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Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 |
Sektion 1.13. | Die Bedeutung des Mittelalters für Europa Sektionsleiterin | Section Chair: Dina Salama (Universität Kairo) |
Wissen im mittelalterlichen Orient und sein Einfluß auf Europa
Samira Kortantamer (Ege Universität, Izmir) [BIO]
Email: samira.kortantamer@ege.edu.tr
Nach der Hedschra, d.h. der Auswanderung von Mekka nach Medina im Jahre 622, gründete der Prophet Muhammed den ersten islamischen Staat im Hedschas auf der Arabischen Halbinsel. Die Stadt Medina bewahrte auch zur Zeit der folgenden vier “Rechtgeleiteten Kalifen” (632-661) ihre Stellung als Hauptstadt. Während der Regierung des dritten Kalifen Omar (634-644) drangen die Heere des jungen arabischen Staates von ihrem abgelegenen Hedschas nach Norden vor. Durch diese großen Expansionskriege wurden viele wichtige Kulturzentren von Byzanz wie Ägypten und Syrien sowie das Kernland der persischen Sasaniden, der Irak, einverleibt. Die Omayyaden (661-750), die auf die vier Kalifen folgten, wählten die alte Kulturstadt Damaskus zu ihrer Hauptstadt, wodurch der Hedschas mit seinen beiden Städten Mekka und Medina seine historische Stellung verlor und von nun an nur noch auf religiösem Gebiet seine Hauptrolle bewahrte. Die Omayyaden erweiterten durch ihre Eroberungskriege die Grenzen des Reiches bis Indien im Osten und Spanien im Westen. Die Abbasiden (750-1258), die den Omayyaden ein Ende bereiteten, und ihre Hauptstadt Bagdad im heutigen Irak gründeten, konnten die weiten Grenzen des Reiches halten.
Durch die Eroberung dieser wichtigen Kulturzentren des Orients stießen die Araber, die aus ihrer Heimat, der Arabischen Halbinsel, ihre Muttersprache, das Arabische, ihre hochentwickelte, mündlich überlieferte Dichtung und den Islam mitbrachten, auf alte Zivilisationen, die bis auf Sumer, Akad und das Ägypten der Pharaonen zurückgingen. Die Araber, von starkem Wissensdrang ergriffen, übernahmen vieles, paßten sich an und steuerten der sich neu entwickelten Kultur ihren eigenen Beitrag, die arabische Sprache und die islamische Religion, bei, sodaß sich mit der Zeit eine eigenständige islamische Kultur und Zivilisation bildete.
Bei dieser Entwicklung spielten die Übersetzungen vieler in verschiedenen Sprachen verfaßten Werke ins Arabische eine wichtige Rolle. Schon zur Zeit der Omayyaden finden wir die ersten, noch sporadischen und individuellen Übersetzungen aus dem Griechischen und Koptischen ins Arabische.(1) Aber die eigentliche Übersetzungswelle beginnt unter den beiden abbasidischen Kalifen Harun ar-Raschid (786-809) und al-Ma’mun (813-833). Besonders durch die Gründung der berühmten Übersetzungsakademie “Bayt al-Hikma” (“Haus der Weisheit”)(2) in Bagdad durch al-Ma’mun wurden systematische Übersetzungen antiker Meisterwerke durchgeführt.(3) Diese rege Übersetzungstätigkeit zog sich über das ganze IX. Jahrhundert bis ins X. Jahrhundert und nahm erst ein Ende, als alle gewünschten Texte ins Arabische übertragen worden waren. Es wurden aus dem Altsyrischen, Griechischen, Lateinischen, Persischen und Sanskrit Werke über Philosophie, Medizin, Astronomie, Mathematik, Physik, Chemie, Pharmazie, Geographie u.ä. ins Arabische übersetzt.(4) Die Übersetzer waren äußerst qualifiziert nicht nur in Bezug auf die Sprache sondern auch auf den Stoff, den sie sowohl übersetzten als auch ergänzten, korrigierten und kommentierten; (5) z.B. der berühmte Übersetzer, der irakische nestorianische Christ Hunayn Ibn Ishak (gest. 873), Leiter des Übersetzungsteams an der Übersetzungsakademie in Bagdad und Leibarzt des Kalifen, hatte selber einige medizinische Werke verfaßt und besonders auf dem Gebiet der Augenheilkunde einen Namen gemacht.(6)
Durch diese Übersetzungen sind außerdem viele wichtige Werke der Antike vor dem totalen Verlust gerettet worden und konnten später ins Lateinische übersetzt werden, wie z.B. einige Schriften des Galens, Herons, Philos, Menelaos, Ptolemäus, Euklid, Archimedes oder Apollonius.(7) Die Bedeutung der Übersetzungen beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Bewahrung und Vermittlung der antiken Werke, sondern beeinflußte auch die Entwicklung der Wissenschaften.(8) Diese Übersetzungen bildeten die Basis, auf der sich die muslimischen Gelehrten arabischer, persischer und türkischer Abstammung bei ihren Forschungen in den verschiedenen Wissenszweigen stützten. Die Werke über ihre Forschungen und Experimente verfaßten sie auf Arabisch, denn Arabisch war im mittelalterlichen Orient die Sprache der Wissenschaft, so wie das Lateinische im europäischen Mittelalter.
Muslimische Gelehrte waren in verschiedenen Disziplinen tätig und verzeichneten in vielen Bereichen wie Medizin, Mathematik, Astronomie, Chemie, Physik, Optik, Pharmazie, Geographie und Musik große Erfolge.(9) In der Medizin(10) stoßen wir auf viele Ärzte, deren Werke auch in Europa bekannt waren und ins Lateinische übersetzt wurden, wie z.B. Ali Ibn al-Abbas (= Haly Abbas, gest. 994-5), Ishak al-Israili (= Isaac Judaeus, gest. 955-6), Abu l-Qasim az-Zahrawi (= Abulcasis, gest. 1012-3), Ali Ibn Ridwan (= Haly Redeam, gest. 1066-7), Ibn Wafid (= Abenguefit, gest. 1073-4), Ibn Djazla (= Bengezla, gest. 1100), Ali Ibn Isa (= Jesus Haly, 11.Jahrhundert), Ali Ibn al-Mawsili (= Canamusali, 11. Jahrhundert), und Ibn Zuhr (= Avenzoar, gest. 1161-2).(11) Unter ihnen ragen besonders zwei Namen hervor, ar-Razi und Ibn Sina, die sowohl das islamische als auch das christliche Mittelalter von Grund aus beeinflußt haben. Der in Europa als”Rhazes” bekannte ar-Razi(12) (gest. 925-6) verfaßte außer seinen Arbeiten über die Philosophie, Theologie, Mathematik und Alchemie über hundert medizinische Werke, unter denen seine Abhandlung über Masern und Pocken sowie sein Hauptwerk “Kitab al-Hawi” (“Liber continens”), ein Kompendium des gesamten medizinischen Wissens seiner Zeit, hervortreten. Dieses Werk wurde 1279 ins Lateinische übersetzt und von 1486 an in Europa immer wieder gedruckt. Die Titel einiger seiner kürzeren Werke sind äußerst interessant. “Über die Tatsache, daß auch geschickte Ärzte nicht alle Krankheiten heilen können”; “Warum ängstliche Patienten auch den geschickten Arzt scheuen”; “Warum die Menschen zu Quacksalbern und Scharlatanen laufen”; “Warum unwissende Ärzte, Laien und Weiber mehr Erfolg haben als gelernte Mediziner”.(13)
Ibn Sina (gest. 1037), in Europa bekannt als “Avicenna”(14), erhielt durch seine Veröffentlichungen in verschiedenen Disziplinen die Beinamen “Prinz aller Wissenschaften” (“amir kull al-΄ulum”) und “Obermeister” (“asch-schaich ar-ra’is”). Seinen weltweiten Ruhm errang er aber als Philosoph mit seinem berühmten Werk “Kitab asch-Schifa” (= “Sufficienta”)(15) und als Arzt mit seinem Meisterwerk “al-Kanun fit-Tibb”, das mit dem Titel “Kanon” im XII. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt und mit 16 Auflagen im XV. Jahrhundert, 20 Auflagen im 16. Jahrhundert und einige im XVII. Jahrhundert in Europa seinen Platz im medizinischen Unterricht genommen hat. Die Geschicklichkeit und die Leistungen der muslimischen Ärzte (16) in der Medizin, besonders in der Chirurgie, Augenheilkunde, Orthopädie und Schmerzbetäubung, sowie die seit dem VIII. Jahrhundert im Orient existierenden Krankenhäuser(17), die in Europa erst im XIII. Jahrhundert auftauchen, erweckten die Anerkennung und Bewunderung des Abendlandes.(18)
Die muslimischen Ärzte fügten ihren Werken die jeweiligen Rezepte(19) für die Zusammenstellung der Medikamente hinzu, die sie selber herstellten. Mit der Zeit entstand der Beruf des durch eine Lizens anerkannten Apothekers(20), der in den Apotheken(21)der Krankenhäuser oder in den öffentlichen Apotheken tätig war und regelmäßig von der Gesundheitspolizei inspiziert wurde. Das Gesundheitswesen des Orients wurde über Sizilien zur Zeit Roger II. und Friedrich II.(22) vom Abendland übernommen, wobei der Staat und nicht die Kirche die Aufsicht darüber bekam.(23)
Auf dem Gebiet der Geometrie(24), Trigonometrie(25) und der Mathematik(26) machten die muslimischen Gelehrten beträchtliche Fortschritte. Sie übernahmen die zehn Zahlenzeichen von den Indern und gaben sie dem Abendland weiter, wo sie heute noch “arabische Zahlen”(27) heißen. Auch die “Null” kam aus Indien und wurde im Arabischen “sifr” genannt, woraus dann im Deutschen “Ziffer”, im Englischen “cipher”, im Französischen “chiffre” und im Italienischen “cephirum, zefero” entstanden und zu “zero” führten.(28) Mit Hilfe dieses Dezimalsystems, der Nullstellung und dem Rechnen mit Dezimalbrüchen konnten nun verwickelte mathematische, astronomische und physikalische Berechnungen durchgeführt werden.
Die ersten, die die arabische Zahlenschrift in Europa benutzt haben, waren der als Papst Sylvester II. bekannte Gelehrte Gerbert von Aurillac(29) und der Mathematiker Leonardo Fibonacci von Pisa.(30) Fibonacci hatte sie von einem arabischen Rechenmeister, bei dem er in Nordafrika in die Schule gegangen war, gelernt. Sein Buch “Liber abaci”, das er 1203 veröffentlichte, war in Europa von großer Bedeutung.
Der erste Gelehrte, der Werke über Arithmetik und Algebra verfaßte, war der muslimische Mathematiker und Astronom al-Khwarezmi (gest. 846)(31), von dessen Namen der Fachausdruck “Algorismus” abgeleitet ist. Seine Bücher wurden ins Lateinische übersetzt und in Europa bis zum XVI. Jahrhundert benutzt. Als bedeutender Algebraist ist außerdem Omar Khayyam (gest. 1311) zu erwähnen, der noch mehr durch seine Vierzeilergedichten weltweit bekannt ist.(32)
Im Bereich der Astronomie(33) verzeichneten die muslimischen Wissenschaftler große Erfolge. Schon vor dem Islam war für die Araber in der Wüste die Kenntnis der Sterne unentbehrlich.Auch im täglichen Leben der Muslime hing einiges von der Himmelskunde ab, wie z.B. die Gebetszeiten, Anfang und Ende des Fastenmonats Ramadan, Sonenaufgang und -untergang und die Gebetsrichtung nach Mekka. Daher wurde das Interesse für die Astronomie bei den Muslimen früh geweckt und viele Astronome – die Historiker erwähnen 534 Namen - (34) beschäftigten sich damit, sodaß diese Wissenschaft eine hohe Blüte erlebte. Viele Werke der Astronomen , wie z.B. al-Farganis (= Alfaraganius, gest. nach 861) oder al-Battanis (= Albategnius, gest. 929-30) “Opus astronomicum” wurden ins Lateinische übertragen.(35) So kommt es, daß viele Sternnamen wie Aldebaran, Algenib, Algol, Atair, Deneb u.a. sowie astrologische Bezeichnungen wie Zenit, Azimut, Nadir u.a. arabischen Ursprungs sind.(36) Die rege Tätigkeit in den Sternwarten der großen Städte des Orients führte zu Erfindungen und Verbesserungen der Beobachtungs- und Meßgeräte, die das Abendland übernahm. Besonders das Astrolabium(37), ein Meßgerät, das wandernde Scholaren im X. Jahrhundert von ihrem Studium an arabischen Universitäten nach Europa brachten, erfreute sich großer Beliebtheit.
Auch die Astrologie(38), die Kunst der Stern- und Schicksalsdeutung, übte trotz der heftigen Opposition berühmter Wissenschaftler wie Avicenna und al-Biruni auf die Menschen im Orient eine große Anziehungskraft aus. Das Werk des Persers Abu Ma΄schar (= Abulmassar, gest. 886), der als “der größte Astrologe der Araber” in Europa gepriesen wurde, war im Abendland besonders wegen seines absonderlichen und verworrenen Inhalts sehr gefragt.(39)
Die muslimischen Gelehrten gründeten die Chemie,(40) entdeckten neue chemische Verbindungen und erfanden neue chemische Methoden. Einer der größten auf diesem Gebiet ist der Philosoph und Chemiker Djabir Ibn Hayyan (= Geber, VIII. Jahrhundert),(41) dem das Abendland viel zu verdanken hat.
In der Physik und Optik (42) machte Ibn al-Haytham (= Alhazen, gest. 1039) mit seinem Werk “Opticae thesaurus” auch in Europa großen Namen. Er gilt als einer der Vorläufer der modernen experimentellen Physik.(43)
In der Philosophie(44) übten die beiden weltweit bekannten Philosophen al-Farabi (= Alpharabius, gest. 950-1)(45) und der Arzt Ibn Sina (= Avicenna, gest. 1036-7) (46) auf Europa großen Einfluß.(47) Al-Farabi, der außerdem ein bedeutender Musiker und Musiktheoretiker war, verfaßte das größte auf arabisch geschriebene Musikwerk.(48) Der in Andalusien wirkende berühmte Arzt und Philosoph Ibn Ruschd (= Averroes, gest. 1198-9)(49) wird mit seiner Interpretation des Aristoteles in Dantes “Die göttliche Komödie” erwähnt und wirkt stark auf Thomas von Aquino.(50)
Wie haben nun diese Wissenschaften, die im Orient ein hohes Niveau erreicht hatten, den Okzident beeinflußt? Das orientalische Kulturgut wanderte auf verschiedenen Wegen nach Westeuropa. Als Brücke zwischen den beiden Welten spielten die Kreuzfahrer, Sizilien und besonders die Iberische Halbinsel eine wichtige Rolle.(51) Spanien,(52) das die Araber 711 eroberten und 1492 mit dem Fall von Granada verloren, stand somit fast 800 Jahre unter muslimischer Herrschaft, die auf allen Gebieten ihre Spuren hinterlassen hat. In den Bereichen der Administration, Architektur(53) und Musik(54) kommen viele Wörter aus dem Arabischen, wie z.B. alarife (Maurer), alcalde (Schultheiß), alcaide (Burgvogt), zalmedina (Magistrat), aduana (Zollamt), alcázar (Schloß, Burg), alcova (Alkoven), azulejo (Fliese, Kachel), aldaba (Türklopfer), Laute, Gitarre, Rebec (Streichlaute), Nakar (Kesselpauke) u.a. Die Araber verbesserten die Bewässerungssysteme, Wasserspeicherungen und –verteilungen sowie Schöpfräder, sodaß die Landwirtschaft florieren konnte. (55) Dadurch bürgten sich viele Wörter aus dem Arabischen ins Spanische ein, wie z.B. acequia (Bewässerungsgraben), aljibe (Zisterne), noria (Schöpfrad) u.a. Neue Pflanzen wurden aus dem Orient eingeführt und angebaut wie Zuckerrohr, Baumwolle, Zitronen, Orangen, Auberginen, Artischoken, Aprikosen und Reis.(56)
Nicht nur auf materiellem Gebiet sondern auch im geistigen Bereich spielte Spanien mit seinen vielen Universitäten und reichen Bibliotheken eine führende Rolle in Europa.(57) Nach der bedeutenden Übersetzungswelle im Orient im IX. Jahrhundert begannen im X. Jahrhundert die ersten Übersetzungen vom Arabischen ins Lateinische im Abendland im katalanischen Kloster Ripoll, worauf dann im XII. Jahrhundert die große Zeit der Übersetzungen in Andalusien folgte.(58) Unter den Übersetzern, die hauptsächlich Texte der Naturwissenschaften und Philosophie ins Lateinische übertrugen, ragte Gerard von Cremona hervor.(59) Durch diese Übersetzungen, die bis ins XIII. Jahrhundert dauerten, wurde islamisch-arabisches und antik-griechisches Gedankengut an das mittelalterliche christliche Abendland vermittelt.
Die zweite Brücke zum Okzident bildete Sizilien(60), das von 878 bis 1090 unter arabischer Herrschaft stand. Dieser 200 jährige Einfluß der islamischen Welt auf die Insel wirkte jedoch auch zur Zeit der christlichen Könige über Sizilien weiter, sodaß Roger II. (1130-1154) und Friedrich II. von Hohenstaufen (1215-1250) “die beiden christlich getauften Sultane Siziliens” genannt wurden.(61) So erlebte Sizilien unter den Normannen die Blüte einer interessanten christlich-islamischen Kultur. Die normannischen Könige übernahmen besonders in der Finanzverwaltung einiges von ihren Vorgängern, was an den Wörtern arabischen Ursprunges immer noch zu erkennen ist, wie z.B. duana (Finanzbehörde) und fondachi (Lagerhaus).(62) Wie in Spanien wurden auch in Sizilien orientalische Pflanzen wie Henna, Indigo und Zuckerrohr angebaut.(63)
König Roger II.(64) lud den berühmten marokkanischen Geographen al-Idrisi (gest. 1165-6)(65) an seinen Hof und schickte ihn auf weite Reisen nach Asien, Europa und Afrika, wonach dieser 1145 sein berühmtes Werk “Das Buch Roger” verfaßte. Dieses Buch enhält 70 Landkarten, gilt als das ausführlichste auf Arabisch geschriebene Geographiewerk und wurde wegen seiner Nützlichkeit immer wieder in europäische Sprachen übersetzt.(66)
Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen,(67) der Arabisch wie seine Muttersprache beherrschte, in der arabischen Dialektik und Philosophie bewandert war und sich für die verschiedenen Gebiete der islamischen Naturwissenschaften interessierte, beauftragte den bekannten Gelehrten Michael Scotus (gest. 1236)(68) mit einigen Übersetzungen (69) aus dem Arabischen, die er dann an abendländische Universitäten weiterleitete.(70) Friedrich, “der immer forschende”, wie ihn sein Sohn Manfred nannte, stand in wissenschaftlichem Kontakt mit dem Orient und wandte sich oft mit komplizierten wissenschaftlichen Fragen an muslimische Gelehrte, die ihm die Lösungen der Probleme zurückschickten.(71)
Die dritte Brücke zum Abendland bildeten die Kreuzfahrer. Durch die Entstehung der Kreuzfahrerstaaten in Syrien und Palästina (1099-1291) lebten die Europäer für fast 200 Jahre im Orient. Trotz der oft feindseligen Beziehungen zu den islamischen Staaten gab es durchaus friedliche Kontakte zwischen Christen und Muslimen. Die Kreuzritter führten orientalische Pflanzen, Heilkräuter, Gewürze, Farbstoffe, exotische Düfte, Stoffe, Zucker, Windmühlen, Schöpfräder, Brieftauben, das Schachspiel, den Rosenkranz und das Wappensystem in Europa ein.(72) Die Spuren davon sind heute noch in vielen Wörtern zu erkennen, wie z.B. Zucker (arabisch sukker), Muslin (von der Stadt Mossul), Baldachin (von Bagdad), Damast (von Damaskus), lila (arab. laylak), Chiffon (arab. schaffaf), Aubergine (arab. badindjan), Limone (arab. laymun), Kümmel (arab. kammun), Orange (arab. narandj), Safran (arab. sa΄faran), Kandiszucker (arab. qand), Schachmatt (arab. schah mat) u.a.(73) Wenn auch weit geringer als in Andalusien, so entstanden auch in den Kreuzfahrerstaaten einige Übersetzungen aus dem Arabischen ins Lateinische.(74) Als namhafte Übersetzer sind der gebürtige Pisaner Stephan von Antiochien(75) und der Engländer Adelard of Bath zu erwähnen.(76)
Über Spanien, Sizilien und mit Hilfe der Kreuzfahrer floß viel orientalisches Kulturgut nach Europa und beeinflußte das Leben der Abendländer in verschiedenen Bereichen, wie z.B. der Kleidung und Mode, der Speisen, der Musik, der Kristallverarbeitung, der Gold- und Silberschmiedekunst, der Holzschnitzerei, der Lederbuchbinderei, der Keramik und der Papierindustrie(77), wobei zu erwähnen wäre, daß die erste Papierfabrik 794 in Bagdad gegründet wurde, worauf andere folgten: 950 in Spanien, 1102 in Sizilien, 1154 in Italien, 1228 in Deutschland und 1309 in England.(78)
Mit dem XIII. Jahrhundert hörte die große Übersetzungswelle vom Arabischen ins Lateinische (79) auf, denn inzwischen hatten sich die Europäer genügend Wissen in der Naturwissenschaft und Philosophie angeeignet, um sich von nun an eigenen Forschungen widmen zu können. Und so wandte sich das Blatt des Wissenstransfers , sodaß allmählich der Westen den Osten zu beeinflussen begann. Das Abendland machte in vielen Bereichen große technologische Fortschritte, erneuerte sich durch die Renaissance und die Reformation und bereicherte sich durch die Entdeckung und Nutzung der Neuen Welt.(80) Die islamische Welt hingegen verlor ihre Kreativität, Energie sowie Kraft und erlebte nach ihrer Hochblüte der Wissenschaften eine Stagnation, die von verschiedenen Gründen herrührte. Wirtschaftliche Probleme, politische Schwäche und Uneinigkeit sowie äußerliche Gefahren wie die Bedrohung durch die Mongolen und Kreuzfahrer führten zu einer Einkapslung und Verhärtung auf religiösem Gebiet, worunter die Kreativität der Wissenschaft schwer zu leiden hatte. Anstelle der spekulativen Denker früherer Jahrhunderte hatten nun, unterstützt von den muslimischen Herrschern, Theologen und Mystiker, die rationale Gedankenaussagen als häretisch abstempelten und unterdrückten, das Übergewicht gewonnen, ganz im Gegensatz zu Europa jener Zeit. Änderung der Handelswege zu ungunsten des Orientes, wirtschaftliche und technische Verlangsamerung verbunden mit politischen Wirren ließen das Morgenland weit hinter dem Abendland zurück. Europa, das durch die Entwicklung der Landwirtschaft sowie der industriellen Revolution die Führung übernommen hatte, begann nicht nur politisch, militärisch und wirtschaftlich sondern auch kulturell den Orient zu beherrschen.(81)
Abschließend können wir folgendes festhalten: Das Morgenland nahm das Wissen der Antike und des Altertums auf, korrigierte, ergänzte, bereicherte es durch neue Erkenntnisse und Entdeckungen und gab es dann dem Abendland weiter. Europa übernahm dieses Wissen und erweiterte es durch Forschungen und Innovationen, sodaß es den inzwischen stagnierten Orient nicht nur einholte sondern auch überholte, um ihn schließlich mit den Produkten seines Wissens zu versorgen, was bis heute noch der Fall ist. Somit schließt sich der Kreis der Wissensübertragung, die zunächst vom Orient zum Okzident und später vom Abendland zum Morgenland verlief.
Anmerkungen:
1.13. Die Bedeutung des Mittelalters für Europa
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-01