Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
März 2010 |
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Sektion 2.5. |
Übersetzung und Kulturtransfer SektionsleiterInnen | Section Chairs: Aleya Khattab (Universität Kairo) und Ernest W. B. Hess-Lüttich (Universität Bern) |
Der ‚Dialog der Kulturen’ als übersetzungstheoretisches Problem
Gesine Lenore Schiewer (Universität Bern, Schweiz)
Email: gesine.schiewer@germ.unibe.ch
Die Vorstellung einer vollständigen Deckung
zwischen „offizieller“ Religion und dem subjektiven System
„letzter“ Bedeutungen beruht auf der stillschweigenden Annahme,
dass ein Individuum vollständig in die gesellschaftliche Ordnung
sozialisiert werden könnte. Diese Annahme ist natürlich unhaltbar.
(Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion)
1. Initiativen der Vereinten Nationen
2. Jürgen Habermas: „Alle Interpretationen sind Übersetzungen in nuce.“
3. Papst Benedikt XVI.: „Das wäre nun doch eine westliche Hybris [...].“
4. Übersetzung und Kommunikationstheorie: Wissenssoziologische Analysen religiöser Semantiken
5. Literatur
1. Initiativen der Vereinten Nationen
Der ‚Dialog der Kulturen’ ist seit mehreren Jahren Thema der Vereinten Nationen und auch der deutschen Außenpolitik: Sowohl das Erscheinen des vom damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan im Zusammenhang des Jahrs des Dialogs der Kulturen initiierten Bandes Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations im Oktober 2001 als auch das Aufgreifen des Begriffs durch das Auswärtige Amt in Deutschland im Rahmen des Forums Globale Fragen sind Aktivitäten, die in diesem Zusammenhang zu sehen sind.(1) Ferner haben die Vereinten Nationen in einer Resolution vom 21. November 2001 eine globale Agenda für den ‚Dialog der Kulturen’ proklamiert. Im Hinblick auf eine linguistische und übersetzungstheoretische Diskussion dieses Konzepts, die ich mir hier zur Aufgabe mache, verdienen einige der Resolutionspunkte besondere Aufmerksamkeit:
Article 1 | Dialogue among civilizations is a process between and within civilisations, founded on inclusion, and a collective desire to learn, uncover and examine assumptions, unfold shared meaning and core values and integrate multiple perspectives through dialogue |
Article 2 | Dialogue among civilizations constitutes a process to attain, inter alia, the following objectives: Enhancement of mutual understanding and respect through interaction among civilizations; Mutual enrichment and advancement of knowledge and appreciation of the richness and wisdom found in all civilizations; [...]. |
Article 4 | Dialogue among civilizations provides important contributions to progress in the following areas: Enhancing mutual understanding and knowledge among different social groups, cultures and civilizations in various areas, including culture, religion, education, information, science and technology; [...].(2) |
In den zitierten Passagen werden Fragen des Lernens und der Meinungsbildung akzentuiert, der Integration verschiedener Perspektiven sowie des gegenseitigen Verstehens unter anderem im Feld der Religion. Selbstverständlich werden damit zugleich implizite Annahmen darüber gemacht, was Dialoge, Kommunikationsprozesse und Diskurse ausmacht, wie sie funktionieren und was sie leisten können. Es stellt sich mit anderen Worten die Frage, worauf hier die Hoffnung gegründet wird, dass ein ‚Dialog der Kulturen’ die umfassenden Erwartungen zu erfüllen vermag und ein Rahmenkonzept für die Praxis des interkulturellen Dialogs auf politischen, institutionellen und gesellschaftlichen Ebenen bieten kann.
Hinweise auf das zugrunde liegende theoretische Konzept sind allerdings nicht zu finden. Eine sorgfältige Analyse der Ausführungen ergibt jedoch, dass unter anderem mit der nachdrücklichen Betonung der Akzeptanz von Unterschieden, der Voraussetzung von Verständnis, Vertrauen, gegenseitiger Hochachtung, Offenheit, des Verzichts auf Beeinflussung sowie der Zielsetzung, überzeugen und nicht überreden zu wollen, in dem Konzept des hier entwickelten ‚Dialogs der Kulturen’ die zentralen Aspekte der Kommunikations- und Diskurstheorie von Jürgen Habermas aufgegriffen werden (vgl. Schiewer 2006). Es geht im Wesentlichen um die Grundlagen kommunikativer Rationalität und konsensorientierter Verständigung im Sinn der „Herbeiführung eines Einverständnisses, welches in der intersubjektiven Gemeinsamkeit des wechselseitigen Verstehens, des geteilten Wissens, des gegenseitigen Vertrauens und des miteinander Übereinstimmens (im Hinblick auf die dem Sprechakt zugrunde liegenden Werte und Normen) terminiert“ (Habermas 1976: 176).
Eine bedeutende Rolle kommt dabei den Prozessen des gegenseitigen Austauschs im Bereich des Glaubens und der Religion zu. Denn sie stellen wesentliche Facetten kultureller Gemeinschaftsstiftung und Integration dar. Aus diesem Grund wird in dem von Kofi Annan angeregten Band wiederholt auf den Begriff des „Weltethos“ des Theologen Hans Küng Bezug genommen, der auch zu den neunzehn Mitverfassern des Buches gehört. Die von Küng akzentuierten unverrückbaren ethischen Werte wie Solidarität, Gewaltlosigkeit, Toleranz, Wahrhaftigkeit, Gleichberechtigung und Partnerschaft von Mann und Frau (vgl. Küng 1990, 1997) nehmen auch im Hinblick auf das skizzierte Konzept des ‚Dialogs der Kulturen’ insofern eine zentrale Stellung ein, als hier von der gemeinsamen Basis dieser Werte ausgegangen wird. Sie sind mit anderen Worten – wie die Verfasser meinen – eine entscheidende Voraussetzung für diesen Entwurf des interkulturellen Dialogs.
Damit wird dem Aspekt des Religiösen insgesamt im ‚Dialog der Kulturen’ ein hoher Stellenwert zuerkannt. Die Möglichkeit einer Verständigung im religiösen Bereich und unter den Anhängern verschiedener Religionsgemeinschaften ist insofern zu einem wichtigen Faktor im ‚Dialog der Kulturen’ geworden.(3) Und so verblüfft es dann nicht, dass der Komplex von Religion und Dialog zu einem Thema werden konnte, das einen Austausch des wohl wichtigsten theoretischen Vordenkers im Bereich der rationalen Kommunikationstheorie und des neuen Oberhaupts der katholischen Kirche reizvoll erscheinen ließ: Am 19. Januar 2004 trafen Jürgen Habermas und Joseph Kardinal Ratzinger auf Einladung der Katholischen Akademie Bayern aufeinander – eine Begegnung, die weltweite Aufmerksamkeit fand (vgl. Schuller, in: Habermas/Ratzinger 2005: 7).
Im Ausgang von den beiden in dieser Auseinandersetzung vertretenen Standpunkten werden im Folgenden die verschiedenen Positionen mit ihren jeweiligen Grundlegungen eines gelingenden ‚Dialogs der Kulturen’ diskutiert und auf ihre diskurstheoretische Tragfähigkeit hin abgeklopft.
2. Jürgen Habermas: „Alle Interpretationen sind Übersetzungen in nuce“
„Nach dem 11. September bin ich oft gefragt worden, ob sich nicht angesichts solcher Gewaltphänomene die ganze Konzeption des verständigungsorientierten Handelns, wie ich sie in der Theorie des kommunikativen Handelns entwickelt habe, blamiere“, sagt Jürgen Habermas in einem Gespräch mit Giovanna Borradori. Er problematisiert auf diese Weise sein eigenes Konzept, um es dann aber doch zu verteidigen (Habermas/ Derrida 2004: 60).
Und zwar ruht seiner Ansicht nach die Praxis des täglichen Zusammenlebens – und, so wäre im Sinn von Habermas zu ergänzen, die Praxis reibungsloser, einvernehmlicher Kommunikation – auf einem Sockel gemeinsamer Hintergrundannahmen, kultureller Selbstverständlichkeiten und reziproker Erwartungen. Kommunikationsstörungen seien dahingegen der Beginn von Konflikten und Gewalt. Im Fall der interkulturellen Kommunikation bestehe aber prinzipiell ein erstes Problem in der Fremdheit und Distanz der verschiedenen Nationen, Lebensformen und Kulturen, so dass ein Vertrauenskapital erst gebildet werden müsse. Denn dies ist Habermas zufolge ja Voraussetzung gelingender Kommunikation. Eine vertrauensbildende Maßnahme und damit wichtige Vorleistung, um als eine „zivilisierende Gestaltungsmacht“ wahrgenommen zu werden, bestände zum Beispiel in der Selbstkontrolle der materiellen Interessen des Westens.
Ein zweites Problem ist Habermas zufolge auf den Ebenen der Semantik und Interpretation von Sprache angesiedelt: „Eine Interpretation muss in jedem Fall den Abstand zwischen dem hermeneutischen Vorverständnis der einen wie der anderen Seite überbrücken – ob nun die kulturellen und raumzeitlichen Distanzen kürzer oder länger, die semantischen Differenzen kleiner oder größer sind. Alle Interpretationen sind Übersetzungen in nuce.“ (Habermas/ Derrida 2004: 62). Jedoch zeigt Habermas sich überzeugt, dass Gesprächsteilnehmer ihre Perspektiven erweitern und schließlich zur Deckung bringen könnten, da sie sich mit dem Gespräch „auf eine grundlegende Symmetrie eingelassen haben, die im Grunde alle Sprechsituationen fordern“. In der Dynamik der gegenseitigen Perspektivübernahme, die jeder kompetente Sprecher bereits mit den Personalpronomina der ersten und zweiten Person erworben habe, gründet Habermas zufolge die kooperative Erzeugung eines gemeinsamen Deutungshorizontes, in dem beide Seiten – so Habermas’ optimistische Sicht – zu intersubjektiv geteilten Interpretationen gelangen könnten (vgl. Habermas/ Derrida 2004: 63 und die kritische Diskussion in: Schiewer 2005a). Habermas geht also davon aus, dass auf der Grundlage der rein grammatischen Unterscheidung von ‚Ich’ und ‚Du’ die Überwindung aller semantischen Divergenzen möglich sei – eine Annahme, die allerdings aus linguistischer Sicht kaum überzeugen kann, da in ihr das Feld der Grammatik als einer Strukturbeschreibung der Sprache und die Bereiche der Semantik und der Pragmatik des Sprachgebrauchs mit den interaktiven Prozessen der Aushandlung in übermäßig verkürzter Form miteinander verschränkt werden.
Als Übersetzung versteht Habermas insbesondere auch die Aneignung christlicher Gehalte durch die Philosophie:
Diese Aneignungsarbeit hat sich in schwer beladenen normativen Begriffsnetzen wie Verantwortung, Autonomie und Rechtfertigung, wie Geschichte und Erinnerung, Neubeginn, Innovation und Wiederkehr, wie Emanzipation und Erfüllung, wie Entäußerung, Verinnerlichung und Verkörperung, Individualität und Gemeinschaft niedergeschlagen. Sie hat den ursprünglich religiösen Sinn zwar transformiert, aber nicht auf eine entleerende Weise deflationiert und aufgezehrt. Die Übersetzung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die gleich und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen ist eine solche rettende Übersetzung. (Habermas/Ratzinger 2005: 32)
Mit der Übersetzung originär christlicher Werte und Begriffe soll eine entscheidende Vermittlungsleistung einhergehen, die darin besteht, dass der Gehalt biblischer Begriffe über die Grenzen einer Religionsgemeinschaft hinaus einem allgemeinen und breiten Publikum erschlossen werde. Es seien daher Anstrengungen zu unternehmen, „relevante Beiträge aus der religiösen in eine öffentlich zugängliche Sprache zu übersetzen“ (vgl. Habermas/Ratzinger 2005: 32, 36).
Habermas geht also davon aus, dass auf dem Weg der Übersetzung auch die zunächst nur einer Glaubensgemeinschaft zugänglichen Semantiken in intersubjektiv geteilte Interpretationen überführt werden und somit Gegenstand verständigungs- und konsensorientierter Kommunikations- und Diskursprozesse werden können.(4) Auf der Basis von Argumentationen soll es dann möglich sein, zu überzeugen, zur einvernehmlichen Verständigung und im besten Fall zum gemeinsam getragenen Konsens zu gelangen: „Kommunikative Vernunft bringt sich in der Bindungskraft intersubjektiver Verständigung und reziproker Anerkennung zur Geltung; sie umschreibt zugleich das Universum einer gemeinsamen Lebensform.“ (Habermas 1988: 377).(5)
Ohne Frage sind dies weit reichende Annahmen, die nichts weniger als die Auffassung implizieren, dass es einen universalen Diskurs unter den Angehörigen der verschiedenen Kulturen und Religionen auf dem Weg der Übersetzung religiöser und insbesondere christlicher Konzepte in rational gefasste Begrifflichkeiten geben kann.
Es ist hervorzuheben, dass für diese Konzeption der Hintergrund der universalen Rationalitätsannahme von Jürgen Habemas entscheidend ist. Auch diesen Aspekt streift er in dem Gespräch mit Giovanna Borradori, indem er den Verzicht der modernen Weltreligionen auf einen allgemeinverbindlichen Wahrheitsanspruch akzentuiert (vgl. Habermas/ Derrida 2004: 55 f.). Gläubige, die eine solche Relativierung ihres Glaubens nicht leisten, bezeichnet Habermas als fundamentalistisch. Denn die Erhebung eines exklusiven Glaubensanspruchs ist Habermas zufolge unvereinbar mit „den kognitiven Bedingungen des szientifischen Weltwissens und des weltanschaulichen Pluralismus“ (Habermas/ Derrida 2004: 56). Anders als mit religiösen Überzeugungen können Habermas zufolge mit der universalen Rationalität allgemeinverbindliche Wahrheitsansprüche verbunden werden.
Dass Habermas einmal seine gesamte Theorie des kommunikativen Handelns und seine Konsenstheorie der Wahrheit unmittelbar mit dem explizit als religiös aufgefassten Motiv der Bundesgenossenschaft in Verbindung gebracht hat, macht ebenfalls deutlich, dass Habermas eine Überführung religiösen Denkens in vernunft- und wahrheitsorientiertes Denken für durchaus möglich hält. Es kann daher von einem Substrat des religiösen Gedankens universaler Bundesgenossenschaft in dem Konzept des auf Konsens abzielenden rationalen Diskurses gesprochen werden.(6)
Allerdings sah sich Habermas in seiner oben erwähnten Verteidigung der Eignung seines Dialogmodells für den interkulturellen Austausch nach den Attentaten vom 11. September 2001 zu einer Äußerung veranlasst, die als Zurücknahme des mit der Übersetzung verbundenen Anspruchs auf intersubjektiv geteilte Interpretationen gewertet werden kann:
In der Selektivität, der Erweiterungsfähigkeit und Korrekturbedürftigkeit der erzielten Deutungen äußert sich natürlich meistens nur die unvermeidliche Fallibilität des endlichen Geistes; aber oft sind sie ununterscheidbar von jenem Moment Blindheit, das Interpretationen den ungetilgten Spuren einer gewaltsamen Assimilation an den Stärkeren verdanken. Insofern ist Kommunikation immer zweideutig, eben auch ein Ausdruck latenter Gewalt. (Habermas/Derrida 2004: 63).
In dieser etwas verklausulierten Passage wird nicht nur erstens die universale Rationalitätsannahme durch die Fehlbarkeit der Vernunft relativiert, sondern es wird zudem zweitens die Voraussetzung der unter vollkommen symmetrischen Bedingungen der gegenseitigen Perspektivübernahme stattfindenden idealen Kommunikation durch die asymmetrische Gegebenheit der Anpassung des schwächeren an den stärkeren, überlegenen, mächtigeren Dialogpartner relativiert. Schließlich wird drittens mit der Korrekturbedürftigkeit der erzielten Deutungen die Überführung in intersubjektiv geteilte Interpretationen in Frage gestellt. – So gesehen, werden hier tatsächlich weit reichende Zugeständnisse gemacht, die so aufgefasst werden können, dass die Eignung des Habermas-Modells für den interkulturellen Dialog problematischer ist, als es von Habermas dargestellt wird.
Sogar äußerst irritierend ist dabei, dass das Bemühen um „intersubjektiv geteilte Interpretationen“, das heißt um die Erzeugung einheitlicher Semantiken und Begriffsbedeutungen, in dieser nüchterneren Sicht auf mögliche Asymmetrien plötzlich gar nicht mehr ganz eindeutig von dem zu trennen ist, was Habermas in derselben Stellungnahme als „fundamentalistisch“ bezeichnet hat: „Mit diesem Prädikat bezeichnen wir eine Geisteshaltung, die auf der politischen Durchsetzung von eigenen Überzeugungen und Gründen auch dann beharrt, wenn diese alles andere als allgemein akzeptabel sind.“ (Habermas/Derrida 2004: 55). Der Unterschied wird nunmehr subtiler: während in Habermas’ Konzept die kommunikativ – wenngleich eben nicht immer ohne „latente Gewalt“ – hergestellten intersubjektiv geteilten Interpretationen als Grundlage der rationalen Argumentation und des anzustrebenden einvernehmlichen „Telos der Verständigung“ (Habermas/Derrida 2004: 63) gesehen werden, verteidigt Habermas zufolge der durch religiösen ‚Fundamentalismus’ bedingte Terrorismus seine Einheitssemantiken „sogar mit Gewalt“, das heißt mit offener Gewalt (vgl. Habermas/Derrida 2004: 55; vgl. zu der Verteidigung von Einheitssemantiken durch Terror Albert/Stetter 2006: 72). Hier geht es darum, den anderen – zur Not mit Gewalt – dazu zu zwingen, so zu denken, wie man selbst; dort, sich – unter Umständen unter Anwendung latenter Gewalt – darauf zu einigen, welche gemeinsame Sicht einzunehmen ist.
Es zeichnet sich hier ein beachtliches kommunikations- und diskurstheoretisches Defizit ab. Und es stellt sich in der Tat die Frage, ob und inwiefern das Habermas-Konzept überhaupt tragfähig ist für einen interkulturellen Dialog zwischen den Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften. Denn die Einübung in Kommunikationsformen, die es ermöglichen würden, unterschiedliche Sichtweisen gelten zu lassen und den bei realistischer Sicht kaum zu vermeidenden divergierenden Semantiken Rechnung zu tragen, bleibt hier Desiderat. Unter anderem wäre sicher die offene Frage zu klären, welche Begriffe und Gegenstände bei den „hermeneutischen Anstrengungen“ überhaupt berücksichtigt werden und in die anschließenden Kommunikationsprozesse einfließen.
3. Papst Benedikt XVI.: „Das wäre nun doch eine westliche Hybris [...].“
Außerordentlich folgenreich ist vor diesem Hintergrund dann aber auch die entschiedene Infragestellung der universalen Rationalitätsannahme, die Joseph Kardinal Ratzinger gegenüber Jürgen Habermas in dem Gespräch am 19. Januar 2004 in der Katholischen Akademie in Bayern und auch bei vielen anderen Gelegenheiten vertritt. Ratzinger spricht – und hierin weiß er sich mit Habermas einig – von der Gefahr einer Pathologie der Religion: „Dass es heute in der Lösung der Religion aus der Verantwortung vor der Vernunft in wachsendem Maß pathologische Religionsformen gibt, ist offenkundig.“ (Ratzinger 2003: 127)
In seiner Vorlesung an der Universität Regensburg am 12. September 2006 macht auch Ratzinger – ebenfalls wie Habermas – seine Wertschätzung der Wissenschaft deutlich und betont zudem einen gemeinsamen Kulminationspunkt von Wissenschaft und Christentum, der im Begriff der ‚Wahrheit’ bestehe: „Das Ethos der Wissenschaft [...] ist im Übrigen Wille zum Gehorsam gegenüber der Wahrheit und insofern Ausdruck einer Grundhaltung, die zu den wesentlichen Entscheiden des Christlichen gehört.“ (Benedikt XVI. 2006, 29).(7) Aber er spricht auch – und hierin unterscheidet er sich von Habermas’ Position – von einer möglichen Pathologie der Wissenschaft:
Aber wenn wir an menschenverachtende wissenschaftliche Projekte [...] denken oder auch wenn wir uns an die Instrumentalisierung der Wissenschaft zur Herstellung immer schrecklicherer Mittel der Zerstörung des Menschen und der Welt erinnern, dann ist offenkundig, daß es auch pathologisch gewordene Wissenschaft gibt [...]. (Ratzinger 2003: 127 f.)
Mit diesem Hinweis problematisiert Ratzinger nun aber das zentrale Fundament der Theorie des kommunikativen Handelns, nämlich die Annahme der Universalität des als rational bezeichneten Denkens. In der Regensburger Vorlesung wird er explizit: „In der westlichen Welt herrscht weithin die Meinung, allein die positivistische Vernunft und die ihr zugehörigen Formen der Philosophie seien universal.“ (Benedikt XVI. 2006, 29). Jedoch sei eine Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub sei, keine geeignete Basis für einen Dialog der Kulturen, sondern vielmehr geradezu unfähig, ihn zu ermöglichen. Stattdessen sei die Korrelationalität von Vernunft und Glaube oder Religion notwendig, um einen „wirklichen Dialog der Kulturen und Religionen“ herbeizuführen (vgl. Benedikt XVI. 2006, 30 und Habermas/Ratzinger 2005, 57):
Ohne Zweifel sind die beiden Hauptpartner in dieser Korrelationalität der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität. Das kann und muss man ohne falschen Eurozentrismus sagen. Beide bestimmen die Weltsituation in einem Maß wie keine andere der kulturellen Kräfte. Aber das bedeutet doch nicht, dass man die anderen Kulturen als eine Art „quantité négligeable“ beiseite schieben dürfte. Dies wäre nun doch eine westliche Hybris, die wir teuer bezahlen würden und zum Teil schon bezahlen. Es ist für die beiden großen Komponenten der westlichen Kultur wichtig, sich auf ein Hören, eine wahre Korrelationalität auch mit diesen Kulturen einzulassen. Es ist wichtig, sie in den Versuch einer polyphonen Korrelation hineinzunehmen, in der sie sich selbst der wesentlichen Komplementarität von Vernunft und Glaube öffnen, so dass ein universaler Prozess der Reinigung wachsen kann, in dem letztlich die von allen Menschen irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft gewinnen können, so dass wieder zu wirksamer Kraft in der Menschheit kommen kann, was die Welt zusammenhält. (Habermas/Ratzinger 2005, 57 f.)
Nicht nur die Auffassung der prinzipiellen Notwendigkeit eines gegenseitigen Korrektivs von Wissenschaft und Religion wird hier vertreten, sondern es werden ausdrücklich der christliche Glaube und die westliche säkulare Rationalität zum Vorbild erhoben. Anderen Kulturen soll wohl Gehör geschenkt werden, aber sie haben sich aus der Sicht des Papstes Benedikt XVI. der westlichen Komplementarität von Vernunft und Glauben zu öffnen.
Trotz des Versuchs Joseph Kardinal Ratzingers, sich gegen den Vorwurf des Eurozentrismus zu verwahren, lässt der rechtfertigende Hinweis darauf, dass christlicher Glaube und westliche Rationalität in ihrer komplementären Relation die Weltsituation gegenwärtig dominieren, diesen Entwurf im Hinblick auf die Grundlegung eines Konzepts des ‚Dialogs der Kulturen’ als äußerst voraussetzungsreich erscheinen.(8)
Während Konzepte des ‚Dialogs der Kulturen’, die wie zum Beispiel in dem genannten von Kofi Annan 2001 initiierten Band an Habermas’ rationales Diskurskonzept anschließen, die Universalität von Vernunft und Wissenschaft als Basis des Austauschs voraussetzen, bringt der Entwurf von Benedikt XVI. zwar prinzipiell ein relativierendes Denken ein, kann und will sich dabei aber letztlich nicht von einer eurozentrischen Perspektive lösen.
4. Übersetzung und Kommunikationstheorie:
Wissenssoziologische Analyse religiöser Semantiken
Erhellend ist vor diesem Hintergrund der Blick auf die religionssoziologischen Ausführungen des in der Linguistik mit Aufmerksamkeit rezipierten Wissenssoziologen und Alfred Schütz-Schülers Thomas Luckmann. Er betont: „Eine einheitliche Perspektive auf das Problem der individuellen [Hervorhebung von mir. GLS] Lebensführung wird durch die soziologische Theorie der Religion eröffnet.“ (Luckmann 1991: 49).
Mit den Soziologen Émile Durkheim und Max Weber geht Luckmann davon aus, dass der Schlüssel zum Verständnis des gesellschaftlichen Standorts des Individuums in der Erforschung der Religion als einer konstitutiv gemeinschaftlichen und ordnungsstiftenden Kategorie zu suchen sei (vgl. Luckmann 1991: 48). Als solche beeinflusst sie Luckmann zufolge das Individuum in seinem Denken, seinen Überzeugungen, seinem persönlichen Relevanzsystem, seinem Gewissen und damit insgesamt in den Grundlagen seiner persönlichen Identität. Jedoch sei Religion nur in ihrer universalen Form gleichmäßig über die ganze Gesellschaft verbreitet; die Frage, ob solche Gesellschaften überhaupt existieren, beantwortet Luckmann mit dem sehr zurückhaltenden Hinweis, dass sie vorstellbar seien (vgl. Luckmann 1991: 118 f.). Prinzipiell müsste in diesem Fall von der vollständigen Einsozialisierung des Individuums mit seinen individuellen Relevanzen in die gesellschaftliche Ordnung ausgegangen werden, das heißt, es würde sich um eine uniforme Gemeinschaft mit einer einheitlichen Kultur handeln: „Von verhältnismäßig einfachen Gesellschaften könnte man also behaupten, daß sich bei ihnen der heilige Kosmos und das verinnerlichte System ‚letzter’ Bedeutungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder in hohem Maß decken.“ (Luckmann 1991: 120).
Sobald es zu einer Institutionalisierung der Religion komme, sei jedoch nicht mehr von einem hohen Maß an Deckung von „offizieller“ Religion und dem verinnerlichten System „letzter“ Bedeutungen der einzelnen Gesellschaftsmitglieder auszugehen; die betreffenden Sozialstrukturen zeichneten sich vielmehr durch große Komplexität und Differenzierung aus. Es komme zur Ausbildung persönlicher Identitäten, subjektiver Reflexion, subjektiver Sinnstrukturen und einer diversifizierten Kultur (vgl. Luckmann 1991: 120, 141, 149). Auch die Artikulation religiöser Themen kann dann nur noch individuell und subjektiv erfolgen, da sie nicht mehr von primären Institutionen als kirchliche Rhetorik verbindlich festgelegt werden (vgl. Luckmann 1991: 146 f.). Es gibt mit anderen Worten keine „Einheitssemantik“ mehr.(9)
Die sich an diese unterschiedlichen Strukturen von universaler und institutionalisierter Religion anschließenden kommunikativen Gegebenheiten erläutert Luckmann unter dem Aspekt der Wissensasymmetrien an anderer Stelle in einem gemeinsam mit der Linguistin Susanne Günthner publizierten Aufsatz:
Definitionsgemäß dürften in einer geschlossenen Gesellschaft mit vollkommen gleicher Wissensverteilung keine Interaktionsprobleme, die auf unterschiedliches Wissen ihrer Mitglieder zurückzuführen sind, auftreten. Ferner dürften in einer solchen Gesellschaft auch keine spezifisch kommunikativen Probleme auftauchen, da alle Mitglieder selbstverständlich auch alles kommunikationsbezogene Wissen im gleichen Maße besäßen.
Freilich hat es eine solche Gesellschaft niemals gegeben, noch könnte es sie soziologisch gesehen jemals geben. Aber da wir schon beim „Als-Ob“ sind, könnten wir uns neben einer solchen geschlossenen Gesellschaft auch noch eine umfassende Weltgesellschaft vorstellen, in der alles Wissen gerecht und gleich verteilt wäre. Am Ende dieses Regenbogens gäbe es dann weder Probleme der „intrakulturellen“ noch der „interkulturellen“ Kommunikation. (Günthner/Luckmann 2002: 215).
Dieses Bild einer welteinheitlichen Kommunikationsgemeinschaft konterkarieren Luckmann und Günthner allerdings umgehend:
Aber entgegen gewissen Globalisierungstendenzen auf bestimmten Ebenen und Gebieten sozio-ökonomischer Organisation gab, gibt und wird es auch in Zukunft zahlreiche eigenständige Gesellschaften geben. Und ein Merkmal dieser Gesellschaften ist und wird eine relativ hohe Ungleichheit der Verteilung des sozialen Grundwissens sein. (Günthner/Luckmann 2002: 216).
Wenngleich also ein gewisser Umfang an gemeinsamem Wissen natürlich unverzichtbar und vorauszusetzen ist, um kommunizieren zu können, so ist immer auch mit Wissensasymmetrien zu rechnen. Aufgrund der skizzierten Differenzierung religiöser Semantiken schon innerhalb der einzelnen Religionsgemeinschaften betrifft dies auch zentrale Grundlegungen des Konzepts des ‚Dialogs der Kulturen’. Habermas’ Hoffnung, der Schwierigkeit durch Übersetzungen religiöser Ausdrucksweisen in allgemein zugängliche Sprache begegnen zu können, ist daher zumindest sehr zu dämpfen. Denn die Herstellung intersubjektiv geteilter Interpretationen auf dem Weg der Übersetzung wird generell als voraussetzungsreiche und prinzipiell fallible kommunikative Anstrengung zu betrachten sein.
Die von Papst Benedikt XVI. propagierte Perspektive der Vorbildrolle westlicher Komplementarität von Vernunft und Glaube für andere Kulturen trägt dieser Problematik des Wissenstransfers angesichts bestehender Wissensasymmetrien wohl in keiner Weise Rechnung.
Vor diesem Hintergrund der aus kommunikationstheoretischer Sicht zu vermerkenden Defizite der verschiedenen Konzeptionen des Dialogs der Kulturen sind unter anderem die von Günthner und Luckmann skizzierten Ansätze zum Umgang mit Wissensaysmmetrien aufzugreifen. Sie beziehen sich auf mögliche „Reparaturen“, die dann zur Anwendung kommen können, wenn Kommunikationsprobleme als solche wahrgenommen werden. Allerdings sind, dies betonen Günthner und Luckmann zu Recht, unter Umständen selbst die Reparaturvorkehrungen in verschiedenen Kulturen und Sprachgemeinschaften sehr unterschiedlich, so dass hierin eine weitere Quelle für Wissensasymmetrien und Kommunikationsprobleme besteht. Oftmals werden Asymmetrien zudem häufig als Zeichen individueller Böswilligkeit und mangelnder Kooperationsbereitschaft gewertet oder als Bestätigung unhinterfragter Stereotypien aufgefasst, so dass gar keine Reparaturanstrengungen unternommen werden (vgl. Günther/Luckmann 2002: 239). Stattdessen kommt es oft zur Konfrontation oder zum Abbruch des Dialogs. Die Fortentwicklung linguistischer Forschung in den Bereichen sprachlicher Machtausübung und Konfliktkommunikation als komplementäre Ergänzung zu Kontaktlinguistik und konsensorientierter Kommunikationstheorie darf daher nicht vernachlässigt werden (vgl. zum Beispiel Bonacker 2005, Eckern et al. 2004, Eckert 2004, Sommer/Fuchs 2004, Oetzel/Ting-Toomey 2006).
Da mit Thomas Luckmann nicht einmal von einheitlichen Semantiken innerhalb von Religionsgemeinschaften ausgegangen werden kann, sind hier gezielte vergleichende Analysen herausgehobener Semantiken religiöser Sprache unter Rückgriff auf die Methoden des Konzepts der Historischen Semantik Erfolg versprechend. Wenn weiterhin anzunehmen ist, dass weder innersprachliche Begriffsübertragungen aus dem Bereich der Religion in andere Terminologien noch zwischensprachliche Übersetzungen eine Garantie für die Herstellung gemeinsam geteilter Einheitssemantiken darstellen, dann ist es geradezu als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten, dass es vielmehr darum gehen muss, semantische Verschiebungen aller Art so klar wie möglich gerade offen zu legen.
Weiterhin sind kulturvergleichende Analysen rhetorischer Strategien und Traditionen anzustreben (vgl. hierzu Schiewer 2005b). Auch das Feld der Soziosemiotik der Emotionen im kulturellen Kontext ist hier zu berücksichtigen (vgl. Schiewer 2006). Denn erst vor dem Hintergrund der vertieften Kenntnis um Wissensasymmetrien dieser Art können Dialogbedingungen unterstützt werden, in denen solche Asymmetrien und die unhintergehbare Perspektivik jedes Teilnehmers mit ihren lebensweltlichen und historischen Bedingungen nicht in voreiligem Konsensdruck zu überdecken gesucht werden müssen. Vielmehr können sie dann so weit wie möglich offenkundig gemacht werden, ohne Dissens mit Feindschaft – wie Konsens mit Freundschaft – von vorneherein zu vermischen oder gar miteinander zu verwechseln.
5. Literatur
Anmerkungen
2.5. Übersetzung und Kulturtransfer
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-22