Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 6.8. | Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier) |
Semi-Barbaren und Semi-Römer
Die Normalität des Übergangs im Ausnahmezustand der römischen Spätantike
Peter Seele (KWI Essen, Institute for Advanced Study in the Humanities) [BIO]
Email: Peter.Seele@Email.de
Am 24. August 410 wurde Rom durch den Einbruch brandschatzender Goten unter der Führung des Königs Alarich und im Zuge der katastrophalen Niederlage zerstört. Dieses punktuelle Ereignis ist eingebettet in graduelle Transformationsprozesse. Exemplarisch wird diese philosophische Transformationstheorie belegt am dokumentierten Begriff der „Semi-Barbaren“. So ist der Untergang Roms nicht nur politisch und geostrategisch signifikant, sondern auch für die kulturelle Sinnstiftung. In den Worten Maiers wird Rom als „zeitliche Gestalt eines bestimmten geschichtlichen Raumes und Ablaufs, und als überzeitliche Form menschlicher Lebenshaltung und politischer Weltordnung“ (1955: 11) deutlich, wodurch die Einnahme Roms durch die Barbaren eine Zäsur bedeutet, durch die das Zeitalter der ‚Romideologie’ durch die Barbaren beendet wurde und somit der ‚geschichtliche Raum’ zu einem Ende kommt. Um den Gradualismus dieses Prozesses darzustellen, soll der Begriff des „Semi-Barbaren“ vorgestellt werden, jener beispielhaften Römer die beispielsweise außerhalb des römischen Reiches ihre Wurzeln haben oder wie der im Artikel behandelte Stilicho Sohn einer Römerin und eines Vandalen ist. Im Gegenzug wird der Begriff des Semi-Römers entwickelt, der für diejenigen Römer Verwendung findet, die freiwillig außerhalb der Grenzen des römischen Reichs leben, etwa um dem römischen Fiskus zu entgehen. Die Halbheit der Zuschreibung, die in dem Begriff „Semi“ deutlich wird, fungiert als Indikator für den Übergang und als Hinweis auf die Normalität dieses transitorischen Ausnahmezustandes.
Startpunkt
War das 4. Jahrhundert nach der offiziellen Anerkennung des Christentums als Staatsreligion weitgehend geprägt von dogmatischen Auseinandersetzungen, so zeichneten sich im 5. Jahrhundert schon die Momente ab, die bestimmend für das Mittelalter werden sollten: das trotz der staatsrechtlich fortbestehenden Einheit des römischen Imperiums immer deutlicher werdende Auseinanderstreben der beiden Reichshälften sowie die zunehmende Bedeutung der Barbaren, die sich - besonders im Westen - immer schwerer integrieren ließen und damit wesentlich zum Zerfall der kaiserlichen Macht und dem Prozess der Partikularisierung des Imperiums beitrugen, der schließlich zur Bildung der sogenannten Völkerwanderungsreiche führte (Elm 2003: 160f).
Die Anzeichen des Umbruchs können demnach zu Beginn des fünften Jahrhunderts verortet werden, als die Dezentralisierung Roms und insbesondere der römischen Macht einsetzte, was mit der Verarmung einzelner Städte einherging und zur Blockbildung des Imperiums führte (Rist 1994: 203). Rist schreibt dazu, dass sich die Institutionen äußerlich wenig verändert haben, dass dieselben Institutionen jedoch im Alter wie ‚instabile Fassaden’ aussahen.
Kurt Flasch weist auf einen Punkt hin, der ebenso zentral ist für das Verständnis des Umbruchs: Der Verlust der griechischen Sprache nach der politischen und kulturellen Trennung durch Konstantin im Jahre 324. „Es gab im Westen immer weniger Menschen, die griechische Bücher lesen konnten […]. Damit riss die Verbindung zur klassisch-griechischen Wissenschaft und Philosophie ab“ (Flasch 1986: 23f). Vom ‚Abreißen der Verbindung’ soll hier nicht die Rede sein. Vielmehr wurde durch diesen Schritt die unmittelbare Tradition der Werke und damit der Gedanken beendet. Was jedoch stattfand war die mittelbare Fortführung der klassisch-griechischen Erkenntnisse durch beispielsweise Augustin als Mittler, der das Wissen übersetzt hat.
Schließlich bleibt auf den Fall Roms im Jahr 410 einzugehen. Dieser besondere Niedergang und Fall einer Stadt und gleichsam eines Imperiums kam jedoch nicht völlig unvermittelt, was für die These der Überlappung zweier konkurrierender Struktursysteme als Konstituens des Wandels von Bedeutung ist. So berichtet Flasch davon, dass die Besitzenden vermehrt aufs Land flohen, „da die zentrale Verwaltung immer schwächer wurde. Jurisdiktion, Steuereintreibung und Verteidigung fielen mehr und mehr in die Zuständigkeit regionaler und lokaler Instanzen“ (Flasch 1986: 24). Die Germanenstämme, die schließlich Rom bedrohten und einnahmen, darf man sich nach Flasch „nicht zu groß vorstellen [...] - höchstens etwa 20.000 Kampffähige verwüsteten Städte und zerstörten Verkehrsverbindungen“ (Flasch 1986: 26). Dieser Umstand legt den Schluss nahe, dass Rom als Macht bereits stark geschwächt war und nur mit Mühe den Status aus der Vergangenheit aufrecht zu erhalten vermochte und schließlich scheiterte.
Weiter weist Ulrich Knoche in seinem Aufsatz über das ‚Selbstverständnis der Römer’ auf das „letzte große Symbol [hin], das der Adel der Hauptstadt am Ende des Altertums, wohl in den letzten Lebensjahren des Ambrosius, dem bereits herrschenden Kreuzessymbol herausfordernd entgegenstellte [:] die Göttin Roma“ (Knoche 1962: 145). Diese Information ist insbesondere im Hinblick auf die identitätsstiftende Funktion Roms von Belang, da Rom als Göttin der Inbegriff der Identifizierung (1) ist, die gegen die innere Zersetzung und Dezentralisierung angeführt wurde. Man kann also berechtigt von einer religiösen Unruhe sprechen, die auch für den Fall Roms eine entscheidende Rolle einnahm, wie Allan Fitzgerald behauptet. Dieser schreibt, dass Alarichs Einnahme Roms mehr als eine bloß strategische Bedeutung hatte: Rom war zentral für die Identität des Reiches und seiner Einwohner, und Roms Untergang forderte die Erwartung vieler Christen heraus, dass Gott das Römische Reich beschützen würde (Fitzgerald 1999: 93). Erst verlor Rom also seine altertümliche, eben römische Identität an die Christen und schließlich wurde Rom von den heidnischen Barbaren eingenommen.
„To Make an End is to Make a Beginning“
Über die Beziehung von Ende (der Antike) und Anfang (des Mittelalters) und der besonderen Qualität dieses Übergangmomentes als Ausnahmezustand kann hier der einem Sprichwort entlehnte Titel eines Aufsatzes von James O’Donnell (1994) angeführt werden: „To Make an End is to Make a Beginning“.
Im folgenden wird der zeitlich schwer zu fokussierende Übergang von der Antike zum Mittelalter anhand der Annahme eines Interregiums untersucht werden. Dabei wird insbesondere darauf einzugehen sein, inwieweit durch eine Epochenschwelle, die eine Zäsur (epoché) markiert, zugleich Kontinuität in der geschichtlichen Entwicklung gewährleistet wird. Es braucht so gesehen den Ausnahmezustand epochaler Umwälzung als Garant einer ohne Neuerung nicht herstellbaren Kontinuität durch inhärente Schwellenübergänge (Seele 2008).
Die Formulierung ‚auf der Schwelle’ ist dabei eine bildliche Annäherung an die historisch bedeutsame Zeit des 5. Jahrhunderts, die mit Robert Forman als ‚period of cataclysmic historical change’ bezeichnet werden kann, in der der ‚Todeskampf des römischen Imperiums und die Dämmerung des katholischen Christentums sowohl als weltliche, als auch als geistige Entität’ herrschte (Forman 1995: 6).
Franz Körner beschreibt diesen Zustand bewusster Instabilität mit den folgenden Worten: „Dem nun endgültig in die Grenzsituation geratenen Menschen der ausgehenden Spätantike wurde wie noch nie zuvor die beängstigende Haltlosigkeit dessen offenbar, worin er sich mit seinem Dasein und Denken bislang allzu geborgen gefühlt hatte“ (Körner 1968: 37). Der Aspekt der ‚Grenzsituation’ steht für die einschneidende Veränderung des Wandels, der erst Jahrhunderte später als Epochenschwelle Antike-Mittelalter bezeichnet werden sollte. Durch die Gestaltung des Wandels kann sich erst die Kontinuität einstellen, die die Beziehung zwischen dem Vorher und dem Nachher herstellt.
Die Semi-Barbaren
Ist also von einer Epochenschwelle im Sinne eines Ausnahmezustands die Rede, so geht es um eine gravierende Umwälzung in mehrerlei Hinsicht. Als charakteristisch sind in solchen Wendezeiten Erscheinungen, die einen Kipppunkt markieren, der die Ausnahme von der Regel bedeutet und die Regel erst durch die äußeren Grenzen definiert. Als Beleg der kataklysmischen Zeit des Wandels wird im Folgenden der Begriff des ‚Semibarbarus’ angeführt werden: Valerio Manfredi (2003: 63) führt beispielhaft Stilicho an, der unter Theodosius Reichsfeldherr wurde, nachdem er sich im Kampf gegen die Goten (391-92) als besonders heldenhaft ausgezeichnet hatte. Ein ‚Halbbarbar’ war er aufgrund der Tatsache, dass er der Sohn eines Vandalen und einer Römerin war. Doch diese Tatsache ist nur eine Voraussetzung für den militärischen Erfolg Stilichos. Die Bedingung dafür war, dass der Zusammenfluss fremder Elemente im römischen Reich „so groß wurde, dass keine Assimilation mehr möglich war“, worauf der langsame Zusammenbruch der Strukturen begann: „Zuerst war das Heer, die tragende Stütze des Reiches, betroffen. Für einige Zeit blieben die Truppenführer noch Römer. Später machten einige besonders fähige und energische barbarische Führer Karriere bis zum Oberkommando“ (Manfredi 2003: 63). Der Hinweis auf die ‚Semibarbaren’ kann als Indikator für den Übergang angenommen werden, da in dieser Beschreibung eine ‚Halbheit’ zutage tritt, die als Kipppunkt fungieren kann, der in diesem Fall epochal zu nennen ist. Doch zeichnete sich diese Wende schon weit früher ab wie beispielsweise durch die zu historischem Ruhm gekommenen ‚Semibarbaren’: Armenius oder Herrmann der Cherusker gezeigt werden kann.
Allein die beiden Namen weisen auf die jeweilige ‚Halbheit’ hin. Anders jedoch als Stilicho kämpfte Armenius nicht für die Römer, sondern, nachdem er zunächst in römischem Kriegsdienst stand und sogar das römische Bürgerrecht sowie die Ritterwürde erhielt, für die Cherusker, denen er entstammte. Nachdem er also zurückgekehrt war, schlug er zusammen mit anderen Stämmen um 9 nach Christus die drei Legionen des Varus in der sog. Varusschlacht bei Osnabrück, worauf die Römer ihre rechtsrheinische Offensive aufgaben. Der Begriff ‚Semibarbar’ ist für Arminius ebenso zutreffend, jedoch historisch anders belegt, da er aus dem sog. Barbarischen kommend in das römische Institutionengefüge gewechselt ist, um mit den dort angeeigneten Kulturtechniken und dem dort erlangten Wissen über römisches Militärwesen einen Wissensvorsprung erlangte, der ihn die Varusschlacht strategisch planen ließ, da er als Überläufer die Schwächen der Römer und die Stärken beispielsweise des Territoriums kannte.
Umso entscheidender ist vor dem Hintergrund der ‚Semibarbaren’ die Frage nach den ‚Semirömern’, denn erst wenn sich hierfür Anzeichen finden lassen, hat man es mit dem schwellentypischen, eigenen Geltungsbereich eines Interregiums zu tun. Anderenfalls müsste man statt von einer Epochenschwelle von einer Übernahme sprechen. Auch hier kann gezeigt werden, dass die Bewegung von beiden Seiten zu erkennen ist und damit den Ort der Schwelle markiert: „Es kam so weit, dass viele Römer der Grenzgebiete es vorzogen, in die von Barbaren kontrollierten Territorien auszuwandern, um der Raubgier des Fiskus zu entfliehen. „Wir sind dazu gezwungen, wie Barbaren zu leben, um weiter als Römer bestehen zu können“, kommentierte Salvian gegen Ende des fünften Jahrhunderts n. Chr. bitter (Manfredi 2003: 62). Der Kommentar des Salvian bringt die Ohnmacht des römischen Reiches zum Ausdruck, jenes Vakuum, welches schließlich durch die Übernahme durch die Germanen und durch die christliche Kirche gefüllt wurde. Auffällig ist dabei das Paradoxon, welches der Satz des Salvian beinhaltet, und das als weiteres Kriterium der Epochenschwelle verstanden werden kann, denkt man etwa an die Transformationstheorie Aokis zurück, worin der Sattelpunkt des Wandels in einem punktuellem Gleichgewicht zweier Gleichgewichtspfade gesehen werden kann (Aoki 2001: 183). Auffällig ist des weiteren die Verwendung von ‚weiterhin bestehen’, was zum Ausdruck bringt, dass es – zumindest für Salvian – nicht möglich gewesen sein muss, als Römer innerhalb seines Selbstverständnisses im römischen Reich leben zu können. Die Frage dahinter lautet: Wenn man im römischen Reich nicht mehr als Römer leben kann, kann man dies dann außerhalb des Territoriums überhaupt oder ist es vielmehr die provozierte Verlängerung eines Niedergangs, der jedoch schon erfolgt ist?
Eine entscheidende Eigenschaft dieses Zeitraums ist die Offenheit, die mit dem auf der Waage zu entscheidenden Wettbewerb der konkurrierenden und um Realisierung ringenden Strukturmuster einhergeht. H. Moss (neben anderen) (2) charakterisiert das vierte Jahrhundert als „an age dominated by the unseen” (Moss 1947: 13). Die Unvorhersehbarkeit der anstehenden Ereignisse ist ein weiterer Indikator für die Tiefe des Wandels. Gerald Bonner nennt jenen Zeitraum ein „age of material hardship” und folgert daraus die Hinwendung der Menschen zur Religion, da diese Sicherheit und Bestimmung geben konnte (Bonner 1963: 18).
Epochenschwelle: Kontinuität und Kreativität
Die Frage von übergeordneter Bedeutung für den Ausnahmezustand ist die nach der Kontinuität. In den Worten Hans Blumenbergs findet sich in der „Epochenwende als härteste[r] Zäsur“ zugleich „eine Funktion der Identitätswahrung“. Die Epochenwende ist hier mit der Spezifität des Ausnahmezustandes zu vergleichen. Dem „geschichtlichen Prozess“ kommt dabei die Funktion der Umbesetzung zu, was nach Blumenberg zur „Sanierung einer Kontinuität“ führt (Blumenberg 1976: 15). Was paradox klingt hat jedoch in der Phase des Übergangs, auf der Schwelle gewissermaßen, seine Gültigkeit. Im Ausnahmezustand liegt begründet, dass der Normalzustand mit eben jener Unterbrechung als Normalität fortbestehen kann.
Literaturverzeichnis:
Anmerkungen:
6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
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