TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. April 2010

Sektion 6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier)

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Sektionsbericht 6.8.

Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive

Oliver Ruf (Trier/Bonn) [BIO]

Email: rufo3301@uni-trier.de

 

Die Sektion galt der Untersuchung der Ideen- und (literatur-)geschichtlichen Dimensionen des Umgangs mit dem Phänomen des Ausnahmezustandes. Dieser beansprucht  gegenwärtig einen populären Platz in der öffentlichen Diskussion, wird aber von politischen Demagogen und Ideologen, Staatstheoretikern und Menschenrechtsaktivisten je anders ausgefasst. Das Sektionsprogramm zielte daher denn auch auf die Untersuchung differenzierter Betrachtungsweisen dieser Gesellschaftsformation und sollte die Erschließung einer „komplexen topologischen Figur“ erlauben, in dem „nicht nur Ausnahme und Regel, sondern auch Naturzustand und Recht, das Draußen und das Drinnen ineinander übergehen“. Dabei wurden sowohl einschlägige wie unbekannte Narrative unterschiedlicher nationaler Provenienz überprüft und außerdem zu Grunde liegende gesellschaftliche Entwicklungen in die Überlegungen mit einbezogen. Denn dem theoretischen und empirischen Verständnis des Ausnahmezustandes stehen zahlreiche fiktionale Darstellungen gegenüber, die zurück liegende gesellschaftliche Transformationen begleiten und dokumentieren. Dessen ästhetische Phantasien wurden in der Sektion analysiert, ihre erkenntnistheoretischen und historischen Implikate entwickelt.

I. Prolegomenon. Im Rahmen der neueren Philologien und Kulturwissenschaften wird und wurde der Ausnahmezustand bislang vergleichsweise gering reflektiert. Als prominenter Philosoph, der sich mit dem Thema beschäftigt, gilt Giorgio Agamben, der schlagkräftig ausgeführt hat, dass Natur- und Ausnahmezustand lediglich zwei Seiten des einen topologischen Prozesses sind, wo das, was als Außen vorausgesetzt worden ist (der Naturzustand), nun im Innern (als Ausnahmezustand) wieder erscheint. Im Zuge der Etablierung kulturwissenschaftlicher Fächer wird mithin öfters, wenn auch (noch) nicht umfassend auf Agamben rekurriert; dessen unscharfe disjunktive Definition steht nicht selten auf dem Prüfstand. Dennoch eignen sich seine Ausführungen in besonderer Weise, um Konzeptualisierungen des Ausnahmezustandes zu ermöglichen. Die Sektion richtete sich deshalb an vielen Stellen an Giorgio Agamben aus, unterließ es allerdings auch nicht, andere epistemologische Pfade zu durchschreiten. Die wissenshistorischen Fragen nach einer epistemischen Valenz des Ausnahmezustandes sowie dessen ideenhistorischen Zusammenhang sollten durch einen interdisziplinären Zugriff geklärt werden, der gleichermaßen Forschungsergebnisse der Historiographie und diverser Philologien berücksichtigt.

II. Ideengeschichtliche Ansichten. Das erste Sektionspanel umfasste Fragestellungen zur Ideengeschichte aus rechtsgeschichtlicher und im weitesten Sinne kulturwissenschaftlicher Perspektive. Der Beitrag von Andreea Badea (Bayreuth) befasste sich mit dem Notorietätskonzept im frühneuzeitlichen Recht und zeigte, wie Mitte des 16. Jahrhunderts die Genese einer Rechtspraxis einsetzt, die die Möglichkeit des Ausschlusses einer Person aus dem geltenden Rechtsgefüge in der weiteren Gesetzgebung bedeutete. Simon Strick (Berlin) rekonstruierte Giorgio Agambens Theoretisierung des Ausnahmezustandes im Hinblick auf das Foucaultsche Konzept der Biopolitik und thematisierte dies einerseits innerhalb einer Körpergeschichte, die von der biopolitischen Erfassung und Regulierung des Körpers in der Moderne ausgeht, wobei hierbei vor allem historische und zeitgenössische Diskurse über körperlichen Schmerz angesprochen wurden. Andererseits ging es Strick um die Frage, an welche Autoritäten und Instanzen eine solche diskursive Konstruktion gebunden ist. Iris Hermann (Siegen) arbeitete in ihrem Beitrag indes insbesondere literarische Imaginationen des Schmerzes heraus und untersuchte, wie der Ausnahmezustand des Schmerzes in verschiedenen Wissensformen (Literatur, Medizin, Psychoanalyse) zur Darstellung kommt bzw. wie sich entsprechende Diskurse etablieren konnten.

III. Historische Einblicke. Das zweite Panel beschäftigte sich mit sowohl historiographischen als auch konkret kunstgeschichtlichen Auseinandersetzungen zum Thema. Sabine Müller (Hannover) wandte sich dem antiken Perserreich zu und stellte dem Plenum Dareios vor, der als dessen maßgeblicher Gestalter gilt und einen Usurpator gestürzt haben soll, dessen Herrschaft sich als Ausnahmezustand darstellte.  Müller gab allerdings zu bedenken, dass zu überlegen wäre, jenen auch als eine künstliche Kreation aufzufassen und somit vielmehr Dareios’ Machtübernahme als eigentlichen Ausnahmezustand zu kennzeichnen. Peter Seele (Essen) wendete sich der römischen Spätantike in geschichtsphilosophischer Perspektive zu und stellte den Begriff des „Semi-Barbaren“ vor, in dem eine ‚Halbheit’ zu Tage tritt, die auf eine Hybridisierung kultureller Identitäten in Zeiten massiven kulturellen Wandels verweist und mit der eine Unterscheidung in Ausnahme und Regel korreliert. Carolin Behrmann (Berlin) analysierte den Ausnahmezustandes im Medium des Märtyrerbildes vor seiner bild- und rechtsgeschichtlichen Folie; anhand zeitgenössischer Bildtheorien und der sich in der Zeit wandelnden Definition des Rechts zeigte Behrmann, dass Bilder die Grenzen zwischen der Vorstellung von Tyrannei und legitimer Souveränität definieren und damit eng mit dem juridischen Diskurs über die Recht- oder Unrechtmäßigkeit politischer Macht zusammenhängen und diesen mitprägen. Annette Hojer (Rom) betrachtete den Ausnahmezustand mit bildlichen Zeugnissen für die historische Wahrnehmung von Notstandssituationen der Vesuvstadt Neapel: Dem städtischen Raum wird in den Gemälden die bedrohliche Natur gegenübergestellt, der intakten Gesellschaftsordnung das Chaos des Desasters.

IV. Philologische Fallstudien. Das dritte Sektionspanel situierte dieses Konzept im Feld seiner literarischen Fiktionen; die Vorträge verfolgten entsprechende Topoi sowie zentrale Gedankenfiguren quer durch die Literaturgeschichte. So widmete sich Martin Genetsch (Trier) den Ausnahmezuständen im Werk Shakespeares, genauer: in dessen Stück Measure for Measure. Dabei stellte sich heraus, dass hier ein durch ein Rechtsvakuum gekennzeichneter staatspolitischer Ausnahmezustand vorliegt, der weniger nach der Legitimität des Herrschers, als nach den Mechanismen des Herrschaftsvollzugs fragt. Jedoch ist ein permanenter Ausnahmezustand auf politischer Ebene insgesamt nicht nachzuweisen, da gerade kein „Paradigma des Regierens“ vorliegt. Gezeigt wurde vielmehr, dass Shakespeare in Measure for Measure den Ausnahmezustand als Testfall heranzieht, um die Tragfähigkeit von Beziehungen innerhalb der politischen Klasse, zwischen Herrscher und Untertan sowie zwischen Familienmitgliedern in den Blick zu nehmen.

Katharina Siebenmorgen (Dresden/Paris) thematisierte ein literarisches Krisenszenario, das vom so genannten Masaniello-Aufstand (Neapel 1647), dem das Potential einer politischen Umwälzung eingeschrieben war, seinen Stoff bezieht. Ausgehend vom Konzept der „Krise“ respektive des „Ausnahmezustandes“, in denen Ordnung und Unordnung sozialer Gemeinwesen dynamisch und kurzfristig unentschieden aufeinander bezogen sind, untersuchte Siebenmorgen die inszenierende Repräsentation angesichts einer den Erwartungshorizont der Zeitgenossen sprengenden Erfahrung, die sich im Textmedium als Projektion eines kollektiven auf ein individuelles Drama ausdrückt, das zur Misserfolgsgeschichte des maßlosen Einzelprotagonisten verdichtet wird, dem die Laufbahn des „re, reo, santo“ zugemutet wurde.

Tomislav Zelic (New York/Zadar) legte die literarische Darstellung von Ausnahmezuständen in frühmodernen Geschichtsdramen nahe (Kleist, Grabbe, Büchner), in denen der Herrscher das souveräne Recht über Leben und Tod des Untertanen ausübt, die Herrschaft jedoch auch durch die Todesbereitschaft des Untertanen bedingt ist; in denen darüber hinaus der Versuch, Volksherrschaft zu errichten, nicht Freiheit, Gleichheit und Demokratie errichtet, sondern in einen mörderischen Mechanismus oder Ochlokratie ausartet: Das Volk wird paradoxerweise zugleich als souveräne Macht und nacktes Leben gezeigt.

Kai van Eikels (Berlin) stellte eine ökonomische Figur der Steigerung oder Übersteigerung von Performance vor, eine Virtuosität, bei der das virtuose Mehr die etablierten Standards für den Augenblick einer Ausnahme-Performance außer Kraft setzt. Ins Zentrum rückte der Virtuose, der mit seinem Bühnenauftritt die Kontrolle über den Ausnahmezustand übernimmt und frenetische Begeisterung bis hin zu Ohnmachten provoziert; der also symbolisch an die Stelle des souveränen politischen Herrschers tritt.

Sebastian Hüsch (Basel/Pau) befasste sich mit einer Dialektik von Ausnahmezustand und Normalität, die Robert Musil in seinem Mann ohne Eigenschaften paradigmatisch illustriert, und unterstrich in diesem Kontext eine Dialektik von Langeweile und Erlebnis als Charakteristikum der Moderne.

Torben Fischer (Lüneburg) spürte den Verzerrungen und Verschiebungen der Dichotomien (Wahrheit/Unwahrheit, Recht/Unrecht, Natur-/Ausnahmezustand) in zwei literarischen Texten nach, die mit dem Holocaust den fundamentalen, Ausnahmezustand’ einer fortschreitenden Entrechtung und systematischen Vernichtungspolitik zu reflektieren suchen. Das äußerst vielgestaltige literarische Spiel mit dem Bild der, Reise’ als das einer, Überschreitung’ in der europäischen Holocaust-Literatur reflektiert dabei die Verschränkung von Natur- und Ausnahmezustand; das Unvorstellbare des Holocaust ist gerade in jenem spiegelbildlich, unschuldigen’ Bild der Reise reflektier- und darstellbar.

Monika Tokarzewska (Thorn) konzentrierte sich auf einen Ausschnitt der Shoah-Wirklichkeit, d.h. auf das Ghetto, das sie als einen Ausnahmeort konturierte, in dem die Menschen an das permanente Fehlen einer Gesetzeslogik und an die allgegenwärtige Lebensgefahr gewöhnen werden sollen.

Christine Wilhelm (Bayreuth) fasste Migration als Leben in permanentem Ausnahmezustand auf, wie es in Teréza Moras Roman Alle Tage anzutreffen ist.  Die alle Ebenen des Textes dominierende ontologische Unsicherheit macht darin jegliche Form der Orientierung zunichte; signalisiert wird, dass nicht nur Ausnahme und Regel ineinander übergehen, sondern die Ausnahme gänzlich zur Regel wird.

Boris Previsic (Basel) stellte aktuelle thematische Bezüge zum Zerfall Jugoslawiens her, indem er in der Literatur aus dieser Region eine Diskurslinie verfolgte, in der die Potenzierung des Ausnahmezustands in Form von Massenvergewaltigung als auch die Bedrohung durch den Ausnahmezustand „als permanente Struktur“ nachgezeichnet werden kann.

Tanja Zimmermann (Erfurt) untersuchte einen Kurzfilm Jean-Luc Godards, Je vous salue Sarajevo, dem ein Foto des Kriegsreporters Ron Haviv aus dem Jugoslawienkrieg zugrunde liegt, das zeigt, wie serbische Milizionäre Angehörige der moslemischen Zivilbevölkerung in Bosnien misshandeln. Im Film werden Ausschnitte aus dem Foto nacheinander gezeigt und von einem kurzen Text über die Regel und die Ausnahme begleitet, wobei die Regel mit der europäischen Kultur, die Ausnahme mit der Kunst und Bosnien konnotiert wird.

Oliver Kohns (Luxemburg) bot einen Einblick in einen Diskurs des Ausnahmezustandes, in dem die gesellschaftliche Realität – inklusive des Souveräns und der Gesetze – als Täuschung über ei­nen grundsätzlichen Bürgerkrieg erscheint, der wiederum die diskursive Grundlage für E.L. Doctorows Roman Ragtime (1974) bildet.

Christian J. Krampe (Trier) nahm zum Abschluss der Sektion Chuck Palahniuks Roman Haunted in den Blick, in dem  sich eine spezielle Art von Lager bildet‚ das als Spiegelbild des ‚Außen’ fungiert und darauf verweist, dass sich der Ausnahmezustand bereits in die Durchschnittskultur ‚eingefressen’ hat.

V. Diskussionslinien. In den das Sektionsprogramm begleitenden Diskussionsrunden, die vornehmlich einer weiterführenden Theoretisierung und Methodologisierung der Panelergebnisse galten, wurde erwartungsgemäß heraus gestellt, dass die Rede vom Ausnahmezustand ein zentrales Element der ästhetischen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen darstellt. Die Thematisierung und Problematisierung von Ausnahmezuständen findet sich in der bildnerischen Darstellung ebenso wie im Theater oder in der Literatur. Am Ende konnte man sich darüber verständigen, dass es, um sich über derartige Dimensionen Disziplinen übergreifend zu verständigen, diese nachzuvollziehen und zu verstehen,dringend einer gemeinsamen theoretisch-methodologischen Basis bedarf. Dazu wollte sich die Sektion grundsätzlich als Anregung und Aufforderung verstanden wissen, wenn auch eine Theorie und Methode der Ausnahme nach wie vor ein Desiderat der Forschung bleibt. Auf diese ‚Lücke’ anhand zahlreicher Einzelstudien jedoch aufmerksam gemacht zu haben, war ein Anliegen, der sich die Sektion mit Nachdruck stellte.  


6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive

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For quotation purposes:
Oliver Ruf: Sektionsbericht 6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-8_sektionsbericht17.htm

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