Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 | |
Sektion 3.10. | Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung Sektionsleiterin | Section Chair: Mária Bieliková (Matej-Bel-Universität Banská Bystrica, Slowakei) |
Die Bedeutung der Komparatistik für die Märchenforschung
Edita Jurčáková (Matej-Bel-Universität, Banska Bystrica, Slowakei) [BIO]
Email: Jurcakova@fhv.umb.sk
Die Zahl der Volksmärchen, die bis jetzt in Europa gesammelt und gedruckt vorliegen, ist sehr umfangreich. Es mögen ihrer schon tausend sein, und vielleicht kommen noch weitere dazu. Als man aber die veröffentlichten Märchen und Sammlungen untereinander verglichen hatte, erkannte man bald, dass keineswegs lauter unter sich verschiedene Erzählungen darin enthalten sind. Vielmehr kehrt eine beschränkte Zahl von Erzählungstypen deutlich erkennbar immer wieder. Durch die vergleichende Motivforschung - nicht nur innerhalb der Märchenforschung - wurde festgestellt, dass die gleichen Erzählbilder, die gleichen Motive über die Gattungsgrenzen von Märchen, Sage, Epos, Roman und Drama hinweg vorhanden sind.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich als selbstständige Forschungsrichtung die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft (Komparatistik), deren Ziel es war, Ursprung, Entwicklungsgeschichte und Verwandtschaftsbeziehungen von Einzelsprachen auf Grund vergleichender Untersuchungen zu rekonstruieren. Sowohl das Interesse der deutschen Romantik an der Geschichte des eigenen Volkes als auch das Bekanntwerden mit dem Sanskrit förderten die Erforschung der genetischen Zusammenhänge zwischen dem Deutschen und den übrigen indoeuropäischen bzw. -germanischen Sprachen (Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schlegel, Franz Bopp, Rasmus Rask, Jacob Grimm, August Schleicher).
Der deutsche Sprachwissenschaftler und Sanskritforscher Franz Bopp bewies mit seinen Arbeiten (1) die Verwandtschaft zwischen vielen Sprachen Europas und des Orients und schließlich die Existenz einer indogermanischen Ursprache. Als Begründer der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen hatte er in Verbindung mit Wilhelm von Humboldt und den Brüdern Grimm eine neue Epoche der Sprachwissenschaft eingeleitet (historisch-vergleichende Sprachwissenschaft). Von hier aus erfolgte eine nachdrückliche Beeinflussung der Märchenforschungs- und verbreitungstheorien, besonders als der Sanskritforscher Theodor Benfey die Leitgedanken der vergleichenden Sprachforschung auf die Märchenforschung übertrug und damit ein halbes Jahrhundert lang die Wissenschaft beherrscht hatte.
Von der vergleichenden Methode in der Volksunde wurde also erst seit der Hälfte des 19. Jahrhunderts gesprochen, die Problematik der vergleichenden Forschung ist aber älter als der Begriff der Komparatistik. Ihre komplizierte Entwicklung beginnt eine Jahrhunderthälfte früher, an der Wende des 19. Jahrhunderts bei den Brüdern Grimm. Die Brüder Grimm haben in ihrem Anmerkungsband zu Kinder- und Hausmärchen (1822) teilweise versucht, fast alle wesentlichen Fragen zu beantworten, welche im Zusammenhang mit dem Volksmärchen auftauchten, daneben auch die Frage nach dem Ursprung der Volksmärchen und den Gemeinsamkeiten im Märchengut verschiedener Völker und Länder – also die Komparationsfrage. (2)
Es ist weder ein Zufall, noch der Grund der Vorahnung beider deutscher Gelehrter, dass die vergleichende Volkskunde gerade auf dem Gebiet der Märchen entstand. Es hat andere Gründe. Einer davon liegt darin, dass die deutschen Romantiker das Märchen als poetisches Ideal, als Zeugnis nationalen Altertums, als auch als Ausdruck des Nationalgeistes betrachteten und das Interesse auf das Märchen lenkten. Der andere Grund liegt im Charakter der Märchentradition: dieser ist im größeren Maße internationaler als andere Genres der Volksdichtung. Ähnliche oder identische Märchen, ihre Themen, Fabeln, Gestalten und Gestaltungsmittel gibt es bei verschiedenen Völkern Europas oder sogar anderer Erdteile.
Auch in der späteren Entwicklung bildete sich die vergleichende Volkskunde vor allem im Rahmen des Märchenguts aus. Die Märchen gaben ihr wichtige theoretische Gedanken und wissenschaftliche Methoden, und nur langsam verbreitete sich die komparative Methode auf andere Genres der Volkdichtung – auf Epos, Legenden, Balladen, Sagen, Sprichwörter usw. Im Laufe von zwei Jahrhunderten bildete sich die komparative Volkskunde als selbstständiges Fach aus, arbeitete ihre Gedanken und Methoden aus und bereicherte das Studium der Volksliteratur um Hunderte von Monographien und Studien und brachte zahlreiche Sachkenntnisse und viele unterschiedliche Auslegungen zusammen. Die Initiative ergriff die Märchenforschung und es ging ihr nicht nur um Erfassen der Übereinstimmungen zwischen den Märchen verschiedener Völker, sondern auch um den Ursprung und die Entwicklung der Volksmärchen.
Alle Theorien von dem Ursprung und der Genese des Volksmärchens – von der mythologischen Schule über Migrationstheorie und anthropologische Theorie bis zur historisch-geographischen Methode, können in zwei Konzeptionen zusammengefasst werden:
Die erste Konzeption fand die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung und der Genese der Volksmärchen in der Migration (Migrationstheorie). Sie sieht die Erklärung der Übereinstimmungen im wesentlichen in der Wanderung der Erzählungen, sei es von Mund zu Mund, von Nachbarvolk zu Nachbarvolk (Benfey, finnische Schule), von Generation zu Generation (v. Sydow), sei es durch literarische Übertragung (Wesselski, Fehling u.a.).
Schon die Brüder Grimm haben einige Ähnlichkeiten der Märchen mit der Migration erklärt, sie haben ihr aber nur eine zweitrangige Stelle zuerkannt:
„Ich leugne nicht die Möglichkeit, in einzelnen Fällen nicht die Wahrscheinlichkeit des Übergangs eines Märchens von einem Volk zum andern, das dann auf dem fremden Boden fest wurzelt: ist doch das Siegfriedslied schon frühe in den hohen Norden gedrungen und dort einheimisch geworden. Aber mit einzelnen Ausnahmen erklärt man noch nicht den großen Umfang und die weite Verbreitung des gemeinsamen Besitzes: tauchen nicht dieselben Märchen an den entferntesten Orten wieder auf, wie eine Quelle an weit abliegenden Stellen wieder durchbricht? Wie die Hausthiere, das Getreide, Äcker-, Küchen- und Stubengeräte, die Waffen, überhaupt die Dinge, ohne welche das Zusammenleben der Menschen nicht möglich scheint, so zeigen sich auch Sage und Märchen, der befeuchtende Thau der Poesie, so weit der Blick reicht, in jener auffallenden und zugleich unabhängigen Übereinstimmung.“ (3)
Der erste Forscher, der die Wanderungstheorie vertreten hat, war Theodor Benfey. 1859 publizierte er seine Pantschatantra - Übersetzung – eine große Sammlung indischer Volkserzählungen. Damit führte er die indische Ursprungstheorie in die Märchenforschung ein, die besagt, dass fast alle europäischen Märchen dem indisch-buddhistischen Kulturkreis entstammen und von dort durch Wanderung über die Erde verbreitet worden seien. Etwa seit dem 10. Jahrhundert könne man dann von daher auch eine literarische und mündliche Verbreitung über Europa annehmen. Einige Jahrzehnte hindurch fanden Benfeys Auffassungen fast uneingeschränkt Zustimmung. Später wurde auch anderen Völkern die Kraft zu eigener Märchenbildung zugestanden. Die Wanderungstheorie als solche ist trotzdem einflussreich geblieben. Ihre eindrücklichste Auswirkung fand sie in der Ausbildung der historisch-geographischen Methode der Finnen und in deren Übernahme und Entwicklung durch Forscher vieler anderer Länder.
Die finnische Schule erreichte ihren Höhepunkt im 20. Jahrhundert, doch liegen ihre Ursprünge in den Jahren zwischen 1880 und 1890. Julius Krohn hatte sie praktisch begründet, und sein Sohn Kaarle Krohn ausgebaut und die Methode des Vaters, den Wert einer komparativen Untersuchung der Varianten mit einer Ordnung nach Zeit und Herkunftsort weiterentwickelt (4). In seiner Studie zur Kalevala schrieb Julius Krohn im Jahre 1884:
„Bevor ich zu einer wie auch immer gearteten Schlußfolgerung (Über die Genese eines Gesangs)“ komme, ordne ich sämtliche Fassungen in geographischer und chronologischer Sicht: nur so kann man die ursprünglichen von den später hinzugefügten Elementen unterscheiden“ (5)
Durch die historisch-geographische Methode erklärte die Finnische Schule in manchen Fällen, dass der Ursprung der Märchen auch bei anderen Völkern – im alten Ägypten, bei den Arabern, Kelten, alten Völkern des Mittelmeergebiets zu suchen ist, und die Märchen nicht nur aus Indien, sondern auch anderswoher nach Indien kamen und dass nach dem Ursprung und der Verbreitungsrichtung jedes einzelnen Märchens, also jeder einzelner Volkserzählung zu forschen ist. Es wurden alle erreichbaren (gedruckten und handschriftlichen archivierten, volkstümlichen und literarischen) Varianten eines Erzähltyps geographisch und, so weit möglich, chronologisch geordnet und miteinander verglichen.
Das Ziel der strengen Vertreter dieser historisch-geographischen Methode war es, durch den sorgfältigen Vergleich der verschiedenen Märchenfassungen eine Urform (einen Archetypus), von der alle vorliegenden Varianten abstammen, zu erschießen, deren Heimat und Entstehungszeit, die Eigenart und Geschichte der verschiedenen Lokaltraditionen festzustellen und so weit wie möglich die Wanderwege der Erzählungen aufzuzeigen. Gegen das methodische Vorgehen und gegen die Möglichkeit der Gewinnung einer Urform sind später einige Einwände vorgebracht worden, u.a. auch von Wesselski (6), der literarische Zusammenhänge und kulturelle Abhängigkeiten höher einschätzte als die mündliche Überlieferung und die umstrittene Konstruktion von „Urfassungen“ und „Archetypen“. Er bevorzugte die These, dass nur mit Hilfe literarischer Quellen Inhalte und Funktionen der Märchen im Mittelalter erschließbar seien. Für viele Märchen hat er selbst mittelalterliche Frühbelege ermittelt.
Die Finnische Schule wirkte in der ganzen Welt und gab den Anstoß zu einer umfangreichen Sammeltätigkeit und Katalogisierung der Märchen. Sie gründete die internationale folkloristische Organisation der Märchenforschung „Folklore Fellow“ 1907, welche die Bücherreihe „Folklore Fellow Communications“ herausgibt, und legte Märchenarchive mit reichem handschriftlichem Material in vielen Städten Europas (Helsinki, Uppsala, Stockholm, Göteborg, Kopenhagen, Oslo, Dublin, Paris, Marburg, Athen, Vilnius, Riga, Moskau usw.) an. Durch die komparative internationale Forschung erstellte sie internationale und nationale Typen- und Motivregister, nach denen gedruckte Erzählungen und archivierte Manuskripte gekennzeichnet und der Forschung zugänglich gemacht werden.
Antti Aarne schuf mit der geographisch-historischen Methode (vorwiegend auf Grund von finnischen, dänischen und deutschen Märchen) mit seiner 1910 veröffentlichten Systematik der Märchenforschung einen Ordnungskatalog „Verzeichnis der Märchentypen“ (7), das Stith Thompson unter dem Titel „The Types of the Folktale“ (1928) (8) ergänzte und später noch erweiterte. Das Werk präsentiert systematisch unter 2000 Nummern die am häufigsten verbreiteten Märchentypen des europäischen Raumes in kurzen Inhaltsangaben und Belegen und verweist auf die Unterschiede innerhalb eines Märchens und seiner Varianten. Das System Aarnes teilt die Märchen in drei große Gruppen ein: I. Tiermärchen, II. Eigentliche Märchen, III. Schwänke. Die Gruppe II der ”Eigentlichen Märchen“ wird in vier weitere Untergruppen aufgeteilt: A. Zaubermärchen, B. Legendenartige Märchen, C. Novellenartige Märchen, D. Märchen vom Dummen Teufel. Den einzelnen Typen sind Nummern beigegeben und nach diesen Nummern wird heutzutage zitiert (z.B. ATh 200 usw.). Das für den internationalen Vergleich gedachte Typenverzeichnis ATh stützte sich zunächst nur auf mittel- und nordeuropäische Texte: die „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM) der Brüder Grimm, die dänische Sammlung Svend Grundtvigs, das Material der finnischen Literaturgesellschaft. Aarne empfand die Quellenlage als unbefriedigend. Zwei Jahre nach dem „Typenverzeichnis“ veröffentlichte er eine Konkordanz seiner Klassifikation zu russischen, sizilianischen und griechischen Sammlungen.
Weit umfangreicher als das Typenverzeichnis der Märchen ist Thompsons Motiv-Katalog „Motif-Index of Folk-Literature“ (1955-1958) (9), in dem ungefähr 40.000 Einzelmotive der ganzen volkstümlichen Dichtung gesammelt werden. Typenverzeichnisse und Motivindex sind das Grundwerkzeug der Volkserzählungsforschung. Sie ermöglichen das geographische, aber auch bibliographische Auffinden der für das Textverständnis unerlässlichen Varianten. Vergleichende Volkserzählungsforschung und damit vergleichende Märchenforschung kann ohne sie nicht betrieben werden. Indem Aarne die Gattungen mit Erzähltypen verband und jedem Typ eine Nummer gab, machte er sein Märchenverzeichnis international vergleichbar und anwendungsbereit.
Die vergleichende Märchenforschung bewies aber manchmal, dass die Beziehungen, Austausche und Einflüsse nur einen Teil der internationalen Übereinstimmungen erklären und dass ähnliche Erscheinungen in der Volksüberlieferung auch ohne direkte gegenseitige Kontinuität entstanden sind. Die Komparatistik spricht in diesem Fall von den polygenetischen oder typologischen Analogien. Die Vertreter der Theorie der Polygenese (anthropologischen Theorie) verlegten den Ursprung der Märchen in die frühesten Zeiten der Völker. Die Tatsache, dass bei weit voneinander entfernten Völkern gleiche oder ähnliche Sitten, Riten, Glaubensvorstellungen und auch Erzählungen bestehen, führte sie zum Schluss, dass die Ähnlichkeit der über die Welt verbreiteten Volksmärchen nicht nur in der Wanderung von Volk zu Volk liegt, sondern in gleichen Grundbedingungen, -veranlagungen und -situationen (Eigenart und Entwicklung der menschlichen Seele, der Umwelt und der Auseinandersetzung mit dieser), welche zu ähnlichen Kulturerscheinungen führen. 1856 schloss Wilhelm Grimm seinen Anmerkungsband mit folgenden allgemeinen Betrachtungen:
„Die Übereinstimmung zwischen Märchen durch Zeit und Entfernung weit getrennter, nicht minder als nahe aneinander grenzender Völker beruht teils in der ihnen zugrunde liegenden Idee der Darstellung bestimmter Charaktere, teils in der besonderen Verflechtung und Lösung der Ereignisse. Es gibt aber Zustände, die so einfach und natürlich sind, daß sie überall wieder kehren, wie es Gedanken gibt, die sich wie von selbst einfinden, es konnten sich daher in den verschiedensten Ländern dieselben oder doch sehr ähnliche Märchen unabhängig voneinander erzeugen: sie sind den einzelnen Wörtern vergleichbar, welche auch nicht verwandte Sprachen durch Nachahmung der Naturlaute mit geringer Abweichung oder auch ganz übereinstimmend hervor bringen.“ (10)
Diese Grundtheorien der Märchenentstehung wurden oft gegenüber als Alternativen und als gegensätzliche Prinzipien „entweder - oder“ gestellt. Es wäre aber besser, sie im komplementären Verhältnis zu betrachten, dass sie nebeneinander stehen und sich gegenseitig ergänzen. Jede von ihnen hat einen anderen „Wirkungskreis“: In zwei benachbarten, ethnisch und sprachlich verwandten Völkern kommt die Migrationstheorie häufiger zur Geltung als bei den entfernteren Völkern. Einfache und Teilübereinstimmungen können von der Theorie der Polygenese abgeleitet werden, hingegen die komplizierteren Motivketten und größeren Gebilde von der Migrationstheorie. Es ist nicht richtig, diese Theorien nach einer Wertstufe zu ordnen und zu bestimmen, welche von ihnen besser oder schlechter ist, weil jede ein Stück Wahrheit, aber auch Mängel in sich beinhaltet. Keine kann hundertprozentig auf die Entstehung aller Volksmärchen angewendet werden, eben weil es unzureichende schriftliche Belege davon gibt, wie, wann und wo die Märchen entstanden sind, weil sie sich vor allem durch mündliche Überlieferung verbreitet haben.
Ein anderes Gebiet eröffnete die volkskundliche Komparatistik mit der Forschung der nationalen Besonderheiten und regionalen Eigenarten oder ethnischen Unterschieden in der Volksdichtung. Diese Forschung beschränkte sich auch vorwiegend auf die Märchen. Es geht im Grunde genommen um eine Differenzmethode, welche die abweichenden Züge in der Märchenüberlieferung verschiedener Völker sucht, und forscht, was für jeweilige nationale Märchentradition eigenartig und charakteristisch ist. Die Untersuchungen des nationalen Spezifikums der Volksmärchen bereicherte die volkskundliche Komparatistik hauptsächlich darin, dass sie alle ihre Elemente forscht, um zu klären, wo sich diese nationalen Eigenschaften äußern. Sie kommt also zu komplexeren Ergebnissen als die Stoffkunde. Diese Differenzmethode brachte aber sehr gute Ergebnisse. Sie verglich, konfrontierte und analysierte zwei Erscheinungen und untersuchte, was sie gemeinsam haben, z.B. dasselbe Motiv, Thema oder dieselbe Figur in unterschiedlichen benachbarten oder entfernten Märchentraditionen. So wurden untereinander russische und deutsche Märchen (August Löwis of Menar (11), deutsche und französische Märchen - Ernst Tegetthoff (12), Elisabeth Koechlin (13), Paul Delareu (14), Lutz Röhrich (15), russische und slawische Märchen - Jiří Polívka (16) verglichen und es kam zu breiteren Schlussfolgerungen über nationale Gliederung des europäischen Märchens. Als Ergänzungen seien hier genannt auch die Anmerkungen zu einzelnen Bänden der Märchen der Weltliteratur, so dass man den Besitz und die besondere Art dieser einzelnen Völker vergleichend erkennen kann (Anmerkungen zu den französischen Märchen von Ernst Tegetthoff, zu den österreichischen Märchen von Leander Petzoldt, zu den griechischen Märchen von Paul Kretschmer, zu den japanischen Märchen von Martin Block, zu den indischen Märchen von Johannes Hertel u.a.).
Diese Ergebnisse der komparativen Märchenforschung bereiteten den Boden für synthetische komparative Arbeiten vor, welche die Entwicklung der einzelnen nationalen Märchenüberlieferungen als Bestandteil des internationalen Prozesses betrachten. Die Deutungen von Stith Thompson (17), Friedrich von der Leyen (18), Lutz Röhrich (19) und Max Lüthi (20)gehen aus umfangreichen Teilergebnissen und –quellen hervor und beschreiben die europäische Märchentradition oder die Märchenüberlieferung in der Welt und betrachten sie als organisches, gegenseitig verbundenes, aber innerlich differenziertes Ganzes.
Auf der Grundlage einer universalen Quellenkenntnis entstand schon am Anfang des 20. Jahrhunderts das fünfbändige Werk Johannes Boltes und Georg Polívkas „Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm“ (1913-1932). Es gibt den Inhalt der Märchen nach den einzelnen Motiven an, z.B. das ganze Märchen besteht aus A, B, C, D und so weiter und manchmal aus A1, B1 ..., A2, B2 ... usw. Wenn nun ein deutsches Märchen etwa den Inhalt A, B, B1, C, D hat, so besteht ein anderes verwandtes Märchen (französisches, italienisches, slawisches usw. ) aus A1, C, D u.ä. Jahrzehntelang galt und im Grunde gilt es noch heute als eine „Bibel“ der vergleichenden Märchenforschung. Zu jedem Grimmschen Märchen werden hier die Quellen und bis zur Herausgabe des Werkes bekannte Varianten aus aller Welt nachgewiesen. Dieses Standardwerk bildet bis heute die Grundlage jeglicher komparatistischen Märchenforschung.
Ein sehr wichtiges Nachschlagewerk zur historischen und vergleichenden Erzählforschung ist die „Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung“ (21) Das Werk erfasst die mündlichen und literarischen Erzählformen Europas und der europäisch beeinflussten Kulturen wie auch die des mediterranen und asiatischen Raums. Es enthält auch allgemeinverständliche Beiträge international ausgewiesener Autoren über wichtige Märchen (Typen, Motive), Untersuchungen einschlägiger Quellenbereiche, Biographien von Forschern und Forscherinnen und Sammlern. Regionale Forschungsberichte, Überblicksdarstellungen über einzelne Länder sowie Darstellungen von Theorien und Methoden, von Gattungsfragen, Stil- und Strukturproblemen runden das Bild ab. Ziel dieser Enzyklopädie ist es, die reichen Sammelbestände des mündlich und schriftlich überlieferten Erzählguts von verschiedenen Völkern zu vergleichen und ihre sozialen, historischen und religiösen Hintergründe aufzuzeigen. Darüber hinaus werden auch die Vermittlungswege von Stoffen und Motiven anhand literarischer Quellen und der mit der mündlichen Überlieferung in Zusammenhang stehenden Dichtung verfolgt und die ständige Wechselbeziehung zwischen Literatur und Volksüberlieferung erklärt. Von Bedeutung sind auch das zweibändige unvollendete „Handwörterbuch des deutschen Märchens “ von Lutz Mackensen (22), „Märchenlexikon“ von Walter Scherf (23).
Die komparative Märchenforschung zeigte auch, dass in den Märchen bestimmte regelmäßige Tendenzen zu sehen sind. Alle Varianten eines Märchentyps enthalten gemeinsame charakteristische Merkmale. Sie lassen sich analytisch auf ein aus konstitutiven Elementen aufgebautes Handlungsgerüst reduzieren. Märchen verfügen über ein gewisses Personal (Handlungsträger, Helden, Gegenspieler, Helfer und Nebenfiguren) und die Requisiten. Einige Komponenten der Märchen sind stereotyp, andere ändern sich wiederum. Relativ stabile und feste Komponenten sind die Sujetschemen und stabile Handlungsfunktionen der Personen. Zu den variablen und sich ändernden Elementen gehören die Konkretisierung der Personen, der Umwelt und die Requisiten. Bei ihnen finden sich die auffälligsten regionalspezifischen Ausprägungen. Die natürliche Umgebung, die Landschaft, die Lebensgewohnheiten, die benutzten Gegenstände werden entsprechend dem jeweiligen Umfeld gestaltet, wobei das Lokalkolorit besonders bei außereuropäischen Märchen auffällig ist. Während es sich bei Personal und Requisiten um relativ leicht zu erkennende Eigenheiten handelt, sind strukturelle Eigenarten schwieriger zu analysieren. Die Struktur der Episoden und die Ausgestaltung der Motive unterliegen einer erheblichen Variabilität.
Die Analysen der Textgeschichte und der Märchenvarianten zeigen interessante Abweichungen und Variationen im Rahmen eines Märchentyps und machen deutlich, wie sehr sich die jeweils eigene Erzählkultur aus Elementen jeweils anderer Kulturen zusammensetzt. Die Einsicht in solche Prozesse kultureller Vermittlung kann helfen, die eigenen Traditionen besser einzuschätzen, und auch das Verständnis für fremde Kulturen zu vertiefen.
Literatur:
Anmerkungen:
1 Franz Bopp: „Über das Konjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache (1816)“, „Vergleichende Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Litauischen, Altslavischen, Gotischen und Deutschen“ (1833 - 1852), Über die Verwandtschaft der malaiisch-polynesischen Sprachen mit dem Indogermanischen (1841), Über die kaukasischen Glieder des indo-europäischen Sprachstammes (1847), Über die Sprache der alten Preußen (Berlin 1853), Vergleichendes Accentuationssystem (1854), Über das Albanesische in seinen verwandtschaftlichen Beziehungen (1855) u.a.
2 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Band 3, 1995, S. 405-414.
3 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Band 3, 1995, S. 406.
4 Kaarle Krohn: La méthode de M. Jules Krohn. In: Congrés Inter. Des Traditions Populaires, Paris 1889, Paris 1891, S. 64.
5 Zitiert nach Felix Karlinger: Grundzüge einer Geschichte des Märchens im deutschen Sprachraum, 1983, S. 101.
6 Wesselski, A.: Versuch einer Theorie des Märchens. 1931.
7 Aarne, A.: Verzeichnis der Märchentypen. Helsinky : Folklore Fellows Communications 3, 1910.
8 Aarne, A., Thompson S.: The Types of the Folktale, A Classification and Biography, FFC 74 1928, neue stark vermehrte Ausgabe FFC 184, 1961, Helsinki.
9 Stith Thompson:Motif-Index of Folk-Literature. Kopenhagen 1955-1958, Bd. 1-6.
10 Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, Band 3, 1995, S. 405
11 August Löwis of Menar: Der Held im deutschen und russischen Märchen, Jena 1964, S. 183.
12 Ernst Tegetthoff: Die Dämonen im deutschen und französischen Märchen, Schweizerisches Archiv für Volkskunde 24 (1923), S. 137-166.
13 Elisabeth Koechlin: Wesenszüge des deutschen und französischen Volksmärchens, Basel 1945.
14 Paul Delarue: Le conte populaire francais I, Paris 1957, S.34-46.
15 Lutz Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, Wiesbaden 1964.
16 Jiří Polívka: Úvodní a závěrečné formule slovanských pohádek, NVČ 19 (1926), S. 156-160, 209-218, 20 (1927), S. 1-6, 85-100, 181-200.
17 Stith Thompson: The Folktale, New York 1946.
18 Friedrich von der Leyen: Das Märchen, Heidelberg 1958.
19 Lutz Röhrich: Märchen und Wirklichkeit, Wiesbaden 1964.
20 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen, 1947.
21 Enzyklopädie des Märchens (1973-2007) ist ein Unternehmen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bis jetzt erschienen 12 Bände, geplant sind 14 Bände. Das Werk wurde begründet von Kurt Ranke, zur Zeit wird es herausgegeben von Rolf Wilhelm Brednich. Frühere Herausgeber: Regina Bendix, Max Lüthi, Lutz Röhrich, Rudolf Schenda.
22 Lutz Mackensen: Handwörterbuch des deutschen Märchens, I. Berlin – Leipzig 1930-1933, II. Berlin 1934-1940.
23 Walter Scherf: Märchenlexikon, Bd. 1-2, München 1995. Rund 500 alphabetisch nach Märchentiteln geordnete Minimonographien zu 150 eigenständigen Erzähltypen bzw. -komplexen mit umfangreichen Literaturhinweisen.
3.10. Komparatistik und Weltliteratur in der Epoche der Globalisierung
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-02-22