Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
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Sektion 6.8. | Ausnahmezustände in der
Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier) |
Neapel
zwischen Vesuv und Pest:
Zur Bilderwelt des Ausnahmezustandes
im 17. und 18. Jahrhundert
Annette Hojer (Bibliotheca Hertziana, Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom) [BIO]
Email: annette.hojer@web.de
Das Phänomen des Ausnahmezustandes hat aus kulturgeschichtlicher Perspektive betrachtet in der Vesuvstadt Neapel eine besondere Ausprägung erfahren: Eine wechselhafte politische Geschichte, verbunden mit Naturkatastrophen und Pestepidemien, lässt das städtische Leben als eine Folge von Ausnahmezuständen erscheinen. Reflektiert wird dies besonders im 17. und 18. Jahrhundert in einer Flut von Bildern, die als Zeugnisse für die historische Wahrnehmung von Notstandssituationen angesehen und ausgewertet werden können.
Vorangestellt sei ein kurzer Abriss zur politischen und sozialen Situation Neapels in jener Zeit, um den historischen Hintergrund dieser Bilderwelt des Ausnahmezustandes zu skizzieren: Seit dem frühen Mittelalter befand sich Neapel unter ständiger Fremdherrschaft, zunächst unter den Dynastien Anjou und Aragon. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, nach der Schlacht am Garigliano im Jahr 1503, übernahmen die spanischen Habsburger die Macht und setzten dem spanischen Adel entstammende Vizekönige ein. 200 Jahre lang bestimmten diese das Geschick der Stadt, bis sie infolge des Spanischen Erbfolgekrieges 1707 von österreichischen Vizeregenten abgelöst wurden. Erst 1734 erhielt der Regno di Napoli mit Karl von Bourbon erstmals einen eigenständigen König. Die häufigen Machtwechsel sowie das geringe Interesse der fremden Regenten an langfristigen politischen Investitionen führten in Verbindung mit einem immensen Bevölkerungswachstum – Neapel war nach Paris die zweitgrößte Stadt Europas – zu gravierenden Klassengegensätzen und sozialen Problemen in der einfachen Bevölkerung. Verschärft wurden diese im 17. Jahrhundert durch eine Folge von Katastrophen, unter denen drei besonders hervorzuheben sind: der Ausbruch des Vesuv im Jahr 1631, der Volksaufstand unter Masaniello 1647 und die Pestepidemie von 1656.
Alle drei Ereignisse sind in zahlreichen Bildern dokumentiert, darunter Gemälde von der Hand bedeutender Künstler. Diese sollen im folgenden unter kunstwissenschaftlichen Aspekten diskutiert werden. Eine Analyse ihrer kompositionellen und ikonographischen Strategien sowie ihre typologische Einordnung hat zunächst die Klärung des ambivalenten Status zwischen Dokumentation und Fiktion zum Ziel. Überdies kann ihre Interpretation zur theoretisch-methodischen Klärung des Konzeptes ›Ausnahmezustand‹ beitragen: Wie zu zeigen sein wird, reflektiert die für Neapel geprägte ›Ikonographie des Ausnahmezustandes‹ historische Vorstellungen von Regel und Ausnahme, von Rechts- und Naturzustand, die auch die aktuelle staatstheoretische Begriffsdiskussion bestimmen.
1. Die
Katastrophenbilder Domenico Gargiulos und der Entwurf
einer Topologie
des Ausnahmezustandes
Exemplarisch vollziehen lässt sich eine solche Analyse anhand von drei Gemälden des neapolitanischen Malers Domenico Gargiulo (genannt Micco Spadaro, ca. 1612-1679). Sie sind den genannten drei großen Katastrophen des 17. Jahrhunderts gewidmet, zeigen also Vesuvausbruch, Volksaufstand und Pest. Geschaffen wurden sie in den 1640er bzw. 1650er Jahren - unter dem direkten Eindruck der jeweiligen Ereignisse.
1.1. Der Vesuvausbruch von 1631
Gargiulos Darstellung des ausbrechenden Vesuvs gibt das Entsetzen der Bevölkerung gegenüber den Naturgewalten eindrücklich wieder. Die eigentliche Eruption, der Lava speiende Berg, dessen tiefschwarze Rußwolken den gesamten Himmel verdunkeln, bilden den bedrängenden Hintergrund der Bildkomposition. Der Vordergrund hingegen wird eingenommen von der detaillierten Darstellung einer Prozession, die, wie zeitgenössische Quellen bezeugen, am 17. Dezember 1631, also einen Tag nach dem Beginn des Ausbruchs, abgehalten wurde. Mit der Prozession rief man den Stadtheiligen Januarius um Schutz an, wobei man seine Reliquienbüsten sowie die berühmten Blutampullen mit sich führte. In Gargiulos Gemälde werden die Reliquienschreine unter einem Baldachin präsentiert, dem der Erzbischof Francesco Buoncompagni sowie der Vizekönig Monterrey folgen, beide porträthaft wiedergegeben. Dieser wohlgeordnete Zug von Klerikern und Aristokraten ist umgeben von einer wirren Masse verschreckter Menschen, unter ihnen Frauen und Kinder ebenso wie Bettler, aber auch Büßer und Flagellanten. Letztere finden sich in den schriftlich überlieferten Berichten wieder, denen zufolge man der Menge von Gläubigen, die die Kirchen stürmten und ihre Sünden bekennen wollten, nicht Herr wurde. Oberhalb der Gebäude, von denen aus weitere aufgeregte Gestalten den Vesuvausbruch beobachten, erscheint auf einer Wolke schwebend der in der Prozession angerufene heilige Januarius. Angetan mit bischöflichem Ornat und begleitet von Putti, die seinen Bischofsstab tragen, gebietet er mit ausgestreckten Armen dem Vulkan Einhalt. Erneut lässt sich dieses Bildmotiv aus der hagiographischen Überlieferung heraus erklären: Hier wird berichtet, es sei allein der Intervention des Schutzpatrons zu verdanken gewesen, dass Neapel von größeren Schäden verschont geblieben sei.
Im Hinblick auf die eingangs gestelle Frage nach einer Ikonographie des Ausnahmezustandes lässt sich in Gargiulos Gemälde eine eigenartige Ambivalenz von Dokumentation und Fiktion feststellen: Einerseits ist es als ein Historienbild konzipiert, dessen detaillierte und – wie der Vergleich mit Quellenschriften zeigt – exakte Art der Darstellung den Anspruch einer objektiven Schilderung erhebt. Andererseits lassen sich fiktionalisierende Strategien aufzeigen, künstlerische Mittel, die dem Betrachter eine bestimmte Interpretation der gezeigten Notsituation nahe legen. An erster Stelle zu nennen ist die übernatürliche Erscheinung des heiligen Januarius, die als historische Realität vorgestellt wird. Aufgerufen wird ein christlich-religiöses Weltbild, das der einzelnen Notsituation den verlässlichen und kontinuierlichen Beistand des Stadtheiligen entgegen setzt und Schutz auch vor zukünftigen Katastrophen verspricht. Damit leistet Gargiulos Wiedergabe des Ausnahmezustandes nicht nur eine reine Illustration der Ereignisse, sondern gibt zugleich Verfahren ihrer Deutung und Verarbeitung vor.
Ebenfalls dem Bereich der fiktionalen Darstellung zuzuordnen ist ein auffälliges Prinzip der Bildkomposition: die suggestive Organisation in Kontrasten. Dem Raum der Stadt, der mit seinen klaren architektonischen Formen einen wohl strukturierten Vordergrund bildet, steht im Hintergrund der unüberschaubare, bedrohliche Außenraum der Natur mit dem unbezähmbaren Vulkan gegenüber. Eine ähnliche Antithese bestimmt die Figurendisposition: Während der gravitätische Prozessionszug einer strengen gesellschaftlichen und ständischen Hierarchie folgt, ist die einfache Bevölkerung in ihrem Entsetzen außer Rand und Band geraten und unregelmäßig über die Bildfläche verteilt.
Die von Gargiulo eingesetzte ›Ikonographie des Ausnahmezustandes‹ steht unter dem Vorzeichen einer signifikanten Dichotomie: Kontrastiert werden nicht nur städtische Zivilisation und entfesselte Natur; auch innerhalb der katastrophengeschüttelten Stadt ist der intakten Gesellschaftsordnung das Chaos des Desasters entgegen gesetzt. Somit thematisiert die Sprache der Bilder gerade jene topologische Figur von Innen und Außen, von Rechts- und Naturzustand, die in der aktuellen Rechtsphilosophie diskutiert wird.
Zwei staatstheoretische Positionen sind hier zu unterscheiden: 1922 postulierte Carl Schmitt in seiner Politischen Theologie eine Definition des Ausnahmezustandes, die als Charakteristikum die Suspendierung der Rechtsordnung vorsah. Da Schmitt allerdings zwischen Recht und Gesetz, zwischen Norm und konkreter Anwendung unterschied, blieb der Ausnahmezustand trotz der eigentlichen Position außerhalb der Rechtsordnung doch in ihr verankert. Schmitt folgend verleiht dies dem Ausnahmezustand seine spezifische »topologische Struktur«, gleichzeitig innerhalb und außerhalb der geltenden Rechtsordnung zu stehen. Die entgegengesetzte Auffassung vertrat Giorgio Agamben in seinem 2003 erschienenen Stato d’eccezione. Er konstatierte den Schwellencharakter des Ausnahmezustandes als einer Situation, die weder innerhalb noch außerhalb der Rechtsordnung angesiedelt werden kann. Ihm zufolge ist der Ausnahmezustand deshalb als eine »komplexe topologische Figur« zu betrachten, in der Innen und Außen, Naturzustand und Rechtszustand nicht voneinander abzugrenzen sind, sondern eine »Zone der Ununterscheidbarkeit« bilden.
Im Hinblick auf die Fragestellung der Tagung, die sich dem Phänomen des Ausnahmezustandes aus historisch-epistemologischer Perspektive nähert, ist es von Interesse, dass sich bereits die im Lauf des 17. Jahrhunderts entstandenen Gemälde Gargiulos mit vergleichbaren topologischen Konzepten und Problemen auseinandersetzen. Ihre Bildsprache zeugt von der Wahrnehmung historischer Ausnahmezustände als einem bedrohlichen Konflikt zwischen Außen und Innen, Natur und Zivilisation, primitivem Chaos und gesellschaftlicher Rechtsordnung.
1.2. Die Masaniello-Revolte im Jahr 1647
Eine derartige Topologie bestimmt auch Gargiulos zweites Gemälde seiner Trias von Katastrophenbildern, die Masaniello-Revolte. Dargestellt ist der Volksaufstand, der im Juli 1647 ausgelöst wurde durch den Protest des Fischers Tommaso Aniello, genannt Masaniello, gegen die vom Vizekönig verhängten Steuererhöhungen. Schauplatz ist die Piazza del Mercato, deren Kennzeichen, die Chiesa del Carmine, rechts im Mittelgrund abgebildet ist. Dahinter erkennt man den Golf von Neapel mit der Silhouette des Vesuvs. Masaniello ist auf einem Pferd reitend vorne in der Mitte gezeigt, umgeben von seinen Anhängern, die – wie links zu sehen – eine Gruppe von Adligen bedrohen und gefangen nehmen. Zahllose Leichen und abgeschlagene Köpfe sind an einem Monument in der Mitte des Platzes zur Schau gestellt, das, noch unvollendet, an die Errungenschaften der Rebellion erinnern sollte.
Mit der Masaniello-Revolte stellte Gargiulo keine Naturkatastrophe dar, sondern einen innerhalb der Stadt durch die Bevölkerung selbst verursachten Ausnahmezustand. Die gewählte Bildanlage baut deshalb auch keinen Kontrast auf zwischen Vesuv- und Stadtkulisse, sondern vielmehr zwischen der tektonisch feststehenden Platzarchitektur und der darin versammelten chaotischen Menschenmenge. So vermittelt bereits die Komposition das eigentliche Thema des Gemäldes, die Schilderung eines Ausnahmezustandes, der gekennzeichnet ist von der Aufhebung gesellschaftlicher Normen und Gesetze. Anschaulich vor Augen geführt wird dies in zahlreichen Detailmotiven. Neben den bereits erwähnten Szenen der Ergreifung und Hinrichtung aristokratischer Mitbürger durch den Mob sind in extremer Weise ›widernatürliche‹ Ereignisse hervorzuheben, nämlich die Verwicklung von Frauen und kleinen Kindern in das schreckliche Geschehen. Im unmittelbaren Bildvordergrund, also in einer exponierten Position für den Betrachter, werden einander verfolgende Straßenjungen gezeigt, während sich weiter rechts mehrere Frauen inmitten der Kampfhandlungen aufhalten.
1.3. Die Pestepidemie von 1656
Weiterverfolgen lässt sich das Motiv der Aufhebung von Natur- und Rechtsordnung anhand von Gargiulos letztem Katastrophenbild, der Piazza Mercatello während der Pestepidemie von 1656. Die außerhalb der Stadtmauern gelegene Piazza Mercatello (die heutige Piazza Dante) diente während der Seuche als Sammelplatz für Tote und Sterbende. Grausige Szenen spielen sich ab: Die über den ganzen Platz verstreuten Leichen werden mit langen Haken aufeinander geschichtet und in einer Ecke des Platzes verbrannt. Ganz vorne im Bild zu sehen ist eine gerade verstorbene Mutter, deren kleines Kind noch verzweifelt versucht, aus ihrer toten Brust zu trinken. Dieses Motiv ist von besonderem Interesse, handelt es sich dabei doch um ein Zitat nach einer berühmt gewordenen Pestdarstellung Raffaels, das in der Kunstgeschichte zu einem Inbegriff menschlichen Leides geworden ist. Indem Gargiulo diesen Topos aufrief, evozierte er in einem einzigen Detail das ganze Unglück, das der Ausnahmezustand der Pest für Neapel bedeutete: Sogar die Gesetze der Natur, wie die Bindung zwischen Mutter und Kind sind außer Kraft gesetzt. Dies führte Gargiulo umso deutlicher vor Augen, indem er dem verletzten Naturgesetz das Gesetz der Menschlichkeit, des Mitleides gegenüberstellte: Mitten unter den Leichenträgern ist ein dunkelhäutiger Mann zu sehen, der zwei Kinder aus der todbringenden Umgebung rettet, während rechts vorne zwei Mönche den Dahinsiechenden die Sterbesakramente reichen. Erneut erscheint die Antithese zwischen einer menschlich-zivilisierten Gesellschaftsordnung und der Gesetzlosigkeit des Desasters als wesentliche Figur der Ikonographie des Ausnahmezustandes.
Ein weiteres Element dieses Bildrepertoires muss noch ausführlicher besprochen werden: die visionäre Erscheinung von Heiligen bzw. im gerade erörterten Pestbild von Christus und Maria. In einer am Himmel über der Piazza Mercatello aufgehenden Lichtgloriole leistet die Madonna bei Christus Fürbitte für die geplagte Stadt. Ähnlich wie im Fall des Januarius, der in der Darstellung des Vesuvausbruches als rettender Patron eingreift, stellt Gargiulo die Interzession Mariens als reale Episode innerhalb seines Historienbildes vor. Erneut wird der Ausnahmezustand in einem religiösen Sinnzusammenhang verortet, in dem der katastrophale Einzelfall an Gewicht verliert gegenüber dem konstanten Schutz Mariens. In ihrer Funktion als seit Jahrhunderten verehrte Stadtheilige verspricht sie neben den übrigen Patronen dauerhaften Beistand für Neapel. Innerhalb des von Gargiulo vermittelten Geschichtsbildes werden die sogenannten Santi Protettori zur wahrhaft wirksamen Entscheidungsgewalt über das Wohl Neapels, sie – und nicht die instabilen irdischen Herrschaftssysteme der Stadtgeschichte - erscheinen als eigentlicher Souverän.
Dieser ikonologische Befund erweist sich als höchst relevant für das Problem einer Wissensgeschichte des Ausnahmezustandes und für die Frage nach historischen Konzepten von Macht und Staatsgewalt: Orientiert man sich an der modernen Definition Carl Schmitts »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«, so stellt man fest, dass in den Gemälden Gargiulos jeglicher Hinweis auf eine Instanz fehlt, die den Ausnahmezustand ausrufen könnte. Zwar zählen geistliche und weltliche Herrscher durchaus zu Gargiulos Motivrepertoire, etwa in der Gestalt des Vizekönigs und des Erzbischofs, die an der Prozession während des Vesuvausbruchs teilnehmen. Ihnen kommt jedoch innerhalb der Bilderzählung keine dominierende Rolle zu – ganz im Gegensatz zum rettend eingreifenden heiligen Januarius oder der Fürbitte leistenden Muttergottes.
So reflektiert die von Gargiulo entworfene Ikonographie des Ausnahmezustandes die historischen Machtverhältnisse im Regno di Napoli: Angesichts der ständig wechselnden politischen Situation, insbesondere der Regentschaft fremder Vizekönige, die den Interessen Neapels meist indifferent gegenüberstanden, setzte die städtische Bevölkerung in weltliche Machthaber kein Vertrauen mehr. Stattdessen lässt sich eine Intensivierung der Heiligenverehrung beobachten; durch Frömmigkeit und Devotion suchte man, sich die Gnade der Stadtpatrone zu erhalten und so den Frieden für Neapel zu sichern.
2.
Machtverhältnisse und
Souveränitätskonzepte: Zur Ikonographie
der
neapolitanischen Stadtpatrone als den "Rettern aus der
Not"
Diese wechselseitige Bedingtheit von Ausnahmezustand und Kult der Stadtpatrone wird umso deutlicher, wenn man die weitere Entwicklung betrachtet, die die Ikonographie des Ausnahmezustandes im späteren 17. und frühen 18. Jahrhundert nahm: Nicht nur wird die ihre Interzession zu einem kanonischen Element der Katastrophenbilder; sie entwickelt sich sogar zum dominierenden Darstellungsinhalt, der den eigentlichen Ausnahmezustand gegenüber der Macht der Heiligen zurücktreten lässt.
2.1. Die Santi Protettori in den Pestdarstellungen von Mattia Preti und Luca Giordano
Eindrücklich zeigen lässt sich dies an der Reihe von Fresken, die Gargiulos Zeitgenosse Mattia Preti (1613-1699) anlässlich der Pest von 1656 schuf und an denen er bis 1659 arbeitete. Auftraggeber war der Rat der Stadt, die Eletti di Napoli, der mit den für die sieben Stadttore bestimmten Ex voto-Gemälden die neapolitanischen Schutzpatrone um Hilfe anrief: Maria Immaculata, die bei Preti mit dem Christuskind im Arm auf der Mondsichel stehend dargestellt ist, sowie die Heiligen Januarius, Franz Xaver und Rosalia. Die Santi Protettori nehmen die obere Bildzone ein; darunter entfaltet sich eine düstere, von Pesttoten bevölkerte Szenerie. Nicht nur das von Tiefschwarz und Grautönen dominierte Kolorit, auch eine drastische Bildsprache lassen eine bedrängende Katastrophenstimmung entstehen. Das bereits von Gargiulo verwendete Pathosmotiv der toten Mutter mit dem Säugling auf der Brust findet sich hier prominent eingesetzt und trägt so unmittelbar zur Erregung von Affekten beim Betrachter bei. In einer der sieben Ex voto-Versionen ist der Hintergrund als Vedute konzipiert, die den Blick auf den rauchenden Vesuv und den Meeresgolf erlaubt, den Ausnahmezustand also präzise in Neapel verortet. Prägnant führte Preti mit wenigen Bildmotiven das ganze Elend vor Augen, das die Pest für Neapel bedeutete. Sein Fürbitte-Gemälde wird zu einer gemalten Argumentation, das die Bitte um den Beistand der gezeigten Stadtheiligen umso dringlicher erscheinen lässt.
Bereits Pretis Auffassung des Ausnahmezustandes bedeutet einen Wandel gegenüber den illustrierend-dokumentarisch ausgerichteten Historienbildern Gargiulos. Noch stärker verändert sich der Bildtypus in zwei Werken, die von Luca Giordano (1634-1705) stammen, dem berühmtesten neapolitanischen Maler des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Im Auftrag des Vizekönigs Conte di Peñaranda, der sein Amt von 1658-1664 ausübte, vollendete Giordano 1665 zwei Votivgemälde, die Peñaranda als Dank für sein Überleben nach der Pestepidemie stiftete. Sie waren bestimmt für die Kirche S. Maria del Pianto, neu erbaut oberhalb der Begräbnisstätte für die unzähligen Pesttoten in der Gegend von Poggioreale. Die als Pendants angelegten Leinwandbilder zeigen zum einen die fünf Santi Protettori Baculo, Eufebio, Francesco Borgia, Aspreno und Candida in Anbetung des Kruzifix, und zum anderen den heiligen Januarius, der Maria und Christus um ein Ende der Pest in Neapel anfleht. Es ist offensichtlich, dass sich Giordano an Pretis Ex voto-Typus orientierte: Übernommen ist die Zweiteilung der Komposition in himmlische und irdische Zone sowie die pathetische Inszenierung der Pesttoten vor der neapolitanischen Stadtkulisse, den Topos der toten Mutter eingeschlossen. Jedoch tritt gegenüber den Ex voto-Gemälden Pretis, die eine eindringliche Fürbitte formulieren, der Aspekt der Dramatik und Affekterregung zurück, zugunsten einer repräsentativen Hervorhebung des Januarius als hoheitsvollem Schutzpatron. So findet sich das bereits angesprochene Konzept des Santo Protettore als wahrem Souverän Neapels umgesetzt in einer auf Herrscherikonographie verweisenden Figurencharakterisierung. Trotz seiner Demutshaltung gegenüber Maria und Christus nimmt Januarius, bekleidet mit prunkvollem pontifikalen Ornat, eine gravitätische Pose ein; mit einer herrschaftlichen Geste weist er auf seine Stadt.
2.2. Bildtradition und Kult des heiligen Januarius
Die zunehmende Bedeutung des Januarius als zutiefst verehrten Stadtpatron, dem man die Befehlsgewalt über das Wohl Neapels zuschrieb, hängt eng mit dem Phänomen des Ausnahmezustandes zusammen. Es lässt sich zeigen, dass die verschiedenen Krisen in der neapolitanischen Geschichte eine immer stärkere Popularisierung und Intensivierung seines Kultes nach sich zogen. An dieser Stelle sei kurz die ursprüngliche Legende wiedergegeben: Den Martyrologien zufolge wirkte Januarius zur Zeit der Diokletianischen Christenverfolgungen als Bischof im kampanischen Benevent, bevor er gefangen genommen und im Jahr 305 in Pozzuoli bei Neapel enthauptet wurde. Schon im frühen Mittelalter entwickelte sich eine ausgeprägte Verehrung der Januarius-Reliquien, wobei die berühmteste Zeremonie das auch heute noch zweimal jährlich zelebrierte Blutwunder darstellt: In einer Prozession wird die Kopfreliquie mit den Ampullen zusammengebracht, in denen sich das eingetrocknete Blut befindet. Dieses muss sich daraufhin verflüssigen - andernfalls droht Neapel großes Unheil.
Seinen Höhepunkt erreichte der Januariuskult nach dem Vesuvausbruch von 1631: Man erbaute dem Heiligen eine prächtige Reliquienkapelle, die dem Dom angegliederte Cappella del Tesoro, und ließ sie durch den berühmten römischen Maler Domenichino (1581-1641) mit einem umfangreichen Freskenzyklus ausstatten (1631-41). Auch der Kartäuserorden weihte dem Heiligen eine Kapelle in der hoch über der Stadt gelegenen Kirche der Certosa di S. Martino und gab die Ausmalung bei dem Neapolitaner Giovanni Battista Caracciolo in Auftrag (1632-35). In beiden Fällen kombiniert das Bildprogramm die Vita des Januarius mit seinen Wundertaten. In zahlreichen Szenen werden die Martyrien geschildert. Die größten und wichtigsten Fresken sind jedoch seiner Tätigkeit als Schutzheiliger gewidmet und zeigen unter anderem die Rettung Neapels vor dem Vesuvausbruch des Jahres 1631, also ein zur Entstehungzeit höchst aktuelles Ereignis, das beide Künstler selbst miterlebt hatten.
Die Darstellungen Domenichinos wie Caracciolos bestätigen die Charakteristika der neapolitanischen Krisenikonographie, wie sie im ersten Teil der vorliegenden Studie entwickelt werden konnten: Vor der Folie des Feuer und Rauch speienden Vesuv, der sich durch keine irdischen Gesetze bändigen lässt, findet eine hierarchisch geordnete Prozession von teilweise porträtartig wiedergegebenen kirchlichen und weltlichen Würdenträgern statt, begleitet von Büßern und Bekehrten. Dominiert wird die Szene von der Gestalt des in einer Lichtgloriole zur Rettung herbei eilenden Januarius. Erneut ist es die Dichotomie von Chaos und Ordnung, die den Bildaufbau prägt und die zugleich aufgehoben wird in der übernatürlichen Erscheinung des machtvollen Stadtpatrons. Die Sprache der Bilder suggeriert damit, es sei allein die Gunst des Januarius, die das Wohl Neapels sichern könne.
Die dominante Stellung des Stadtheiligen im politischen wie gesellschaftlichen Tagesgeschehen und die unbedingte Macht, die man ihm zuschrieb, kommen in einem weiteren ikonographischen Typus prägnant zum Ausdruck. Es handelt sich dabei um den Heiligen Januarius in der Glorie, der seit den 1630er Jahren zur beliebtesten Form seines Kultbildes avancierte. Als eine der frühesten Versionen kann ein vom spanischen Maler Jusepe de Ribera (1591-1652) um 1636 geschaffenes Altargemälde gelten, eine Auftragsarbeit für den Vizekönig Monterrey, also eben jenen Regenten, der die Vulkankatastrophe des Jahres 1631 am eigenen Leib miterlebt hatte und bei Gargiulo und Caracciolo porträtiert worden war. Riberas Bilderfindung zeigt den Stadtheiligen in betont würdevoller Pose, ausgezeichnet mit all seinen bischöflichen Insignien. Entrückt schwebt er auf einer Wolke hoch über dem Golf von Neapel, wobei er seine Stadt segnet und ihr damit Schutz vor dem bedrohlich rauchenden Vesuv verspricht.
Die gesteigerte Beliebtheit des Januariuskultes, die sich äußert in einer Flut von Andachtsbildern und der Erfindung neuer Bildtypen, lässt sich auch auf dem Gebiet der hagiographischen Literatur nachvollziehen. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert existierten zahlreiche Januarius-Viten; eine besondere Blüte erlebten diese jedoch zu Beginn des 18. Jahrhunderts. So erschienen umfangreiche Abhandlungen über Leben, Tugenden und Wunder des Heiligen. Eine der umfangreichsten Istorie wurde 1733 vom Karmelitermönch Girolamo Di Sant’ Anna verfasst und enthält neben der eigentlichen Vita ausführliche Erläuterungen zu Festtagen, Zeremonien und weiteren Aspekten des Januariuskultes. Bei aller Diversität der Kapitel lässt sich ein klares Leitmotiv feststellen: die Fokussierung des Heiligen als Santo Protettore, von dessen Gnade (grazia) ein katastrophenfreies Leben abhänge. Impliziert ist die Aufforderung, Januarius die angemessene Verehrung entgegenzubringen, um seine grazia zu erhalten und den Frieden für Neapel zu sichern.
Programmatisch kommt die soeben beschriebene Identifikation der Stadt mit dem Januariuskult im Frontispiz der Istoria zum Ausdruck: Zwei Engel mit Märtyrerkrone und Ampullenreliquiar sind in Verehrung der Reliquienbüste gezeigt; im Hintergrund erscheint der Dom mit der Cappella del Tesoro, während ein Putto im Vordergrund das Stadtwappen präsentiert. Inventor des Kupferstiches ist der neapolitanische Maler Francesco Solimena, zu Beginn des 18. Jahrhunderts einer der berühmtesten Maler in ganz Europa. Solimenas Bilderfindung zeugt gemeinsam mit Di Sant’Annas Vitenschrift in exemplarischer Weise davon, dass die Verehrung des Januarius auch im 18. Jahrhundert von höchster gesellschaftlicher und politischer Relevanz war. Die Serie von Ausnahmezuständen, die Neapel im 17. Jahrhundert erlitten hatte, hatte das Bedürfnis nach einer kontinuierlichen Schutzmacht gegenüber Naturkatastrophen wie politischen Krisen, tief im kollektiven Bewusstsein verankert und so den Kult des Stadtheiligen bis in die Gegenwart hinein als bedeutenden Bestandteil des öffentlichen Lebens etabliert.
3. Die
neapolitanische "Ikonographie des
Ausnahmezustandes"
als Bewältigung von
Katastrophenerfahrungen
Wie sich anhand der vorgestellten Gemälde zeigen ließ, kommt dem Phänomen des Ausnahmezustandes in der neapolitanischen Malerei eine herausragende Rolle zu. Infolge der drei großen Katastrophen des 17. Jahrhunderts entwickelt sich eine spezifische Ikonographie des Ausnahmezustandes, die nach dem Prinzip der Antithese organisiert ist. Der Konflikt zwischen Chaos und Ordnung, Rechts- und Naturzustand erweist sich als dominantes Motiv der historischen Wahrnehmung von Ausnahmezuständen, wie sie die neapolitanische Bilderwelt bezeugt. Ein kanonisches Element jener Ikonographie ist die Erscheinung der Santi Protettori, insbesondere des heiligen Januarius. Durch seine Charakterisierung als wichtigster Schutzpatron und Retter aus der Not wird eine auf den Bereich der Religion verweisende Auslegung und Verarbeitung der Katastrophenerfahrungen geleistet. Zugleich ergibt sich eine dezidiert politische Dimension: Als eigentlicher Souverän im Regno di Napoli erscheinen nicht die von außen eingesetzten Vizekönige, sondern der lokale Stadtheilige. Dieses Herrschafts- und Machtkonzept begründet die Karriere der Januariusverehrung, die auch im 18. Jahrhundert nicht an Intensität verlor und weit über die Grenzen Neapels hinaus reichte.
6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
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Webmeister: Branko Andric last change: 2010-03-29