Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 6.8. | Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier) |
Das antike Persien im Ausnahmezustand.
Dareios I. im Kampf gegen die „Lüge“
Sabine Müller (Leibniz-Universität Hannover) [BIO]
Email: sabine.mueller@hist.uni-hannover.de
Eines der bedeutendsten Schriftzeugnisse aus dem antiken Persien ist die Inschrift des Großkönigs Dareios’ I. bei Behistun. (1) Dareios (521-485 v. Chr.) gilt als maßgeblicher Gestalter des Perserreichs, das von Kyros II. Mitte des 6. Jh. v. Chr. gegründet worden war und danach fast zweihundert Jahre lang bis zur Eroberung durch Alexander III. von Makedonien Bestand hatte. (2) Die Inschrift von Behistun, in der Nähe von Ekbatana (heutiges Hamadan), dem antiken Hauptort Mediens, gelegen, ist in eine Bergwand gehauen. Der Bergfels liegt an einer der Hauptkarawanen- und Handelsstraßen, die das mesopotamische Tiefland um Babylon und Bagdad mit dem iranischen Hochland verbindet, ein Zweig der späteren Seidenstraße. (3) Da die Inschrift mit den Ausmaßen 7,80 x 22 m durch ein monumentales Relief von 3 x 5,5 m illustriert wurde, (4) zog die Felswand die Blicke der Reisenden unweigerlich auf sich. (5)
Verfasst wurde der Text in drei Sprachen, den Hauptsprachen des persischen Vielvölkerreichs: Elamisch, Babylonisch und Altpersisch. (6) Abschriften auf Tontafeln und Pergament in der Verwaltungssprache Reichsaramäisch wurden auf Veranlassung des Königs zudem durch das ganze Reich verschickt. (7) Daran ist schon zu erkennen, dass es sich um einen Text handelte, der für Dareios I. von besonderer Bedeutung war: ein wichtiges Medium seiner Legitimation. Wahrscheinlich wurde die altpersische Keilschrift primär zu diesem Zweck erst unter ihm als königliche Repräsentationsschrift entwickelt. (8)
In der Behistun-Inschrift schildert Dareios seine Thronbesteigung und die Bezwingung der Aufstände gegen seine Herrschaft im Jahr 522/21 v. Chr. Wie er mehrfach betont, gelang es ihm, in nur einem Jahr neunzehn Schlachten zu gewinnen und neun „Lügenkönige“ zu besiegen. (9) Dem Bericht zufolge handelt es sich um einen Ausnahmezustand, um Chaos im Reich, das Dareios beseitigte.
Im Folgenden geht es um die Elemente, die jenen Ausnahmezustand als Unheilszeit und Dareios’ Herrschaftsantritt als Anbruch der Heilszeit charakterisieren. Neben der Frage nach der altorientalischen Tradition, in der diese Schilderung steht, sollen auch der politische Hintergrund der Behistun-Inschrift untersucht und dabei erörtert werden, welche Bedeutung die Dareios’ Vorgänger abgesprochene Legitimität für Dareios’ eigene Legitimation zukommt.
Die Vorgeschichte: Bardiyas’ Regierung
Zum besseren Verständnis des Inschriftentexts ist es notwendig, den historischen Hintergrund der Ereignisse vor Dareios’ Herrschaftsantritt zu umreißen. Nach dem Tod des persischen Reichsgründers Kyros 530 v. Chr. war dessen ältester Sohn Kambyses an die Macht gekommen. Gemäß der Behistun-Inschrift traf Kambyses Maßnahmen zur Konkurrenzbeseitigung, bevor er nach Ägypten zog: Er ließ seinen Bruder, einen anderen legitimen Sohn des Kyros, der in den altpersischen Inschriften den Namen Bardiya trägt und in den griechischen Quellen Smerdis genannt wird, (10) heimlich umbringen. (11) In Folge profitierte ein betrügerischer Usurpator von der Heimlichkeit des Mordes: Gaumata, ein Angehöriger der medischen Priesterschicht der Magoi, (12) schlüpfte in die Rolle des toten Kyrossohns, gab sich als Bardiya aus und okkupierte den Thron, während Kambyses in Ägypten weilte. (13) Kambyses starb kinderlos in seinem achten Regierungsjahr auf dem Rückweg nach Persien 522 v. Chr., bevor er etwas gegen ihn unternehmen konnte. (14) Nach seinem Tod sprach niemand dem „falschen Bardiya“ die großkönigliche Würde ab. Dareios jedoch verbündete sich mit sechs anderen hoch gestellten persischen Adligen, um ihm das Handwerk zu legen. Gemeinsam gelang es ihnen, Gaumata zu stürzen und in einer medischen Burg zu töten. (15) Danach bestieg Dareios den vakanten Thron und schlug die Aufstände gegen seine Herrschaft nieder. (16)
Die Herrschaft des „falschen Bardiya“ wird in der Behistun-Inschrift als ein Ausnahmezustand dargestellt, als Abfall von der göttlichen Ordnung. Der persischen Herrscherideologie zufolge, wie Dareios sie in Behistun formuliert, wurde der legitime König vom höchsten persischen Gott, Auramazdah, der in den achaimenidischen Königsinschriften eine klare Vorrangstellung in der Götterwelt innehat, (17) als dessen irdischer Erwählter eingesetzt und repräsentierte unter dessen Schutz und mit dessen Hilfe Wahrheit und Gerechtigkeit. Der „falsche Bardiya“ war jedoch nicht von Auramazdah berufen worden, vertrat die Lüge und verkehrte die göttliche Ordnung. Die Folgen für das Reich waren symptomatisch, wie die Inschrift besagt: „Danach wurde die Lüge groß im Land, sowohl in Persien als auch in Medien und in den anderen Gebieten.“ (18)
Der Ausnahmezustand in den ägyptischen prophetischen Texten
Die Charakterisierung von Gaumatas Herrschaft als Chaoszeit in der Behistun-Inschrift weist Elemente auf, die sich ähnlich in den prophetischen Texten aus Ägypten finden. Dabei handelt es sich um Schriften aus den Kreisen ägyptischer Priester mit deutlich politischem Unterton, die sich ursprünglich gegen die persische Fremdherrschaft gerichtet hatten. Die Perser waren seit der Eroberung Ägyptens unter Kambyses 525 v. Chr. negativ beleumundet. Insbesondere die Priesterschaften, die von Kambyses’ Kürzung der Tempeleinkünfte betroffen waren, zeichneten ein abschreckendes Negativbild des Großkönigs als eines wahnsinnigen, verbrecherischen Tyrannen. Dies hat bei Herodot, der in Ägypten vor Ort Priester zu der persischen Eroberung befragte, seinen Niederschlag gefunden. (19) Das Zerrbild wurde in der ägyptischen Tradition stereotyp auf die meisten persischen Großkönige und ihre Truppen übertragen. (20) Die prophetischen Texte schilderten die Perser als grausame Unterdrücker, die Elend über das Land brachten. Unter dem Eindruck der makedonischen Eroberung Ägyptens und der Herrschaft der Ptolemäer wurden die Texte aktualisiert und entweder gegen die makedonischen Herrscher gerichtet oder von Priesterschaften, die mit den Ptolemäern kooperierten, zur Rechtfertigung einer Regierung genutzt, welche die persische beseitigt hatte und an ihre Stelle getreten war. (21)
Die Prophezeiungen basieren auf der Vorstellung, dass „Geschichte eine ständige Wiederholung des immer gleichen Grundschemas“ in Endlosschleife ist; (22) die Vorlage liegt im Osirismythos als „Medium einer umfassenden Weltmodellierung und Wirklichkeitserschließung“. (23) Nach diesem Urmythos um den Kampf zwischen Gut und Böse, der in der griechischen Literatur vollständig von Diodor und Plutarch überliefert ist, (24) herrschte der mythische Ur- und Idealkönig Osiris als Gott auf Erden und etablierte dort die gerechte Ordnung. Er lehrte die Ägypter Landanbau und Götterkult und brachte ihnen Frieden und Gesetze, (25) wurde aber von seinem Bruder Seth, der im Gegensatz zu Osiris – Verkörperung des Grundprinzips des Guten und der Stabilität – das Chaos versinnbildlichte, umgebracht. (26) Seths Herrschaft hob die göttliche Ordnung aus den Angeln und war ein Intermezzo des Unheils, das erst beendet wurde, als Osiris’ postum mit seiner Frau Isis gezeugter Sohn Horus alt genug war, um den ermordeten Vater zu rächen. Versteckt vor Seths Nachstellungen in den Deltasümpfen aufgewachsen und von seinem Vater Osiris, der als Herrscher des Totenreichs aus dem Jenseits zu ihm kam, geschult,(27) trat Horus im Zweikampf gegen seinen Onkel an und besiegte ihn. (28) Jede Thronvakanz ebenso wie unrechtmäßige Herrschaft wurde als Zeit des Chaos betrachtet, in der die Mächte des Seth regierten, da Horus ihn im Mythos zwar besiegt, aber nicht vernichtet hatte. (29) Da der legitime Pharao als „Horus’ Bild auf dem Thron“ und „Falke im Palast“ galt,(30) wurde seine Inthronisation als Parallele zu Horus’ Thronbesteigung gesehen, welche die Zeit der Finsternis beendete und die göttliche Ordnung wieder etablierte. (31)
Die prophetischen Texte sind auf der Basis dieses zyklischen ägyptischen Geschichtsbilds nach folgendem Grundmodell als diesseitige Projektionen in drei Phasen gestaltet: In der ersten Phase wird Ägypten von einem Fremdherrscher erobert und unterjocht. In der zweiten Phase bricht eine Unheilszeit an, die durch Katastrophen und Elend gekennzeichnet ist, bis in der dritten Phase der messianische Heilskönig eintrifft und die göttliche Ordnung durch seine Inthronisation wieder etabliert. (32) Typische Elemente der Unheilsschilderung sind zu folgende:
Im Zentrum der Texte steht demnach der Kontrast zwischen Leidens- und Heilszeit. Die Notwendigkeit der Existenz eines legitimen Pharaos, der den Kult vollzog, um die göttliche Ordnung zu erhalten, bedingte demnach nicht, dass jeder Herrscher in Ägypten akzeptiert wurde. Die prophetischen Schriften belegen, dass ein Regime zwar hingenommen, zumindest aber partiell als Zusammenbruch der gerechten Ordnung gedeutet werden konnte. Einige Beispiele aus den prophetischen Texten können illustrieren, wie der Ausnahmezustand einer illegitimen Herrschaft charakterisiert wurde.
Im so genannten Orakel des Töpfers, einem auf drei griechischen Papyrusfragmenten erhaltenen Text, (36) wird die makedonische Herrschaft über Ägypten als eine Zeit der Tränen, des Leidens und Todes beschrieben. Die Geburtenrate sinkt rapide, zugleich setzt eine große Landflucht ein. Bürgerkrieg und Mord regieren, selbst Geschwister und Ehepartner bekämpfen einander. Der Nil versiegt, Hungersnöte brechen aus, die Bauern leiden unter den hohen Abgaben, der Unheilsherrscher nimmt ihnen zudem ihre Ernte weg. Die soziale Ordnung ist auf den Kopf gestellt: die Sklaven sind frei, die Herren müssen um ihr Leben bitten; Kinder werden von ihren Eltern vergewaltigt. (37)
Besonders Alexandria, die von Alexander gegründete Residenzstadt der Ptolemäer, wird als verruchte Stätte der Anhänger des Chaos und Unheils dargestellt. (38) Die Leidenszeit wird durch die Selbstzerstörung der Fremden beendet, gefolgt von der Ankunft eines ägyptischen Heilskönigs, der die göttliche Ordnung wieder herstellt. (39) Daraufhin blüht die Natur wieder auf, die Nilflut kehrt zurück, die Jahreszeiten finden zu ihrem alten Rhythmus zurück, die verblasste Sonne erlangt ihre Strahlkraft wieder. (40)
In der Demotischen Chronik, die keine Chronik im eigentlichen Sinn ist, (41) sondern eine Sammlung von Orakelweissagungen und ihren Deutungen zu den letzten einheimischen Pharaonen, beginnend mit der 28. Dynastie (404-399 v. Chr.) bis zur Flucht Nektanebos’ II., (42) werden ähnliche Folgen der persischen Eroberung Ägyptens geschildert: „Unsere Seen und unsere Inseln sind voll von Tränen. D.h.: Die Häuser der Ägypter, sie werden keine Menschen mehr haben, die in ihnen wohnen, in der genannten Zeit eben. Wie wenn man sagt: Die Meder werden sie niedermetzeln, [sie] werden ihre Häuser nehmen und in ihnen wohnen … Die Menschen werden ins Gemetzel gestürzt“. (43) Nach den „Medern“ und den „Griechen“ wird ein messianischer Herrscher aus Herakleopolis kommen, eine neue Dynastie begründen und die göttliche Ordnung wieder installieren. (44) Gemäß dem in der Demotischen Chronik entworfenen Idealbild des ägyptischen Königs entsprach es dem legitimen Herrscher, „auf dem Weg Gottes“ zu bleiben, (45) wohltätig zu sein, keine Sünden zuzulassen, für Recht zu sorgen und den Götterkult zu pflegen. (46)
Ganz plastisch werden die Leiden der ägyptischen Bevölkerung unter der unrechtmäßigen Herrschaft der Anhänger des Seth, die diese Grundpflichten verletzten, auch im so genannten Lamm des Bokchoris ausgedrückt. (47) In dieser Prophetie schildert ein sprechendes Lamm, wie Ägypten unter der persischen Herrschaft eine apokalyptische Zeit des Chaos, Unheils und der Ungerechtigkeit erleben wird. (48) Kein Mensch werde mehr die Wahrheit sprechen; gegen die Tempel und heiligen Tiere werde gefrevelt: (49) „Aber der Meder wird nach [Ägypten?] kommen … [Es werden] zahlreiche Greuel in Ägypten geschehen… Weh, Ägypten, [das weint] wegen der Verfluchung, die zahlreich auf ihm lastet! Es weint … Bubastis …, es weint Nilopolis …, es weint Memphis …, es weint Theben …, es weint Letopolis, auf Furcht folgt Leiden.“ (50) Nach 900 Jahren werde in der anbrechenden Heilszeit die Lüge jedoch zugrunde gehen, die Wahrheit ans Licht kommen, Recht und Ordnung werden zurückkehren. (51)
In der Mehrzahl der Prophezeiungen beendet demnach die Ankunft eines messianischen Heilskönigs das Chaos. (52) Es folgt der Jubel der Bevölkerung, die Götter kehren zurück, ebenso wie Frieden, Eintracht und Wohlstand. Hinter diesen Projektionen steht wie ausgeführt der altägyptische Mythos mit der Vorgabe der drei Phasen: die erste Heilszeit unter dem lebenden Urkönig Osiris, das unheilvolle Intermezzo der Usurpation Seths und die Wiedereinrichtung der göttlichen Ordnung durch den Heilsbringer Horus.
Der Ausnahmezustand im Text des Kyroszylinders
Eine vergleichbare Beschreibung einer Chaosherrschaft und ihrer Beseitigung durch den göttlich auserwählten Heilskönig findet sich nicht nur in der Behistun-Inschrift, sondern auch in dem frühesten schriftlichen Zeugnis aus dem Perserreich. Es handelt sich um die einzige erhaltene Inschrift, die von dem Reichsgründer Kyros in Auftrag gegeben wurde: der Kyroszylinder aus Babylon, der 1879 gefunden wurde und sich heute im British Museum befindet. (53) Dieser Zylinder aus gebranntem Ton von einer Länge von 22,86 cm wurde 1879 im Bereich des Marduk-Heiligtums gefunden und diente wohl als symbolische Bauinschrift, die in die Grundfesten eingemauert wurde, um die Bautätigkeit des Königs zu Ehren des Gottes zu bezeugen. (54) Darauf ist in 45 babylonischen Keilschriftzeilen die Geschichte der Eroberung Babylons 539 v. Chr. durch Kyros und seine Truppen verzeichnet – konsequent aus Kyros’ Sicht, der sich als Auserwählter des babylonischen Hauptgottes Marduk präsentiert. Es handelt sich um eine programmatische Form der Selbstdarstellung, die darauf abzielt, die Akzeptanz der babylonischen Führungsschichten zu gewinnen, und ausblendet, dass der Konflikt mit dem neubabylonischen Reich wohl eine Konsequenz von Persiens Aufstieg gewesen war. (55) Der Text ist in der Art einer mesopotamischen Bauinschrift gestaltet und stilistisch an die assyrische Tradition unter König Assurbanipal angelehnt, der einst auch den Marduk-Kult gefördert hatte. (56) Assurbanipal, in dessen Nachfolge sich Kyros offensichtlich stellen wollte, wird eigens im Kyroszylinder genannt. (57)
Kyros’ Bericht zufolge herrschte in Babylon ein schlechter König, Nabonid II., der den Götterkult vernachlässigte, worauf die Götter Babylon verließen: „Eine Kultordnung, die sich für sie nicht ziemte […] redete er Tag für Tag, und als Bosheit stellte er die festen Opfer ein […] … Die Verehrung Marduks, des Königs der Götter, tilgte er in seinem Gemüt. Er tat immer wieder, was für seine Stadt schlecht war. Tag für Tag […] seine [Untertanen] richtete er allesamt durch ein Joch ohne Erleichterung zugrunde.“ (58) Nabonid beutete demnach sein Volk aus und unterjochte es, seine Häuser zerfielen. (59) Darauf suchte der babylonische Hauptgott Marduk mit seiner Fähigkeit, den Menschen ins Herz zu sehen, (60) den ganzen Erdkreis nach einem „gerechten Herrscher nach seinem Herzen“ ab und erwählte den Perser Kyros von Anšan zur Herrschaft über die Welt. (61)
Anšan ist der Name des persischen Bereichs im 6. Jh. v. Chr., jener alten historischen Landschaft in der heutigen iranischen Provinz Fars, die etwa der Persis, also der Region um Pasargadai und Persepolis (unweit des heutigen Shiraz) entspricht. (62) Die Berufung erfolgte, indem er Kyros bei der Hand fasste und seinen Namen sprach. (63) Kampflos zogen Kyros’ Truppen in Babylon ein. (64) Die Bevölkerung begrüßte ihn freudig als ihren neuen König.(65) Kyros ließ den Kult des Marduk aufleben, kümmerte sich um die Heiligtümer, brachte die Götter(bilder) in die Tempel zurück, sorgte für Frieden im Land und beendete die Ausbeutung der Bewohner. (66) Wie angedeutet war das Ziel dieser Darstellung, die lokale Führungsschicht zur Kooperation mit dem neuen Herrscher zu bewegen.
Die Forschung mahnt zur Skepsis gegenüber Kyros’ Schilderung von Nabonids Regierung. (67) Nabonid verweilte im Rahmen eines Feldzugs in Arabien zehn Jahre außer Landes, was als ein Grund für die Unzufriedenheit der babylonischen Bevölkerung betrachtet wird. Seine im Kyroszylinder angeprangerte Hinwendung zum Kult des Mondgottes Sin anstelle des Mardukkults ist in Zweifel gezogen worden, da das Zeugnis dafür aus Harran stammt. (68) Dort war Sin die lokale Hauptgottheit, und es erscheint nur folgerichtig, dass Nabonid in dieser Inschrift, die sich an die Bevölkerung von Harran richtete, ihren Hauptgott ehrte. (69) Das bedeutet jedoch nicht, dass er dies in Babylon gleichermaßen tat und Marduk vernachlässigte. (70) Kyros stellte es im Kyroszylinder jedoch so dar, um sich vor dieser Negativfolie als messianischer Heilskönig abzuheben, der mit der Rückkehr zu der einstigen, von Marduk eingesetzten Ordnung, konkret in Kultpraxis und Herrschaftsstil, den Ausnahmezustand des Chaos beseitigte und sich damit als legitimer König bewährte. (71) Es war ein politischer Schachzug, um sich mit der einflussreichen Marduk-Priesterschaft gut zu stellen und somit eine Basis zur Herrschaft über die Stadt zu gewinnen. (72)
Der Ausnahmezustand in der Behistun-Inschrift
Vergleicht man die Stilelemente der Schilderung des Ausnahmezustands und der Errettung des Landes aus dem Chaos durch den Heilskönig in den ägyptischen Texten und im Kyroszylinder mit der Behistun-Inschrift, fallen deutliche Parallelen auf. Gaumatas Herrschaft wird durch folgende Elemente charakterisiert: Zuerst ist die Furcht der Bevölkerung vor dem König zu nennen. Über Gaumatas Regierung heißt es in der Behistun-Inschrift, dass das Volk ihn sehr fürchtete (a tarsa karam). (73)
Furcht heißt im Altpersischen tarsa, allerdings nicht nur in dieser negativen Konnotation, sondern auch in der positiven Deutung in Gestalt von Respekt und Ehrfurcht. Dareios verwendet daher auch das Wort fürchten (tarsatiy) in einer Inschrift aus seinem Palast in Susa: „Vieles wurde schlecht getan, was ich wieder gut machte. Die Länder waren in Aufruhr, ein Mann brachte den anderen um. Durch die Gnade Auramazdahs schaffte ich es, dass der eine den anderen nicht tötet und dass alles an seinem rechten Platz ist. Mein Gesetz – dem sie Ehrfurcht zollen (tarsatyi nicht in der Bedeutung von fürchten) – auf dass der Stärkere den Schwächeren weder erschlägt noch zerstört.“ (74)
In dieser Passage geht es nicht um Angst, die für Chaos und Unsicherheit sorgt, sondern um eine positiv konnotierte Ehrfurcht, die Ordnung und Sicherheit schafft. Zudem ist zu beachten, dass das königliche Gesetz, von dem Dareios spricht, dem Gesetz Auramazdahs entspricht, der die Erde geschaffen hat. Er übergibt es dem gewählten menschlichen Stellvertreter und handelt durch ihn.
Ebenso ist eine Passage aus einer Inschrift des Dareios aus seinem Palast in Persepolis zu deuten. Darin zieht der König seinem Thronfolger gegenüber Bilanz und legt die Grundsätze seiner Regierung offen, die sich bewährt haben: „Durch die Gunst Auramazdahs sind dies die Länder, die ich zusammen mit dem persischen Volk unter meine Herrschaft gebracht habe, die mir Respekt erweisen (tarsatiy) und mir Tribut zahlen…“ (75)
Der freiwillige Gehorsam der Bevölkerung, die dem König gemäß dieser Ideologie mit Freuden folgt, weil er eben der von Auramazdah Auserwählte ist, ist ganz im Sinne von Max Webers Theorie der charismatischen Herrschaft. (76) Demnach hatte es der von höheren Mächten auserwählte und durch seine Taten bewährte Herrscher nicht nötig, Gefolgschaft zu erzwingen. Man folgte ihm freiwillig, da er als der Auserwählte erschien. Dieses Modell lässt sich auch auf Dareios’ Selbstdarstellung übertragen. Der legitime Herrscher braucht nichts zu fürchten, sorgt für Glückseligkeit im Reich und löst keine Furcht, sondern Ehrfurcht und Respekt bei der Bevölkerung aus.
In summa resultiert Furcht also aus Unrecht und befällt nur diejenigen, die wider die göttliche Ordnung handeln. Somit haben sich nur der unrechtmäßige Herrscher und seine Befürworter vor den Göttern zu fürchten. Zugleich verbreitet der Unheilskönig Furcht unter denen, die er unterjocht.
Dies macht Dareios in der Persepolis-Inschrift in zwei weiteren Passagen deutlich, in denen er die negative Deutung von tarsa als Furcht (77) verwendet. Er führt aus, dass Persien aufgrund der Gnade Auramazdahs und seines eigenen Wirkens nichts zu fürchten (tarsatiy) hat. (78) An seinen Nachfolger richtet er den Rat, wenn er nichts zu fürchten (tarsam) haben wolle, solle er das persische Volk schützen. Halte er sich an diese Vorgaben, würde die Glückseligkeit der Perser andauern und der Schutz Auramazdahs das königliche Haus beschirmen. (79) Neben dem Element der Furcht tauchen in der Behistun-Inschrift noch folgende typische Elemente der altorientalischen Unheilsschilderung auf:
Vernachlässigung der Götter:
Statt seiner kultischen Pflicht nachzukommen, zerstörte Gaumata die Heiligtümer.
Unterjochung der Bevölkerung:
Statt ihre Tribute als Geschenke anzunehmen, beraubte Gaumata sie.
Ausbruch von Gewalt, Verbrechen und Bürgerkriegen:
Statt der Lüge (drauga) bekämpfte er die Wahrheit, statt Recht förderte er, selbst ein Missetäter, das Unrecht. Statt das Reich gegen äußere Feinde zu beschützen, stiftete er Chaos im Inneren.
In summa figuriert Gaumata als Sinnbild des Unheilskönigs. Seine Handlungen sind Gegenbilder der Pflichten des guten Herrschers, der sein Volk nähren und schützen, sein Land erweitern und erblühen lassen und den Götterkult sorgfältig pflegen soll. Dies macht Dareios durch seinen Gegenentwurf deutlich, der Darstellung seiner eigenen Herrschaft: „Auramazdah und die anderen Götter halfen mir, weil ich nicht feindselig, kein Anhänger der Lüge war, kein Übeltäter, weder ich noch meine Familie. Ich verhielt mich rechtens. Weder den Schwachen noch den Starken tat ich Unrecht. Den Mann, der mein Haus unterstützte, belohnte ich gut, den, der Unrecht beging, bestrafte ich … (80) Auramazdah möge mir Hilfe gewähren, das Land zu schützen vor einem feindlichen Heer, vor Hungersnot, vor der Lüge.“ (81)
Lüge bedeutete im Sinne von Dareios’ Definition demnach eine Rebellion gegen die göttliche Ordnung, für die der König zu sorgen hatte, eine Verleugnung Auramazdahs und das Geleit der Völker auf einen unrechten Pfad. Frieden, Harmonie und Glückseligkeit im Reich resultierten nur aus dem Erhalt der göttlichen Ordnung und ihrer Verteidigung gegen die Lüge. (82) Gaumata ist daher als Antipode zum guten König geschildert, seine Herrschaft als Gegenbild der göttlichen Ordnung, als Chaos. Dareios hingegen figuriert als Heilskönig, der als einziger in der Lage war, das Chaos zu beseitigen, den Ausnahmezustand zu beenden: „Keiner wagte es, etwas gegen Gaumata zu sagen, bis ich kam … (83) Von den früheren Königen wurde zu ihren Lebzeiten nicht solches getan wie das, was ich in einem Jahr durch die Gnade Auramazdahs getan habe.“ (84) Dareios ist somit der legitime Retterkönig, der als Auserwählter die göttliche gerechte Ordnung, wie sie zuvor gegolten hatte, wieder einsetzte. Dies vermochte er, da Auramazdah ihm allein die Fähigkeit verliehen hat, Recht von Unrecht zu unterscheiden, und als „Repräsentant von Recht und Ordnung, Beschützer der Ländereien und der Bauern“ (85) aufzutreten. Jene Schützerfunktion erfüllt er in Stellvertretung Auramazdahs. (86)
Das Behistun-Relief
Das Behistun-Relief unterstreicht die Botschaft der Inschrift: In der – fiktiven – Szene erscheint Dareios im gefälteten persischen Gewand und königlichem Schuhwerk – nahtlose, ungeschnürte Sandalen – (87) mit langem Zeremonialbart, zwei persische Würdenträger hinter sich. (88) Er steht mit dem linken Fuß auf der Brust des besiegten Gaumata, der ebenfalls ein persisches Gewand trägt und flehend beide Arme zu ihm hebt. In der linken Hand hält Dareios seinen Bogen, die Geste der rechten Hand korrespondiert mit dem Handzeichen der bärtigen, persisch gewandeten Figur, die in einer geflügelten Sonnenscheibe über ihm schwebt. Es handelt sich bei dieser kontrovers diskutierten Figur entweder um eine Darstellung Auramazdahs oder des von ihm ausgesandten Glücksglanzes, der Dareios’ Herrschaft umgibt. (89) Hinter Gaumata stehen die am Hals aneinander gefesselten, besiegten anderen acht „Lügenkönige“ mit hinter dem Rücken gebundenen Händen. (90) Der ganz rechts stehende neunte Mann mit einer zipfelmützenartigen Kopfbedeckung ist der erst später, nach Dareios’ Skythenfeldzug 519 v. Chr. hinzugefügte Skythenkönig Skunxa. (91)
Die Skythen figurierten bei den Persern als spitzmützige Saken. Die nomadische Kopfbedeckung ist demnach ein eindeutiges Erkennungsmerkmal und überdies ein Hinweis auf Skunxas königliche Stellung. In einem skythischen Fürstengrab, dem 1970 entdeckten Issyk-Kurgan, wurde eine spitze, prächtig mit Gold ummantelte Kopfbedeckung von 65 cm Höhe gefunden. (92) Da Skunxa im Gegensatz zu den „Lügenkönigen“, die barhäuptig ohne Statussymbole dargestellt wurden, kein Rebell gegen Dareios’ Thronbesteigung war, der für seine Auflehnung gegen Auramazdahs Ordnung mit der Abnahme seiner Rangabzeichen bestraft wurde, blieb ihm seine Kopfbedeckung im Bild erhalten. (93) Herausgehoben unter den besiegten Gegnern ist durch seine liegende Position und der Platzierung direkt unter Dareios’ Sohle Gaumata als der Hauptübeltäter, der durch seine Usurpation erst die „Lüge“ in die Welt gesetzt und die anderen negativ beeinflusst hatte.
Die Aussage des Reliefs ist deutlich und korrespondiert mit dem Tatenbericht: Durch Auramazdahs Gnade konnte Dareios die Vertreter der Lüge besiegen. (94) Seine herausgehobene Stellung wird dadurch verdeutlicht, dass er größer als die anderen Figuren dargestellt ist. Seine Gestalt misst 1,72 m, die der anderen 1,17 m. (95) Die Darstellung des triumphierenden Siegers steht in der altorientalischen Tradition des „trampling topos“, der auch aus Ägypten und Assyrien bekannt ist. (96) Indes fehlen die getöteten Feinde und die Hinweise auf den grausamen Sieg. Dies ist schon ein Hinweis auf die spätere durchgehende Darstellung des Dareios als Friedensherrscher in der achaimenidischen Kunst, dem die Völkerschaften gerne und mit Freuden folgen: die Darstellung der pax persica. (97) Dies bedeutet auch keinen Widerspruch zur kriegerischen Schützerfunktion des Großkönigs: Durch die Bekämpfung der Elemente des Chaos gewährleistet er den inneren Frieden.
Dareios’ Grabinschrift in Naqš-i Rustam
Kyros hatte seine letzte Ruhestätte in Pasargadai in einem Kammergrab mit Giebeldach auf einer gestuften Steinanlage gefunden. (98) Dareios’ Neubeginn erforderte eine neue Ideologie mit neuen Symbolen, (99) wozu neben den Palastneubauten in Susa und Persepolis (100) auch eine neue Form der Königsbestattung gehörte, die in einem Felsgrab in Naqš-i Rustam, etwa sechs km nordwestlich der neuen Residenz Persepolis, erfolgte. (101) In der Inschrift der kreuzförmig angelegten Grabfassade, die allerdings schon zu seinen Lebzeiten konzipiert wurde, betont Dareios, dass Auramazdah ihn zum „König der Länder mit allen Völkern“ (102) gemacht habe. Demgemäß habe er stets gemäß dem Willen des Gottes gehandelt und in beiden Wirkungsräumen seines Handelns, Palast und Feldlager, gerecht geherrscht. (103) Die Vorstellung von Dareios als Retter des Reichs wird ebenfalls noch einmal aufgegriffen: „Es kündet Dareios der König: Auramazdah, als er die Erde in Unruhe sah, überantwortete sie mir, daraufhin machte er mich zum König … Durch die Gunst Auramazdahs setzte ich sie an ihren rechten Platz zurück…“ (104) Als Beschützer des Landes besaß Dareios die durch Auramazdah verliehene kriegerische Exzellenz: „da mein Körper die Kraft hat, bin ich als Krieger in der Schlacht ein guter Krieger in der Schlacht … Geübt bin ich gleichermaßen mit Händen und Füßen. Als Reiter bin ich ein guter Reiter, als Bogenschütze bin ich ein guter Bogenschütze, sowohl zu Fuß als auch zu Pferd. Als Speerkämpfer bin ich ein guter Speerkämpfer, sowohl zu Fuß als auch zu Pferd.“ (105) Am Ende steht die Warnung an den Leser, nichts Unrechtes, Rebellisches zu tun und auf dem rechten Weg zu bleiben. (106)
Das stark beschädigte Relief zeigt den Großkönig mit einem Bogen in der Hand auf einem dreistufigen Podest gegenüber einem brennenden Feueraltar. (107) Über ihm erscheint ein bärtiger Mann in einer geflügelten Sonnenscheibe als Sinnbild solarer und lunarer Kräfte. Es ist wiederum umstritten, ob diese Figur Auramazdah darstellt oder den daimon des Königs, seinen göttlich gesandten Glücksglanz. (108) Ob eine Opferhandlung dargestellt ist, bleibt ebenfalls unklar, könnte aber angenommen werden. (109) Die Handbewegungen des Königs und des Flügelmannes korrespondieren miteinander; vermutlich erhält der König den göttlichen Segen und akzeptiert diesen mit seinem Gestus der rechten Hand.(110) Auch der Strahlenkranz um seinen Kopf gilt als ikonographisches Symbol: „a nimbus of fire enclosing the head of the monarch“, ein Sinnbild des „‘heavenly fire’ in the body of the king“ (111) beziehungsweise der Reflex des von Auramazdah gesandten Glücksglanzes.
Getragen wird die Plattform, auf der Dareios sich befindet, von dreißig Thronträgern in zwei Registern, welche die von ihm beherrschten Länder symbolisieren: (112) „Wenn du nun denken solltest ‚Wie viele der Länder sind es, die König Dareios erhielt?’, betrachte die Skulpturen (derjenigen), die den Thron tragen, denn wirst du es wissen…“ (113) Für die Datierung des Reliefs ist relevant, dass einer der Thronträger die Skythen repräsentiert und die „Skythen jenseits des Meeres“ auch inschriftlich unter den von Dareios beherrschten Völkerschaften gelistet werden. (114) Der persische Feldzug gegen die europäischen Skythen fand 513/2 v. Chr. statt. (115)
In Text und Bild der Grabfassade wurde das Ideal des achaimenidischen Königs und seiner Herrschaft dargestellt, welches zum maßgeblichen Modell für die Repräsentation von Dareios’ Nachfolgern wurde: der von Auramazdah erwählte und beschirmte Herrscher als Bekämpfer der Lüge und Vertreter der gerechten göttlichen Ordnung, dessen Regierung die Völkerschaften seines Reichs in Zufriedenheit und Dankbarkeit unterstützten, weil er in göttlicher Berufung für Sicherheit und Wohlergehen sorgte. Mit Auramazdahs Hilfe beschützte Dareios das Land vor der Trias des Übels: feindlichen Heeren, Missernte und Hunger sowie der Lüge. (116) Es ist indes anzumerken, dass die Botschaft nicht als Kommunikationsmedium mit der Reichsbevölkerung allgemein gedacht war. Die Grablege in Naqš-i Rustam war primär den höfischen Kreisen zugänglich und richtete sich an diese wichtigen Stützen der Herrschaft. (117)
Die Ikonographie von Dareios’ Reichskunst, die in ihrer Kombination von ägyptischen, iranischen und griechischen Elementen auf den Charakter des Vielvölkerstaats abhob, (118) unterstrich das Bild von seiner gerechten, göttlich gesegneten Herrschaft, in der die „Lüge“ vernichtet wurde. (119) Versinnbildlicht wird diese Schutzfunktion des Großkönigs auch auf einem Relief in Persepolis, das ihn im Kampf gegen einen monsterhaften Löwen als Symbol des Bösen zeigt. (120) Auf den achaimenidischen Münzbildern erscheint in verschiedenen Varianten der Großkönig ebenfalls mit seinen Waffen als Beschützer. (121)
Dareios’ Legitimation
Zusammenfassend ist zu sagen, dass Dareios seiner Herrschaftslegitimation folgende Kriterien zugrunde legt, die seine Thronbesteigung rechtfertigen: Erstens ist er von Auramazdah auserwählt und besitzt damit die göttliche Legitimation, die Gaumata fehlt. Die Berufung auf Auramazdah ist im Text der Behistun-Inschrift zentral und erfolgt 66 Mal. (122) Diese Darstellung erinnert an die Auserwählung des Archetypus und Urmodells des altorientalischen Weltherrschers, Sargon I. von Akkad, der als Kind in einem Korb auf dem Euphrat ausgesetzt, von einem Gärtner gerettet und aufgezogen, dann von der Göttin Ishtar berufen und zum König eingesetzt wurde. (123) Auch um Kyros rankten sich am Modell Sargons orientierte Kindheitslegenden um seine Aussetzung, (124) Aufzucht durch eine wilde Hündin, (125) Adoption und Erziehung durch einen Hirten in der Wildnis der Berge und sein wundersames Talent für die Anforderungen des Königsamts, das er schon als zehnjähriges Kind beim Spiel offenbarte. (126)
Zweitens präsentiert Dareios sich als ein „wahres“ Mitglied der Königsfamilie, wie er mehrfach betont, und war somit im Gegensatz zu Gaumata auch dynastisch legitimiert. Dareios gibt an, dass acht Könige seiner Familie vor ihm herrschten und er der neunte sei. (127) Überdies bezeichnet er Kyros’ und Kambyses’ Familie als seine Familie. (128) Als drittes und letztes Kriterium seiner Legitimation führt Dareios seine Bewährung durch sein Handeln als legitimer König an, da er den inneren Frieden ins Reich zurückbrachte. Dies ist die Legitimation durch seine Herrscherqualitäten, an denen es Gaumata fehlte.
Dareios’ Schilderung des Ausnahmezustands: Ein legitimierendes Konstrukt?
Es fällt auf, dass Dareios besonders offensiv die rechtliche Position seines Hauses vor der Usurpation durch Gaumata betont: „Das Königtum, das unserer Familie weggenommen worden war, setzte ich wieder an seinen rechten Platz und begründete es erneut … Wie zuvor erbaute ich die Heiligtümer, die Gaumata zerstört hatte. Ich gab den Völkerschaften die Weiden und Herden, die Diener und Häuser zurück, die Gaumata ihnen weggenommen hatte … Wie es zuvor gewesen war brachte ich zurück, was weggenommen worden war. Das tat ich durch die Gnade Auramazdahs: ich ließ nicht ab, bis ich unser königliches Haus wieder etabliert hatte wie es zuvor gewesen war.“ (129)
Dabei stellt sich die Frage, wie glaubwürdig der unter Dareios’ Ägide verfasste Text nach seinem historischen Gehalt ist. Als einzige seriöse historiographische Parallelquelle sind Herodots Historien heranzuziehen. (130) Problematisch ist, dass Herodot aus griechischer Perspektive schreibt und nicht Zeitgenosse Dareios’ I. war, sondern gut ein Jahrhundert nach dessen Herrschaftsantritt schrieb. Indes ist Herodots Zeugnis auch nicht vorschnell zu verwerfen, da der aus Kleinasien stammende Historiograph die Länder, über deren Geschichte er schrieb, zu großen Teilen selbst bereist und dort mit Hilfe von Dolmetschern geforscht hatte. Es sind daher auch persische Traditionen in seine Historien eingeflossen. Interessant ist der Widerspruch zwischen Herodots Bericht und Dareios’ Inschrift bezüglich des Todesdatums von Bardiya-Smerdis, Kambyses’ echtem Bruder. Dareios zufolge ließ Kambyses ihn ermorden, bevor er nach Ägypten zog. (131) Bei Herodot nimmt er ihn jedoch auf den Ägyptenfeldzug mit, schickt ihn dann nach Hause zurück und lässt ihn erst dort umbringen. (132) Auch die Herrschaft des falschen Smerdis beschreiben Herodots Quellen nicht wie Dareios, der aus der Illegitimität des Bardiya-Smerdis ja einen großen Teil seiner Legitimation als Retter des Reichs und Heilskönig zieht, (133) als ein Schreckensregime. Ganz im Gegenteil sei Smerdis als König milde, gerecht und aufgrund seiner Wohltaten (Steuer- und Heeresdiensterleichterung) bei der Bevölkerung beliebt gewesen. (134)
Die Diskrepanz hat in der Forschung Argwohn geweckt und den Verdacht entstehen lassen, dass Dareios’ Rechtfertigungsschrift mit der konstanten Berufung auf die Gnade Auramazdahs deswegen so plakativ ausgefallen sei, weil er selbst massive Legitimationsprobleme gehabt habe. (135) Dafür sprechen weitere Aspekte: Dareios gewährt in der Inschrift große Konzessionen an seine sechs Mitverschwörer, die namentlich genannt werden, und verpflichtet auch seinen Nachfolger, ihre Familien besonders zu schützen. (136) Herodot lässt zudem, wie schon die Konzessionen vermuten lassen, durchblicken, dass Dareios’ Thronansprüche keineswegs vorrangig waren. Ihm zufolge hatten alle sieben Verschwörer als die Vertreter der führenden persischen Familien ebenbürtige Thronrechte. (137) Da Kambyses und auch sein ermordeter Bruder keinen Erben hinterlassen hatten und ihre Schwestern nicht herrschen konnten, waren der Thron vakant und die männliche Linie des Kyros ausgestorben.
Dies wird auch in der Schilderung der Beratung zwischen Dareios und seinen sechs Mitverschwörern nach dem gelungenen Attentat in Herodots Historien deutlich. Herodot zufolge diskutierten diese sieben Vertreter der höchsten persischen Familien, ob das entstandene Machtvakuum mit einer Demokratie, Monarchie oder Oligarchie auszufüllen sei. (138) Es handelt sich um ein unhistorisches sophistisches Konstrukt aus dem perikleischen Athen, da das Achaimenidenreich in seinen politischen und sozialen Strukturen auf eine Monarchie an- und festgelegt war. Indes scheint Herodot eine persische Realie – die Position des Dareios als eines primus inter pares im Kreis der Vertreter der großen Familien – aus seinen Quellen aufgegriffen und in einen griechischen Denkhorizont eingebettet zu haben. Herodot lässt sie sich auf die Monarchie einigen (139) und den rechtmäßigen König durch ein Pferdeorakel ermitteln, dessen Traditionsursprung – griechisch oder orientalisch – in der Forschung umstritten ist. (140) Demnach vereinbarten die sieben Perser, dass sie sich zu Pferde vor der Stadt treffen wollten und derjenige, dessen Pferd bei Sonnenaufgang zuerst wiehern würde, König sein sollte. (141) Anscheinend ist die persische Tradition, dass Dareios von Auramazdah auserwählt worden war, in diese Episode um das Pferdeorakel eingeflossen, auch wenn Herodot die Vorstellung von einer göttlichen Berufung insofern relativiert, dass er Dareios als Schlitzohr darstellt, der die Entscheidungsfindung zu seinen Gunsten mit Hilfe seines Stallknechts manipuliert. (142)
Dareios beruft sich in der Behistun-Inschrift mehrmals darauf, aus königlicher Familie zu kommen, (143) und nennt einen Teispes als einen seiner Vorfahren aus dieser Linie, über den er vom mythischen Dynastiebegründer Achaimenes abstammte. (144) Ob dieser Teispes mit dem von Kyros im Kyroszylinder erwähnten Teispes identisch ist, (145) ist allerdings ungewiss und umstritten. (146) In jedem Fall kam Kyros aus der Linie der Teispiden und Dareios als Achaimenide offenbar aus einem anderen Familienzweig. Kyros erwähnt im Kyroszylinder keinen Achaimenes als Ahnherrn. (147) Achaimenes wurde hingegen von Dareios zur speziellen Schlüsselfigur seiner Legitimation erklärt. (148) „Galt demnach Zugehörigkeit zum Königshaus als primäres Legitimationskriterium, so wird die Sorgfalt verständlich, die Dareios auf den Nachweis seiner achämenidischen Abstammung verwendet.“ (149)
Teile der neueren Forschung, etwa Maria Brosius, zweifeln daher sogar daran, dass Dareios überhaupt dem Königshaus angehörte. (150) Dies scheint indes zu weit zu gehen. Wer die acht Könige seiner Familie sind, die er als seine Vorgänger nennt, ist der Forschung zwar ein Rätsel, zumal er es unterlässt, sie näher zu bestimmen: „Es spricht Dareios der König: Acht von unserer Familie (gab es), die zuvor Könige gewesen waren; ich bin der neunte. Neun in Folge sind wir Könige gewesen.“ (151) Man kann jedoch annehmen, dass er dies nicht zu konkretisieren brauchte, da die persischen Adressaten es ohnehin wussten. In einer face-to-face-society wie der persischen konnte Dareios es sich nicht erlauben, eine königliche Genealogie einfach zu erschwindeln. Daher ist zu vermuten, dass die von ihm als Könige bezeichneten Vorfahren einst tatsächlich herrschende Stellungen in Anšan inne gehabt hatten, vielleicht, bevor Kyros’ Familie aufstieg. (152) Dies galt indes eventuell für Anšan, nicht aber für das unter Kyros gegründete neue Reich, in dem die Teispiden die Dynastie auf dem Thron waren. Die Revolten gegen Dareios’ Thronbesteigung – und zwar in allen größeren Gebieten des Reichs, Elam, Persis, Medien, Babylon, Ägypten, Baktrien, Arachosien, Parthien, Assyrien, Margiana und Sattagydien – scheinen zu bestätigen, dass seine Verwandtschaft zu Kyros nicht so eng sein konnte wie von ihm selbst dargelegt.
Die führenden Familien im Reich waren zuvor einen Bund mit der Linie des Kyros eingegangen und hatten sich diesem Familienzweig loyal gegenüber verhalten. Mit Erlöschen der Linie waren diese Bindungen gelöst worden und die Zeichen standen auf Aufbruch: Die personellen Bündnisse mussten erst neu – und dieses Mal an die Linie des Dareios geknüpft – etabliert werden. (153) Auf dem Konsens zwischen Dareios und seinen sechs Mitverschwörern, dass er gegen große Konzessionen an ihre Familien den Thron bestieg, beruhte seine Möglichkeit, neue personelle Bindungen an die einflussreichen Familien des gesamten Reichs zu knüpfen und sie seiner Linie zu verpflichten. Allerdings musste er dies in weiten Teilen erst mittels der militärischen Auseinandersetzung durchsetzen.
Die aufständischen „Lügenkönige“ hatten jeweils einen Thronnamen angenommen, mit dem sie an den letzten als legitim erachteten Herrscher ihres Landesteils angeknüpft hatten – oder, wie im Falle Mediens – an eine Heldengestalt der Vergangenheit. Damit war eine „lokale“ Herrschaftskontinuität propagiert worden, die Dareios’ Thronbesteigung geschickt ausgeschlossen, somit in ihrem dynastischen Bezug und in ihrer Legitimität überhaupt negiert hatte. So hatten sich die Rebellen in Babylon darauf berufen, Söhne des von Kyros gestürzten Nabonid zu sein, und der zweite Prätendent in der Persis nach dem Sturz des „falschen Bardiya“ hatte ebenfalls behauptet, ein Sohn des Kyros zu sein. (154)
Es stellt sich die Frage, wieso es keine Revolten gegen den „falschen Bardiya“ gegeben hatte. Nach Dareios’ Erklärungsmuster ist dies klar: Der Großteil der Bevölkerung war durch seine Lüge geblendet worden, er sei der echte Kyrossohn. Da dessen Ermordung im Geheimen erfolgt war, war dies öffentlich nicht bekannt geworden. Die wenigen, die es wussten oder argwöhnten, trauten sich nicht, den Gewaltherrscher zu entlarven, weil sie um ihr Leben fürchteten. Die Forschung findet in weiten Teilen jedoch eine andere Antwort. Aktuell dominiert die These, dass der gestürzte Bardiya gar kein Prätendent, sondern der echte Kyrossohn und legitime Erbe gewesen war. (155) Die anderen Parallelquellen zur Behistun-Inschrift, die neben Herodot zur Verfügung stehen, sind babylonische Wirtschaftsurkunden, die private Rechtsgeschäfte dokumentieren. (156) Sie sind insofern relevant, als sie mit dem Regierungsjahr des Herrschers datieren und den Monat und Tag ihrer Erstellung nennen, und bezeugen, dass Bardiya wenigstens acht Monate lang rechtmäßiger Herrscher mit dem wichtigen Beleg einer legitimen Titulatur gewesen war. (157)
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob es sich bei ihm nicht doch um den leiblichen Sohn des Kyros, den echten Bardiya, gehandelt hat. In diesem Fall wäre klar, warum die Revolten der großen Familien nicht während seiner Herrschaft gegen ihn, sondern erst nach seiner Ermordung gegen Dareios’ Thronbesteigung losbrachen. An ihn als einen Vertreter des Kyroszweigs fühlten die einflussreichen Familien sich aufgrund der informellen Beziehungen gebunden. Dareios war jedoch ein Usurpator aus einer anderen Linie. Erst mit ihm kann man demnach korrekterweise von dem Achaimenidenreich sprechen, da mit seiner Thronbesteigung die Familie der Achaimeniden an die Macht gelangte. Bei seinen Vorgängern Kyros, Kambyses und vielleicht auch Bardiya hatte es sich um den Zweig der Teispiden gehandelt, auch wenn sie und die Teispiden offenbar derselben Großfamilie angehört hatten.
Fazit
Vor dem skizzierten Hintergrund ist zu überlegen, inwiefern der geschilderte Ausnahmezustand eine künstliche Kreation ist und nicht viel eher Dareios’ Machtübernahme als Ausnahmezustand, nämlich eine Usurpation nach dem gewaltsamen Sturz des bislang herrschenden Familienzweigs, zu kennzeichnen wäre, den er durch die Stilisierung zur Heilsherrschaft kaschieren wollte. (158) In der Behistun-Inschrift ist alles auf die Schilderung des Ausnahmezustands konzentriert. Vor der Negativfolie des Gaumata konstruiert Dareios sein eigenes positives Gegenbild. Der Normalzustand dagegen wird im Detail erst in späteren Dokumenten seiner Regierung thematisiert, als seine Herrschaft konsolidiert und gefestigt war. In der Dekoration des Palasts von Persepolis wird in den Reliefs dargestellt, wie die Völkerschaften seines Reichs zum Großkönig strömen, um ihm freiwillig ihre Abgaben in Gestalt von Geschenken zu überbringen, da sie glücklich sind, von ihm als dem legitimen König regiert zu werden. Auf dem Relief seines Grabs in Naqš-i Rustam ist er dargestellt, wie er von den Völkerschaften seines Reichs getragen, also durch ihre Akzeptanz gestützt wird.
Festzuhalten bleibt, dass Dareios bestimmt, was normal ist und was einen Ausnahmezustand im persischen Reich darstellt – allerdings erst im Nachhinein, als das Reich gemäß seiner Sprachregelung vor der Lüge gerettet und seine Position gefestigt ist. (159) Die Charakterisierung des vorangegangenen Ausnahmezustands erfolgt gemäß den traditionellen altorientalischen Beschreibungen von Unheilsherrschaft. (160) Indes ist dieser „Ausnahmezustand“ relativ zu sehen; für Bardiyas Anhänger wird Dareios’ Machtergreifung sicherlich als Ausnahmezustand gesehen worden sein, gegen den sie sich mit Revolten zur Wehr setzten.
Literatur:
Anmerkungen:
6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
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