Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 6.8. | Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier) |
… eorum capita sacra fiunt (1)
Notorietät und Reichsacht im 16. Jahrhundert
Andreea Badea (Münster) [BIO]
Email: badea11a@googlemail.com
Die verheerendste Folge der Acht im Alten Reich war, dass „Leib vnd Gut“ (2) des Ächters – des Geächteten – allen zur Verfügung gestellt wurden. Es stand demnach grundsätzlich jedem offen, eine Strafe festzulegen und diese zu exekutieren (3). Giorgio Agamben sieht – auch wenn es nur selten zu einem solchen Schritt kam – die Ächtung als Erlaubnis zur Tötung des Ächters, ja sogar als Verkündung seines Todes und zieht damit eine Parallele zum homo sacer (4). Die Doppeldeutigkeit des Begriffs sacer in den Mittelpunkt setzend, verortet Agamben diesen in „engste[r] Symbiose mit dem Tod“, ohne ihn allerdings schon „der Welt der Verstorbenen“ zuzurechnen (5).
In den Zustand von Recht- und Schutzlosigkeit, den die Reichsacht verursachte, konnte nur derjenige versetzt werden, der nach dem Ende eines gerichtlichen Verfahrens schuldig gesprochen wurde. Das Recht zur Verkündung der Acht stand allein dem Kaiser und seit 1495 dem in seinem Namen urteilenden Reichskammergericht zu. Der Kaiser war aber nicht nur oberster Richter, sondern verfolgte auch eigene politische Interessen. Es stellt sich deshalb die Frage, inwiefern er in der Lage war, unter bestimmten politischen Voraussetzungen Ausnahmen vom Recht zu schaffen und die Fiktion von der Implementierung dieser rechtsfreien Räume in das Recht aufrecht zu erhalten (6), um sein Agieren zu legitimieren. Dafür soll auf das Beispiel des notorischen Sachverhalts genauer eingegangen werden.
I. Die Übernahme des Notorietätsbegriffs aus dem kanonischen Recht
In der ersten Hälfte des Jahres 1543 ließ der Kölner Kurfürst und Erzbischof Hermann von Wied eine Reform der Kirche seines Erzstifts (7) durchführen. Allerdings waren nicht Kölner Theologen (8), sondern der protestantische Straßburger Prediger Martin Bucer mit der Ausarbeitung beauftragt (9). Der Widerstand des romtreuen Domkapitels regte sich schnell, bereits eine Woche nach der Ankunft Bucers in Bonn am 17. Dezember 1542 begehrten die Kanoniker gegen dessen Anwesenheit im Territorium auf (10).
Das Vorhaben des Kurfürsten und sein Festhalten an Martin Bucer als zentraler Figur der Kölner Reformation führten zu einem Konflikt zwischen Erzbischof und Domkapitel, der erst 1547 mit Hermanns Entfernung aus dem Amt beigelegt werden sollte.
Der politischen Präponderanz des Kurfürsten unterlegen (11), sahen sich die opponierenden Kapitulare gezwungen, auf rechtliche Mittel zurückzugreifen, um sich im Erzstift durchzusetzen. Sie appellierten am 9. Oktober 1544 an Kaiser und Papst (12) und legten somit die Entscheidung des Streits – und damit auch die Bestrafung Hermanns von Wied – in deren Hände.
Kaiser Karl V. nahm sich des Konflikts als Richter an, der Kölner Fall tangierte aber auch seine eigenen politischen Interessen: Ein im Sinne Bucers reformiertes Kurköln hätte das konfessionelle Gleichgewicht im Kurkolleg verschoben, ein Umstand, der langfristig die Wahl eines katholischen Kaisers – und somit auch eines Habsburgers – eher unwahrscheinlich gemacht hätte. Zudem lagen die Erblande Karls V. in der Kölner Erzdiözese, weshalb der Kaiser befürchtete, dass seine eigenen Territorien sich der Reformation Hermanns hätten anschließen können (13). Um ein langwieriges Gerichtsverfahren zu vermeiden, versuchte Karl V. alle Möglichkeiten einer effizienten Lösung vorher auszuschöpfen.
Im Sommer des Jahres 1545, als diese Überlegungen zunehmend Kontur gewannen, befand sich Karl V. auf dem Reichstag in Regensburg. Anschließend plante er, in die Niederlande zu ziehen. Und dieser Weg führte ihn über Kurköln – eine gute Gelegenheit, den Kölner Streit beizulegen. Der Kaiser hatte vor, Hermann von Wied gefangen und mit in seine Stammlande zu nehmen, Kurköln sollte dann der Administration des Koadjutors Adolf von Schauenburg unterstellt werden (14). Dem Plan fehlte allein die juristische Grundlage, derer es bedurfte, wollte Karl V. den Konflikt um Hermann von Wied nicht zu einem Reichskonflikt machen. Eine juristisch nicht abgesicherte Festnahme des Kölners hätte aber vermutlich nicht nur die Opposition der diesem nahe stehenden protestantischen, sondern auch der katholischen Reichsstände mit sich gebracht. Man hätte dies als Angriff auf die ständische Libertät und die kurfürstliche Präeminenz Hermanns von Wied ausgelegt. Der Kaiser war in diesem Punkt zusätzlich durch den Artikel 22 seiner Wahlkapitulation von 1519 gebunden (15). Er hatte sich dazu verpflichtet, niemanden in die Reichsacht zu versetzen – wodurch eine Gefangennahme gerechtfertigt hätte werden können – ohne ihm zuvor eine Vorladung zukommen zu lassen, ihm eine Anhörung zu gewähren und das Achturteil zu verkünden. Allein aus politischer Sicht sprach allerdings der Umstand, dass Karl über Köln in die Niederlande reisen wollte, für die Festnahme. Um diese Ausnahme von der Wahlkapitulation, welcher der Charakter eines Vertrags zukam, legitimieren zu können, nutzte Karl V. die Doppelstellung Hermanns von Wied als Reichsfürst und Erzbischof. Er setzte sich über seinen Beichtvater und die päpstlichen Nuntien mit der Kurie in Verbindung und bat um eine Vollmacht Pauls III., Hermann von Wied wegen notorischer Ketzerei und Rebellion festzunehmen (16).
Eine päpstliche Zustimmung, die Tatbestände Ketzerei und Rebellion mit dem Zusatz notorisch zu versehen und als Begründung der Festnahme anzuwenden, hätten dem Kaiser einen Rechtsbegriff an die Hand gegeben, der bis dahin allein dem kanonischen Recht bekannt war.
Seit Innocenz III. gehörte Häresie zu den Sachverhalten, die mit dem Attribut notorisch versehen werden konnten und damit unmittelbar, ohne gerichtliches Verfahren, die Strafexekution gegen den Betroffenen nach sich zogen (17). Dementsprechend war derjenige einer notorischen Tat schuldig, dessen Vergehen dem Gericht hinreichend bekannt war. In solchen Fällen bedurfte es weder der Anklage (18) noch der Beweisführung oder einer Zeugenaussage(19). Besonders wenn ein möglicher Prozess langwierig oder Aufsehen erregend zu werden versprach (20), konnte er umgangen werden, indem nach Feststellung des notorischen Fehlverhaltens sofort die Exkommunikation oder Amtsenthebung verhängt wurde (21).
Dieses Recht, im Falle von allen bekannten und offenkundigen Verstößen gegen die Ordnung sofort zur Bestrafung überzugehen, beanspruchten die Päpste bereits seit dem Frühmittelalter für sich (22). Die intensive Auseinandersetzung der mittelalterlichen Glossatoren mit diesem Thema führte zu einer detaillierten Differenzierung des Begriffs und seiner verschiedenen Spielarten bis zum Ende des 15. Jahrhunderts (23). Seine schärfste Form, das notorium facti permanentis, trat ein, wenn der Beschuldigte seine strafbare Handlung nicht einstellte, beziehungsweise wenn er in seiner strafbaren Haltung verharrte (24). In diesem Fall galt die Verfolgung eines gerichtlichen Verfahrens von der Ladung bis zur Urteilsverkündung als überflüssig, weil einem solchen Beschuldigten nicht eingestanden wurde, über überzeugende Verteidigungsargumente zu verfügen, weshalb die Strafe gegen ihn sofort exekutiert werden konnte (25).
Im Fall von Hermann von Wied gewährte der Papst die Exekutionsvollmacht und machte auch keinen Hehl daraus, dass ihn allein die Entfernung Hermanns aus dessen Ämtern interessiere. Wie dies geschehen sollte und wie mit ihm umzugehen war, blieb dabei vollkommen dem Kaiser überlassen (26). Und Karl V. wiederum wahrte Paul III. gegenüber den Anschein, die Vollmacht nur „per esser sicura in conscientia” zu benötigen (27). Es sollte der Eindruck entstehen, er wolle lediglich im Einvernehmen mit dem Papst auf kanonisch gesicherter Grundlage handeln und nicht als Exekutor eines kurialen Urteils auftreten. Deshalb wird auch von kaiserlicher Seite darauf hingewiesen, dass Karl genügend eigene Gründe habe, um gegen den Kölner vorzugehen. Dazu gehörte die Gefährdung, die dessen Reformation für die eigenen Habsburger Erblande darstelle (28). Zudem hätte ein zwangsläufig öffentlichkeitswirksamer Prozess die protestantischen Reichsstände, allen voran die Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes, aufmerksam gemacht. Nach Karls Einschätzung hätten sie darin eine religiöse Motivation erkennen und die Strafvollstreckung behindern können. Dies hätte wiederum zur Folge, dass sie vorzeitig Kenntnis von den kaiserlichen Rüstungen gegen sie erlangen hätten können. Eben weil bereits Vorbereitungen für den Krieg gegen die Schmalkaldener getroffen seien, könne man Hermann nicht mehr den Prozess machen. Deshalb sei die weniger Aufsehen erregende, weil schnelle, Festnahme ein eher geeignetes Mittel, den Kölner Konflikt im Sinne Roms und des Kaisers zu lösen (29). Dass es sich bei diesem Versuch, den Notorietätsbegriff aus dem kanonischen Recht zu übernehmen, um einen politisch motivierten handelte, liegt auf der Hand. Jedoch beabsichtigte Karl V., es nicht bei diesem einen Fall zu belassen. Gelänge es ihm, den Rechtsbegriff der Notorietät nicht nur einmalig gegen Hermann von Wied anzuwenden, sondern ihn zu implementieren, so eröffnete sich ihm die Möglichkeit, auch andere politische Gegner aus ihren Positionen zu entfernen, ohne dabei die Wahlkapitulation de jure zu brechen. Damit wäre die Ausnahme von dem bis dahin gängigen – und von den Reichsständen gewahrten – Recht zur Regel worden. Ausgehend von einem eher beiläufig formulierten päpstlichen Vorschlag, bei Bedarf einzelne Vollmachten auch für andere Reichsfürsten erteilen zu wollen (30), verlangte der Kaiser eine Art Generalvollmacht für alle späteren Fälle von territorialen Kirchenreformen, die sich gegen die katholische Kirche in Rom richteten. Geradezu verlockend musste die Begründung dafür klingen: „per non perdere, col tempo del scrivere et andar sù et giù, la occasione di poter far delli effetti“, und dies alles nur „ad benefico della religione“ (31). Er hätte so mit Einverständnis Pauls III. die Möglichkeit gehabt, die Bestimmungen der Wahlkapitulation systematisch zu umgehen, ohne allerdings weiterhin der päpstlichen Zustimmung zu bedürfen. Darüber zu entscheiden, wer sich fortan eines notorischen Tatbestandes schuldig machen sollte, lag nach diesem Konzept allein in der Kompetenz des Kaisers. An der Kurie ging man zwar auf diesen Vorschlag nicht weiter ein, und auch der Kaiser beließ es vorerst bei dem Versuch, die weitere Entwicklung in der Anwendung des Notorietätsbegriffs sollte aber zeigen, dass dennoch Wege gefunden wurden, Rom bei solchen Entscheidungen auszuschließen.
Kaiser und Kurfürst trafen am 15. August 1545 aufeinander, zu einer Festnahme kam es allerdings nicht. Ob dies daran lag, dass die päpstliche Vollmacht zwar zu Karl unterwegs war, ihm aber noch nicht vorlag (32), oder ob es vielmehr mit den hessischen Truppen, die in unmittelbarer Nähe des Treffpunkts stationiert waren (33), in Verbindung zu bringen ist, muss dahingestellt bleiben. Dem Kaiser gelang es jedenfalls nicht, die geplante schnelle Lösung des Kölner Konflikts herbeizuführen.
Der Kaiser sah sich nun gezwungen, das Verfahren gegen den Kölner einzuleiten; zwei Tage nach dem Treffen mit Hermann ließ er diesem die Ladung insinuieren (34). Darauf folgte ein Prozess, dem der Kurfürst auszuweichen versuchte, da er darauf bestand, dass der Kaiser nicht die geeignete Instanz sei, um in seinem Fall ein gerichtliches Urteil zu fällen. Er verlangte, sich vor einem Generalkonzil rechtfertigen zu dürfen (35).
Am 26. Januar 1546 beendete Karl das gerichtliche Verfahren mit der Ächtung des Kölner Kurfürsten durch die Declaratoria Sententia et Decretum cum Insertatione Mandati Executorii Poenalis (36). Er begründete diese Entscheidung mit Hermanns notorischem Verstoß gegen das Wormser Edikt. Damit stand die Ächtung zwar am Ende eines gerichtlichen Verfahrens, weil aber die Gefahr bestand, dass der Kurfürst die Suspendierung des Prozesses aufgrund von Formfehlern verfolgen könnte (37), bediente man sich des Notorietätsbegriffs, um das Urteil zusätzlich abzusichern. Damit konnte eine juristische Erklärung für die Abwehr einer potentiellen Kritik am Prozessverlauf geboten werden. Interessant an diesem Feststellungsurteil ist aber auch, dass Karl V. die Notorietät nicht, wie im Sommer zuvor, an eine bestimmte Strafe, die Gefangennahme, knüpfte, sondern an die Reichsacht, womit die Form der Strafe dem jeweiligen Exekutor überlassen wurde.
Aufgrund der Sententia declaratoria vom 26. Januar 1546 und des anschließenden Exkommunikationsurteils (38) wurde der Kölner Koadjutor, Adolf von Schauenburg, am 11. Dezember 1546 in Lüttich zum Administrator des Erzbistums ernannt (39). Dass dem am 24. Januar 1547 der Treueid der weltlichen Landstände an Adolf von Schauenburg folgte (40), ist zwar juristisch gesehen eine Konsequenz der Sententia declaratoria, de facto hing sie aber mit der Präsenz kaiserlicher Truppen vor Köln und mit den sich summierenden Schlachtniederlagen der Schmalkaldischen Bundesgenossen, der wichtigsten Parteigänger Hermanns von Wied, gegen den Kaiser zusammen (41).
II. Anwendung und Normierung des Notorietätsbegriffs in Verbindung mit der Reichsacht
Dass Karl V. an der dauerhaften Anwendung des Notorietätsbegriffs im Reich interessiert war, belegt bereits seine im Sommer 1545 formulierte Anfrage um eine päpstliche Generalvollmacht. Durch die freie Verfügung über den Notorietätsbegriff war die Möglichkeit gegeben, sich unliebsamer Gegner zu entledigen, konnte man nur hinreichend argumentieren. Denn wer sich eines notorischen Vergehens schuldig machte, entschied immerhin diejenige Instanz, die auch seine Bestrafung forcierte. Indem Karl den Zusatz notorisch im Achturteil gegen Hermann von Wied aufgenommen hatte, schuf er gewissermaßen einen Präzedenzfall, mit dessen Hilfe er auf die Autorität Pauls III. verzichten und sich damit der religiösen Dimension, die einer päpstlichen Generalvollmacht innegewohnt hätte, entledigen konnte. Gerade vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Konflikts mit dem Schmalkaldischen Bund gewann der Kölner Fall an Brisanz. Kriegsvorbereitungen hatte der Kaiser bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1545 getroffen (42). Mit dem Notorietätsbegriff hatte er aber nun ein Mittel an der Hand, militärisch gegen die Bündner vorzugehen, ohne die religionsbedingten Divergenzen anführen zu müssen: Er ächtete Johann Friedrich von Sachsen und Philipp von Hessen ohne vorhergehende gerichtliche Verfahren wegen notorischer Rebellion (43). Somit war eine rechtliche Grundlage für den anschließenden Krieg gegen die Bundesgenossen gefunden, indem die kaiserliche Wahlkapitulation aufgehoben oder, besser gesagt, erweitert wurde; de jure ließ sich der Krieg als Strafexekution auslegen.
Auf eine Normierung der Notorietät wurde allerdings verzichtet. Im Abschied des so genannten „geharnischten Reichstags“ von 1548, der dem Schmalkaldischen Krieg folgte, wird die Notwendigkeit eines gerichtlichen Verfahrens expressis verbis betont: „die sollen … in Unser und des Heiligen Reichs Acht gefallen seyn … sobald die durch Uns … oder an Unserm Kayserlichen Cammer-Gericht mit vorhergehender Zitation oder Vorheischung also in die gemelte Acht gefallen seyn…“ (44). Die Feststellung des notorischen Tatbestandes und die sich daran anknüpfende Bestrafung der Schuldigen sollte folglich eine Ausnahme bleiben, die unter besonderen politischen Umständen allein Karl V. zugestanden hatte.
Dass allerdings der Rechtsbegriff der Notorietät Anwendung gefunden hatte, vergaß man nicht. Auf die Klage Würzburgs, Bambergs und Nürnbergs gegen Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach hin griff dieses Mal das Reichskammergericht 1553 darauf zurück und ächteten den Markgrafen am 1. Dezember wegen offenkundigen Landfriedensbruchs (45).
Es blieb aber auch danach lediglich bei einer weiteren Ausnahme von der Rechtsnorm, die vorsah, dass einer jeden Bestrafung – wie auch immer diese aussehen sollte – ein gerichtliches Verfahren vorangehen musste.
Eine Normierung des Notorietätsbegriffs wurde erst im Augsburger Reichsabschied von 1559 vorgenommen (46). Es handelt sich dabei um die Artikel 37 und 38. Der Artikel 37 sah vor, „daß niemands, weß Stands oder Wesens er seye, besonder und fürnehmlich keine Oberste, Rittmeister, Hauptleut, Befehlshaber und gemeine Kriegs-Leut, auch alle die, so der Vergadderungen, Zusammenlaufens oder Häuffens, auch anderer Werbung und Bestallungen der Knecht Anfänger und Aufwiegler sind und sich darzu gebrauchen lassen, sich zu einigem Krieg und unfriedlicher thätlicher Handlung oder Fürnehmen zu dienen, wider Uns oder einigen gehorsamen Stand deß Heiligen Reichs, … sich bewegen lassen“ (47). Artikel 38 führt dies weiter aus: „So haben wir gemelte Pön erweitert dergestalt, daß die Uberfahrer solches Unsers Kayserlichen Gebotts und gemeiner des Heiligen Reichs Satzung, neben und über die benamte Pön-Fall, in unsere und des Heiligen Reichs Acht ipso facto gefallen seyn soll, als wir dann dieselbige dißfalls, auch ohne einige fernere Erklärung, jetzo als dann, und dann als jetzo in die Acht thun, und sie als Unsere und deß Reichs Aechter erkennen“ (48).
Dass die Acht ipso facto, also mit der Tat selbst, verhängt sei, war dabei nichts Neues. Dies wurde bereits im Mittelalter praktiziert und war auch in § 3 des Ewigen Landfrieden von 1495 vorgesehen (49). Dennoch war dafür die Befolgung eines gewissen Rechtswegs notwendig (50): Die citatio des Friedbrechers (51), seine Anhörung und eine anschließende Verkündung der Acht mittels einer so genannten Sententia declaratoria, einem Feststellungsspruch, waren unabdingbar. Zwar wurde in der Sententia declaratoria die Verhängung der Acht ipso facto rückwirkend verkündet, die direkte Strafvollstreckung unter Auslassung dieser drei Schritte war jedoch unmöglich (52). Dieses strikte Vorgehen auch im Falle der Achterklärung ipso facto wurde durch den Reichsabschied von 1500 (53) und durch den Landfrieden von 1521 (54) bekräftigt. Zudem mussten sich auch alle Kaiser nach Karl V. dazu verpflichten, die Acht nicht ohne vorhergehendes gerichtliches Verfahren zu verhängen (55).
Das Besondere am Artikel 38 des Reichsabschiedes von 1559 ist die Ausführung „auch ohne einige fernere erklärung“. Auf dieser Grundlage kann behauptet werden, dass der Notorietätsbegriff Eingang in das Reichsrecht gefunden hat. Allerdings blieben, trotz der Begründung, für welche Fälle die Acht ohne „fernere erklärung“ gelten sollte, Begriffe wie „unfriedliche thätliche Handlung“, die vorzuliegen hatte, oder „gehorsame[r] Stand“, gegen den sie sich zu richten hatte, nicht näher definiert. Es bedurfte also einer Instanz, der die Definitionshoheit in solchen Fällen zustand.
Dass es sich bei der Erläuterung „ohne einige fernere erklärung“ um die Umschreibung des Notorietätsbegriffs handelte, entsprach auch der Ansicht Andreas Gaills, eines der bedeutendsten Juristen des 16. Jahrhunderts (56). Er grenzte den Rechtsbegriff allerdings ausschließlich auf das notorium crimen rebelllionis et laese majestatis ein. Diesen Tatbestand sah er dann erfüllt, wenn es sich um einen „groß angelegten, offenen und bewaffneten“ (57) Landfriedensbruch handelte. In einem solchen Fall könne man auf ein gerichtliches Verfahren und auf die anschließende, rückwirkende sententia declaratoria verzichten und sofort zur Exekution des Friedbrechers schreiten (58). Gaill erklärt dies damit, dass die Offensichtlichkeit der Tat keines gerichtlichen Verfahrens mehr bedürfe, da es nichts mehr gebe, worüber zu verhandeln sei (59).
Zwar unterließ Gaill eine detailreiche Beschreibung der Fälle, in denen der Notorietätsbegriff Anwendung finden sollte, und bezog diesen ausschließlich auf Majestätsbeleidigung, dafür dehnte er aber dessen Definition aus. Demnach betrachtete er auch Münzfälschung als crimen laese majestatis (60), womit er dem § 158 des Reichsabschieds von 1566 folgte und auf diesem Weg eine Erklärung des Strafmaßes, das für diesen Tatbestand vorgesehen wurde, bot: „So setzen, ordnen und wollen Wir, daß der oder die [Münzfälscher] neben andern hievor in der Muentz-Ordnung benandten Poen-Fällen in Unser und des Reichs Acht ipso facto gefallen seyn sollen, als Wir dann dieselbige in diesem, auch ohne einige fernere Erklärung, jetzo als dann und dann als jetzo, in die Acht thun, und sie als Unsere und des Reichs Aechter erkennen, und darauf die Execution der Acht, durch die Crayß, hinter denen sie gesessen, vollzogen, zu dem sie ihr Muentzen-Freyheit und Gerechtigkeit, gaentzlich ohne ferner procedieren des Fiscals, verwirckt und verlohren haben sollen“ (61). In diesem Fall bedurfte es auch keiner zusätzlichen Auslegung, da der § 158 eindeutig von den Rechtsfolgen des notorischen Tatbestands spricht.
Eine ähnlich deutliche Sprache wird auch im Reichsabschied von 1576 gewählt, worin eine weitere Spezifizierung des Artikels 37 von 1559 vorgenommen wird. Der § 46 stuft über die Bestimmungen von 1559 hinaus die Anwerbung von Truppen ohne ersichtlichen Grund als notorischen Tatbestand ein, dem die sofortige Exekution der Täter ohne gerichtliches Verfahren folgt: „Da aber einige Oberster, Rittmeister, Haupt- oder andere Befelchs-Mann, ehe dem Creyß-Obersten, Zu- und Nachgeordneten, neben der Versprechnuß und Leistung der Caution, wie oben disponiert, gethan, Kriegs-Leut heimlich oder offentlich dem Potentaten zu werben, und in Anzug zu bringen unterstehen würde, soll derselbig nicht allein mit der That, ohne weitere Erklärung, in die Acht seyn, sondern auch alsobald durch den Creyß-Obersten, Zu- und Nachgeordneten in Bestrickung genommen, ihme sein Werbung niedergelegt, das Kriegs-Volck, da es allbereit fürhanden, getrennet, und sonsten weiters, was des Reichs Executions-Ordnung in solchen Fällen vermag, fürgenommen werden“ (62).
III. Konsequenzen der Reichsacht
Die als notorisch eingestuften Rechtsbrüche wurden durchgehend mit der Reichsacht sanktioniert. Die Bestimmungen des Ewigen Landfriedens von 1495 zu den Konsequenzen der Acht finden sich in den folgenden Reichsabschieden „in fast wörtlicher Übereinstimmung, ja nahezu formelhaft“ wieder (63). Besonders zu beachten ist dabei der Schlusssatz „yr Leib vnd Gut aler mennigklich erlaubt“ (64). Gerade dadurch war nicht nur die „magische Wucht“ der Reichsacht gewährt, durch seine Ungenauigkeit und durch den Umfang dessen, was als erlaubt betrachtet werden konnte, garantierte er eine Vielzahl von Handlungsmöglichkeiten gegen die Ächter (65). In Anlehnung an die italienische Jurisprudenz, aber auch an Juristen des Reiches, die sich auf antik römische Beispiele bezogen, legt Gaill diesen Passus dahingehend aus, dass den Ächtern Feuer und Wasser – die für das Überleben grundlegenden Elemente – verweigert werden müssten und dass „eorum capita sacra fiunt“ (66). Unter Bezug auf das römische Recht haben die Ächter den Zustand der cives romani verwirkt und werden zu Feinden aller Menschen (67). Zudem hätten diejenigen, deren „capita decreto Imperij Romani [...] sacra fiunt“(68) alle Rechte als Mensch verloren, stünden außerhalb des Reichsschutzes, dürften von niemandem beherbergt, sondern sollten wie Rebellen und Feinde behandelt werden und hätten keinen Anspruch auf Erde und Meer (69).
Die angeführten Verbote illustrieren lediglich die Bandbreite der verlorenen Rechte; dass allerdings das Gut, der Körper und das Leben der Ächter jedermann zur Verfügung beziehungsweise zur Verwundung frei stünden – und dies straflos – wird durch das wiederholte Festhalten am Terminus sacer mehr als deutlich (70).
Unabhängig davon, dass es in der Rechtspraxis nur selten zur Tötung des Friedbrechers kam, steht doch fest, dass er theoretisch als aus der Gemeinschaft Ausgestoßener, als sacer galt. Interessant dabei ist aber, dass man landläufig von einem vorhergehenden Prozess ausging, durch den der Frevel des Ächters festgestellt wurde. Damit sollte Willkür in der Anwendung dieser schweren Strafe unterbunden werden. Durch den Rückgriff auf den Notorietätsbegriff war allerdings eine Ausnahme von dieser Norm möglich geworden. Seine Aufnahme in die Reichsabschiede bot die Grundlage, um mittels einer bloßen Feststellung von offenkundigem Fehlverhalten den Zustand der Rechts- und Schutzlosigkeit herbeizuführen. In der allgemeinen Überzeugung, dass jeder politische Konflikt prinzipiell zum Rechtsfall gemacht und gerichtlich entschieden werden könne (71), kann die Anwendung der Notorietät als effizientes Mittel der Zerstörung potentieller politischer Gegner der normsetzenden Gewalt aufgefasst werden. In die Rechtspraxis des Reiches eingeführt wurde sie durch den Gebrauch und nicht über den Weg der Gesetzgebung, wobei sie zum Einsatz kam, nachdem andere Möglichkeiten erschöpft worden waren.
Mit der Reichsacht bestand eine rechtliche Grundlage dafür, jemanden außerhalb des Rechts und damit jedem zur Verfügung zu stellen, der Gebrauch der Notorietät bot aber die Möglichkeit, den vorgeschriebenen rechtlichen Weg zu umgehen und sofort zur Bestrafung zu schreiten. Wessen Kopf dabei als sacer erklärt wurde, war eine Entscheidung, die allein dem Kaiser beziehungsweise dem in seinem Namen urteilenden Reichskammergericht oblag. Eben diese Radikalität des Begriffs war aber vermutlich auch der Grund, weshalb der Rückgriff auf das Attribut notorium eher unüblich war, ja sogar bis in die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts in Vergessenheit geriet (72).
Anmerkungen:
6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
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