Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 1.13. | Die Bedeutung des Mittelalters für Europa Sektionsleiterin | Section Chair: Dina Salama (Universität Kairo) |
War Europa im Mittelalter bereits globalisiert?
Johannes Grabmayer (Klagenfurt / Österreich) [BIO]
Email: johannes.grabmayer@uni-klu.ac.at
Internetrecherchen im Zusammenhang mit der Vorbereitung für den Vortrag „War Europa im Mittelalter bereits globalisiert“ ergaben unter „Globalisierung im Mittelalter“ mehr als 175.000 Einträge. Oder anders formuliert – die Beschäftigung mit dem Thema ist nicht neu. Allerdings, und das ist nach Internetrecherche und intensivem Literaturstudium offenkundig, waren es aus der Sicht der Geschichtswissenschaft bisher insbesondere Wirtschaftshistoriker und -historikerinnen, die sich mit der Thematik intensiv befasst haben. In der deutschsprachigen Literatur taucht in diesem Zusammenhang ein Thema immer wieder auf: die Hanse. Und niemanden, der sich mit Geschichte ein wenig beschäftigt, wird das überraschen. Denn die Hanse war eine Organisation von niederdeutschen Kaufleuten, der rund 70 - für mittelalterliche Begriffe - große und etwa 100 bis 130 kleinere Städte zugehörten. Diese Städte lagen in einem Gebiet, das heute sieben europäische Staaten umfasst. Aus diesem riesigen Gebiet heraus erschlossen sich die hanseatischen Kaufleute einen wirtschaftlichen Einflussbereich, der im 16. Jahrhundert von Portugal bis Russland und von Skandinavien bis nach Italien reichte, ein Gebiet, dass heute 20 europäische Staaten einschließt, von wo aus Wirtschaftskontakte in die ganze damals bekannte Welt unterhalten wurden.(1) Die Grundsatzfrage, die sich stellt – vor allem jenem Historiker und jener Historikerin, die der von uns selbst aus pragmatischen Gründen gewählten Unterteilung der Geschichte in Epochen nicht unterliegen – lautet: Ist eine Organisation wie jene der Hanse überhaupt mittelalterlich? Damit wird ein weiteres Problem angesprochen: Wie kaum ein anderes der derzeit (gerne) diskutierten Phänomene scheint Globalisierung durch Geschichtslosigkeit charakterisiert zu sein. Schon der Begriff als solcher ist ja neueren Datums. Der „Duden“ beispielsweise führt den Begriff „Globalisierung“ erst mit der 22. Auflage im Jahre 2000 ein. Im englischen Sprachraum taucht der Begriff „Globalisierung“ seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts auf. Mittlerweile jedoch wird er inflationär verwendet.(2) Die undifferenzierte Verwendung überdeckt vielfach nicht nur die historische Bedingtheit von Phänomenen globaler Reichweite, sondern auch die historische Dimension von Globalisierung selbst. Bekanntlich sind internationale Kapitalverflechtungen oder die weltweite Präsenz kultureller Leitbilder keine Kinder des 20. Jahrhunderts, und schon gar nicht des frühen 21. Jahrhunderts. Wie alt Globalisierung tatsächlich ist, hängt letztlich davon ab, was man darunter versteht. Und da gibt die Forschung höchst unterschiedliche Antworten:
Die einen beginnen mit dem Ende des 2. Weltkrieges und fokussieren globale Institutionen wie die UNO. Andere wiederum sehen schon in den frühen menschlichen Wanderbewegungen den Kern zunehmend globaler Interaktionen. Viele begreifen das Phänomen „Globalisierung“ - wie Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson - als den Aufbau, die Verdichtung und die zunehmende Bedeutung weltweiter Vernetzung seit den europäischen Expansionen des 16. Jahrhunderts.(3) Versteht man „Globalisierung“ aber als historischen Prozess unterschiedlicher Länge oder als Transformationsphänomen, dann gewinnt der Standpunkt, der „Globalisierung“ als Etikettenschwindel zu entlarven versucht, Gewicht. (4)
Betrachtet man das Mittelalter aus der „Globalisierungsperspektive“ (dabei ist nicht zu vergessen, dass im deutschsprachigen Verständnis das „Mittelalter“ ca. 1000 Jahre umfasst, von etwa 500 bis um 1500 - und Geschichte hat prozessualen Charakter, ist permanente Veränderung) -, ergibt sich daraus der Rückschluss, dass es nicht zielführend sein kann, von „Globalisierung im Mittelalter“ zu sprechen. Dieser Problematik bewusst, habe ich mich dazu entschlossen, die Mitte dieser 1000 Jahre, die wir Mittelalter zu nennen gewohnt sind, vom Globalisierungsstandpunkt aus der genaueren Betrachtung zu unterziehen. Ich werde quasi schlaglichtartig die globalen Beziehungen Europas um die Jahrtausendwende vorstellen. Eingangs aber ist an die Ursprünge europäischer Globalisierung zu denken:
Im Jahr 418 erhält Augustinus, Gelehrter, Vordenker der katholischen Kirche und Bischof des nordafrikanischen Hipporegius,, einen Brief des Hesychius, des damaligen Bischofs von Salona, der Hauptstadt des römischen Dalmatien, zugleich Geburtsort des Kaisers Diokletian. Hesychius fragt bei seinem Amtsbruder im fernen Afrika an, ob jetzt - bedingt durch die Plünderung Roms durch die Goten unter Alarich I. im Jahre 410 - das Ende der Welt bevorstehe. Augustinus kann ihn beruhigen. Denn im Laufe des dritten Jahrhunderts, darauf weist er explizit hin, habe ja das Römische Reich schon schlimmeres Unheil überstanden: “Denn, um es kurz zu machen, unter dem Kaiser Gallienus, als Barbaren aus der ganzen Welt die römischen Provinzen überrannten, glaubten viele Christen, das Ende der Welt sei gekommen. Sie sollten nicht Recht behalten.“(5) Augustinus fügt hinzu, es gebe auch jenseits der römischen Grenzen noch eine weite Welt. Christus würde nicht wiederkehren, ehe nicht sein Evangelium den fernsten heimischen Völkern gepredigt worden sei. „Der Herr hat der katholischen Kirche nicht allein die Römer versprochen, sondern alle Völker der Welt.“(6)
Doch was verstanden die Menschen unter „Welt“? Aus Sicht der abendländischen Christen war die Welt in drei Sphären aufgeteilt: den Islam, „das Böse unter der Sonne“, den byzantinischen Weltkreis, den sie als das geringere Übel einschätzten, auch wenn dort Griechisch gesprochen wurde, und schließlich das von Gott allein gewollte Abendland. Durch Jahrhunderte waren diese drei Weltkreise vor allem auf politischer Ebene immer wieder in Konfrontationen verwickelt. Durch den Islam wurde eine völlig veränderte weltpolitische Lage herbeigeführt. Er zerbrach die antike Mittelmeerwelt, schuf ein Weltreich, das größer war als das römische, und gab dadurch erst den Anstoß zur Bildung des so genannten Abendlandes.
Der politische Schwerpunkt Europas begann sich vom Mittelmeer in Richtung Norden, nach Germanien, zu verlagern, und im achten Jahrhundert wurde die Mittelmeerregion als ein in sich geschlossener Kulturraum zerschlagen. Dadurch wurde die Geburt Europas eingeleitet und gleichzeitig wurde dieses werdende Europa gegenüber der Antike kulturell und auch wirtschaftlich um Jahrhunderte zurückgeworfen. Zwischen Rhein und Seine bildete sich das erste große abendländische Herrschaftszentrum, das unter dem Kreuz Christi stand, aus. Später schlossen sich weitere Reiche an, und die Spaltung in einen französischen und einen deutschen Einflussbereich folgte. In diesem langen Prozess des Werdens Europas drang allmählich – direkt und indirekt – arabischer Einfluss ein. Die Ausbildung der Reiterheere kann ebenso als Antwort des Christentums auf den islamischen Fehdehandschuh gesehen werden, wie der damit zusammenhängende Feudalismus. Das mit der Reiterrüstung korrespondierende Wappenwesen wurde von den Arabern angeregt, die christlichen Ritterorden können durchaus als Reaktion auf die islamischen Glaubenskrieger gesehen werden, die Kreuzzüge als Gegenstück zum islamischen Heiligen Krieg. Und auch die schwärmerische Verehrung der höfischen Dame ist ohne den arabischen Frauenkult undenkbar.(7)
Als sich das im Weihrauch der Kathedralen und im bruchstückhaften Wissen der Spätantike erstarrte Europa der islamischen Welt trotz vieler Widerstände öffnete, erwachte es zu neuem Leben. Das spätere Mittelalter sollte sich dann durch vielfältige Beziehungen zwischen Christentum und Islam auszeichnen, die trotz allem Misstrauen, manchmal auch Ablehnung und Hass auf beiden Seiten, zum Segen für Europa geworden sind. So wie immer, wenn sich Welten mit unterschiedlichen Lebens- und Denkweisen gegenüberstehen, kam es neben und trotz all der politisch-militärischen Auseinandersetzungen auch zu gegenseitigen fruchtbaren interkulturellen Begegnungen. Friedliche künstlerische, kulturelle und wissenschaftliche Kontakte fanden statt, wobei die arabische Welt für das christliche Abendland wesentlich wichtiger wurde als umgekehrt. Die Träger der arabischen Kultur waren bei weitem nicht nur jene Nordafrikaner, die schon von den spätantiken Griechen arabioi genannt wurden, sondern auch Perser und Inder, Syrer, Ägypter, Berber und Westgoten und viele andere Völker, darunter auch Christen und Juden. All diese Völker wurden unter der Herrschaft der Araber geeint durch eine gemeinsame arabische Sprache und durch den Islam, die Religion der arabischen Herren. Christentum und Islam haben so manches gemeinsam. Beide sind Offenbarungsreligionen, und beide knüpfen an die antike Geisteswelt an.
Der Islam nahm einzelne Elemente der griechischen spätantiken Kultur in sich auf und verknüpfte sie mit anderen Kulturen Vorderasiens, vor allem der persischen. Vom neunten Jahrhundert an setzten umfassende Übersetzungen griechischer Werke ins Arabische ein. Große Teile der antiken Wissenschaft wurden dabei erfasst und eigenständig weiterentwickelt. Dadurch wurde das Erbe der Griechen vor dem Vergessen gerettet, aber auch systematisch geordnet und an das Abendland weitergegeben. Denn was die Araber an Wissen der Alten geborgen hatten, sollte der Öffentlichkeit allgemein zugänglich sein. Durch die schon von Mohammed gewünschte positive Einstellung zu Lernen und Wissen bedingt, ging im islamischen Kulturkreis sogar das „Volk“ zur Schule, während etwa in Mitteleuropa rund 95 % Analphabeten lebten. Im Gegensatz zum Christentum, wo eine Bildung der „Vielen“ unerwünscht war, förderte der Islam das Bildungs- und Erziehungswesen nachhaltig. So konnten sich Wissenschaften wie die experimentelle Physik, Chemie, Algebra und Arithmetik oder Geologie und Soziologie und auch neue naturwissenschaftliche Forschungsmethoden entwickeln, die letztlich für das Entstehen der abendländischen Naturwissenschaften entscheidend waren. Weder Leonardo da Vinci noch Gallilei oder Roger Bacon sind die Begründer der experimentellen Forschung, sondern arabische Wissenschafter, die sich Jahrhunderte vor den großen Europäern in unzähligen Untersuchungen wissenschaftlichen Einzelfragen widmeten. Die Erkenntnisse arabischer Astronomen und Mathematiker sind bahnbrechend. Mit selbsterfundenen Geräten berechnen sie beispielsweise die Länge des Sonnenjahres, die genaue Tageszeit, sie messen den Umlauf der Erde um die Sonne und sagen Sonnen- und Mondfinsternisse exakt voraus. Der persische Forscher Al-Biruni erkennt z. B. 500 Jahre vor Kopernikus, dass sich die Erde um die eigene Achse dreht und mit den Planeten die Sonne umwandert. Alhazen, ebenfalls ein Perser, berechnet die Höhe der irdischen Lufthülle bis auf 15 km genau und erfindet die erste Lesebrille. Araber entwickeln die Methode des indischen Rechnen wesentlich weiter. Ihr Zahlensystem ist bis heute die Basis des Rechnens, und ihre Erkenntnisse werden zur Grundlage der abendländischen Arithmetik. Insbesondere Algebra wird zu einer exakten Wissenschaft geformt. Ebenso beeindruckend sind die Leistungen der arabischen Medizin. Bereits um die Jahrtausendwende leisten arabische Mediziner Unglaubliches. Sie beschreiben die Bluterkrankheit, sie beschäftigen sich mit Gelenksentzündungen und Wirbeltuberkulose, sie narkotisieren ihre Patienten, indem sie ihnen Schwammstückchen in die Nase stecken, die vorher mit einem Saft aus Haschisch, Wicken und Bilsenkraut getränkt, an der Sonne getrocknet und vor der Operation angefeuchtet werden. Und auf infizierte Wunden schmieren sie Salben, die aus Schimmelstoffen des Penicilliums und Aspergillus hergestellt werden. Manien und andere geistige Störungen werden durch Heilschlaf mit Opium kuriert, und selbst die Psychotherapie ist ihnen bekannt Alles zu einer Zeit, in der in weiten Teilen des Abendlandes „Irre“ wie Tiere in Käfigen gehalten werden und Tausende unter fürchterlichen Schmerzen unter den Schlachtmessern der Chirurgen verbluten. Die berühmtesten Ärzte der Epoche sind Araber.(8)
Der Westen konnte vorerst nur an bescheidene Reste des antiken Bildungsgutes anknüpfen. Byzanz kam durch den weitgehenden Verlust des Griechischen im Abendland als „Nachhilfelehrer“ nicht in Frage. Aber nach der Jahrtausendwende begann der „Wissenstransfer“ von Ost nach West. Der durch die Kreuzzüge in den Mittelpunkt des allgemeinen Interesses gerückte islamische Osten, Sizilien, aber auch das maurische Spanien, machten ihr geistiges Potenzial dem Westen zugänglich. Eine Flut von Übersetzungen vom Arabischen ins Lateinische setzte ein, getragen von wissensdurstigen Männern aus ganz Europa - von Spaniern, Engländern, Deutschen, Italienern, Franzosen, Flamen und Juden. Diese europäische Bewegung legte den Grundstein für die Entwicklung der modernen Wissenschaften, in der sich das Christentum und der Islam zu einer neuen geistigen Einheit verbanden. Zentren der Übersetzertätigkeiten waren die Schule von Toledo, das die spanischen Mauren 1085 an König Alfons VI. von Leon und Kastilien verloren hatten, der Königshof in Palermo, wo die Normannen ab 1060 200 Jahre arabische Herrschaft zu beenden begannen, und später der Hof Kaiser Friedrichs II. Das Übersetzen wurde oft durch die mangelnde Sprachkompetenz, die Schwierigkeiten der Wissensgebiete und die Fachbegriffe erschwert. Daher wurden viele Wörter in ihrer arabischen oder hebräischen Grundbedeutung wörtlich ins Lateinische übernommen, etliche davon haben sich bis heute erhalten: Alkali, Kampfer, Borax, Elixier, Gamasche, Talg, Tarif, Zenit, Ziffer, etc. Im Zusammenhang mit der die Gelehrten fesselnden und in Aufruhr versetzenden Übersetzertätigkeit entwickelte sich die europäische Universität und trat als dritte Macht neben Reich und Kirche.
Es wurden auch viele wirtschaftliche und kulturelle Güter vom Christentum aus der islamischen Welt übernommen, etwa das Papier, das von den Arabern schon im 7. Jahrhundert aus China importiert wurde. Auch das mathematische Dezimalsystem, die „arabischen Ziffern“, haben sich gegen das schwerfällige römische Zahlensystem im 14. Jahrhundert durchgesetzt und wurden ganz entscheidend für den Aufschwung der Natur- und Formalwissenschaften. Die Kenntnis der Magnetnadel und damit der Kompass, der die großen Entdeckungsreisen der Europäer und Europas Vormachtstellung in der Welt erst ermöglicht hat, geht auf die Araber zurück. Von ihnen brachte Petrus von Mirecourt Informationen über Kompass und Magnetismus 1269 nach Frankreich. Der hoch entwickelte arabische Handel stand Pate für den Orienthandel der italienischen Seestädte. Erst durch den „modernen“ Fernhandel entwickelte sich das hoch- und spätmittelalterliche europäische Städtewesen. Orientalische Stoffe bestimmten die Mode an den europäischen Höfen, arabische Rohstoffe wurden zu neuem Material und feinen Textilien verarbeitet. Wer denkt heute etwa noch daran, dass Jacke, Kittel oder Joppe arabische Lehnwörter sind? Und der einträgliche Textil- und Gewürzhandel lässt Kaufmannsdynastien entstehen, welche die überkommende Adelswelt zum Einsturz bringen und damit das Jahrhunderte alte Gesellschaftssystem des Abendlandes zerbrechen.(9)
Natürlich hat es auch Kriege gegeben. Und das mit Unterbrechungen durch Jahrhunderte, denn beide Religionen verlangten die Vorherrschaft vor allen anderen Glaubensrichtungen, wo immer sie auftraten. Auch die Kreuzzüge wurden als „Glaubenskriege“ deklariert. Die Eroberungen der Araber wurden samt und sonders als Heiliger Krieg eingestuft, obwohl mit Ausnahme der arabischen Völker selbst, die tatsächlich islamisiert werden sollten, das Ziel aller anderen Kriegszüge die politische Unterwerfung der Gegner war. Zuerst unterwarfen sich die von ihrem glühenden Glauben getriebenen Jünger Mohammeds Arabien, Syrien, Persien, Ägypten und Nordafrika und schufen sich in unglaublicher Schnelligkeit ein dauerhaftes Weltreich. In Ägypten unterstützten die christlichen Kopten die Araber und sicherten sich dadurch bis heute die Existenz als anerkannte Christengruppe in der islamischen Welt. Damals fiel die Alte Kirche in Trümmer, denn das Christentum hatte gerade im östlichen und südlichen Mittelmeerraum und auch in Nordafrika Zentren mit ungeheurer Ausstrahlungskraft gebildet. Die Theologenschulen und Mönchsgemeinschaften Syriens und Ägyptens, die großen Vordenker Nordafrikas, waren nunmehr Vergangenheit. Nächste Vorstöße des Islam zielten gegen das griechisch-orthodoxe Kleinasien und Konstantinopel im Osten und gegen das lateinisch-christliche Spanien im Westen. Konstantinopels Mauern hielten den arabischen Anstürmen mehrfach stand, aber weite Teile Spaniens fielen ab 711 in arabische Hände, die sich begehrlich weiter nach Gallien ausstreckten. Dort aber endete der Vorstoß.
Durch Jahrhunderte kam der Islam mit dem Christentum an zwei Stellen des Mittelmeeres in Kontakt und Konfrontation, in Italien und Spanien. Süditalien und Sizilien waren zwischen dem sechsten und 11. Jahrhundert so etwas wie eine Pufferzone, ein Grenzraum zwischen Ost und West. Sizilien war die letzte dauerhafte Eroberung des Islam in Europa. Zwischen 902 und 1060 blieben die Araber über weite Teile der Insel die Herren. Von hier aus tragen sie den Glaubenskrieg, der eigentlich den Charakter von Plünderungszügen hatte, immer wieder auf das italienische Festland. Bis Rom, ins Herz der christlichen Welt, und bis zum Po stießen die arabischen Reitertrupps vor. Über 200 Jahre blieben ihre Streifzüge eine ständige Gefahr für die Christen. Auch von Spanien aus griffen sie in Raubzügen unter dem Vorwand des Heiligen Krieges Frankreich und die heutige Schweiz an, bis sie von christlichen Kriegern aufgrund innerer Zerfallserscheinungen der islamischen Reiche von Sizilien und zuletzt auch aus Spanien vertrieben werden konnten.(10)
Das Europa der Jahrtausendwende ist im Aufwind begriffen. Klimaveränderungen führen seit dem zehnten Jahrhundert zu einer merkbaren Erwärmung in den nördlich vom Mittelmeer gelegenen Regionen. Das bedingt den Rückgang von Krankheiten, die von Kälte und Feuchtigkeit mit verursacht werden. Die hohe Kindersterblichkeit verringert sich, die Lebenserwartung des Einzelnen steigt. Die Bevölkerung wächst rasch an. Begünstigt wird diese Entwicklung auch durch bessere Ernten, durch mehr und bessere Nahrung, die ihrerseits sowohl mit den klimatischen Veränderungen als auch mit tiefgreifenden sozialen und wirtschaftlichen zusammenhängen. Es entstehen städtische Zentren, technische und ökonomische Innovationen geben der abendländischen Welt ein neues Aussehen, ihre Wissenschaften beginnen (stark beeinflusst von antik-arabisiertem Gedankengut), den Grundstein für das moderne europäische Weltbild zu legen. Der Okzident ist im Aufbruch. Vor allem in den wirtschaftlich prosperierenden Gegenden Europas entwickelt sich ab der Jahrtausendwende vorerst von den Großen noch kaum zur Kenntnis genommen, eine neue Art des Lebens, die Stadt. Hier beginnt das System der Arbeitsteilung, der Spezialisierung, zu greifen. Handwerker und Kaufleute finden in den Städten einen neuen Lebensraum. Aber noch lange macht Stadtluft nicht frei. Wenigstens wird das Leben sicherer. Die Städte werden zu Anziehungspunkten für Händler, die in Karawanen schwer bewaffnet, weil stets der Gefahr von Überfällen durch Banditen oder Angriffen von Raubtieren ausgesetzt, durch die Lande ziehen. Die Wirtschaft öffnet sich dem Osthandel und vor allem auch dem arabischen Orient. Der ökonomische Aufschwung beginnt. Langsam fängt das Abendland an, die Welt zu entdecken.
Arabische Fernhändler kennen diese Welt wie niemand sonst. Sie folgen den Richtungen der Warenströme überall hin und entdecken selbst die abgelegensten Regionen der Erde. Sie finden sich überall dort, wohin sie der Wind geweht hat. Sie sind die Kosmopoliten der Jahrtausendwende. In breiten Strömen führen Handelsverbindungen zu den großen städtischen Zentren des Islam. Die islamische Kultur ist eine Stadtkultur und Bagdad, das Herz dieser Kultur, ist die größte Stadt der Welt, schon damals so groß wie das heutige Paris. Von Stadt zu Stadt spannen sich die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen. In den Hauptstädten sitzen die großen Kaufherren. Ihre Geschäftsverbindungen reichen an die Ränder der islamischen Welt und weiter in die Länder der Ungläubigen. Sie handeln gleichermaßen mit den Völkern Asiens, Afrikas und Europas. Die Kraftlinie dieser Beziehungen ist die große Karawanenstraße, deren Hauptroute von Zentralasien nach Bagdad und den Euphrat bis nach Antiochien und zu den Stapelplätzen Syriens führt. Von hier aus geht die Route in südwestlicher Richtung über Damaskus zum Nildelta weiter nach Alexandrien, Kairo und über die Hochebenen des Maghreb zur Meerenge nach Gibraltar nach Spanien. Von dieser wirtschaftlichen Lebensader des Islam zweigen wichtige Land-, Fluss- und Meerverbindungen ab. Die Muslime haben all die Handelswege nicht erst geschaffen, aber sie haben Straßennetze und Verkehrssysteme mit ihren Pferde- und Kamelkarawanen wieder entdeckt, die in den Stürmen der Zeiten unterbrochen und lahm gelegt worden waren. Zur Jahrtausendwende ist der Welthandel fest in islamischer Hand. Selbst der Indische Ozean wird von muslimischen Seeleuten dominiert. An allen Küsten und an den Routen nach China blüht der Handel. Überall werden Kolonien gegründet. Bei der Abreise aus Ägypten laden die Kaufleute mindere Ware wie Korallen oder Getreide und tauschen sie in den Handelsstationen an den Küsten des Indischen Ozeans gegen Weihrauch, Elfenbein und andere wertvolle Artikel ein. Die werden teilweise weiter nach China transportiert und gegen chinesische Luxusartikel umgetauscht, die als wertvolle Rückfracht nach Ägypten gelangt. Von da aus werden sie zu den großen Märkten im Mittelmeer und weiter in die westliche Welt transportiert. Die Regionen am indischen Ozean sind auch die wichtigsten Lieferanten von begehrten Drogen und Gewürzen. Im Südwesten der islamischen Welt befinden sich die Karawanenwege der Sahara und Nordafrikas, über die man ins Land der Schwarzen gelangt. Durch die Muselmanen findet die Sahara-Sudan-Zone Anschluss an die übrige Welt. Im Nordwesten des islamischen Weltkreises schließlich führen die Verkehrsrouten in die Länder des Kaspischen Meeres und über die russischen Ströme weiter in die Ostseeregionen und nach West- und Mitteleuropa. Dorthin gelangt man auch über die islamischen Mittelmeerhäfen. Für Byzanz ist die islamische Welt ein wichtiger Handelspartner. Die Beziehungen zwischen den beiden Kulturkreisen sind ähnlich geregelt wie jene zwischen dem Islam und China. Der Handel ist durch Verträge abgesichert. Mit dem rückständigen Abendland ist Handeln jedoch mühsam. Das Interesse beschränkt sich vor allem auf die Nachfrage der städtischen Zentren Spaniens und des Mahgreb. Von den Schiffen wird aus den islamischen Häfen am Atlantik, besonders aus Lissabon, sogar das abgelegene Britannien angesteuert. Die Nachfrage der großen Verbrauchszentren der islamischen Welt ist mitverantwortlich dafür, dass die darniederliegende Wirtschaft des Abendlandes wieder zu pulsieren beginnt und Städte entstehen, in denen auch Geldgeschäfte wieder ein Thema werden.(11)
Die abendländischen Fernhändler der Epoche um die Jahrtausendwende sind die Juden. Zu dieser Zeit ist das Hebräische die einzige Sprache, die sowohl im islamischen Osten als auch im griechischen und lateinischen Kulturbereich verstanden wird. Und die jüdischen Fernhändler haben durch die weit verstreuten jüdischen Gemeinden überall Niederlassungen, sind intelligent und sprachgewandt. Jüdische Fernhändler bereisen das Mittelmeer, verladen ihre Waren am heutigen Suezkanal auf Kamele und am Golf von Suez wieder auf Schiffe, mit denen sie an der arabischen Küste entlang segeln und manchmal sogar bis Indien vordringen. Sie ziehen mit ihren Karawanen durch die Wüsten Nordafrikas, oder sie verlassen die Handelschiffe schon an einen der Häfen des östlichen Mittelmeeres und dringen von da aus ins Innere des Landes vor. Im europäischen Binnenhandel dienen vor allem die großen Flüsse als Transportwege: die Rhône, der Rhein, die Donau. Hier und entlang der anderen interkontinentalen Routen entstehen erste Handelszentren, Umschlagplätze für Güter aller Art, und an diesen bedeutenden Handelsplätzen finden sich vom 8. Jahrhundert an auch die ersten Judengemeinden. Vor allem Familien aus Italien, dem Ursprungsland des europäischen Judentums, lassen sich entlang der großen Verkehrsader nieder, im Deutschen Reich vor allem am Rhein. Manche Handelsrouten führen quer durch die Wildnis Europas, durch finstere Urwälder mit all ihren Gefahren, wo niemand die Wege und Brücken instand hält, im islamischen Osten bis ins Gebiet am Schwarzen Meer und vom Kaspischen Meer zu den Handelszentren an der asiatischen Kulturscheide. Aufgrund der großen Gefahren reisen die Kaufleute nie alleine, sondern in Fahrtengemeinschaften. Wie ihre arabischen Berufskollegen stellen sie Karawanen zusammen, mit denen sie und ihre christlichen Gehilfen kaum mehr als 40 km am Tag zurücklegen können, und teilen sich nach der Rückkehr in heimische Regionen den Gewinn. In dieser Zeit wird der ökonomische Nutzen der jüdischen Gemeinden für die Herrschaftsträger allgemein anerkannt, und die Juden dürfen ihren eigenen religiösen Gewohnheiten, die durch Sonderrechte geregelt sind, unbeschadet nachgehen.(12)
Die dritte für die europäische Wirtschaft wichtige Fernhändlergruppe sind die Wikinger. Die Nordmänner sind nicht nur furchtlose Krieger und Salzwasserbanditen, die Europa in Angst und Schrecken versetzen und überall rücksichtslos hausen, sie sind auch vorzügliche Fernhändler und bereisen mit ihren Waren viele Länder. Auch unterhalten sie rege Beziehungen zu den anderen großen Fernreisenden, den Arabern und den Juden. Eine Fülle von arabischen Münzen wurde im Westen Skandinaviens, vor allem auf Gotland, aber auch in Russland gefunden. Die Straße ins Morgenland führt über die Wolga zum Kaspischen Meer. Am Wolgaknie, unweit dem heutigen Kasan, befindet sich zur Jahrtausendwende der pulsierende Marktplatz Bolgar, an dem zahlreiche Händler verschiedener Herkunft Handel treiben. Er ist zwar nicht so groß wie Haithabu am Fuße der Halbinsel Jütland, dem wichtigsten Zentrum des Transithandels zwischen Westeuropa und den Nordländern, aber wie diese Handelsmetropole von großer verkehrsstrategischer Bedeutung. In Bolgar vertreiben die Skandinavier ihre Handelsgüter, vor allem Waffen, Leder, Felle und Sklaven. Ein Netz von Handelswegen verläuft zur Jahrtausendwende auf vorgegebenen Routen von Island bis zum Kaspischen Meer, vor allem die osteuropäischen Flüsse entlang und über die Küstenbereiche der Nord- und Ostsee. Der Handel wird saisonweise vorwiegend mit Schiffen betrieben und auch ferne Ziele werden angesteuert – Konstantinopel, die Lombardei, Jerusalem. Fernhandel ist eine große Errungenschaft der Wikingerzeit. Im Frühjahr wird für die Handelsunternehmungen gerüstet, im Sommer werden die Fernfahrten durchgeführt und der Winter zu Hause verbracht. Es gibt auch Handelskolonien an der Ostsee und auf den Britischen Inseln, vor allem in York und Dublin, einen Hauptumschlagplatz für Sklaven, die von den Wikingern, den Piraten und Händlern, auf ihren Streifzügen erbeutet und hier verkauft werden.(13).
Ist das Europa der Jahrtausendwende also globalisiert? Wenn wir den Begriff „Globalisierung“ vage halten, dann ja, natürlich,. Wenn das christliche Abendland – wie es wahrscheinlich besser heißen sollte – auch eher als Appendix der damaligen Welt, insbesondere der Weltwirtschaft, gelten muss. Vor allem aus wirtschaftshistorischer Perspektive sind genügend Beispiele anzuführen, dass es Globalisierungsschübe gegeben hat - allerdings ist das Abendland nicht der Motor. Auch was den Wissenstransfer von der islamischen Welt hin zur christlichen anlangt, deutet so manches auf „Globalisierung“ hin. Wenn wir aber von unserem heutigen Globalisierungsverständnis ausgehen - beispielsweise von der Vernetzung breiter Bevölkerungsschichten aller Erdteile durch das Internet - dann war Europa im Mittelalter natürlich nicht globalisiert. In jedem Fall aber ist ein eurozentrierter Zugang zum Thema falsch. Auch wenn „Globalisierung“ gerade heute als „Triadisierung“ der Welt, wie sich Andreas Exenberger ausdrückt,(14) als ständige Verstärkung des globalen Einflusses der USA, Westeuropas, sprich Europäische Union und Japans versteht. Und in der Tat - viele der Konzentrationsprozesse, mit denen die immensen Steigerungsraten bestimmter Kennzahlen (Warenhandel, Investitionen, Devisentransaktionen) einhergehen, sind auf diese drei Weltregionen beschränkt und wachsen außerhalb davon weit weniger.
Die “Welt“ zur Jahrtausendwende war nicht das Abendland, sie war wo anders, in China, Indien und dem islamischen Weltkreis. Sie war teilweise auch noch in Byzanz, dem Schmelztiegel der Kulturen. Globalisiert war das Abendland nur insofern, als die großen Weltzonen an Kontakten mit ihm interessiert waren, und das betraf vor allem ökonomische Bereiche. Meine Antwort auf die im Titel des Vortrages gestellte Frage lautet also: Ja, Europa war bereits im Mittelalter globalisiert, aber …“
Anmerkungen:
1Zur Hanse vgl. Jörgen Bracker (Hg.), Die Hanse. Lebenswirklichkeit und Mythos. Lübeck ³1999; Philippe Dollinger, Die Hanse. Stuttgart 4. Aufl. 1989; Rolf Hammel-Kiesow, Die Hanse. München ³2004; Angelo Pichierri, Die Hanse - Staat der Städte. Ein ökonomisches und politisches Modell dere Städtevernetzung. Opladen 2000.1.13. Die Bedeutung des Mittelalters für Europa
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-01