Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
September 2009 |
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Sektion 2.5. |
Übersetzung und Kulturtransfer SektionsleiterInnen | Section Chairs: Aleya Khattab (Universität Kairo) und Ernest W. B. Hess-Lüttich (Universität Bern) |
Assem Hefny (Leipzig) [BIO]
Email: ahefny@yahoo.com
Einleitung
Es ist unumstritten, dass die Übersetzung ein Wissens- bzw. Kulturvermittler ist. Beim Übernehmen ihrer Rolle stößt die Übersetzung allerdings auf Probleme unterschiedlicher Art. Dazu gehört, dass jede Sprache ihre spezifischen kulturgebundenen Begriffe hat, deren Verständnis dem Nicht-Muttersprachler große Schwierigkeiten bereiten kann. Diese Schwierigkeiten vermehren sich, wenn Ausgangs- und Zielsprache typologisch, aber auch gesellschaftlich, historisch und kulturell deutliche Unterschiede aufweisen, was beim Arabischen und Deutschen der Fall ist.
Die Tatsache, dass religiöse Begriffe für politische Zwecke ge- bzw. missbraucht werden, macht das Verständnis des Bedeutungsgehaltes solcher Begriffe noch schwieriger, was wiederum eine adäquate Übersetzung zwangsläufig erschwert.
Eine semantische Merkmalanalyse deutsch-arabischer kulturspezifischer Termini mit deren gebräuchlichen zielsprachigen Wiedergaben zeigt, dass sie nicht deckungsgleich sind und erklärt teilweise, warum der eine oder der andere Terminus negativ rezipiert und folglich abgelehnt worden ist. Beispiele dafür gibt es in großer Zahl. Die vorliegende Arbeit wird sich mit der Übersetzungs- und Rezeptionsproblematik der Begriffe Säkularismus (arab. ‘almānīya), und „Erneuerung“ (arab. bid‘a) auseinandersetzen. Ausgehend davon, dass die Begriffsübersetzung an sich kein Ziel, sondern ein Mittel der neutralen Kulturvermittlung ist, die hauptsächlich auf der Rezeption beruht, wird sich der Verfasser mit den Hintergründen einer möglicherweise positiven bzw. negativen Rezeption der o.g. Begriffe ausführlicher befassen. Denn die vorliegende Arbeit hat mehr einen kulturellen als einen translatorischen Charakter.
Da die Analyse der semantischen Merkmale den Schwerpunkt dieser Untersuchung bildet, wollen wir zunächst auf diese eingehen.
1. Merkmalanalyse
Die Merkmal- oder Komponentenanalyse versteht sich als die Auffassung von Bedeutung als Summe von Bedeutungselementen und geht davon aus, dass sich der Bedeutungsgehalt des Wortes (Lexemsinhalt) in „kleinste Bedeutungseinheiten (Seme)“ unterteilen lässt. „Die Summe der Seme ergibt ein Semem. Z.B. stellt sich die Bedeutung des Wortes Stuhl aus fünf Semen zusammen, nämlich s1(1) 'hat Lehne', s2 'hat Beine', s3 'ist für eine Person', s4 'ist zum Sitzen', s5 'besteht aus einem harten Material'“ (Metzeltin 2007:28).
1.1. Die semantischen Merkmale eines Wortes
Die Bedeutung eines Wortes ist eine Summe von semantischen Merkmalen. Um die präzise Bedeutung eines Wortes zu erkennen bzw. um zu erfahren, inwieweit die Übersetzung eines Lexems äquivalent ist, muss das Wort in seine semantischen Bestandteile (Komponenten) zerlegt werden (vgl. Egger 1987:113).
1.2. Das Verfahren der Komponentenanalyse
Die Zerlegung des Bedeutungsgehaltes eines Wortes erfolgt vor allem mit Hilfe des Vergleiches mit anderen Wörtern. Im Einzelnen besteht die Methode aus folgenden Arbeitsschritten: Um die Bedeutungskomponenten eines Wortes festzuhalten, werden zunächst Wörter herangezogen, die bedeutungsähnlich oder –entgegengesetzt sind, z.B. zum Wort laufen die Wörter: gehen, tanzen, hoppeln, kriechen, schlendern, eilen.(2) Dann werden Sätze formuliert, in denen das zu untersuchende Wort vorkommt, und auch Sätze, in denen die gewählten Vergleichswörter vorkommen, oder es wird einfach gefragt: Wie unterscheidet sich laufen von kriechen? usw. Den genannten Wörtern lassen sich so bestimmte Merkmale zuordnen: zu gehen gehört das Merkmal Bewegung; zu laufen das Merkmal Bewegung und noch dazu schnelle Bewegung; zu kriechen gehört das Merkmal auf allen vieren, am Boden. So erhält man eine Liste von semantischen Merkmalen (vgl. Egger 1987:114).
1.3. Wortsemantik und Kontext
Das Finden des Wortsinnes bzw. die Zusammenstellung der Seme sind kein mechanisches Verfahren, sondern hängen auch von der persönlichen Eigenart und dem kulturellen Wissen des Menschen ab, wobei der Kontext, in dem das Wort verwendet wird, eine wesentliche Rolle spielt. Das ist besonders wichtig bei mehrdeutigen (polysemen) Wörtern: „der Flügel des Schlosses ist etwas anderes als der Flügel des Vogels oder der Flügel, auf dem jemand spielt; wieder etwas anderes sind die Flügel der Phantasie“ (Egger 1987:110). Dieses Beispiel kann für die selbe Problematik auch im Arabischen angeführt werden, denn das arabische Wort ğanāỏ= Flügel ist genauso mehrdeutig. Darüber hinaus können selbst eindeutige (monoseme) Wörter kontextgemäß weitere Bedeutung erfahren. Beispielsweise wird in dem Satz „Sei kein Kind“ nicht so sehr auf das Alter als auf die geistige Entwicklungsstufe angespielt (Ebenda, 110 f.).
1.4. Wort-Kontext-Beziehungen
Jedes Lexem erfährt seine präzise Bedeutung durch die Beziehungen, in denen es steht, d.h. durch den Kontext. Diese Beziehungen sind zweifacher Art: syntagmatische und paradigmatische Beziehungen. Unter Syntagma versteht man die lineare Verknüpfung von Lexemen zu einer sinnvollen Wortkette, z.B. Das Auto ist neu. Oft wird durch die syntagmatische Beziehung auch die Bedeutung eines Wortes präzisiert: Er spielt auf dem Flügel. Er wohnt im Flügel des Schlosses. Erst aufgrund der beiden Wortketten ist die jeweilige Bedeutung von Flügel zu erkennen. Wörter stehen aber auch in einer paradigmatischen Beziehung, d.h., bestimmte Wörter können zu paradigmatischen Klassen zusammengeschlossen werden. Darunter wird eine Gruppe von Ausdrücken verstanden, die an einer bestimmten Stelle einer Wortkette untereinander austauschbar sind und doch noch sinnvolle Aussagen ergeben. So kann in der Wortkette Er spielt auf dem Flügel das Lexem Flügel ersetzt werden durch Wiese, Feld uns. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die genaue Bedeutung eines Wortes von den syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen abhängt, die dem Wort eigen sind (vgl. Egger 1987:111 f.).
Für die Bedeutungsbestimmung der hier zu untersuchenden Begriffe ist die syntagmatische Beziehung von großer Relevanz, denn nur durch den Kontext lässt sich der Bedeutungsgehalt der jeweiligen Begriffe determinieren. Aus diesem Grunde spricht Riesel nicht von einer syntagmatischen Beziehung, sondern von „kontextueller Bedeutung“ (Riesel 1975:29).
Die Kenntnis von den mit dem Begriff verbundenen Stereotypen ist zur Aufstellung von dessen Semen von großer Bedeutung. Aus diesem Grunde wird sich der Verfasser mit den Stereotypen, die mit dem Begriff Säkularismus verbunden sind, ausführlich befassen.
2. Zum Begriff Säkularismus
Ein in der westlichen aufgeklärten Kultur geschätzter Begriff wie Säkularismus kommt in der arabisch-islamischen Kultur nicht gut an, weil er negativ konnotiert ist. Was verstehen denn die Muslime unter Säkularismus? Im Folgenden wird der Versuch unternommen, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
2.1. Säkularismus in der arabisch-islamischen Kultur
Die Einstellung der arabisch-islamischen Welt gegenüber dem Säkularismus kennzeichnet sich durch zwei Hauptrichtungen. Die mehrheitliche ablehnende Richtung bilden die Rehlegionsgelehrten und die Laien. Im Gegensatz dazu gilt die säkular orientierte Richtung als Minderheit. Auf beide Richtungen wird im Folgenden eingegangen.
2.1.1. Die Gegner des Säkularismus
Der arabische Begriff für Säkularismus, und zwar ‘almānīya hat die negative Konnotation(3) der Religionsfeindlichkeit. Als Synonym für Befürworter der säkularistischen Richtung wird im Arabischen die Bezeichnung lā dīnī = anti- oder nichtreligiös(4) benutzt. Folglich wird Säkularismus mit ilỏād = Irrglaube / Ketzerei gleichgesetzt(5). Die feindliche Einstellung gegen den Säkularismus lässt sich in vielen Äußerungen renommierter islamsicher Religionsgelehrter bestätigen. So meint der mauretanische Vizepräsident der „Internationalen Union muslimischer Gelehrter„ ‘Abdullāh b. Beh, die Säkularisten zielen auf den Abbau der Religion durch die Elemente der Auflösung sowie der Erregung von Zweifel.(6)
Aus Angst vor militanten Islamisten vermeiden es säkular orientierte muslimische Denker, den Begriff zu benutzen (vgl. Ebert 1991:80; Müller 1996:214). Diese Angst lässt sich mit der Einstellung Hegels zum Säkularismus vergleichen. Er hat vor allem in seinen Büchern (Die Vernunft in der Geschichte u. Grundlinien der Philosophie des Rechts) die subjektive Freiheit des Menschen betont und sie christlich begründet. Lübbe vertritt die Ansicht, Hegels Theorie „vom Zusammenhang der modernen politischen und geistigen Welt mit ihrer christlich-reformatorischen Herkunft ist sicherlich Theorie eines Zusammenhanges“, der durch die Säkularisierung zum Ausdruck kommt. Allerdings hat Hegel den Begriff Säkularisierung zur Bezeichnung seiner Theorie nicht benutzt, weil der Begriff damals mit negativen Konnotationen etwa wie „illegitime gewaltsame Liquidation geistlicher Herrschaft“ beladen war (Lübbe 1975:36 f., 40 u. 54). Daher soll die Säkularisierung als Prozess, der seine Zeit braucht, betrachtet werden.
Eine deutliche ablehnende Stellung gegen den Säkularismus lässt sich durch den folgenden Auszug aus dem Artikel „Säkularismus: Geschichte und Idee“ von al-Qarnī herausfinden: „Das Wort ‘almānīya ist eine Übersetzung des englischen Wortes Säkularism. Es ist entweder von ‘ilm (Wissen) oder von ‘ālam (Welt) abgeleitet. Es ist eine untreue, ungenaue und keine richtige Übersetzung. Denn die richtige Übersetzung des Wortes ist 'Antireligiosität, Nicht-Übernatürlichkeit, Weltlichkeit oder Unheiligkeit'. Die ersten Propagandisten für die Prinzipien des Säkularismus in den islamischen Ländern waren sich allerdings bewusst, dass der Begriff abgelehnt, zurückgewiesen und gehasst wird, wenn er richtig übersetzt wird. Daher haben sie den Begriff durch das Wort ‘almānīya verfälscht. Somit lassen sie die Leute glauben, dass es von Wissen abgeleitet sei“.(7)
Die Fragestellung, ob Säkularismus von Wissen oder Welt abgleitet ist, ist wissenschaftlich nicht korrekt, da sie von der falschen Annahme ausgeht, dass dieser Begriff arabischer Herkunft sei. Den englischen Ursprung des Begriffs bestätigt der Autor jedoch, indem er sagt, dass ‘almānīya die Übersetzung des englischen Wortes Säkularism ist, d.h., der Autor steht mit sich selbst im Widerspruch.
In seinem 1985 erschienen Buch (Islam und Säkularismus – Gesicht zu Gesicht) hat sich al-Qaraỗāwī mit dem Begriff Säkularismus ausführlich auseinander gesetzt. Im Gegensatz zu al-Qarnī betont er, dass die Wurzel des Säkularismus nichts mit dem Wissen zu tun hat. Demnach meint er zurecht, die auf der Wurzel Wissen basierende arabische Übersetzung ist nicht korrekt. Allerdings unterstreicht er verschiedene Definitionen des Begriffs, die sich hauptsächlich um die Trennung zwischen Religion und Politik handeln, ohne auf die praktische Umsetzung dieser Trennung einzugehen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Säkularismus gegen die Religion in jeder Hinsicht sei.(8) Es sei allerdings zu erwähnen, dass Al-Qaraỗāwī seine strikte Ablehnung des Säkularismus in seinen aktuellen Fatwas (Rechtsgutachten) abgeschwächt hat, indem er sich für den gemäßigten, die Religion nicht ablehnenden Säkularismus ausspricht.(9)
2.1.2. Die Befürworter des Säkularismus
Der Säkularismus in der arabisch-islamischen Welt findet seine wenigen Befürworter unter den Denkern und Philosophen wie z.B. Hassan Hanafy, Fouad Zakaria und Nasr Hamid Abu Zaid(10). Der letzte äußert sich oft zum Säkularismus, indem er zwischen der lethargischen islamischen Vernunft, die alle Erscheinungen auf transzendente Macht zurückführt und zwischen der islamischen Vernunft, die nach den direkten Gründen der Geschehnisse sucht, ohne auf den Glauben zu verzichten. Ferner betont er die Unterscheidung zwischen den rituellen Verpflichtungen (‘ibādāt) und den zwischenmenschlichen Beziehungen (mu‘āmalāt). An die ersten ist ohne Hinterfragen zu glauben, währen die zweiten konkrete Lebensverhältnisse regeln und daher der Macht der menschlichen Vernunft unterliegen. Meistens wird darauf Bezug genommen, dass der Prophet seinen Gefährten gesagt haben soll: „Eure weltlichen Angelegenheiten kennt ihr besser“.(11) Ausgehend davon ist der Islam für Abu Zaid die säkularste Religion, insbesondere weil sie die Macht des Klerus bzw. des Papsttums nicht kennt (vgl. Abu Zaid 2003:36 f.).
Eine ähnliche Ansicht vertritt der franko- und anglophone Lehrer für Philosophie und Islamwissenschafter Tariq Ramadan. Er fordert die Muslime dazu auf, mit der Betrachtung des Säkularismus als einen Gegensatz zum Islam aufzuhören. Für ihn liegt das Problem der Muslime mit dem Säkularismus in dem Missverständnis dessen Bedeutungsgehaltes (12).
2.2. Säkularismus in der westlichen aufgeklärten Kultur
Lorenz Müller fasst zusammen, was im Westen im Allgemeinen unter Säkularismus zu verstehen ist: “Säkularismus ist eine Weltanschauung, in der kein Anspruch der Religion besteht, die Inhalte, Formen und Funktionen staatlicher Ordnung zu bestimmen” (Müller 1996:213).
Das gemäßigte Verständnis von Säkularismus lässt sich meiner Ansicht nach folgendermaßen formulieren: Niemand darf wegen seines religiösen (oder weltanschaulichen) Bekenntnisses bevorzugt oder benachteiligt werden. Auch die Mitwirkung an der politisch-rechtlichen Ordnung muss Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Orientierung möglich sein, und zwar in voller Gleichberechtigung. Beruhend auf diesem Verständnis vertritt Lübbe die Ansicht, dass durch die Verweltlichung der Welt, d.h. durch den Säkularismus, das Geistliche geistlicher wird (Lübbe 1975:53). Dieses Verständnis vom Säkularismus würde m.E. in der arabisch-islamischen Welt auf keine Ablehnung stoßen, da es mit dem Prinzip der oben erwähnten Unterscheidung zwischen den zwischenmenschlichen Beziehungen und den rituellen Verpflichtungen vergleichbar ist.
Aus dem Dargelegten lässt sich eine Komponentenanalyse des Begriffs Säkularismus mit seiner arabischen Wiedergabe ‘almānīya in der jeweiligen arabisch-islamischen bzw. westlichen Kultur durchführen.
2.3. Säkularismus: Semanalyse
Seme |
Säkularismus |
‘almānīya |
positiv |
+ |
- |
antireligiös |
- |
+ |
Ketzerei |
- |
+ |
Gefährlich (sozial-politisch) |
- |
+ |
Chance für bessere politisch-rechtliche Ordnung |
+ |
- |
Die einfache durchgeführte Semanalyse des Begriffs Säkularismus mit seiner arabischen Wiedergabe ‘almānīya hat gezeigt, dass sie nicht deckungsgleich sind. Aus der oben dargestellten negativen Einstellung der arabisch-islamischen gegenüber Säkularismus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass diese Ablehnung zum größten Teil auf Missverständnisse zurückzuführen ist. Fakt ist, der Begriff Säkularismus ist in der islamischen Welt mit sehr negativen Konnotationen beladen. Es stellt sich daher die Frage: Welche Rolle spielt die Bezeichnung bei der Rezeption? Im Folgenden wird der Versuch unternommen, auf dies Frage eine Antwort zu finden.
2.4. Bezeichnung und Rezeption
2.4.1. Problematik der Bezeichnung (Zeichen und Bedeutung)
Die Bezeichnung übt meiner Ansicht nach einen großen Einfluss auf die negative bzw. positive Rezeption aus. Deshalb bedarf jedes Fremdwort, das in eine andere Sprache zu übersetzen ist, einer genauen Bedeutungserklärung bzw. genauer Bestimmung dessen Bedeutungsgehaltes, damit es nicht auf Ablehnung und Widerstand stößt. Dies gilt vor allem, wenn das Fremdwort mit dem Glauben einer Gesellschaft zu tun hat. In diesem Zusammenhang stellen die Muslime einen besonderen Fall dar, da die Religion unter ihnen als ein Hauptbestandteil des Lebens gilt. Beispielsweise haben die islamischen Fanatiker das Fotografieren verboten, da sie dachten, es sei eine Wiederschöpfung des Menschen, was nur Gott darf. Das lag m.E. darin, dass die bekannte arabische Wiedergabe für Fotografieren, nämlich taśwīr, auch die Bedeutung von Schöpfen/Erschaffen seitens Gottes hat. Der Koran nämlich sagt über Gott:
„Er ist es, Der euch im Mutterschößen bildet(13), wie Er will.“(14) (3:6)(15)
Diese engstirnige Haltung ist auf heftige Kritik von al-Qaraỗawī gestoßen, weil es beim Fotografieren nur um die Reflektierung des Menschenbildes geht, was im Arabischen in‘ikās heißt. Wäre das Fotografieren in‘ikās bezeichnet worden, wäre darüber kein Streit entstanden (vgl. al-Qaraỗawī 1999:158 f.).
2.4.2. Änderung der Bezeichnung
Es besteht Konsens unter den Gelehrten der Methodiklehre des Islamischen Rechts (Uśūl al-fiqh)(16) u.a. über folgende Regel: „Maßgebend ist die Bedeutung und nicht das Zeichen“. Ausgehend davon verzichtete der zweite Kalif ‛Umar (gest. 644) auf die Benutzung des Begriffs ğizya = Kopfsteuer, als der reiche christliche Stamm banu taġlub dieses Wort unterstellend gefunden und die Kopfsteuer-Zahlung mit der Bezeichnungsänderung verbunden hatte. Ihm ging es also um den Sinn und nicht um die Bezeichnung (vgl. al-Qaraỗāwī 2005:149 f.).
Ausgehend davon plädiere ich dafür, den missverstandenen und folglich abgelehnten Begriff ‘almānīya durcheinen anderen Begriff zu ersetzen, der in der arabisch-islamischen Kultur besser ankommen könnte. Da der Begriff Säkularismus „vom lateinischen Wort saecularis (weltlich, irdisch gesinnt)“ (Ebert 1991:78) abgeleitet ist im Sinne von Verweltlichung, was mit der Rationalisierung in engem Zusammenhang steht, schlage ich folgende Übersetzungen vor: ad-Dunyawīya = Verweltlichung. Damit ist mehr eine Beschäftigung mit dem irdischen Leben gemeint und nicht die Vernachlässigung des Jenseits. Beide sollen nicht als Gegensätze betrachtet werden. Diese neue Bezeichnung könnte vielleicht die Bedingungen schaffen, dass der Mensch eine zentrale Rolle bei der Verwaltung des Lebens spielt. Er ist nämlich der Träger der Verantwortung für die Verwaltung der Welt, was sich durch eine hermeneutische Betrachtungsweise des folgenden Koranverses(17) ableiten lässt:
„Sehe, Wir boten die Verantwortung den
Himmeln und der Erde und den Bergen an; doch weigerten sie sich, sie zu tragen,
und schreckten davor zurück.
Der Mensch lud sie sich jedoch auf.“ (33:72)
Die Übernahme dieser schwierigen Verantwortung haben – wie der Vers lautet – Himmel, Erde und Berge trotz ihrer äußerst großen Stärke zurückgewiesen. Im Gegensatz dazu habe sie der Mensch auf sich genommen, weil er sie mittels des ihm von Gott verliehenen Verstandes erfüllen kann. Das lässt sich dadurch beweisen, dass Gott dem Menschen alles in der Welt dienstbar gemacht hat(18). Aus diesem Versverständnis zeigt sich, dass der Mensch im Mittelpunkt der Welt steht und dass der Islam die Stellung und Würde des Menschen auf die höchste Stufe erhöht, was sich logischerweise auch auf die Stellung der Welt bezieht, wo der Mensch lebt. Demnach würde Ad-Dunyawīya die Unterscheidung zwischen Weltlichem und rituell Religiösem bedeuten, was durch die islam-rechtliche Unterscheidung zwischen den rituellen Verpflichtungen (‘ibādāt), die als eine private Beziehung zwischen Mensch und Gott gelten, und den zwischenmenschlichen Beziehungen (mu‘āmalāt) zum Ausdruck kommt. Diese Unterscheidung betonte sogar Ibn Taimīya (gest. 1328), der als Autorität für die salafitische traditionelle Richtung gilt, indem er die Ansicht vertritt, dass nur der Qualifizierte bzw. Erfahrene an die Macht kommen darf, selbst wenn er seine religiösen Pflichten nicht praktiziert (Ibn Taimīya 1983:16 ff).
3. Zum Begriff bid‘a
3.1. Begriffsbestimmung und Übersetzung
Eine adäquate Übersetzung bedarf einer genauen Begriffsbestimmung. Denn Eine mangelnde Erklärung des Bedeutungsgehaltes eines Begriffs bedeutet zwangsläufig eine falsche Wiedergabe in die Zielsprache, was meistens ein kulturelles Missverständnis zur Folge hat. Dies zeigt sich in dem Übersetzungsversuch des arabisch-religiösen Wortes bid‘a, das ins Deutsche meistens mit Erneuerung übersetzt wird. Für eine Erneuerung in der islamischen Lehre hat die arabisch-sakrale Sprache zwei Bezeichnungen. Zum einen geht es um aus islamischer Sicht positive Erneuerung, was mit sunna(19) bezeichnet und immer gelobt und von Gott belohnt wird. Der Prophet sagt: „Wer im Islam etwas Positives (arab. sunna ỏasana) erneuert, der erhält seine eigene Belohnung dafür, sowie für jeden, der davon bis zum Jüngsten Tag Gebrauch macht“(20)
Zum anderen könnte es sich um - islamisch gesehen - eine negative, von den islamischen Prinzipien abweichende Erneuerung, handeln, was bid‘a(21) heißt und abgelehnt wird bzw. abgelehnt werden muss. Dies beruht auf einer Prophetenüberlieferung, die besagt:
„Das Böse der Dinge sind ihre Neuerungen. Jede Neuerung ist eine bid‘a und jede bid‘a ist ein Irrtum und jeder Irrtum ist in der Hölle“(22)
Im Original handelt es sich in der ersten Aussage um das arabische Wort muỏdaŧ, das eine antireligiöse Erneuerung bedeutet und deshalb negativ konnotiert ist. Demnach hat Miehl bid‘a mit „unerlaubte Erneuerung“ übersetzt (vgl. Miehl 2004:22). Es gibt also im Arabischen einen Unterschied zwischen tağdīd, was immer positiv ist, und iỏdāŧ, was für negativ zu halten ist. Beide Begriffe lassen sich allerdings im Deutschen mit Erneuerung wiedergeben.
Tağdīd im Sinne von Erneuerung wird im Islam auf allen Ebenen positiv gesehen. Darüber hinaus haben alle sprachlichen Ableitungen der Wurzel bad‘ positive Bedeutung: mubdi‘ = einzigartig, schöpferisch bzw. Schöpfer; badī‘ = wundervoll bzw. Schöpfer und gilt als eine der 99 Eigenschaften Gottes; ibdā‘ = Schaffung bzw. schöpferische Fähigkeit. Diese sprachliche Tatsache veranlasste einige Religionsgelehrten wie an-Nawawī (gest. 1300), den Begriff bid‘a selbst als mehrdeutig zu betrachten. Dieser Ansicht zufolge gibt es zum einen gute bid‘a (bid‘a ỏasana), wenn es um eine aus islamsicher Sicht positive Neuerung geht. Zum anderen ist eine anti-islamische Neuerung als schlechte bid‘a (bida‘a saīy’a) zu bezeichnen(23).
Die positive Bedeutung von Erneuerung im Islam lässt sich u.a. durch die folgende Prophetenüberlieferung bestätigen:
„Gott schickt der islamischen Gemeinschaft (umma) jedes
Jahrhundert jemanden,
der ihr die religiösen Angelegenheiten erneuert“(24)
Mit Erneuerung in diesem Ỏadiŧ ist die Anpassung der islamischen Bestimmungen mit der Zeit gemeint, damit die islamische Religion immer lebendig bleibt.
Die Ungenauigkeit der Bezeichnung Erneuerung als Wiedergabe für bid‘a ist durch deren Rückübersetzung ins Arabische zu belegen: Erneuerung hat eine arabische adäquate Entsprechung, nämlich tağdid(25).
Nach dieser Auseinandersetzung mit dem Begriff bid‘a und dessen üblicher deutscher Wiedergabe mit Erneuerung lassen sich die Seme beider Begriffe durch eine Komponentenanalyse aufstellen.
3.2. Bid‘a: Semanalyse
Seme | Erneuerung |
bid‘a |
positiv |
+ |
- |
antireligiös |
- |
+ |
Ketzerei |
- |
+ |
Gefährlich (religiös-kulturell) |
- |
+ |
Aus dem Dargelegten zeigt sich, dass die deutsche Übersetzung des Wortes bid‘a mit Erneuerung nicht korrekt ist und bei dem deutschsprachigen Rezipienten das Bild entstehen lässt, dass Muslime rückständig und gegen Erneuerung seien.
Aus dem Dargestellten lässt sich schlussfolgern, dass es von großer Bedeutung ist, für beide Begriffe adäquate deutsche Wiedergaben zu finden. Als mögliche Übersetzung für bid‘a ist das Wort Häresie(26) und für Sunna ist Erneuerung eine m.E. adäquate Wiedergabe.
Allerdings bleibt es eine Frage der Interpretation zu entscheiden, was für sunna und was für bid‘a zu halten ist. Ausgehend davon betrachten die moderaten Muslime, seien es Laien oder Gelehrte, viele westliche Werte und Menschenrechte als sunna und halten sie deshalb für gut und versuchen sogar, sie islamisch zu begründen und in ihre Länder einzuführen. Dahingegen empfinden die orthodoxen Muslime die gleichen Werte als bid´a, die bekämpft werden muss. Al-Qaraỗawī meint dazu, die neuen Zahiriten „aż-żahirīya al-ğudud“(27) lehnen den Import der Verwaltungssysteme von Nicht-Muslimen unter dem Vorwand ab, dies sei bid‘a, die in die Hölle führt. Darauf bauend betrachten sie die Demokratie als ein Übel, dem widerstanden werden muss. Ferner sind Mehrheitsentscheide und die Parteienbildung eine westliche bid‘a (vgl. Al-Qaradawi 2006:45 f.).
Literaturverzeichnis:
1. Arabische Literatur
2. Deutsche Literatur
Anmerkungen:
2.5. Übersetzung und Kulturtransfer
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Webmeister: Branko Andric last change: 2009-09-03