TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 3.2. Transcontinental Transfer of Literature and Arts to Transform Traditional Societies
Sektionsleiter | Section Chair: Hsia Adrian (McGill University, Canada)

Dokumentation | Documentation | Documentation


Rap als transkulturelle Ausdrucksform der Migrantenjugendlichen in Deutschland

Yüksel Ekinci-Kocks (Dortmund) [BIO], Enis Dinc (Salzburg) [BIO]

Email: y.ekinci@web.de und enisdinc@yahoo.com

 

Vorwort

Die Dortmunder Nordstadt hat 55.000 Einwohner.  Der Ausländeranteil im Stadtbezirk liegt bei etwa 42 %.  Während des Wirtschaftswunders siedelten sich hier viele Gastarbeiter an. Der multikulturelle Hintergrund prägt heute diesen Stadtbezirk. Durch die Schließung der Industrieanlagen entstand eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Die kulturelle und soziale Vielfalt der Bevölkerung führte zu wirtschaftlichen, sozialen und städtebaulichen Herausforderungen.

Laut PISA-Studien ist seit Mitte der 1990er Jahre in den meisten OECD-Mitgliedstaaten ein Anstieg der Migration zu verzeichnen. Auch die deutsche Schulstatistik belegt seit Jahrzehnten, dass Kinder und Jugendliche mit nichtdeutscher Staatsangehörigkeit – trotz bemerkenswerter Teilerfolge – auch nach einem halben Jahrhundert andauernder Zuwanderung im deutschen Bildungssystem schlecht abschneiden: Sie sind überproportional in der Hauptschule vertreten. Sie erlangen oft selbst den Hauptschulabschluss nicht, sie bleiben überdurchschnittlich oft ohne jede Berufsausbildung. Dieses ist auch in der Dortmunder Nordstadt zu beobachten. Es gibt in diesem Stadtviertel viele Jugendliche, die Schulabbrecher sind und anschließend auch keinen Ausbildungsplatz bekommen.

Um diesen Jugendlichen zu helfen oder von der Straße zu holen engagieren sich viele gemeinnützige Vereine und die Stadt Dortmund. Es gibt im Dortmunder Innenstadt-Nord- Bezirk einige Jugendfreizeitstätten, wie z.B. den Treff Konkret, den Verein Rund um den Hannibal, den Treff Blücherbunker – AWO (Arbeiterwohlfahrt). Diese Jugendtreffs bieten für die Jugendlichen verschiedene Kurse an, u. a. Hilfe bei Bewerbungsschreiben, Suche nach einem Ausbildungsplatz und verschiedene Freizeitangebote. Eines der Freizeitangebote lautet: Hip Hop.

Die Hip Hop Szene boomt seit einigen Jahren. Besonders im deutschsprachigen Raum ist zu beobachten, dass Migrantenjugendliche eine besondere Rolle in dieser Jugendkultur spielen. In diesem Aufsatz wird untersucht, woher das Interesse der Migrantenjugendlichen an dieser Jugendkultur kommt und welche Bedeutung sie für sie hat.

Wir besuchten Jugendfreizeitstätten im Dortmunder Norden und führten Interviews mit Sozialpädagogen, Sozialarbeitern, Projektleitern und Leitern der Teens- und Jugendtreffs, die diese Kurse betreuten und begleiteten, und mit Rappern selbst. Diese Interviews führten wir im Rahmen von offenen Fragen durch. In folgenden Jugendtreffs wurden Interviews durchgeführt: Treff Konkret, Treff Blücherbunker – AWO (Arbeiterwohlfahrt) und Verein Rund um den Hannibal. Wir bedanken uns bei den Sozialarbeitern, Sozialpädagogen und Projektleitern wie z.B.  Baki Gök, Niclas Meyer, Thomas Petschke, Said Bouyakoub und Thomas Rottstegge Last but not least bedanken wir uns bei den Rappern, die für Interviews bereit standen: Yahia Boukari, Irfan Akcadag, Ronald Hoppe, Giuseppe Guida, Hayri Nargili, Ferhat Caymaz, Gürkan, Hafit Bouslama, Muhammed Ferchichi, Corrado Vienci und Mona Ayba.

Dieser Aufsatz geht davon aus, dass Hip Hop eine transkulturelle Jugendkultur ist und seine Ursprünge in den USA hat, also nicht auf „deutschem Boden“ entstanden, aber durch Medien nach Deutschland übertragen und im deutschsprachigen Raum aufgegriffen worden ist.

In diesem Aufsatz wird folgenden Fragen und Themen nachgegangen: Die Ursprünge von Rap, seine Geschichte in den USA und Deutschland, Globalisierung und Glokalisierung des Raps und welche Rolle die Kulturindustrie bei der  Schaffung einer neuen Identität gespielt hat.

 

Ursprünge des Rap

Rap hat seinen Ursprung in den Vereinigten Staaten und ist ein Erbe musikalischer Ausdrucks- und Protestformen der afroamerikanischen Bevölkerungsgruppe. Im kreativen Spannungsfeld schwarzer Urheberschaft und weißer Aneignung konnten sich Stile wie der Blues im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, der Jazz um die Jahrhundertwende oder der Gospel gut zwei Jahrzehnte später popularisieren und kommerzialisieren, Anhänger und Nachahmer finden sich weit über die Vereinigten Staaten hinaus (Hüser 2004: 72). Jahrhunderte lang klagten die Afroamerikaner in ihren Liedern über Ausbeutung, Unterdrückung, Ausgrenzung und Rassentrennung. Musik war eine Ausdrucksform, welche zu  eigenen Geschichten und Weltentwürfen verhalf. Rap hat diese  älteren Rhetorik- und Musikpraktiken aufgenommen und gestaltete mittels modernster Techniken etwas völlig Neues daraus. Durch das Einsetzen von elektronischen Geräten, das Betonen der Dringlichkeit des Lokalen, Verwenden und Vermischen eingeführter Sounds und Stile öffnete Rap den Blick für Zukünftiges und bot eine kritische Bestandsaufnahme schwarzer Kultur. Blues als Klassik und Jazz als Moderne afro-amerikanische Musik zu beschreiben, meint zugleich, Rap einen Platz als postmodernem Abkömmling zuzuweisen. (vgl. Russel A. Potter 1995 : 18)

Aus der New Yorker Tanz- und Discoszene hat sich in der späten siebziger Jahre Rap als eigenständiges Musikgenre herausgebildet. Rap entwickelte sich in der südlichen Bronx, damals einem der heruntergekommensten amerikanischen Ghettos. Die improvisierten Arrangements aus „rhythmic music and rhymed lyrics“ fanden auf Anhieb breiten Anklang unter schwarzen Teenagern der New Yorker Außenbezirke. Auch unter hispanischen Jugendlichen  lateinamerikanischer oder karibischer Herkunft fand Rap große Resonanz.

In den 80er begann Rap sich national auszubreiten und politisch zu radikalisieren.  Kassenschlager auf Kassenschlager folgten in diesen Jahren.  Der subkulturell festive Charakter der Anfänge ging zurück, die Szene professionalisierte sich. Eine neue Generation betrat die Bühne. Die Szene wurde kritisch-intellektuell begleitet von einem anschwellenden Beobachter journalistischer oder akademischer Provenienz. Viele Bands klangen nun aggressiver, äußerten sich provokativer, forderten ultimativer als die Old School.  In Anknüpfung an die sechziger Jahre standen mit Gruppen wie Public Enemy bald die Rap-Referenz weltweit, „black power“ und „nation of islam“ auf der Tagesordnung, offen nationalistische Tiraden, bisweilen drapiert mit antijüdischen Auslassungen. Ohne das ganze Spektrum zu repräsentieren waren sie es, deren Kampfansagen die öffentlichen Debatten und deren Armeelook die Bilder über Rap in erster Linie bestimmten. (Hüser 2004:73)

Gegen Ende der 80er Jahre entstand in Campton und South Central, Problemvierteln von Los Angeles, der Gangsta-Rap. Die Lieder boten provokativ, konsequent konkret und mächtig männlich romantisch verklärte Geschichten über den Gangsteralltag im Ghetto und politische Schilderungen derber Alkohol- und Drogen-, Gewalt- und Sexexzesse. Frauen traten vornehmlich als „bitches“ in Erscheinung. Das Medieninteresse stieg, als der Ost- und Westküsten-Rap in handfesten Auseinandersetzungen mit tödlichem Ausgang endete. Lieder,  gefüllt mit Schimpfwörtern und gewaltverherrlichende Texte waren an der Tagesordnung. Sie stießen auf heftige Kritik von Jugendschützern, Eltern und Lehrern. Diese Ereignisse waren eher umsatzfördernd für die Kulturindustrie.

Der Hörerzuspruch war über die Vereinigten Staaten hinaus auch über die schwarze Fan-Gemeinde hinausgewachsen. In den späten 80er Jahren globalisierte und fragmentierte sich die Szene. Die Vorbilder wurden von anderen farbigen Minderheiten nachgeeifert, hispanische Rapper wie Kid Frost, Melow Man Ace oder El General verfassten zweisprachige Titel und profilierten sich als Leitfiguren einer  stetig anwachsenden Hip-Hop-Gemeinde unter Chicano- und Latino-Jugendlichen.  Weiße Künstler, eher milieuverhaftet wie die Beasty Boys oder –fremd wie Vanilla Ice feierten Riesenerfolge und potenzierten die Marktfähigkeit des Genres bei den zahlungskräftigen Kindern nicht-farbiger Mittelschichten. Immer mehr Frauen machten sich  aus der Perspektive als Schwarze und als Frau bemerkbar.

In den 90er Jahren hat die immer breitere Verankerung unterschiedlicher Rap-Trends deutlich gemacht, dass sie auch in der Zukunft für die afro-amerikanischen Jugendlichen, ob Künstler, Produzenten oder Fans, eines der maßgeblichen Ausdrucksmittel sein werden sowie ein potentieller Agent gesellschaftlichen Wandels.

 

Die Rap Geschichte in Deutschland

Hip Hop ging, und daran sind seine Produzenten ja interessiert, von den USA aus um die Welt und beeinflusste dort das Publikum. Parallel zu den USA etablierte sich Rap in den 80er Jahre im deutschsprachigen Raum. Der Anteil von jungen Migranten und von Leuten mit wenigstens einem Elternteil aus Afrika, Asien oder Südeuropa ist dabei auffallend hoch.

Das und auch die internationalen Kontakte zu anderen europäischen Rap-Szenen und zu US-Rappern lässt diese Posses angenehm weltoffen wirken. Man macht einfach, was man liebt und betrachtet es eher als Zufall, in Germany zu leben. An einen „deutschen Hip Hop“ denkt dabei niemand.

Rap bietet eine interessante musikalische Lösung für alle, die viel mitzuteilen haben. An diesem Problem hatten in Deutschland schon Ernst Toller, Kurt Eisner und auch Bert Brecht gearbeitet und mit ihren Sprechchören eine Lösung gefunden. Aber es scheint nicht in erster Linie der Mitteilungsdrang zu sein, der diese eher unpolitische Szene umtreibt. Der hohe Anteil an Einwanderer-Kindern ist jedoch ein Hinweis darauf, dass man Hip Hop hier als Minoritäten-Kultur rezipiert. (Jacob 1994 : 208f)

Migrantenkinder waren die ersten Pioniere der Hip Hop Szene. Advanced Chemistry sind „Deutsche“ – also Leute mit deutschem Pass -, bei denen ein Elternteil als Bürger anderer Staaten geboren wurde: Italien, Ghana, Haiti. „Fremd im eigenen Land“ wurde mehreren deutschen Plattenfirmen angeboten, die alle dankend ablehnten. Daher gründete Advanced Chemistry 1992 ein  Label namens MZEE-Records und brachte mit Fremd im eigenen Land die erste wirkliche Deutschrap-Veröffentlichung als Maxi-Single auf den Markt.  Der in Deutschland von ihnen empfundene Rassismus und die Identitätsfindung der gesellschaftlich benachteiligten Migranten wurden in dem Stück thematisiert.

1992 belegte die Gruppe „Die fantastischen Vier“ mit ihrer Single Die Da Platz 1 der Charts. Dieses sorgte für großes Aufsehen innerhalb der Hip Hop-Szene, da sie den Text in deutscher Sprache verfassten, die einfach Spaß machen sollte. Verleger war das renommierte  Plattenlabel Sony/Columbia. Dieses galt als erste Kommerzialisierung des Rap, welches damals der Rap-Philosophie nicht entsprach, da es in den USA eine „Keep it real is the deal“-Haltung gab, die gegen kommerziellen Verkauf war,  aber eigentlich faktisch schon längst überholt war.

Seit Beginn des Jahrtausends repräsentieren Rapper wie Kool Savas, Samy Deluxe, Bushido, Azad, Eko Fresh, Massiv und Alpa Gun die Migrantenjugendlichen in Deutschland. Seit 2000 dominieren insbesondere Migrantenjugendliche die deutsche Hip-HopSzene. Themen wie Arbeitslosigkeit, Chancenlosigkeit der Jugend, Rassismus, Drogen, Drogenhandel und Beschaffungskriminalität werden angesprochen. In den Texten werden soziale Brennpunkte thematisiert.

 

Globalisierung und Glokalisierung des Raps

Rap zeigt sich als transkulturelles Phänomen. Mit der Globalisierung der Medienkommunikation gehen verschiedenste kulturübergreifende Wandlungsprozesse einher.  Welsch hält bereits die mit dem Ausdruck Interkulturalität verbundene Primärbehauptung, es gäbe territorial definierte (National)Kulturen, mit dem Nationalstaat als Grenze, für die heute Zeit für nicht mehr zutreffend. Nach seiner Argumentation sind an die Stelle von „Kulturen alten Zuschnitts“, also National- oder Regionalkulturen, mit der Globalisierung von Medienkommunikation diverse „Lebensformen“ getreten. Diese Lebensformen oder Lebensstile machen nicht an den Grenzen der „alten Kulturen“ halt, sondern gehen „quer“ durch diese hindurch, weshalb sie auch mit den herkömmlichen Kulturkategorien nicht mehr zu fassen sind. Daher führt Welsch den Begriff Transkulturalität ein. (vgl. Welsch 2006, S. 63)

Im Fall der Medien bedeutet dies nach Luger, dass eine transkulturelle Medienforschung  ihre Aufmerksamkeit auf verschiedene Nationalkulturen übergreifende Transformationsprozesse lenkt. Er versteht dabei „die Beziehung zwischen Kultur bzw. Individuum und der Kulturindustrie nicht als Einbahnstraße, sondern als Interaktionsprozess und kulturellen Wandel und nicht notwendig als Beeinflussungsprozess“ (Luger 1994, S. 47). Kulturen werden nicht als „in sich geschlossen“ und „von außen durch Medien beeinflusst“ sondern selbst als mediatisiert, multiethnisch und stark differenziert nach Milieus, Lebensformen und ausgeprägten Lebensstilen begriffen. Luger schreibt, dass eine durch verschiedenste Kommunikationstechnologien vernetzte Welt die Vorstellung von separierten und autonomen Kulturen als irreal erscheinen lässt. Entsprechend greifen die eindimensionalen Ansätze der internationalen und interkulturellen Kommunikationsforschung auch zu kurz, indem in ihnen – gewissermaßen in Bezug auf Staat als Container – Kulturen als geschlossene Zusammenhänge begriffen werden, auf die global übertragene Medieninhalte „wirken“ worauf die jeweiligen Kulturen wiederum „reagieren“. (vgl. Luger 1994 : 46 f)

Auch Rap Musik bildet zugleich einen Bestandteil der globalen wie der lokalen Ordnung, sie ist beeinflusst durch die Medien. Global gesehen, sind es die weltweiten Zirkulationen kultureller Waren und Güter, Stile und Techniken, ohne deren Referenz keine lokale Rap-Szene auskommen kann. Die lokale Rap-Szene eignet sich die jeweils spezifischen Aneignungsformen an und „reagiert“ vor Ort. Aber vor Ort demonstrieren sie kulturelles Anders-Sein. Lokal bilden sich verschiedene Phänomene des Raps wie z.B. die spanische Gruppe Solo los Solo. Flamenco-Samples in ihren Songs charakterisieren ihren Stil als spanische Flamenco-Rap (vgl. Scholz 2004:59), in Deutschland zeigte sich türkisch/deutscher Rap als orientaler Hip Hop (vgl. Kaya 2001)

Lokal produzierte Produkte platzieren sich anschließend in globalen Märkten, wenn sie gut vermarktet werden. Auf dem Markt bildete sich eine Rap-Szene, die über national- wie regionalspezifischen Identitätsmustern, Migrationserfahrungen und Folgekonflikten einen eigenen Raum mit ur-amerikanischen Zügen nahm.

 

Rap von der Straße für die Straße

Bei den Interviews wurde festgestellt, dass Hip Hop nicht nur Musik ist, sie ist eine Lebensphilosophie, mit der man die Welt betrachtet und neu gestaltet. Die Rapper orientieren sich nach diesen drei Leitwerten: Competition, Respekt und Realness. Wichtig ist für die Migrantenjugendlichen Spaß, Ruhm und Anerkennung in der Szene. Das Echte, das Authentische und das Ehrliche zählen als wichtige Eigenschaften. Die Glaubwürdigkeit und die Originalität des Individuums sind von besonderer Bedeutung. Jeder muss seine ganz persönliche Kreativität beim Rappen vorzeigen. Dieses versuchen die Migrantenjugendlichen in Dortmund bei Wortduellen. Bei diesen Duellen machen sich gegenseitig herunter. Dieses Wortduell nennt man „battle“. Die Rapper  werden aus der Reserve gelockt durch  verschiedene Reime. Dabei geht es um verbales Runtermachen, welches in der Szene als „dissen“ bezeichnet wird. Beim „dissen“* geht es nicht um körperliche Gewalt, sondern in Form von Wettbewerb wird versucht den Anderen zu besiegen. Wer bei diesem battle gewinnt, verdient den entsprechenden Respekt.

Die Reimwörter der Rapper sind sehr kreativ. Sie sehen sich selbst als Entertainer und wollen mit ihren Reimen ihre Fans unterhalten. Sie sind das Sprachrohr der Musik und zugleich auch das Sprachrohr jener Leute, die sich in der Musik wiederfinden. Sie .rappen meist zu Themen aus ihrem ganz persönlichen Alltag. Es geht dabei nicht nur um migrationsspezifische Themen, sondern auch um Liebe, Trauer und Freundschaft, auch aus einer unmittelbaren persönlichen Betroffenheit heraus wird gerappt. Dieses sichert in der Hip Hop-Kultur die hoch gehaltene Authentizität. In der Hip Hop Szene muss man authentisch, also „real“ sein. Für die Rapper ist Hip Hop zum Lebensinhalt geworden. Ihre Sprüche, ihre Art sich zu kleiden und zu leben geben in der Szene den Ton an. In der Szene setzen sie die Trends – angefangen bei der Musik, über die Mode bis zum Szene-Jargon fort. Mit den Tracks, die sie „releasen“, den Texten, die sie reimen, den Marken, die sie tragen, den Medien, in denen sie präsent sind, prägen sie den Szene-Code und definieren den szenetypischen Lifestyle (vgl. Großegger, Beate und Heinzlmaier, Bernhard 2004: 34)

Bei den Interviews wurde deutlich, dass für die Rapper individueller Selbstausdruck, Gemeinschaftsgefühl, Kreativität und Spaß von besonderer Bedeutung sind. Die Jugendlichen in der Nordstadt von Dortmund wehren  sich gegen die Anonymität der Masse. Für sie ist  das Individuum wichtig, die Leistung des Einzelnen zählt. Einen besonderen Stellenwert hat auch die soziale Gemeinschaft. Freundschaft steht bei den Rappern im Vordergrund. Außerdem versuchen sie sich von ihrem Elternhaus abzugrenzen.

Da Hip Hop-Musik „street-culture“ ist, treffen sich ihre Mitglieder auf der Straße, in Szenelokalen und Clubs, auf Hip Hop Jams, Konzerten und Festivals. Draußen spielt sich die Szene ab, wer in der Szene ist, bleibt nicht zu Hause. Daher hat die Szene auch eine Sozialisationsfunktion.

Laut dem Projektleiter der AWO, Niclas Meyer, hat sich die ganze Straßenrapszene in den letzten 5 Jahren verändert. Plötzlich kamen in den Charts von VIVA und MTV Straßenszenen aus Berlin vor. Mit der sogenannten Straßenszene konnten sich die Migrantenjugendlichen zum ersten Mal wirklich identifizieren. Als der Straßenrap in Berlin anfing und die Leute erfolgreich waren, hatte die Straße auf einmal eine Stimme bekommen und „Rap von der Straße für die Straße“ war geboren.

 

Schaffung einer neuen kulturellen Identität und die Rolle der Kulturindustrie

Die kommerzielle Kultur der USA führte in sämtlichen Bereichen zu einer Veränderung der Alltagskultur der breiten Öffentlichkeit, zur gesellschaftlichen Modernisierung von Lebensvollzügen. Importiert wurden nicht nur Produkte US-amerikanischer Massenkultur, sondern auch Teile der amerikanischen Lebensart, als ideologische Vorreiter einer Verankerung der Konsumkultur, die in ihrem innovatorischen Charakter die Identitätsbildung nachhaltig beeinflusste. (Wagnleitner 1991:327ff , zit.n. Luger 1998:121) Dieser Prozess wurde vorwiegend über die Kulturindustrie, die Medien und die Werbung in Bewegung gebracht und begleitet.

Folgt man den Kulturindustriethesen Horkheimers und Adornos, beutet die Kulturindustrie die lokale Praxis systematisch aus, indem sie lokale kulturelle Stile in Ware verwandelt und über die Ware Kultur Bedürfnisse steuert und manipuliert. Kulturindustrielle Produktion und –distribution bringen die Option eines lokalen Hip Hop erst hervor, indem sie lokale Stile weltweit bekannt machen und damit die Voraussetzungen schaffen, neue lokale Praktiken des Hip Hop zu konstituieren und zu bestätigen. ( Klein, Gabriele und Freidrich Malte 2003: 89)

Horkheimer und Adorno beschreiben Kultur selbst als Industrie. Der „Inhalt“ des Kulturellen wird in Form von Geschichten, Bildern und Tönen, zunehmend zum Zwecke der Vermarktung, produziert. Außerdem erscheint Kultur durch Massenproduktion und –distribution zunehmend technologisch. Medien- und Kulturindustrie befördern die Zirkulation von Produkten, Bildern und Symbolen und werden damit auch zum Anlass für die Bildung neuer lokaler kultureller Praxisformen.

Die Kulturindustrie war Anlass dafür, dass die Migrantenjugendlichen eine neue kulturelle Identität bildeten. Hip Hop hat Industriezweige im Bereich Kleidung, Schuhe, Spraydosen, Musikalben etc. geschaffen. Vor dem Hintergrund der Globalisierung gerät eine vielschichtige Dialektik in den Blickwinkel. Sie entstammt sich auf verschiedenen Ebenen: zwischen Kulturproduktion der Migrantenjugendlichen und Kulturvermarktung, den Wertesystemen einer Dominanzkultur, aber auch zwischen Globalität und Lokalität, Universalismus und Partikularismus. In diesen Spannungsfeldern wird deutlich, dass die „Ghetto-Identität“ der Rapper sowohl als Protest als auch als Aktion gegen die ethnische Diskriminierung zu sehen ist. Die Kulturindustrie reagiert auf gegenkulturelle Entwürfe mit stereotypisierender d.h. entschärfender Vereinnahmung. Protest und Gegenidentitäten lassen sich gut vermarkten. Aber die  bestehenden Herrschaftsverhältnisse und die Kritik an den Migrantenjugendlichen bleiben gleich.

Der Kulturindustrie kommt es entgegen, dass Gewalt bei Rappern vorkommen kann, da Sensationsmeldungen sich gut an Verbraucher verkaufen lassen. „Anderssein“ wurde in den 80er Jahren als „multikulturelles Accessoire“ hinzugenommen.  Die „Multikulti-Debatte“ war der Wegbereiter für einen wenn nicht gänzlich neuartigen, so doch immer breiteren, schließlich massenhaften Konsum von Differenz.

Die Projektionen der Dominanzkultur lassen sich glänzend durch die globalisierte Kulturindustrie inkorporieren und neu einstellen. Heute wird Differenz nicht mehr vorrangig als unterschwellige Bedrohung repräsentiert (wie oft vergessen wird, auch das; man darf nicht vergessen, wie weit verbreitet ein biologistisches Verständnis von „Rasse“ auch heute noch ist- siehe exemplarisch die europäischen Fußballstadien, West und Ost). In der kulturindustriellen Indienstnahme, dies wird durch Werbung besonders deutlich, wird nunmehr Differenz und Anderssein als Medium für Genuss und Konsum neu inszeniert. Dies ist gerade angesichts des durch die neuen Technologien ermöglichten bzw. enorm beschleunigten „Identitäts-Designs“ von wachsender Bedeutung: Differenz wird zum – konsumierbaren! –„Abenteuer Identität“, die Kulturindustrie zur „Differenzmaschine“. (Scharenberg 2004: 35)

Als Beispiel gelten die Hip Hopper in Deutschland, bei denen Anfang der 80er Jahre ein hoher Anteil an Migrantenjugendlichen existierte. Hip Hop war zu Beginn keinesfalls national (deutsch oder türkisch) bezogen, sondern war Ausweg aus einer ethnischen und diskriminierenden Gesellschaft. Der Identitätsbezug der Jugendlichen war eine noch neue afroamerikanische Jugendkultur. Die Rapgruppen in Deutschland waren zu Beginn oft multinational und sahen in Hip Hop etwas, das ihrem eigenen Lebensgefühl sowie der Wahrnehmung in der deutschen Gesellschaft ähnelte: Musik als Artikulation einer diskriminierten ethnischen Minderheit. White Nigger Posse hieß 1994 der Vorläufer von Cartel. Der 1980 geborene Würzburger Rapper Cem Gözü Kara (Cem Kayabas) erklärte zum Namen Black Panters seiner früheren türkischen Gang: „Die Türken, die in Deutschland leben, haben das gleiche Schicksal wie die Schwarzen in den USA.“ Die Rapper sahen sich als Vorkämpfer und Vorbilder sozial Benachteiligter und lehnten jede Kommerzialisierung ihrer Musik ab. Die Texte waren in Englisch (Greve und Kaya 2004: 165)

Die sozial benachteiligte Schicht, aus der viele Rapper stammen, lebt sowohl in den USA als auch in Deutschland in von ihnen so genannten Ghettos. In Deutschland werden Ghettos als soziale Brennpunkte der jeweiligen Stadt bezeichnet. Bei den Interviews im  Dortmunder Norden kam deutlich heraus, dass in den Texten persönliche Erfahrungen im Stadtteil thematisiert werden. Dabei ist der Gedanke der Gemeinschaftlichkeit, der Gesellschaft von großer Bedeutung. Identität ist bei den Rappern verwurzelt in spezifisch lokalen Erlebnissen in ihren „Ghettos“. Die Lokalität – hier Dortmund Nord- wird betont. Orte sind eben, allem Gerede von dessen Virtualisierung entgegen, nicht beliebig austauschbar. So wird die durch die Globalisierung erzeugte Homogenisierung und Entwertung des Raumes durch die Herausstellung des lokal Spezifischen als Ideologie entlarvt. Das Lokale ist immer spezifisch, und nur durch das Spezifische lässt sich dem falschen Universalismus, dem eurozentrischen Globalismus etwas Gültiges entgegengesetzt (Scharenberg 2004:33). Also kreist im Hip Hop Identität um das Ghetto.

Oft wird vermutet, dass Migranten zwischen zwei Kulturen  stehen, fremd zu sein im „eigenen“ Land und „kein Zuhause zu haben“ (weder hier noch im Herkunftsland). Aber bei den erwähnten Interviews kamen durchaus andere Ergebnisse zutage. Die Jugendlichen fühlten sich in der Nordstadt (Dortmund) zu Hause. In Dortmund sind sie geboren, „das ist ihr zu Hause“. Im Herkunftsland Urlaub zu machen ist schön, aber nach drei Wochen ist es auch schön. „wieder zu Hause zu sein“.

 

Rap als transkulturelle Ausdrucksform und der Beitrag der Migrantenkinder

Es gibt verschiedene Ebenen, auf denen sich Jugendliche neben der musikalischen Attraktivität Rap angeeignet haben. Die Globalisierung von Hip Hop als zeitgenössische Form panafrikanischer „Negritude“ dient als Inspiration für andere ethnische und nationale Minderheiten, insbesondere in den Ländern des Westens, sowie als Medium für Protest(kultur). HipHop wurde bald nach seiner Entstehung von anderen AfrikanerInnen in der Diaspora, gerade in der Karibik, aber auch in den europäischen Metropolen, aufgegriffen. Rap ist internationalisiert, obwohl die Situation der Schwarzen  in den USA, in der Karibik und in Europa im Einzelnen sehr verschieden ist. Minderheit versus Mehrheit, Industrie – versus Entwicklungsländer, etc. (vgl. Scharenberg 2004: 39)

Es gibt Gemeinsamkeiten, wie z.B. Rassismus gegen Schwarze - Rassismus gegenüber Minderheiten. Die Elemente kollektive Ausgrenzung und Diskriminierung überschneiden sich. Die Schwarzen nannten sich mit Stolz unter dem Motto „Black is beautiful“  selber „Nigger“.  Bei ihnen wuchs aus Diskriminierung Selbstbewusstsein, welches sich zunehmend auch unter der jungen Generation der Deutsch-Türken abzeichnet. Völlig selbstverständlich nennen sie sich heute stolz „Kanaken“, was bis vor ein paar Jahren noch eine abschätzige Bezeichnung der Türken von Seiten der Deutschen war. (vgl. Becker 1996: 44) Hip Hop Bands nennen sich Stolz Kanacks with Brain oder KanAk. Feridun Zaimoglus Buch “Kanaksprak“ und die von ihm mitbegründete Bewegung „Kanakatak“ finden überall Erwähnung.

Betrachtet man die Migranten Hip Hop-Kultur vom deutschen Kontext aus, können sie als deutsche Subkulturen bezeichnet werden. Die ethnische Herkunft ist prägend. Die Merkmale dieser Subkultur sind die Stellung als Migrant/Minderheit sowie die Begegnung mit Rassismus in Kombination mit eigenen bestimmten kulturellen Fähigkeiten und Sprachwissen. In dieser dargestellten Jugendkultur können Migrantenjugendliche ihre Besonderheit ausleben. In dieser Subkultur übernehmen sie die Rolle des „Insiders“, während sie in vielen anderen Bereichen aufgrund von Stigmatisierung im Nachteil sind (vgl. Weber-Menges 2005: 301)

Charakteristisch für diesen Rap ist, egal ob in türkischer oder deutscher Sprache, dass migrationspezifische Themen aufgegriffen werden (vgl Kaya 2001: 118). Rapmusik, die in den 95er Jahren veröffentlicht wurde, thematisierte noch nicht in dem Maße das Straßenleben und bot noch nicht die Identifikationsmöglichkeiten für Migrantenjugendliche. Später nahmen sie  den deutschen Hip Hop an und feierten ihn, da sein besonderes Image bei den Jugendlichen angekommen war. Für sie kam es so rüber wie: „Da singt jemand, der spricht wie ich“.  Eine positive Identifikation fand statt. Diese Migrantenjugendlichen hatten eine Sonderrolle und waren manchmal Außenseiter. In der Wahrnehmung fand eine Identifikation mit der eigenen Rolle statt, dabei spielte die Sprache auch eine entscheidende Rolle. Die Sprache hat zwar eine Rohheit, aber sie war  trotzdem salonfähig geworden.

Die erlebte Diskriminierung spiegelt sich in ihren Liedern wieder. Sie bringen ihre Angst, aber auch den Widerstand, den sie in sich spüren, in ihrer Musik zum Ausdruck. Das durch die Rap-Musik entstandene neue Selbstbewusstsein ergibt  unter den Migrantenjugendlichen, wie auch bei den Interviews erlebt, ein „solidarisches“ Miteinander. In dieser neu erschaffenen Welt sind sie „Insider“  und nicht mehr „Außenseiter“.

„Verbal Duelling“  beim Rappen bietet ihnen eine zunehmende Abwendung von der Schriftsprache und wird dadurch auch für kulturelle Praktiken von Migrantenkindern anziehend. Die Migrantenjugendlichen, die aus dem „Orient“ kommen, besitzen eine traditionelle Erzählkultur. Daher ist „der Sprechgesang“ auch ihrer Herkunftskultur ähnlicher und passend zu ihrer Gefühlswelt.

Plötzlich wurde den Jugendlichen eine Stimme gegeben. Rap diente als Sprachrohr der Migrantenjugendlichen in einer Welt, in der sie früher nicht vorkamen, aber jetzt endlich die Chance hatten von der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Auf der Suche nach sich selbst schufen sie eine neue kulturelle Identität. Durch ihre Musik heben sie sich von der Masse ab, sie werden zu etwas „Besonderem“

Die Migrantenjugendlichen der zweiten Generation sind mehrheitlich den unteren sozialen Schichten zuzuordnen. Das Selbstverständnis, ein Musikinstrument zu erlernen, das durch Erziehung und Sozialisation geprägt wird, ist in jenen sozialen Schichten, aus denen die meisten jugendlichen Migranten kommen,  kaum existent. Ein wesentlicher Aspekt dabei ist, dass der Kauf und das Erlernen von Instrumenten mit Kosten verbunden ist (Lehrer, Notenmaterial etc.)  (Bailer 1995: 158) Beim Rappen braucht man nicht unbedingt ein Instrument, weil die Stimme und der Sprechgesang das Hauptwerkzeug sind.

Die genannte gesellschaftliche Benachteiligung kann bei Migrantenjugendlichen als Referenzpunkt wirken. Der dominanzkulturellen Ausgrenzung bzw. Marginalisierung der (Perspektive der) Zugewanderten wird der (diskursive) Kampf angesagt. Die an die Rand gedrängten Migrantenjugendlichen werden endlich sichtbar, können sich selbst behaupten. Trotz Gemeinsamkeiten bildete sich in Deutschland ein eigenständiger Rap, und immer entwickelte sich ein „Prozess einer grenzüberschreitenden Transkulturalität“, in dem kulturelle Symbole und Zeichen aufgegriffen, aus ihrem Ursprungszusammenhang herausgelöst und neu situiert werden, wodurch wiederum neue Kulturträger geschaffen und andere, neue Bedeutungen konstituiert und multipliziert werden (Scharenberg 2004: 41). Im transnationalen Prozess bilden sich beim Aneignen musikalischer Produktionen immer neue lokale Formen heraus. In dieser immer wieder Neues hervorbringenden Aneignung liegt, Dick Hebdige zufolge, das egalitäre und demokratische Potenzial dieser und anderer inter- bzw. transnationaler Musik-und Jugendkulturen begründet. (Hebdige 1999, zit. n. Scharenberg 2004 : 42).

Die Gangstarapper dominieren den Hip-Hop-Markt in der Gegenwart und das nicht nur in Deutschland. In der Öffentlichkeit entstand wegen den Inhalten, die im Gangsta Rap behandelt werden, eine heftige Diskussion. Es schloss sich eine Debatte über das Aggressionspotenzial der deutschen Rapszene in den Medien an. (vgl. Schönebäumer 2007: 14)

Schönebäumer weist darauf hin, dass Beleidigungen und Zoten in der Rapmusik nicht mehr Teil des Spiels mit ritualisierten Überbietungstaktiken sind, sondern eher Ausdruck eines diffusen Hassgefühls. Ästhetische Kategorien würden bei der Vermittlung längst keine Rolle mehr spielen. Als Rapper Bushido Kritik von der Schwulverbänden erhielt, konterte er die Kritik mit der Erklärung, dass es sich um Missverständnisse handele. Schönebäumers Ansicht ist, dass  es sich um eine übliche Flucht aus der künstlerischen Verantwortung gegenüber einer zumeist minderjährigen Konsumentengruppe, die menschenverachtende Aussagen als authentische  Spiegelung ihrer Lebensumstände interpretiert, handelt. Das ist ein Teil der Marketingstrategie, damit kommerzieller Erfolg garantiert ist, werden Themen behandelt, die verkaufsträchtig sind. Ziel ist es eine hohe Anzahl von CDs zu verkaufen, und das mit allen Mitteln. Vor allem haben diejenigen Rapper viel Aufmerksamkeit bekommen, die selbst in Gewaltaktionen wie Schlägereien verwickelt waren. Die Verherrlichung von Drogenkonsum und Gewalt wird immer wieder in den Medien kritisiert. Gerade dieses Genre beherrscht den Markt.

An die Stelle der alten Ideen von Widerstand, Solidarität und Klassenkampf sind der Konsum und das Leistungsprinzip getreten. Statussymbole wie Goldketten, teuere Autos, Kleidung und Frauen sind wichtiger geworden.  Sexualität und Aggressivität sind wesentliche Elemente in den  Texten und Videos der Rapper. Aber finden in sozialen Brennpunkten wirklich Sexorgien und bunte Drogenpartys statt oder sind das Fantasien von pubertierenden Jungs? (vgl. Güngör Murat : 2006: 82). 

 

Fazit

Die Forschungsfrage lautete, woher das Interesse der Migrantenjugendlichen an dieser Jugendkultur kommt und welche Bedeutung sie für sie hat. Die durchgeführten Interviews mit Rappern und Sozialarbeitern unterstützen unsere These, dass Hip Hop und Rap ein hohes Identifikationspotential für die Migrantenjugendlichen bieten und ihnen helfen, sich eine neue kulturelle Identität in Deutschland zu konstruieren.

Die Migrantenjugendlichen greifen migrationspezifische Themen auf. Thematisiert wird dabei ihr Gefühl mit zwei Kulturen zu leben. Sie sind weder marokkanisch, italienisch, türkisch oder deutsch. Sie versprachlichen ihre  Ausgrenzungs- und Diskrimierungserfahrungen wie ihre afroamerikanischen Vorgänger in den USA. Sie tauchen in die Welt der Hip Hop ein, in der es normal ist, sich zwischen Globalität und Lokalität zu bewegen. Sie müssen sich in ihrer Musik zu keiner Seite bekennen. Über die Identitätsfrage hinweg schaffen sie sich einen neuen Bewegungsraum, in dem sie sich wohl fühlen. Sie wandeln ihre Ratlosigkeit in etwas Positives um, indem sie sich einfach eine neue Patch-Work- Identität gestalten. Viele Rapper sind  in ihrem Herkunftsland nicht mehr Marokkaner, Tunesier oder Türke und in Deutschland keine Deutschen, obwohl sie einen deutschen Pass besitzen und hier geboren sind. Zwar sind sie hineingewachsen in ihre Herkunftskultur, aber da sie nicht im Land ihrer Eltern aufgewachsen sind, fehlen ihnen einige kulturelle Codes. In Deutschland bzw. hier in der Dortmunder Nordstadt sind sie konfrontiert mit vielen Kulturen und lernen seit der Kindheit in interkulturellen Zusammenhängen. Andere Kulturen sind für diese Migrantenjugendlichen keine Bedrohungen, sondern sie haben sich mehr oder weniger unbewusst Kommunikations- und Interaktionsregeln derjenigen Kultur angeeignet, in der sie ihren Lebensmittelpunkt haben. Die ursprünglichen Kulturmuster, die sie von ihren Eltern erhalten, sind schon längst durchdrungen mit anderen Kulturen, die Lebensstile sind multiethnisch und multikulturell. Identitäten, die in multikulturellen Gesellschaften und im Rahmen interkultureller Begegnungen ausgehandelt werden, stellen somit einen Sonderfall jener „Patchwork –Identitäten“ dar, die laut Keupp Et Al (1999)  (zit.n. Erll Astrid und Gymnich Marion 2007 : 72) generell als charakteristisch für Identitäten in der spätmodernen Gesellschaft gelten. Die Identität jedes Individuums ist zu einem beträchtlichen Grad durch dessen kulturelle Herkunft geprägt, wenngleich natürlich jedes Individuum die kulturellen Einflüsse in eigener Weise verarbeitet. Für die Entwicklung der Identität – dies zeigten die Interviews deutlich -  hat die Rapmusik eher  Auswirkungen, die gerade wichtige Bedürfnisse der Migrantenjugendlichen  stillen.

Für die Kulturindustrie spielen die Migrantenjugendlichen eine besondere Rolle, weil sie ein großes Vermarktungspotenzial bieten. Sensation und „Anderssein“ ist gefragt und gewünscht, da  Geschichten gebraucht werden, die gut zu vermarkten sind. Träume werden wahr,  aus dem „Nichts“ wird „etwas Besonderes“.

Rapper, die den finanziellen Durchbruch geschafft haben, werden von der Kulturindustrie hoch gepuscht, da sie die Rolle der Hoffnungsträger für die Migrantenjugendlichen übernehmen. Ideale früherer Generationen wie Widerstand und Kampf gegen das System sind bei sehr vielen Jugendlichen nicht zu beobachten, eine konsumorientierte und apolitische  Jugend hat den Platz in der Gesellschaft eingenommen.

Proteste und Gegenidentitäten lassen sich gut vermarkten. Aber die  bestehenden Herrschaftsverhältnisse und die Kritik an den Migrantenjugendlichen bleiben gleich und werden sich in der Zukunft auch nicht so leicht ändern.

Mittlerweile ist aus der Szene ein großer Markt entstanden. Dabei ist es für die Hip Hopper eine große Herausforderung, authentisch zu bleiben und  zugleich viel Geld zu verdienen.

 

Literaturverzeichnis

 


Anmerkungen:

* Dissen ist ein im Hip Hop gängiger Begriff , der von „disrespect“ (Missachtung) hergeleitet und mit „verbal runter machen“ übersetzt wird. „Dissen“ steht für verbale Aggression, die in den Wortgefechten der Rapper („Battles“) richtig inszeniert wird. Die aggressive Sprache dient jedoch nicht dazu, aggressive Handlungen anzukündigen. Sie ist vielmehr ein Mittel, um Aggressionen zu kanalisieren. Verbale Aggression hat hier also durchaus ein spielerisches Moment.


3.2. Transcontinental Transfer of Literature and Arts to Transform Traditional Societies

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INST

For quotation purposes:
Yüksel Ekinci-Kocks und Enis Dinc: Rap als transkulturelle Ausdrucksform der Migrantenjugendlichen in Deutschland - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/3-2/3-2_ekinci-kocks_dinc17.htm

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