Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 6.8. | Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier) |
Migration als Leben in permanentem Ausnahmezustand.
Zu Terézia Moras Roman Alle Tage
Christine Wilhelm (Bayreuth) [BIO]
Email: chr.wilhelm@yahoo.de
1. Das Leben der displaced person als permanenter Ausnahmezustand
„Panik ist nicht der Zustand eines Menschen. Panik ist der Zustand dieser Welt. Alles mal die unbekannte Größe P“ (1) heißt es zu Beginn von Terézia Moras Roman Alle Tage (2004) (2). In dem so eingeläuteten Ausnahmezustand treffen wir auf den Protagonisten des Romans, den vor einem drohenden Bürgerkrieg in seiner osteuropäischen Heimat, allem Anschein nach dem ehemaligen Jugoslawien, in eine westeuropäische Metropole geflüchteten Deserteur und Übersetzer Abel Nema. Wir treffen ihn in schäbigen Unterkünften, die immer nur eine vorläufige Bleibe darstellen, an der Universität, wo ihm zuerst ein Studium und dann eine Doktorarbeit zu einer Aufenthaltsgenehmigung verhelfen, in einer Sexbar, wo er als stiller Voyeur seine homosexuellen Neigungen befriedigt und bei einer einheimischen Familie, mit deren allein erziehender Mutter er schließlich ein Scheinehe eingeht, um sein Bleiberecht zu verlängern. Wir erfahren außerdem, dass er mit dem gültigen Pass eines Bekannten eine Reise durch Europa unternimmt, aber diese Fahrt wird in Form einer Ellipse erzählt. Denn ein Leben mit den „richtigen“ Papieren ist in Alle Tage uninteressant. Wovon dieser Roman erzählt, ist die Existenz ohne gültige Papiere und damit ohne Identität. Das französische Wort für Ausweis pièce d’identité sagt uns deutlich, dass es demjenigen, der über keine gültigen Papiere verfügt, an Identität fehle (3). Vom Leben dieser Menschen, das einem permanenten Ausnahmezustand, d.h. einer zur Dauer gewordenen Übergangslösung gleicht, erzählt uns der Roman Alle Tage: Vom Warten auf den Erhalt der richtigen Papiere und von dem Sich-Einrichten in der Illegalität bis dahin, vom Ersehnen der Rückkehr in die Heimat, von der permanenten Suche nach einer neuen oder menschenwürdigeren Unterkunft, vom alltäglichen Sich-Arrangieren mit materiellem Mangel und kultureller Fremdheit und von der nicht nachlassenden Furcht um die zu Hause Gebliebenen. Dass es sich bei den aufgezählten Lebensumständen um einen möglichst bald vorübergehenden Ausnahmezustand handele, ist eine nur allzu berechtigte Hoffnung. Im Leben der displaced person wird jedoch gerade dieses Hoffen auf eine baldige Änderung der Lebensumstände zur Dauer und zu einer Art perverser Normalität. Denn diese Zustände können und wollen wir nicht als normal anerkennen; „normal“ im umgangssprachlichen Sinne gesellschaftlich akzeptierter und auszuhaltender Lebensbedingungen. Das Gefühl Abel Nemas „[n]icht am richtigen Ort, oder am richtigen Ort, nicht der richtige Mensch zu sein” (Alle Tage: 406) können wir uns als spontane, vorübergehende Gefühlsregung vielleicht vorstellen, nicht jedoch als das tägliche Leben dominierende Grundeinstellung zur eigenen Existenz.
Jedoch handelt es sich beim Schicksal der displaced person um ein typisches Schicksal im Zeitalter der Globalisierung. Dies bedeutet, dass der Ausnahmezustand, in dem sich deren Leben abspielt, in doppelter Weise zum Normalzustand wird. Zum einen wird der Ausnahmezustand durch die Dauerhaftigkeit, die er im Leben des einzelnen Flüchtlings einnimmt, zur Normalität. Zum anderen wird er durch die Masse von Menschen, die ein Leben im permanenten Ausnahmezustand führen, zu einem normalen Leben im Zeitalter der Globalisierung.
Ich verstehe den Ausnahmezustand hier nicht primär in seiner wörtlichen Bedeutung als „aufgrund von Krieg, Aufruhr oder einer Naturkatastrophe ausgerufenen Rechtszustand, in dem bestimmte Staatsorgane besondere Vollmachten erhalten und die Verfassung außer Kraft gesetzt wird oder Bürgerrechte eingeschränkt werden, um normale Verhältnisse wiederherzustellen“ (4). Sondern ich bediene mich des Begriffs „Ausnahmezustand“, um ein Leben zu beschreiben, in dem Grundrechte des Menschen außer Kraft gesetzt sind und in dem er für unsere (westlichen) Begriffe grundlegende Bedürfnisse wie, in eine Gemeinschaft integriert zu sein, ein zu Hause zu haben oder überhaupt als menschliche Existenz anerkannt zu sein, nicht befriedigen kann, wie es Horn in Anlehnung an Agambens „nacktes Leben“ beschreibt:
„Die Entblößung vom Status des Bürgers, die den Staatenlosen und Flüchtling kennzeichnet, beraubt ihn aller politischen Rechte – und damit ist das Menschliche, auf das die Menschenrechte jenseits der Bürgerrechte sich beziehen, nichts anderes mehr als die bloße biologische Zugehörigkeit zur Gattung ‚Mensch’. Es gibt nichts mehr, was dieses abstrakte Menschenwesen über seine naturhafte Menschlichkeit hinaus mehr ausmacht und genauer bestimmt, keine Gemeinschaft, keinen Beruf, keine Staatszugehörigkeit, keine Meinung und kein Können, das es als Individuum und spezifische Person ausweisen würde, es ist das exakte Gegenbild des durch all dies ‚legitimierten’ und individuierten Staatsbürgers.“ (5)
Wir haben es also auch in meiner Lesart mit einer Außerkraftsetzung von Rechten zu tun und auch diese Einschränkung von Rechten wird für eine beschränkte Zeit angenommen, also als Übergangslösung betrachtet, um bessere Bedingungen (wieder)herzustellen. Mit der Annahme, dass der Ausnahmezustand im Leben der displaced person zu einem dauerhaften Zustand wird, schließe ich mich Agamben an, der in Homo Sacer (2002) Lager wie Ausschwitz oder Guantánamo und Slums als Orte identifiziert, an denen sich der Ausnahmezustand auf Dauer einstellt. Aus diesen Gründen halte ich den Begriff „Ausnahmezustand“ für eine geeignete Denkfigur, um das Leben des Flüchtlings oder illegalen Einwanderers zu beschreiben – oder besser: den Versuch einer Beschreibung aus der Perspektive eines westeuropäischen Akademikers zu wagen und mir dabei der eigenen Perspektive als einer zutiefst fremden gegenüber dem Gegenstand der Beschreibung bewusst zu bleiben.
Werfen wir nun einen Blick auf den Helden des Romans Alle Tage, den Bürgerkriegsflüchtling Abel Nema, dessen Heimatland nicht mehr existiert und der damit über keinen gültigen Ausweis mehr verfügt. Untersuchen wir, inwiefern seine Geschichte als Geschichte eines Ausnahmezustands gelesen werden kann.
2. Die Geschichte der displaced person als Zwischenzeit
Dass das in Alle Tage geschilderte Leben Abel Nemas als Übergangslösung, die sich über die Jahre hinweg immer mehr als Normalzustand manifestiert, gelesen werden kann, äußert sich zunächst darin, dass sich die erzählte Zeit als Zwischenzeit beschreiben lässt. Mit nichts weiter als einem Zettel in der Hand, auf dem der Name eines Professors steht, der ihm ein Stipendium organisieren und einen Studienplatz beschaffen wird, kommt der Flüchtling Abel Nema in einer westeuropäischen Großstadt an. Zu dieser günstigen Fügung kommt hinzu, dass er gleich am Tag seiner Ankunft den Geschichtsstudenten Konstantin kennen lernt, der ihn als illegalen Mitbewohner in seine Wohngemeinschaft aufnimmt. Alles läuft so gut an, dass Konstantins schäbige Bleibe nichts weiter als ein kurzer Zwischenstop auf dem Weg in eine rasche und erfolgreiche Integration im Exilland zu sein scheint. Jedoch bleiben Abel Nemas mehrfach wechselnde Unterkünfte immer nur zwischenzeitliche Lösungen; provisorische, schäbige und illegale Behausungen, deren Beschreibung den Leser schaudern lässt. Abel Nemas Mitbewohner Konstantin, der ebenfalls ein illegaler Einwanderer ist, äußert deutlich, dass er das Leben in seiner schäbigen Wohngemeinschaft als zwischenzeitliche Lösung, auf die ein besseres Leben folgen wird, betrachtet. Er empfiehlt deshalb Abel Nema bei dessen Ankunft im für die Mittel des Flüchtlings zu teuren Exilland: „Empfehlung für die Zwischenzeit: viel Nudeln, viel Brühwürfel, sowie Tomatenmark und Kohl“ (6). Und schließlich beschreibt auch Abel Nema selbst sein Leben als zwischenzeitliche Lösung, wenn er davon spricht, „in die allumfassende Vorläufigkeit der absoluten Freiheit eines Lebens ohne gültige Dokumente“ (7) geraten zu sein.
Die zeitliche Struktur des Romans verstärkt den Eindruck, dass es sich bei der erzählten Zeit um eine Zwischenzeit handelt. Die Erzählung setzt damit ein, dass Abel Nema von einer Bande gewaltbereiter Jugendlicher zusammengeschlagen und mit Klebeband kopfüber an einem Klettergerüst aufgehängt worden ist. Alles, was nun auf gut 400 Seiten erzählt wird, wird in Form einer Rückschau in der Zwischenzeit, während Abel Nema vom Klettergerüst herabhängt und bevor drei Frauen ihn finden und ins Krankenhaus bringen, erzählt. Er hängt auf dem Kopf, während in der Zwischenzeit sein Leben erzählt wird, und wird erst am Romanende erlöst (8).
3. Kulturelle Fremdheit als Faktor des Ausnahmezustands
Zwei Faktoren, die das Leben Abel Nemas als hoffentlich nur zwischenzeitliche Lösung und möglichst bald vorübergehenden Ausnahmezustand erscheinen lassen, wurden bereits erwähnt: materieller Mangel und das Fehlen gültiger Papiere. Diese werden ergänzt durch die kulturelle Fremdheit des Flüchtlings. Die Figur Abel Nema – Flüchtling, Staatenloser, Übersetzer, Zigeuner, Homosexueller… – ist mit Fremdheitsmetaphorik geradezu überladen und Begriffe wie „Muttersprache“, „Landessprache“ und „Heimaterde“ sowie die Gegenüberstellung von „hier“ und „dort“ sowie „uns“ und „denen“ durchziehen den Roman.
Folglich erscheint die erzählte Welt, die unsere Welt ist, also die des westeuropäischen Lesers, aus der Perspektive des Flüchtlings Abel Nema geschildert, zutiefst befremdlich, wie selbst in einem permanenten Ausnahmezustand befindlich. Wir Leser werden mit einer irritierenden Schilderung unserer Welt konfrontiert, da wir sie in Alle Tage mit den Augen Abel Nemas wahrnehmen. Die Ortsbeschreibung auf der ersten Seite des Romans hat nichts mit der Faszination eines glänzenden Westeuropas zu tun, wie wir sie bei Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlingen vielleicht vermuten. Schließlich gehen wir davon aus, dass diese bei uns ein besseres, lebenswerteres Leben suchen. Vielmehr erinnert die westeuropäische Großstadt in der Wahrnehmung des Osteuropäers Abel Nema an stereotype Vorstellungen Westeuropas von einem heruntergekommenen, lebensfeindlichen Osteuropa:
„Eine Stadt, ein östlicher Bezirk davon. Braune Straßen, leere oder man weiß nicht genau womit gefüllte Lagerräume und vollgestopfte Menschenheime, im Zickzack an der Bahnlinie entlang laufend, in plötzlichen Sackgassen an eine Ziegelsteinmauer stoßend. Ein Samstagmorgen, seit kurzem Herbst. Kein Park, nur ein winziges, wüstes Dreieck sogenannte Grünfläche, weil etwas übrig geblieben war am spitzen Zusammenlaufen zweier Gassen, so ein leerer Winkel. Plötzliche Böen frühmorgendlichen Windes – das kommt von der zerklüfteten Straßenstellung, so ein soziales Gebiss –, rütteln an einer hölzernen Scheibe, einem alten oder nur so aussehenden Kinderspielzeug, das am Rande der Grünfläche steht. Daneben der frei schwebende Tragering eines Mülleimers, der Eimer selbst fehlt. Einzelner Abfall liegt im nahen Gestrüpp, das es in Anfällen von Schüttelfrost loszuwerden versucht, aber es fallen meist nur Blätter klappernd auf Beton, Sand, Glasscherben, ausgetretenes Grün.“ (9)
Diese Beschreibung der eigenen Welt irritiert den Leser, und zwar weil seine Welt für den Flüchtling Abel Nema zutiefst befremdlich ist. Dass der Beobachterstandpunkt Abel Nemas der eines Fremden ist, wird übrigens auch in seiner intertextuellen Verwandtschaft mit Ireneo Funes in Jorge Luis Borges’ Erzählung Funes el memorioso (1942) (10) deutlich. Kurz vor seiner Ankunft im westeuropäischen Exil hat Abel Nema einen Unfall mit einem undichten Gasofen. Dabei wird sein Gehirn einer Transformation unterzogen und ist von da an in außergewöhnlicher Weise begabt, Fremdsprachen zu erlernen. Jedoch büßt Abel Nema bei diesem Unfall seinen Geschmacks- und Orientierungssinn ein. Sein intertextuelles Vorbild in Sachen Gehirntransformation Ireneo Funes wird durch einen Reitunfall gelähmt und erhält dabei die Gabe einer unfehlbaren Wahrnehmung und eines ebensolchen Gedächtnisses. Durch diese Fähigkeiten nimmt er so wie Abel Nema die ihn umgebende Welt auf eine andere, fremde und befremdliche Weise wahr:
„Refiere Swift que el emperador de Lilliput discernía el movimiento del minutero; Funes discernía continuamente los tranquilos avances de la corrupción, de las caries, de la fatiga. Notaba los progresos de la muerte, de la humedad. Era el solitario y lúcido espectador de un mundo multiforme, instantáneo y casi intolerablemente preciso.” (11)
Neben dieser intertextuellen Verwandtschaft sehe ich den Grund für Abel Nemas so befremdliche Wahrnehmung unsrer Welt in folgendem Sachverhalt: Aufgrund ihrer kulturellen Fremdheit kann die in ein System fremder Regeln übersetzte displaced person die Regeln, nach denen das Zusammenleben im Exilland funktioniert, nicht decodieren. Jede eigene sowie jede beobachtete Handlung geschieht in ihrer Wahrnehmung ausnahmsweise, und nicht als aus einem Gefüge von Regeln und Konventionen notwendigerweise und normalerweise hervorgehend. Deshalb gerät die displaced person bei alltäglichsten Handlungen permanent in Ausnahmesituationen. Um im Exilland normal zu wirken, muss sie ständig ihren eigenen Vorstellungen von normaler Interaktion zuwider handeln. Dies kann mit Bhabhas (12) Konzept des third space erklärt werden. Dieser „dritte Raum“, der durch Kulturkontakt entsteht und der folglich der Raum des Migranten ist, ist ein Raum der Verhandlung, in dem kulturelle und sprachliche Unterschiede immer wieder aufs Neue zur Disposition stehen. Damit sind auch Normen und Regeln im third space keine fixen Größen, sondern Gegenstand permanenter Verhandlung. Hinzu kommt, dass es sich beim third space um einen für die Interaktion gefährlichen, da durch eine „Gleichgewichtsstörung“ (13) markierten Raum handelt, in dem Zeichen außerhalb ihres eigenen Kontextes gedeutet werden, was zu Bedeutungsverlust und Missverständnissen führen kann.
In Alle Tage können wir beobachten, wie Abel Nema mit seinem System, die Welt zu ordnen und seine Beobachtungen mit Sinn zu füllen, an der ihm fremden Welt scheitert. Sprache ist seit seinem Gasunfall für ihn der Code, mit dem er seine Umwelt entziffert und ordnet. Aber dieser Code erweist sich als unbrauchbar, um sich in der für ihn fremden Stadt zu orientieren, obwohl er sich problemlos die Namen aller Straßen und Stationen merken kann. Immer wieder verliert Abel Nema selbst in kleinstem Radius die Orientierung und sein fehlender Orientierungssinn führt schließlich auch die Katastrophe herbei: Indem Abel Nema sich immer wieder verläuft, nähert er sich mehr und mehr dem Treffpunkt einer gewaltbereiten Jugendbande an, die ihn schließlich zusammenschlagen und an einem Klettergerüst aufhängen wird und so die bereits geschilderte Eingangsszene des Romans hervorrufen wird. Dass Abel Nema in der fremden Stadt immer wieder verloren geht, ist weiterhin darauf zurückzuführen, dass sein fehlender Orientierungssinn dem ihn umgebenden Raum eine labyrinthische Struktur verleiht, die durch regelmäßige Déjàvu-Erlebnisse gekennzeichnet ist:
„Er orientierte sich anhand einiger signifikanter Landmarken: dem Park, dem Bahnhof, der Nervenklinik, dem einen oder anderen Kirchturm. Dazwischen sahen die meisten Ecken so aus, als wäre er gerade erst da gewesen. Wandeln durch ein permanentes Déjavu (sic). Auf der anderen Seite sah oft ein hundert Mal gegangener Weg ausgerechnet vor der letzten, definitiv geglaubten Rechtskurve so aus, als könnte das unmöglich stimmen. Als hätten sich die Himmelsrichtungen um einen gedreht.“ (14)
Dass aus dem Labyrinth der fremden Welt kein Entkommen möglich ist, bewahrheitet sich schließlich makabererweise in einem misslungen Selbstmordversuch Abel Nemas. Und dass der Flüchtling hier einen erneuten Fluchtversuch aus seinem Leben im Exilland unternimmt, unterstreicht noch einmal meine Deutung, dass es sich hier um ein Leben in permanentem Ausnahmezustand handelt, der eine weitere Flucht nötig macht.
Terézia Mora lässt zudem den Leser Abel Nemas Orientierungslosigkeit miterleben, indem sie ihn seinerseits in der labyrinthischen Struktur des Textes Alle Tage verloren gehen lässt. In der anhand von Zeit- und Sinnsprüngen funktionierenden Erzählung (15) stößt der Leser wie in einem Labyrinth immer wieder auf Wiederholungen von bereits erzählten Szenen, Ortsbeschreibungen, Formulierungen und Äußerungen der Figuren. Die Déjàvu-Erlebnisse Abel Nemas wiederholen sich in der Lektüre des Lesers.
4. Ungewissheit als ein Faktor des Ausnahmezustands
Der Verlust von Orientierung scheint nicht nur im Roman Alle Tage ein zentrales Merkmal des Ausnahmezustandes zu sein. Wenn Normen und Regeln außer Kraft gesetzt sind, ist es schwierig oder gar unmöglich zwischen Recht und Unrecht oder Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Diese Annahme sehe ich darin bestätigt, dass Wahrheit zu kennen in Alle Tage kaum möglich ist. Weder die anderen Figuren der histoire noch der Leser können z.B. die permanent angezweifelte Wahrheit über Abel Nema erfahren. Bis zum Romanende werden die ständigen Zweifel daran, wer und wie Abel Nema ist, ob er wirklich zehn Fremdsprachen beherrscht, ob er homosexuell ist oder nicht und ob er eine Doktorarbeit begonnen hat oder nicht, nicht aufgehoben, sondern vielmehr noch potenziert. Nachdem er zusammengeschlagen wurde, erleidet Abel Nema eine Amnesie, sodass er selbst keinerlei Auskunft mehr über seine Geschichte geben kann. Und der einzige Vertraute Abel Nemas, der Sohn seiner Scheinehefrau Mercedes, schweigt sich hartnäckig über seine Gespräche mit seinem Freund aus.
Zu dieser Ungewissheit auf der Ebene der histoire kommt hinzu, dass der Leser aus dem Stimmengewirr des Romans kaum eine zuverlässige Aussage herauslesen kann. Wer jeweils spricht, ist an vielen Stellen des Romans kaum auszumachen und die Instanz, die man für den Erzähler des Romans halten kann, erweist sich häufig als zutiefst unzuverlässiger Erzähler. Ihm fehlen Informationen oder er ist nicht daran interessiert oder dazu bereit, zuverlässige Informationen zu geben. Er muss sich zuweilen selbst in seinen Ausführungen korrigieren, er ist parteiisch, er widerspricht sich selbst und wechselt permanent zwischen einem offenen Bekennen zur Gemachtheit der Erzählung und der Suggestion einer die Realität eins zu eins wiedergebenden mimēsis. Der Leser muss zudem die anhand von Zeit- und Sinnsprüngen funktionierende Erzählung in ein chronologisches und kohärentes Nacheinander übersetzen, wobei nicht immer sicher ist, ob der Text dies überhaupt zulässt. Und die Vorstellung, dass beim Übersetzen stets ein Teil verloren geht, ist schließlich weit verbreitet.
Die alle Ebenen des Textes - histoire und discours - dominierende ontologische Unsicherheit macht jegliche Form von Orientierung zunichte und lässt den Leser mehr und mehr an der Kohärenz der ihm geschilderten und der ihn umgebenden Welt zweifeln. Liest er nur eine Geschichte über das Leben eines Flüchtlings in dauerhaftem Ausnahmezustand oder weist auch die ihn umgebende Realität erste Anzeichen eines Ausnahmezustandes auf? Dieser Frage soll im Folgenden nachgegangen werden.
5. Fazit
Innerhalb des geschilderten allgemeinen Ausnahmezustandes der displaced person erlebt Abel Nema gleich einer mise en abyme weitere Zwischenzustände wie Rausch, Delirium und Panikattacken; Ausnahmezustände im Ausnahmezustand sozusagen. Sie signalisieren, dass hier nicht nur Ausnahme und Regel ineinander übergehen, sondern die Ausnahme gänzlich zur Regel wird.
Diese Deutung verstärkt zudem der Romantitel Alle Tage, der Ingeborg Bachmanns gleichnamigem Gedicht entliehen ist, in dem es heißt: „Das Unerhörte ist alltäglich geworden“ (16). Für die displaced person ist das Unerhörte das eigentlich Erwartbare, denn auf das, was in ihrer Heimat und in ihren Wertvorstellungen normal ist, kann sie in der Fremde nicht zählen. Die Welt ist in Alle Tage von Anfang an auf den Kopf gestellt, denn den Protagonisten Abel Nema lernen wir kopfüber vom Klettergerüst hängend kennen (17). Und nur aus dieser Perspektive kann Abel Nemas Leben erzählt werden. Damit ähnelt er Büchners Lenz, für den auf dem Kopf zugehen die normale Fortbewegungsart wäre. Schließlich wird der Ausnahmezustand in Alle Tage derart zum Normalzustand, dass dies am Ende des Romans nicht einmal mehr artikuliert werden kann: „Panik ist nicht ---, Panik ist --.“ (18)
Beunruhigend ist Moras Roman insofern, als die Figur Abel Nema sich nicht darauf beschränkt, Migrant zu sein, sondern vielmehr metaphorisch für den Menschen an sich steht. Denn Abel Nema ist nicht nur aus der Perspektive der Einheimischen, sondern ebenso aus der der zahlreichen anderen Migrantenfiguren in Alle Tage ein Fremder. Und er wird nicht erst durch Flucht und Migration zum Fremden, sondern war als Homosexueller und Sonderling bereits in seiner osteuropäischen Heimat ein Außenseiter. Zudem wird seine Fremdheit bereits durch seinen Namen definiert und ist ihm damit von Geburt an gegeben:
„[…] dein Name verrät dich: Nema, der Stumme, verwandt mit dem slawischen Nemec, heute für: der Deutsche, früher für jeden nichtslawischer Zunge, für den Stummen also, oder anders ausgedrückt: den Barbaren. Abel, der Barbar, sagte eine Frau namens Kinga und lachte. Das bist du.“ (19)
Die Sprecherin Kinga stammt aus Abel Nemas osteuropäischem Heimatland und ist so wie er eine illegale Einwanderin. Nichtsdestotrotz ist Abel Nema auch in ihren Augen ein Fremder. Abel Nemas Fremdheit ist vor diesem Hintergrund nicht nur eine Eigenschaft des Migranten oder Flüchtlings, sondern eine elementar menschliche Eigenschaft, die ihn von Geburt an im Ausnahmezustand leben lässt. Denn der Mensch ist seit der Vertreibung aus dem Paradies ein Fremder in der Welt und der Ausnahmezustand stellt so eine allgemein menschliche Erfahrung dar. Aus diesen Gründen werden die Worte „zu Hause“ in Alle Tage nur in Kursivdruck verwendet.
Bibliographische Angaben:
Anmerkungen:
6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
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Webmeister: Branko Andric last change: 2010-03-29