruck in dem Zitat „Alle Bäume erzählen es“ aus der Geschichte Die Abendglocke vom Miideratempel hören. Damit soll gesagt sein, dass sich die Erzählstrategie selbst in der Naturdarstellung verrät oder – metaphorisch gesprochen - von den „Bäumen“ verraten wird.

 

2. Europäische Heuschrecken in japanischer Landschaft

Im Folgenden rücken einige Passagen aus verschiedenen Geschichten in den Fokus, um die spezifische Naturauffassung der Texte herauszufiltern.

Bevor in der ersten Geschichte eine Naturbeschreibung des Erzählers einsetzt, greift dieser auf eine andere Naturmetaphorik zurück. Die in Japan einfallenden Europäer werden von ihm als „Heuschrecken“ bezeichnet. Damit aktiviert sich nicht nur eine Tiermetaphorik, sondern es wird auch eine paradigmatische Differenz zwischen Japanern und Europäern etabliert. Im Paradigma „Natur“ stellen Heuschrecken eine Bedrohung für jegliche Vegetation dar. Heuschrecken nutzen die Pflanzen nicht, sondern verspeisen sie und schädigen sie somit. Diese Metaphorik bezeichnet den – historisch bedingten – Umgang der Europäer mit der Natur. Bereits im europäischen Barock und in der Aufklärung wird Natur als Objekt gedacht, das zu kultivieren oder – in diesem Kontext – zu kolonisieren ist.(8) Daraus gibt sich auch die europäische Opposition von Natur und Kultur.(9) Zur Kultivierung der Natur entwickeln die Europäer verschiedene Technologien. Im Text heißt es:

Auf dem Biwasee würde man dann bald Schiffe sehen, die Rauch ausstießen und die Seetiefe mit Schrauben aufwühlten. Auf Eisen würden bald Eisenwagen rasselnd wie Gewitterwolken, täglich durch Japan eilen. Diese Wagen würden die Fremden in Massen nach Kioto und an die Ufer des Biwasees bringen. Die leichten Vogelkäfige der Bambushäuser würden verschwinden, und Steinhäuser, wie man sie im Westen der Erde baut, würden zum Himmel wachsen, und überall würden dann Rauch und Eisenlärm sein.(10)

Auch die japanische Natur bildet nur ein, zu kultivierendes, Objekt für die Europäer, das mit Hilfe des technischen Fortschritts bezwungen werden kann. Das würde einen unwiederbringlichen Verlust wertvoller Landschaften und Vegetationen bedeuten.

Um auf die Differenz zurück zu kommen: Der Text schreibt den Japanern eine andere Naturauffassung als den Europäern zu:

„Neue Brüder sind sichtbar geworden“, riefen die Japaner schon vor hundert Jahren, „Bäume, die früher nur dazu da waren, Früchte und Holz zu tragen, Flüsse und Seen, die nur Fische und Seegras anboten, Hügel und Berge, welche Steine und Metalle den Menschen hinhielten, haben jetzt Seele und Gesicht.(11)

Durch die Gesichtsmetaphorik(12) wird die Natur bereits anthropomorphisiert und als Lebewesen aufgefasst, das mit den Menschen auf einer Ebene steht. Sie ist kein bloßes Objekt, das Rohstoffe und Raum für Städte zur Verfügung stellt. Die nur schemenhaft bleibenden Europäer und Amerikaner als Kolonisatoren sind negativ konnotiert. Durch ihre Macht droht die Landschaft am Biwasee zu schwinden.(13) Die bedrohte Natur ist an sich betrachtet kein Phänomen, allerdings bleibt der Text dabei nicht stehen. Vielmehr errichtet er eine Strategie, gegen die europäische Kultivierung und Ausbeutung der Landschaft. Die europäischen Heuschrecken fallen also über die japanischen Naturgesichter her. Da die Bedrohung hier metaphorisiert ist, kann entsprechend auch ihre Depotenzierung auf metaphorischem Wege geschehen.(14)

Zunächst wäre zu konstatieren, dass die Natur durch die Anthropomorphisierung bereits narrativ erhöht wird.(15) Der Text skizziert Natur nicht als Objekt, sondern als aktives Subjekt.(16) Weiterhin verschwimmen die Grenzen zwischen Mensch und Natur, was in den naturverbundenen Namen Ausdruck findet. In der ersten Erzählung heißt Hanakes Lieblingsmagd „singende Seemuschel“(17). Der Name amalgamiert die Verbindung von Kultur und Natur.(18)

Kurz soll an dieser Stelle auf die dritte Geschichte Die Abendglocke vom Miideratempel hören vorgegriffen werden, um eine dazu passende Beschreibung des Biwasees zu zitieren: „Hundert Jahre nachher, als die Chinesen Japan entdeckten und den harfenförmigen Biwasee, als die große Harfe im Land des ewigen Feuers liegen fanden[…]“ (19) Der Biwasee zeigt sich in Form einer Harfe, also eines kulturellen Instruments, wodurch er ebenfalls ein Symbol für das Ineinandergreifen von Natur und Kultur darstellt. Damit korrespondiert auch die Übersetzung des Wortes „Biwa“, das die japanische Kurzhalslaute bezeichnet.(20) Als zentrales Symbol und Subjekt aller Geschichten des Zyklus, führt der Biwasee die Vereinigung von Natur und Kultur, insbesondere auch Kunst, als einen zentralen Aspekt dieser Japanischen Liebesgeschichten an. In diesem Kontext lässt sich die Liebe zwischen Kultur und Natur zudem als durchlaufende Geschichte beschreiben.

Explizit wird die Liebe als treibende Kraft in der Geschichte Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen. Dazu die folgende Passage:

Es war kein Mondaufgang, und es schien eine endlose Nacht angebrochen zu sein; denn die Sonne ging auch nicht mehr auf zu der Zeit, da sie erwartet wurde.
Danach verwirrte sich auch die Weisheit in allen ihren Hirnen; die Weisen des Landes hatten die Liebe im Reich umgebracht, und mit der Liebe blieben Sonne und Mond aus dem Reich verschwunden. Denn die Liebe ist mächtiger als die Weisheit.(21)

Interessant erscheint dabei, dass „Liebe“ hier keine emotionale Beziehung zwischen Menschen bezeichnet. Liebe erweist sich - wie in der buddhistischen Religion(22) - als Prinzip, das alles bewegt und alles im Gleichgewicht hält.(23) Sie ist von den Menschen unabhängig.
Auch in diesen Geschichten stellt der „Liebestheoretiker“(24) Max Dauthendey die Liebe als Kraft ins Zentrum, wodurch die Bedrohung der Natur durch die europäischen und amerikanischen Besatzer depotenziert wird. Dauthendeys Texte explizieren durch die Naturbeschreibungen die asiatischen Vorstellungen vom Miteinander von Kultur und Natur. Im Kontext dieser Naturphilosophie verlieren auch die „Heuschrecken“ ihren „Schrecken“. Der Einfluss asiatischer Weltanschauungen, insbesondere des Buddhismus(25), kommt zum Tragen.

 

3. Naturelemente als narrative Katalysatoren

Im Folgenden soll an zwei Geschichten gezeigt werden, wie die Natur nicht bloß als Kulisse, sondern als Figur in den Texten aktiv ist.

In der zuvor behandelten Geschichte Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen wird dieses Schema explizit formuliert: „Ich will drei dieser nachdenklichen Geschichten hier wiedererzählen, die alle den Herbstmond von Ishiyama teils als Hauptperson, teils als Hintergrund haben.“(26) Die Bezeichnung „Figur“(27) mag hier in die Irre führen, da eine Figur ganz bestimmte Vorstellungen erweckt. Deshalb soll im Folgenden von Katalysatoren in Bezug auf die Handlung gesprochen werden.(28)

Erneut ist die erste Geschichte Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen dafür in den Fokus der Analyse zu stellen.

Als das „japanische Mädchen“ (29) – die Zuschreibung verdeutlicht bereits die kulturelle Distanz des Erzählers – Hanake(30) an einem Abend am Biwasee steht, fahren drei Segelschiffe an ihr vorbei. Auf den Segeln liest sie die Sätze: „Ich grüße dich! Ich liebe dich! Ich töte dich!“(31)

Als Hanake denkt, dass die Schiffe untergehen, ist sie geschockt und fällt in Ohnmacht, aus der sie in ihrem Bett wieder erwacht. Dann beauftragt sie ihre Magd „singende Seemuschel“ ihr „den grauen Papagei“ zu holen. In der Nacht bringt sie dem Papagei die drei Sätze bei, die sie auf den Segeln gelesen hat.

Als Hanake in der folgenden Nacht einschläft, weckt der Papagei sie nach kurzer Zeit wieder mit dem folgenden Satz: „Ich liebe dich!“(32) Daraufhin kommt ein stattlicher, japanischer Mann in ihr Haus, der ihr eine Frage stellt und eine Antwort von ihr verlangt.(33) Hanake antwortet mit dem Satz: „Ich liebe dich!“ und geht mit dem Mann nach draußen. Kurz darauf wird der Mann von einem Amerikaner erschossen. Hanake fällt durch den Tod des Geliebten erneut in Ohnmacht und ihre Magd reagiert, indem sie den Vogel holt, der den Satz sagen soll. Als der Vogel „Ich liebe dich“ sagt, regt sich Hanake wie vor Schmerzen. Dann spricht der Vogel die Worte: „Ich töte dich!“, woraufhin die Dienerin ihn umbringt. Als der Vogel auf den Boden fällt, erwacht Hanake.

Diese kurze Darstellung soll zur Verbildlichung des Aspekts ausreichen. Das zu Grunde liegende Schema ist folgendes: Die Protagonistin erblickt ein Zeichen ihrer kommenden Liebe und speist dieses Zeichen zur Bewahrung in den Vogel – einem Element der Natur – ein. Das eingespeicherte Zeichen aktiviert sich an bestimmten Stellen, um den Verlauf der Handlung zu steuern oder um auf Kommendes zu verweisen. (34) Somit kann der Vogel – als zur Natur gehörig – als Katalysator der Handlung gelesen werden.

Aus der Geschichte Sonniger Himmel und Brise von Amazu soll ebenso eine  Passage angeführt werden, indem der Biwasee selbst als Katalysator gelesen werden kann:

Die Brise von Amazu bringt eine Seespieglung mit sich. Aus rosigen und bläulichen Perlmutterfarben steigt eine Gespensterlandschaft über der Seefläche auf. Mitten im hellen Mittagslicht verwandelt sich der See gleichsam in eine grünliche Wiese, überhangen von den Gliedern rosiger Kirschbäume, die sich im Hitzegezitter zu bewegen scheinen, und ferne Schilfspitzen verwandeln sich in die Silhouetten von Tänzerinnen. welche die zerbrechlichen Linien von japanischen Mädchen zeigen.[…]
Dieses Seegesicht, das nur bei sonnigen Himmel und nur bei der Brise von Amazu und nur im Hochsommer erscheint, übt eine Zauberkraft auf Menschen aus, sagen die Japaner, so dass man über den Bootrand wie von der Schwelle eines Hauses hinaustreten und zu Fuß über die Perlmutterfläche gehen kann, ohne zu versinken[…].(35)

Der Erzähler gibt eine detailliert sinnliche Naturbeschreibung, so wie sie sich in vielen Geschichten dieses Bandes findet. Eine Formulierung wie „rosige Kirschbäume, die sich im Hitzegezitter zu bewegen scheinen“ rückt dem Leser die japanische Natur nicht nur plastisch vor Augen, sondern vermittelt auch ein Gefühl von Harmonie und Idylle. In dieser Stimmung wird der Natur zusätzlich eine Zauberkraft attestiert.(36) Die Zauberkraft der Natur enthält aber auch eine Bedingung, sie ist dem Menschen nicht frei zugänglich. Diese lautet: „Aber wehe denen, die nicht Schritt halten mit der Begeisterung des Sees.[…]“(37) Also steht das sich Einlassen auf die Natur im Vordergrund, womit z. B. die Europäer, die die Natur missbrauchen, disqualifiziert wären.

Der Biwasee bekommt die Fähigkeit, sich in eine Landschaft zu verwandeln, die betreten werden kann, wenn sich der Betretende im Rhythmus der Natur bewegt.(38)

Das gilt allerdings nur, solange die Brise von Amazu weht, danach ist der See wieder See. Die beiden Lehrer Amagata und Omiya fahren mit ihren Schülern hinaus und die Kinder steigen aus den Booten, um zu spielen. Als die Brise abflaut, gehen die Kinder unter. Amagata nimmt sich daraufhin das Leben, und Omiya heiratet Amagatas Frau.

Für die Narration ermöglichen Brise und See in einem kurzen Moment ein Umschalten der Handlung in eine ganz andere Richtung. Beide Naturelemente haben also eine Scharnier-Funktion. Von Katalysatoren kann gesprochen werden, da sie zudem den metaphorischen Ablauf der Handlung unterstützen und voran bringen. Dieser zeigt sich darin, dass Omiya die wahre Geschichte vom Tod der Kinder erst später erzählt. Auf dem Biwasee hat er mit Amagata gestritten, wobei sie ihre Boote umkippten und die Schulkinder ertranken. Metaphorisch also, weil die Schuld(39) von den Naturelementen auf die Menschen verlagert wird. Biwasee und Brise kippen die Handlung als Scharniere um, um die Schuld der Natur am Tod der Kinder zu negieren. Sie katalysieren den Verlauf und reinigen die dargestellte japanische Natur von der Schuld. Zudem zeigt sich die Natur wieder als handelndes Subjekt, das seine eigene Unschuld beweist.(40)

Wurde der Papagei noch von Hanake programmiert, um in die Geschichte einzugreifen, so hat die Natur in der 4. Geschichte ihre Autonomie durch die eigenen Katalysatoren erlangt.

 

4. Die Verschmelzung von Sprache und Natur

In der Geschichte Die Abendglocken vom Miideratempel hören – aus der das Titelzitat „Alle Bäume erzählen es“ stammt geht es um Ata-Mono, einem Weisen, der in der Rinde der Bäume lesen kann. Er steht dadurch in einem kommunikativen Verhältnis zur Natur. Was er in allen Bäumen zu lesen versucht, ist der Weg zu einer Harfe, sprich zum Biwasee. Diesen vermag er allerdings in keinem Baum zu entziffern. Es ist deshalb paradigmatisch, dass eine Frau ihm den Satz „Alle Bäume erzählen es, daß die Harfe im kleinen ewigen Feuerland liegt“ sagt.(41)

Ganz im Sinne des Ying-Yang-Schemas(42) fügt der Autor Dauthendey hier die Elemente des Männlichen und Weiblichen zusammen, weil nur auf diese Weise das Ziel erreicht werden kann.(43) Damit wird ein wesentliches Element asiatischer Vorstellungen in die narrative Konzeption des Textes einbezogen. Es bleibt zu attestieren, dass der asiatische Einfluss nicht nur den Inhalt, sondern auch die Erzählhaltung bestimmt.

Der Naturbezug soll durch die fünfte Geschichte Der Wildgänse Flug Katata nachschauen ergänzt werden. In dem Text geht es um den Maler Oizo, der für die Königsfamilie einen Saal in der Sommerresidenz malen soll. Die Prinzessin wünscht sich, dass der Saal den Wildgänse-Flug am Biwasee darstellt, der, wenn er im Herbst stattfindet, ein japanisches Zeichen ergibt. Die Aufgabe für den Künstler besteht darin, eine Naturbeobachtung abzubilden. Der Produktionsprozess muss demnach mimetisch erfolgen. Oizo reist deshalb zum Biwasee. Dort trifft er auf die Tochter des Töpfers, die ihm das Geheimnis des Zeichens verrät, das zwischen Wildgänseflug und Landschaft entsteht. Der Name des Mädchens „Graswürzelein“ ist für den Naturbezug bezeichnend. Das japanische Zeichen enthält die Aussage „ich liebe dich wenn ich dir nachsehe. Aber du liebst mich nicht, weil du fortsiehst“(44). Oizo erfährt, dass dieses Zeichen bei jungen Mädchen gebräuchlich ist, um einem Mann ihre Liebe zu gestehen. Somit erweist es sich nicht als Zeichen der Natur, sondern als Produkt der gesellschaftlichen Konvention.(45) Graswürzelein expliziert das Zeichen allerdings noch weiter:

Denn sieh: das Schriftzeichen besteht aus drei Teilen. Sieh hier die Gabel eines vielfach gewundenen Baumes. Waagerecht durch die Gabel hindurch siehst du die Brustlinie eines ansteigenden Hügels und darüber die vielfach zackige Fluglinie einer unendlich langen Reihe von grauen und weißen Wildgänsen […] die grauen Wildgänse verschwinden in der Dämmerung, wogegen die weißen sich als Schriftzeichen vom Abendhimmel abheben.(46)

Das Schriftzeichen wird durch eine Naturbeschreibung wiedergegeben. Somit stellen Schrift und Natur eine Einheit dar. Das Zeichen ist nicht aus der Natur zu entnehmen, sondern nur in ihr zu beschreiben. Anders gesagt, die Natur erweist sich nicht als Medium, das dieses Zeichen ausdrückt, sondern sie ist dieses Zeichen selbst. Diese These korrespondiert wieder mit dem Eigenwert der Natur, der auch in dieser Geschichte unterstrichen wird. Der Natur kann nichts entnommen werden, ohne ihr ihren ganzen Wert zuzugestehen. Dieser Aspekt impliziert, dass das mimetische Produktionsverfahren nicht funktionieren kann.

Doch eine andere Dimension knüpft daran an. Graswürzelein hat dieses Zeichen nicht zuerst in der Natur gesehen, sondern auf einer Vase ihres Vaters:

„Mein Vater machte einmal eine Vase. Ich hatte aber den Ofen schlecht geheizt, so daß die Glasuren nicht gleichmäßig trockneten und sich seltsamerweise dieses Schriftzeichen bildete, indem der weiße Grund der Vase in Zickzacklinien durch die blaugrüne Glasur schimmerte. Flüchtig hingesehen, erschienen die weißen Linien wie ein Flug Wildgänse, die in einer Landschaft über Baum und Hügel hinflogen. […]
Oizo schlug sich mit der Hand vor die Stirn und lachte: „Also dieser Baum und dieser Hügel sind gar nicht in Katata?[…](47) 

Das Zeichen wurde also nicht durch die Natur generiert, sondern ist durch ein Missgeschick bei der handwerklichen Arbeit entstanden. Die Kategorie Zufall könnte heran gezogen werden, doch Graswürzelein sagt:  „Nichts ist Zufall, sagen die Götter hier bei uns in Katata.“(48) Wenn der Zufall verneint wird, so verweist die Figur auf eine andere Macht. Die Götter sind aber nicht transzendent, sondern wirken in der Natur, was diese doch wieder zum Ursprung des Zeichens und der Aussage erklärt.

Das daraus zu entnehmende Schema, erscheint interessant: Das Zeichen zeigt sich zwar zuerst auf einer Vase, jedoch erweist sich die Natur als Triebkraft sowie als Ursprung dieses Zeichens. Sie nutzt damit kulturelle Artefakte als Medium für ihre Aussagen.(49) Die darin enthaltene Naturkonzeption ist der europäischen Naturauffassung diametral entgegengesetzt, denn hier eignet sich die Natur zu ihrem Nutzen kulturelle Gegenstände an. Erneut tritt die Natur als aktives sowie dominantes Subjekt in Erscheinung.

In Bezug auf die Aussage des Zeichens gerät der Künstler Oizo in ein Dilemma, da das Zeichen Konsens ist und nicht von seiner Bedeutung getrennt werden kann. Er würde der Prinzessin seine Liebe gestehen, sobald er den Saal malt. Allerdings rettet ihn die Doppeldeutigkeit des Zeichens doch, indem es, gespiegelt im Biwasee, gerade die gegensätzliche Bedeutung aussagt:

Die Fluglinie der Wildgänse im Wasser und am Himmel vom See aus gesehen, bedeutete in Sprachzüge übersetzt: „Ich liebe nicht, dass du dich nach mir umwendest. Ich wende mich auch nicht nach dir um.“
Welch sonderbarer Zufall, daß der Wildgänseflug sich doppelt deuten ließ.(50)

Hat die Natur das Zeichen bereits auf der Vase entstehen lasse, so wird die Negation nur durch den Biwasee, also durch die Natur und in ihr selbst ergänzt. Kunst, Schrift und Natur bedingen sich, indem sich die Natur in allen Bereichen ausdrückt.
Wenn Schrift und Natur verschmolzen sind, so wendet sich der Text damit vehement gegen die europäische Sprachskepsis und erneut gegen die Natur-Kultur-Opposition. Die Natur erscheint selbst als Sprache und die Menschen kommunizieren auf dieser Ebene in ihr und mit ihr. Dauthendey entwickelt in dieser Geschichte eine eigene Sprachauffassung, durch die er die europäische Differenz von Sprache und Dingen zu überbrücken sucht.

 

5. Zusammenfassung:

Der Geschichtenzyklus Die Acht Gesichter am Biwasee thematisiert die japanische Natur nicht nur, sondern benutzt sie zugleich als Schema des Erzählens.

Die Landschaft am Biwasee sieht der Erzähler durch „europäische Heuschrecken“ gefährdet. Diesen wird ein metaphorisches Liebeskonzept entgegen gestellt, das die Einheit von Natur und Kultur amalgamiert. Die Natur wird anthropomorphisiert und steht mit den Menschen auf einer Ebene. Das europäische Vorhaben der Ausbeutung wird dadurch geblockt. Die Handlungsverläufe der einzelnen Geschichten werden durch Elemente der Natur, wie dem Papagei, dem Biwassee oder der Brise von Amazu katalysiert. Die Natur tritt permanent als handelndes Subjekt auf, das im Verlauf der Geschichten an Autonomie gewinnt.

Der Erzähler verwendet die Formulierungen „japanisches Mädchen“ und „sagen die Japaner“, womit er sich als Nicht-Japaner darstellt, der Geschichte von Japanern gehört hat. Somit nimmt er eine fremdkulturelle Geschichte und nutzt diese für sein eigenes Erzählen. Es findet in allen Geschichten eine Instrumentalisierung der japanischen Natur statt. Daher kann von einem narrativen Exotismus(51) gesprochen werden, weil Darstellen und Erzählen der/von der Natur in Europa kaum noch möglich erscheint.

Dadurch, dass der Erzähler die Natur narrativ für Handlungsabläufe funktionalisiert, d.h. ihr dabei poetisch den Eigenwert nimmt, erweist sich der Erzähler wiederum nur als Europäer, der die japanische Landschaft - hier ästhetisch – ausbeutet. Der Erzähler macht sich also eines Eurozentrismus schuldig. Dass zu Anfang des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit diskursiver Sprachskepsis ein Autor versucht, seinen Erzähler mit Sprache Natur abbilden zu lassen, erscheint kaum einleuchtend.

Gegen diese These kann angeführt werden, dass der Erzähler die europäische Opposition von Natur und Schrift in der Geschichte Der Wildgänse Flug Katata nachschauen selbst dekonstruiert, indem er die japanische Schrift als mit der Natur verschmolzen ausweist. Wenn Sprache Natur nicht abzubilden vermag, so ist dieses ein europäisches Problem. Zudem kann konstatiert werden, dass die Natur die Fähigkeit bekommt, sich kulturelle Artefakte anzueignen und sie als Medium zu verwenden. Dieses Schema ist wiederum der europäischen Naturauffassung entgegengesetzt.

Der Autor Dauthendey erweist sich somit als Sprachtheoretiker, der versucht dem europäischen Problem, dass Sprache nicht abbildet, in seinem Geschichtenzyklus zu entgehen, in dem er japanisch-asiatische Einflüsse, wie Sagen und Philosophie, in die narrative Konzeption seiner Geschichten einbindet. Dieses Einbinden führt nicht nur – im zeitgenössischen Kontext betrachtet – zu europafernen Naturdarstellungen, sondern erweist sich zugleich als Strategie der japanischen Natur ihren Eigenwert zuzugestehen und diesen literarisch zu realisieren.

Nimmt man die zuvor formulierte These der poetischen Ausbeutung hinzu, wird eine Ambivalenz des Textes sichtbar. Der Text ist in einem Spannungsfeld zwischen literarischer Aneignung der Natur und der poetischen Darstellung ihres Eigenwertes zu verorten. Daran anknüpfend soll abschließend das Titelzitat noch mal Verwendung finden, das um das Eingangszitat zu erweitern ist: „Alle Bäume erzählen es, dass Dauthendey mit den Acht Gesichtern am Biwasee auf narrativem Weg in dem anderen Land angekommen ist!“

 

Literaturliste:

 


Anmerkungen:

1Max Dauthendey: Raubmenschen. München 1911, S. 106.
2 Vgl. Victor Segalen: Ästhetik des Diversen. Versuch über den Exotismus. Frankfurt a.M. 1994, S. 36, 41. Segalens zentrales Anliegen besteht darin, Gefühl und Wahrnehmung zu verbinden, um ein Fremdes in seinem Eigenwert anzuerkennen und sich darauf einzulassen.
3 Vgl. Suk-Geoung Han: Die Konstruktion kultureller Differenzen zwischen Asien und Europa bei Max Dauthendey. Mag., Bayreuth 1995, S. 3. So attestiert Han Dauthendey eine große Fähigkeit, sich in das Denken einer anderen Kultur hineinzuversetzen. Vgl. dazu auch Ulrike Stamm: Die „Schrift der Natur“ in Max Dauthendeys Novellen Die acht Gesichter am Biwasee. In: Walter Gebhard (Hg.): Ostasienrezeption zwischen Klischee und Innovation. Zur Begegnung zwischen Ost und West um 1900. München 2000, S. 59−82, S. 82. Diese These widerspricht dem Fazit von Stamms Aufsatz, denn Stamm konstatiert, dass sich das Interesse am Fremden in den Novellen allein in der „Ästhetik der Reduktion“ ausdrückt.
4 Vgl. Frank Lentricchia/Andrew DuBois (Hg.): Close reading. The Reader. Durham-London 2003, S. 2-4. In seiner Einleitung beschreibt DuBois „Close reading“ als Analyseverfahren. Der Text und seine Funktionsweisen stehen dabei im Mittelpunkt. Der ganze Band versammelt eine Anzahl von Texten, die „close reading“ als Teil des „New Critism“ entwickeln.  
5 Zwischen Naturalismus und Expressionismus, sowie der einige Jahre später entstehenden Anti-Kriegs-Literatur wie Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues ist für Naturbeschreibungen kein Platz. Die Natur steht nicht – wie in der deutschen Romantik – im Mittelpunkt des literarischen Interesses.
6 Vgl. Han: Konstruktion der Differenz, S. 32 u. S. 38.
7 Vgl. ebd., S. 34. Han vergleicht die Geschichten hauptsächlich mit der japanischen Lyrikform des „Haiku“. Dabei ist das Spezifische, dass mit „wenigen Worten, viel gesagt wird“. Von der Prosakonstruktion der Geschichten her, ist dem Vergleich mit der Lyrik nur bedingt zustimmen. Der Bezug zu japanischen Märchen/Sagen erscheint von der erzeugten Atmosphäre her, doch nahe liegend.
8 Besonders deutlich wird dies in der Anlage von „Gärten“ als Bereiche kultivierter Natur per se. Vgl. Maria Auböck: Zirkelfelder – Zur Gartenkunst um 1750. In: Siegried Mattl/ Albrecht Schröder (Hg.): barocke  natur. Naturverständnis zwischen Spätbarock und Aufklärung. Wien 1989, S. 26-32, 26. Auböck formuliert: „Der Garten ist somit lesbar als eine Form der menschlichen Dominanz über die vier Elemente der Natur: Erde, Wasser, Feuer und Luft.“
9 Wird der Fokus auf den autobiographischen Hintergrund Max Dauthendeys gerichtet, so kann formuliert werden, dass die asiatische Naturauffassung Dauthendey zusagte, weil Kultur und Natur in einem harmonischen Verhältnis stehen, das heißt diese Opposition gar nicht vorhanden ist. Vgl. Han: Konstruktion der Differenz, S. 67f.
10 Dauthendey: Die Acht Gesichter am Biwasee. München 1952, S. 3.
11 Dauthendey: Acht Gesichter, S. 1.
12 Vgl. Stamm: Die „Schrift der Natur“, S. 70f. Stamm konstatiert, dass in diesem Vorspann das Programm des Novellenbandes enthalten ist „nämlich ‚Seele und Gesicht’ der Landschaft nachzuzeichnen“. Zudem steht jede Ansicht der Landschaft für ein bestimmtes Gefühl. Vgl. auch Han: Konstruktion der Differenz, S. 37. Die acht Gesichter symbolisieren ebenso die acht Geschichten. Der formale Aufbau des Bandes entspricht also schon der anthropomorphisierten Natur. Die Zahl „Acht“ steht im buddhistischen Kontext zudem für Vollkommenheit.
13Vgl. Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur 1890-1925. Bern-München 1977, S. 74. Bei Schuster heißt es dazu: „Dauthendey malt ein abschreckendes Bild von den Veränderungen, welche die moderne Technik an den Biwasee bringt.“
14 Vgl. ebd., S. 73. Schuster konstatiert, dass sich „Wahrheit und Dichtung zum einem künstlerischen Ganzen zusammen (fügen). Demnach würde die Metaphorik hier über sich selbst hinausgehen.
15 Vgl. Stamm: Die „Schrift der Natur“, S. 65. Nach Stamm kommt es Dauthendey poetologisch darauf an, den Anthropomorphismus sprachlich zu überwinden, indem die „Dinge selbst“ sprechen sollen. Dieses poetologische Programm wird in den Acht Gesichtern am Biwasee nicht eingelöst.  
16 Vgl. ebd., S. 69ff. Diese Auslegung widerspricht Stamm Interpretation, die von einer starren und ruhenden Natur ausgeht. Das in den Acht Gesichtern konstruierte Japan stellt für Stamm eine Kunstlandschaft dar.  Allerdings spricht Stamm ebenfalls von der „Beseeltheit der Natur“.
17 Vgl. Dauthendey: Acht Gesichter, S. 4.
18 Hier kommt es speziell auf die textimmanente Funktion an, die sich daraus ergibt, dass ein deutscher Autor die Namen in einen spezifischen thematischen Kontext stellt. Es wird hier keine kulturelle Zuweisung unternommen, ob das in Japan der kulturellen Wirklichkeit entspricht.
19 Dauthendey: Acht Gesichter, S. 59.
20 Vgl. DIE ZEIT – Das Lexikon, 20 Bde, Bd. 2, S.236.  Dieser Bedeutungskontext  lässt darauf schließen, dass der Text „Biwa“ bewusst als Signum verwendet.
21 Dauthendey: Acht Gesichter, S. 98.
22 Vgl. Han: Konstruktionen der Differenz, S. 25. Dabei muss beachtet werden, dass es immer um die europäische Auffassung und Konstruktion dieser Religion geht.
23 Stamm: Die „Schrift der Natur“, S. 64. Für Stamm steht Dauthendeys Konzeption der „Liebe“ in Oppostion zum asiatischen Denken. Stamm verbindet die „Liebe“ mit Dauthendeys Vorstellung der „Weltfestlichkeit“, die allerdings ein Besitzergreifendes Konzept ist. Das Liebeskonzept in der vorliegenden Interpretation beruht allein auf dem Text der Acht Gesichter und lässt den Zusammenhang mit der Vorstellung der „Weltfestlichkeit“ nicht zwingend notwendig erscheinen. Die „Liebe“ fügt sich in den Novellen harmonisch in die asiatische Welt ein.  
24 Das mag etwas überspitzt klingen, jedoch stützt sich die Formulierung auf alle anderen Werke Dauthendeys, in denen die Liebe immer wieder zentrale Bedeutung einnimmt und Funktionalisierungen in mannigfachen Kontexten findet. So trägt sein lyrischer Text „Die  geflügelte Erde. Ein Lied der Liebe und der Wunder um sieben Meere (München 1910) diesen Kontext schon im Titel. Vgl. dazu auch Han Konstruktionen der Differenz, S.25 und Klaus Seyfarth: Das erzählerische Kunstwerk Max Dauthendey. Marburg 1959, Microfilm, S. 118.
25 Vgl. Han: Konstruktionen der Differenzen, S. 24f, 27. Han unterstreicht den biographischen Einfluss auf die Geschichten. Dauthendey war von der „Weltnähe“ des Buddhismus fasziniert.
26 Dauthendey: Acht Gesichter, S. 91.
27 Die Figurenforschung ist ein vernachlässigtes Thema in der Germanistik. Eine brauchbare Definition steht bis heute aus. Weiterführend sei hier auf Fotis Jannidies: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin-New York 2004 verwiesen. So erweckt das Wort „Figur“ häufig eine menschenähnliche Vorstellung.
28 Vgl. Han: Konstruktion der Differenzen, S. 33-34. Han geht mit der Formulierung „Die Landschaft ist eine allumfassende und schicksalsregulierende Macht.“ in die gleiche Richtung, belässt es aber dabei, die Natur auf der Handlungsebene zu analysieren. Han beschreibt sie nicht als narratives Element auf der Konzeptionsebene, auch wenn er Hinweise gibt, dass der Aufbau der Geschichtensammlung den Acht Naturgesichtern entspricht und die Anordnung der Geschichten den Jahreszeiten folgt. Die Natur in ihrer narrativen und konzeptualen Bedeutung zu analysieren, wird weiterhin Aufgabe dieser Interpretation sein.
29 Vgl. Dauthendey: Acht Gesichter, S. 2.
30 Vgl. Stamm: Die „Schrift der Natur“, S. 76. Die Darstellung der Weiblichkeit Hanakes, die tier- und schattenhaft semantisiert wird, verweist nach Stamm auf das zeitgenössische Denkmuster der „femme fragile“. Stamms Lektüre filtert die Ambivalenz der exotischen Frau heraus, die erotisch, aber zugleich als mortifiziert beschrieben wird.    
31 Dauthendey: Acht Gesichter, S. 4.
32 Ebd., S. 7.
33 Ebd., S. 8ff.
34 Vgl. Seyfarth: Erzählerische Kunstwerk Max Dauthendey, S. 127. Seyfarth betont die Bedeutung des Papageis in bestimmten Situationen.
35Dauthendey: Acht Gesichter, S. 62.
36Hier ist noch ein anderer Aspekt herauszufiltern, nämlich die Authentizität des Erzählten. Der fremdkulturelle Erzähler verweist auf die Sagen der Einheimischen – von denen er sich durch die Zuschreibung „die Japaner“ distanziert – um den Status dessen anzugeben, was er selbst erzählt. Es kann Aberglaube oder Wahrheit sein, der Erzähler selbst ist nicht  dafür verantwortlich.
37 Ebd.
38 Vgl. Seyfarth: Erzählerische Kunstwerk, S. 146. In Seyfarths Interpretation rückt der See erst in der vierten Geschichte ins Zentrum, was auf Grund der Analyse der vorgehenden Geschichten nicht haltbar ist.
39 Es muss beachtet werden, dass „Schuld“ ein äußerst problematischer Begriff ist, da er auch immer europäische Vorstellungen von Religion evoziert. Das sich diese Vorstellungen im asiatischen Raum als unbrauchbar erweisen mögen, ist verständlich. Hier soll nur auf dieses Problem hinweisen und nicht näher auf die Art der Schuld eingegangen werden.
40 Es heißt auch, dass jemand, der die Brise nicht achtet, auch nicht wiedergeboren wird. Somit reinigt sich die Natur davon, die Existenzen ganz ausgelöscht zu haben.
41 Vgl. Stamm: Die „Schrift der Natur“, S. 80. Die Schrift der Natur wird in den japanischen Novellen stets dem Weiblichkeit zugeordnet. Daraus resultiert, dass nur die weiblichen Figuren die Schrift lesen können und deshalb Ata-Mono die Entzifferung nicht gelingt.
42 Han: Konstruktionen der Differenz. S. 39. Han führt diese Thematik in Bezug auf die philosophischen Hintergründe genauer aus.
43 Seyfarth: Erzählerische Kunstwerk, S. 146. Seyfarth interpretiert die Rolle der Frau als heilendes Prinzip in Dauthendey Texten. .
44 Dauthendey: Acht Gesichter, S. 79.
45 Stamm: Die „Schrift der Natur“, S. 80. Stamm konstatiert, dass das Zeichen von der Kultur in die Natur eingetragen wird. Damit ist zudem der zentrale Aspekt von Stamms Interpretation angeschnitten. Für Stamm geht es in den Acht Gesichtern hauptsächlich um den Konflikt zwischen gesellschaftlichen Konventionen und dem subjektiven Begehren beziehungsweise der Liebe. Nach Stamm wird dieser Zwiespalt in allen Novellen verhandelt.      
46 Ebd.
47 Ebd., S. 79 f.
48 Ebd., S. 80.
49 Die Assoziation „Romantik“ liegt nahe, weil es in den Texten dieser Epoche permanent darum geht, die Sprache der Natur zu verstehen. Vgl. Detlef Kremer: Romantik. 2. überar. Auflage Stuttgart-Weimar 2003, S. 64ff. Durch diesen Bezug wird erneut deutlich, wie sehr sich Dauthendey durch Wahl Japans von seinem zeitgenössischen Europa entfernt.
50 Ebd., S. 89.
51„Narrativer Exotismus“ ist eine Formulierung, die den Sachverhalt des Textes zu beschreiben vermag. Die Formulierung basiert entfernt auf Volker Zenks Begrifflichkeit des „literarischen Exotismus“. Vgl. Volker Zenk: Innere Forschungsreisen. Literarischer Exotismus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Oldenburg 2003, S. 9ff. Literarischer Exotismus meint bei Zenk allerdings nur Exotismus in der Literatur, wohingegen narrativer Exotismus zugleich die impliziten Bedingungen der Texte beschreibt.

1.12. Asien und deutsche sowie österreichische Kunst und Literatur um die Jahrhundertwende: Einflüsse und Bedeutung

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS   Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Michael Mayer: „Alle Bäume erzählen es“ Japanische Natur und europäische Perspektive in Max Dauthendeys Die Acht Gesichter am Biwasee (1911) - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/1-12/1-12_mayer17.htm

Webmeister: Gerald Mach     last change: 2010-02-24