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Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 |
Sektion 6.8. | Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier) |
Ausnahmezustände in frühmodernen Geschichtsdramen
von Kleist, Grabbe und Büchner
Tomislav Zelic (New York/Zadar) [BIO]
Email: tz52@columbia.edu oder tzelic@unizd.hr
Nach der Wende gingen viele Theoretiker davon aus, dass der moderne Nationalstaat seine exponierte gesellschaftliche Stellung angesichts des wirtschaftlichen und politischen Globalisierungsschubs and der verstärkten internationalen Kooperation und Reglementierung allmählich verlieren würde. Trotz des kulturellen Denationaliserungseffekts, der Relativierung der Staatssouveränität und der Historisierung der Nationalstaaten in der modernen Weltgesellschaft, herrschen heute mehr denn je Zweifel darüber, ob wir tatsächlich in einer wahren postnationalen(1) oder postsouveränen (2) politischen Weltordnung angekommen seien. Die politische Kultur hat noch lange nicht die Partikularismen und Idiosynkrasien nationalstaatlicher Geschichte und Identität überwunden, ja es ist fraglich, ob dies überhaupt erstrebenswert wäre. Angenommen, dass modernes nation-building die Errichtung der rechtsstaatlichen Herrschaft, repräsentativen parlamentarischen Demokratie, freie und soziale Marktwirtschaft und Zivilgesellschaft einschließt, so setzt all dies nationalstaatliche Souveränität voraus, wird durch diese bedingt und allererst ermöglicht. Nach den Terroranschlägen vom Elften September und seit des Zweiten Golfkriegs hat das Thema der nationalstaatlichen Souveränität und die Grundfrage ‚Liberalismus, Republikanismus oder Totalitarismus?’ seine historische und politische Relevanz keineswegs eingebüßt, vielmehr scheint sie seither umso dringlicher geworden zu sein. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben macht in diesem Zusammenhang die folgende Beobachtung: „De facto ist die fortschreitende Zersetzung der Exekutivgewalt des Parlaments, das sich heute oft darauf beschränkt, Anordnungen der Exekutive durch Erlasse mit Gesetzeskraft zu ratifizieren, seit der damaligen Zeit (Weimarer Republik der 1930er Jahre, m. Anm., T.Z.) zu einer gängigen Praxis geworden. […] Einer der wesentlichen Züge des Ausnahmezustands – die vorübergehende Abschaffung der Unterscheidung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion – zeigt hier die Tendenz, sich in eine ständige Praxis des Regierens zu wandeln.“ (3) Während „die verfassungsmäßige Diktatur […] zum herrschenden Paradigma des Regierens wird, schwinden Bürgerrechte […]. Die Macht der Regierung wächst.“ (4)
Deutsche Geschichten von der Französischen Revolution bis zur Wiedervereinigung erzählen von halbherzig versuchten, bescheiden erfolgreichen und katastrophal fehlgeschlagenen Neugründungen des Nationalstaats. Allein während des Zwanzigsten Jahrhunderts haben fünf deutsche Nationalstaaten existiert: das Wilhelminische Kaiserreich, die Weimarer Republik, das Dritte Reich, die Bundesrepublik und die Demokratische Republik, oder genauer gesagt, sechs, wenn man die wiedervereinigte Berliner Republik als neuen Nationalstaat mitzählt. Es verwundert demnach nicht, wenn die moderne deutsche Literaturgeschichte zahlreiche Geschichtsdramen aufzuweisen hat, die nationalstaatliche Souveränität problematisieren. (5) Die dabei in politischen Ausnahmezuständen aus individuellen und kollektiven Ansprüchen auf absolute Souveränität unausweichlich entstehenden, historischen, politischen, logischen, rechtlichen und moralischen Paradoxien sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Es gilt die Frage zu beantworten, wie Souveränitätsparadoxe in verschiedenen historischen Situationen und politischen Konstellationen entstehen und welche ästhetischen Verfahren in den gewählten Geschichtsdramen verwendet werden, um den historisch-politischen Diskurs über absolute, permanente und sukzessive Ausnahmezustände darzustellen bzw. zu verbergen. Zunächst aber möchte ich einige systematisch-theoretische und begriffsgeschichtliche Anmerkungen zum Souveränitätsparadox und der Theatralität von Souveränitätsakten vorausschicken.
Das Souveränitätsparadox
Die Geschichten der modernen Nationalstaaten sind vorwiegend Kriegsgeschichte. Der performative Akt der Staatsgründung, der mit einigen wenigen Ausnahmen zumeist gewaltsam vonstatten ging, kann an sich weder als rechtmäßig noch als unrechtmäßig gelten, insofern durch ihn die Unterscheidung zwischen Rechtmäßigkeit und Unrechtmäßigkeit allererst in Kraft tritt. (6) Spätestens seit der Renaissance haben Staatsrechtler dieses Problem unter dem Begriff des Souveränitätsparadoxes diskutiert. Üblicherweise wird dazu das von Agamben so genannte “topographische” oder “topologische” Modell bemüht, (7) wonach die Regierung zugleich absolut zugleich innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung bzw. über und unter dem Gesetz steht. Bei Carl Schmitt heißt es zum Beispiel: „Der Souverän steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.“ (8) Und im Anschluss daran definiert Agamben das Souveränitätsparadox wie folgt: „Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustands, und insofern der Souverän, der über die Ausnahme entscheidet, in seinem Sein durch diese Struktur logisch bestimmt ist, kann er auch durch das Oxymoron einer Ekstase-Zugehörigkeit charakterisiert werden.“ (9) Um sich selbst zu legitimieren, muss der Souverän sich an Gesetze binden und derart seine absolute Souveränität paradoxerweise beschränken. Um sich selbst zu erhalten und absolute Souveränität zu wahren, bricht er jedoch im Ausnahmezustand das Gesetz.
In Krisensituation und Ausnahmezuständen wie Belagerungszuständen, Besatzungs- und Befreiungskriegen, der jakobinischen Schreckensherrschaft oder der Napoleonischen Herrschaft während der Französischen Revolution, wenn nicht nur die Rechtsstaatlichkeit sondern die Existenz des Staates selbst bedroht ist, erscheint das Souveränitätsparadox besonders deutlich. Der Souverän, sei es ein Monarch, Despot oder Tyrann, Herrscher, Diktator oder Autokrat, sei es die Nation, das Volk oder die Masse, autorisiert sich selbst legitimer- oder illegitimerweise dazu, die existierende Rechtsordnung teils oder ganz außer Kraft zu setzen, geltende Gesetze zu brechen und unrechtliche oder außerrechtliche Maßnahmen zu ergreifen, um Notstandsgesetze in Kraft zu setzen. (10) Laut Schmitts einprägsamer Definition ist „souverän, wer über die Ausnahme entscheidet“ (11), das heißt der jenige, der den Ausnahmezustand verhängt und Notstandsgesetze erlässt. Für einen Augenblick ist der Souverän dabei zugleich innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung. „Der Ausnahmezustand ist keine Diktatur, sondern ein rechtsfreier Raum, eine Zone der Anomie, in der alle rechtlichen Bestimmungen […] deaktiviert sind. […] Der Notstand ist kein Rechtszustand, sondern ein Raum ohne Recht. […] Der rechtsfreie Raum ist für die Rechtsordnung wesentlich.“ (12) Das Souveränitätsparadox entfaltet sich in einem Konfliktbereich zwischen reiner Macht und bloßem Recht, Herrschaft und Gesetz, Vollstreckung und Rechtfertigung, Legitimität und Legalität.
Die klassische Staatsrechtstheorie von Machiavelli über Bodin zu Hobbes (13) war darum bemüht das Souveränitätsparadox unsichtbar zu machen, indem der Staat zwar als in dem individuellen Körper des absoluten Monarchen sich darstellende, zugleich jedoch metaphysisch konstituierte Einheit zwischen der natürlichen Person und dem politischen Amt aufgefasst wurde. (14) Im Zuge des frühmodernen Paradigmenwechsels von der Fürsten- zur Volkssouveränität bei Locke, Rousseau und Kant blieb das Souveränitätsparadox ungelöst, ja es wurde noch verkompliziert. (15) Von nun an konkurrierten verschiedene Kandidaten um Recht und Titel des absoluten Souveräns: metaphysische Essenzen und historische Subjekte gleichermaßen, der allmächtige Gott, die Nation, das Volk oder die Masse, die universelle Vernunft, das Moralgesetz oder Naturrecht, das Gewissen, die öffentliche Meinung, oder die Rechtsordnung. Diese Frage wird diskutiert und wird wohl weiterhin diskutiert werden. (16) Das Paradox der Volkssouveränität, wonach das Volk zugleich den Autor und Adressaten der Gesetze, das Subjekt und Objekt der Macht darstellt, ist in die gültigen Staatsverfassungen vieler repräsentativer parlamentarischer Demokratien wie den USA, Frankreich oder der Bundesrepublik Deutschland verankert.
Theatralität und Souveränität im Ausnahmezustand
In der Tat haben Staatsgründungen und vergleichbarer Souveränitäts-, Haupt- und Staatsakte den ästhetischen Charakter des Spektakels, Dramas und Theaters oder genauer gesagt das, was von den Theater- und Kulturwissenschaften inzwischen unter dem Begriff Theatralität diskutiert wurde. (17) Die Gelehrten auf diesem Gebiet konnten noch keinen Konsens über die Begriffsdefinition finden. Die klassische Sprechaktetheorie jedenfalls unterscheidet konstative und performative Sprechakte. Diese Unterscheidung kann jedoch nicht aufrechterhalten bleiben. Alle Sprechakte, nicht nur die so genannten deklarativen, sind zugleich konstativ und performativ. (18) Sie beziehen sich auf eine Wirklichkeit, die sie allererst hervorbringen. (19) Gerade ihre Unbestimmtheit und paradoxe Doppelstruktur entfaltet ihre perlokutionäre Kraft, sei es ästhetisch-theatralisch, sei es sprachlich-rhetorisch. Um es sprachpsychologisch auszudrücken, die perlokutionäre Kraft von Sprech- und Verkörperungsakten zeitigt Wirkungen auf Gefühle, Gedanken und Handlungen der Empfänger. Im historisch-politischen Diskurs sind deklarative Akte Schlüsselelemente bei der Staatsgründung und anderen souveränen Staatsakten. Sie motivieren die freiwillige Selbstunterwerfung der autonomen Subjekte und ermöglichen derart zugleich die Herrschaft des staatlichen Souveräns über den Untertan sowie die Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat. Die perlokutionäre Kraft deklarativer Akte ist demnach ein Index für politische Macht. Die paradoxe Doppelstruktur deklarativer Akte ist strukturell analog zum Souveränitätsparadox. Gleichermaßen von der Körperlichkeit und Sprachlichkeit ausgehend möchte ich die Analyse der frühmodernen Geschichtsdramen auf die theatrale Dimension der dramatischen Texte, die Theatralität der Darstellung bzw. Überspielung des Souveränitätsparadoxes im Ausnahmezustand begrenzen und dem Souveränitätsparadox in performativen Sprech- und Verkörperungsakten und ritualisierten Aufführungen nachspüren.
Die Geschichtsdramen stellen reale historische und politische Ereignisse und Handlungen szenisch nach, die ritualisierte kulturelle Performanzen beinhalten, wie zum Beispiel Krönungen, Siegerehrungen, Paraden, Gerichtsverfahren, politische Versammlungen und Debatten, geheime Vereinbarungen und Verschwörungen usw. Solche rechtlichen, politischen und militärischen Verfahren gehen als Souveränitätsspiele teils geheim teils öffentlich vonstatten. Die intern ästhetisch selbstreflexiven Geschichtsdramen hingegen machen Formen und Funktionsweisen von “figurativer Politik” durchsichtig. (20) Durch ästhetische Verfahren wie multiperspektivische Brechung and theatralische Selbstreferenz, Spiel im Spiel oder Theater im Theater werden historische und politische Ansprüche auf absolute Souveränität relativiert. Es wird gezeigt, dass die theatralische Inszenierungen absoluter Souveränität Machthabern dazu dienen, dass Souveränitätsparadox in ihren Ansprüchen auf absolute Souveränität unsichtbar zu machen. Am Horizont erscheint jedoch keine logische Lösung oder dialektische Aufhebung des Souveränitätsparadoxes. Moderne Geschichtsdramen veranschaulichen, dass der historische und politische Diskurs des Ausnahmezustandes ästhetisches Blendwerk, bloße theatralische Inszenierung und rhetorische Taschenspielertrickserei ist.
Heinrich von Kleist, Die Hermannsschlacht
Das poetische Phantasma der absoluten Souveränität im absoluten Ausnahmezustand
Die Hermannsschlacht (21) von 1808 entwickelt ein politisch affirmatives, poetisches Phantasma der absoluten Souveränität. Der politische und ästhetische Einzelgänger Kleist träumt in seinem propagandistischen Geschichtsdrama den gesamtdeutschen Soldatenkönig nach französischem Vorbild herbei, der das historische Gegenbild Napoleon, was politischen Betrug und militärische Brutalität angeht, weit übertrifft. Unter dem Druck der römischen Besatzung führt Hermann den absoluten Ausnahmezustand herbei. Zunächst täuscht er Freunde wie Feinde, indem er zugleich ein Scheinbündnis mit dem römischen Kaiser Augustus und ein Geheimbündnis mit dem germanischen König Marbod bildet. Er täuscht die römische Diplomatie, lockt das römische Heer in einen Hinterhalt und versetzt ihm eine schwere Niederlage. Auf diese Weise vereint er die germanischen Stämme und inthronisiert sich als absoluten Souverän über Germanien.
Hermann verfolgt als unmittelbaren und legitimen Kriegszweck zwar die Befreiung von der Fremdherrschaft. Allerdings steckt er sich und seinen Germanen das langfristige Ziel, Rom entweder zu erobern oder zu zerstören. Er führt demnach keinen legitimen Befreiungskrieg gegen den realen Feind, sondern einen totalen Angriffskrieg gegen den absoluten Feind über Generationen hinweg. (22) Nachdem die Schlacht gewonnen wurde und die Germanen von der Fremdherrschaft befreit wurden, beginnt der totale Krieg für ihn allererst:
HERMANN
Uns bleibt der Rhein noch schleunig zu ereilen,
Damit vorerst der Römer keiner
Von der Germania heiligen Grund entschlüpfe!
Wir oder unsere Enkel, meine Brüder!
Denn eh doch, seh ich ein, erschwingt der Kreis der Welt
Vor dieser Mordbrut keine Ruhe,
Als bis das Raubnest ganz zerstört,
Und nichts, als eine schwarze Fahne,
Von seinem öden Trümmerhaufen weht! (23)
Da Rom an dieser Stelle metonymisch nichts weniger als die Welt umfasst und die schwarze Flagge die Vernichtung Roms symbolisiert, strebt Hermann nichts weniger an als die Weltherrschaft. Solcherlei Weltherrschaft kommt jedoch der Weltvernichtung gleich. Der Endsieg über den absoluten Feind wäre die Vorbedingung für den ewigen Frieden, der, wie wir von Kant wissen, nirgendwo herrscht als auf dem Friedhof. (24) Somit ist der totale Krieg für den ewigen Frieden selbst endlos.
Um sein Doppelziel, die Befreiung Germaniens und Eroberung bzw. Zerstörung Roms, zu erreichen, bedient sich der Germanenfürst „ehrenloser Strategeme“ (25) im Sinne der universellen moralischen Normen und Werte des klassischen juridisch-philosophischen Diskurs. Er operiert im Geheimen, startet blitzschnelle Überraschungsangriffe aus dem Hinterhalt und veranlasst Meuchelmorde an wehrlosen Kriegsgefangenen, untreuen Verbündeten und Hochverrätern. Aufgrund der Überlegenheit der Römer entscheidet er sich für eine radikale Strategie der verbrannten Erde, die hohe materielle Schäden und zahlreiche Menschenopfer wohl wissend in Kauf nimmt. Er zerstört die gesellschaftlichen Strukturen in Germanien, um den militärisch überlegenen Feind zu schwächen und seine Siegchancen zu erhöhen. Er nimmt nicht nur schweigend hin, dass die Römer Germanien besetzen und dabei Kriegsverbrechen begehen, sondern er selbst erleichtert den Römern die Besetzung und er rechnet auf Kriegsverbrechen, um den Hass der Germanen auf die Römer zu schüren. Zu propagandistischen Zwecken erfindet er Greulmärchen und verbreitet Falschmeldungen, ja er schreckt selbst davor nicht zurück, seine Handlanger als Römer zu verkleiden und zum Terror gegen die Germanen anzustacheln. Germanische Rebellen hingegen verurteilt er und drängt bei der römischen Gesandtschaft darauf, römische Kriegsverbrecher zu begnadigen. Er richtet auf der politischen Bühne Festlichkeiten zu Ehren der Besatzungsmacht aus, während er auf weitere römische Kriegsverbrechen hinter den Kulissen hofft. Er interveniert nicht, als die Römer die religiösen Stätten der Germanen besetzen, um die darin gelagerten Waffen zu konfiszieren. All das tut er zu einem einzigen Zweck: um den Hass der gegen die Römer zu schüren, die Tötungs- und Opferbereitschaft zu erhöhen und einen allgemeinen Volksaufstand gegen die römischen Streitkräfte zu entfachen. „Ich will die Dämonenbrut nicht lieben, | Solange sie in Germanien trotzt, | Ist Haß mein Amt und meine Tugend Rache!“ (26)
Als seine Feinde jedoch an die Ostfront abmarschieren, um Hermann geheimen Verbündeten Marbod anzugreifen, bleiben die erhofften „Greul des fessellosen Krieges“ (27) aus. Zufälligerweise trifft Hermann auf eine wegen der Vergewaltigung eines jungen germanischen Mädchens namens Hally hysterisierte Volksmasse. Dieses Kriegsverbrechen könnte ebenso von den Römern wie von Hermanns Sondereinsatzgruppe begangen worden sein. (28) Als Vollstrecker des allgemeinen und souveränen Volkwillens instrumentalisiert er das zivile Opfer für seine Kriegspropaganda. Er befiehlt dem Volk, Hallys Leiche in fünfzehn Teile zu zerlegen und unter den fünfzehn germanischen Stämmen zu verteilen. Indem er einen dritten Gewaltakt zu der Vergewaltigung und dem Mord hinzufügt, verwandelt er die Leiche in „des Vaterlands grauses Sinnbild. (29)“ Die geschändete Mädchenleiche allegorisiert demnach den heiligen politischen Körper des pangermanischen Staates. Obwohl es hierbei um einen rein symbolpolitischen Akt handelt, bringt dieser das, worauf er sich bezieht, allererst hervor, nämlich die pangermanische Stammesgemeinschaft der Vergangenheit und den deutschen Nationalstaat der Zukunft. Paradoxerweise entfacht Hermann den Volksaufstand gegen das römische Heer durch den souveränen Akt der Leichenschändung. Es mag absurd wirken, dass die germanischen Stämme Hermanns politische Botschaft an den bedeutungslosen Leichenteilen erkennen. (30) Kleist scheint an dieser Stelle jedoch die politische Wirkungsabsicht auf das ideale Publikum weitaus wichtiger gewesen zu sein als die logische Konsistenz der Handlung. Die Allegorie des geschändeten weiblichen Körpers greift mehrere Aspekte der politischen Verhältnisse in den deutschen Kleinstaaten unter Napoleonischer Besatzung auf. Der politisch engagierte Dramatiker deutet sie zur römischen Versklavung um und allegorisiert sie als politische sowie sexuelle Unterdrückung. Die Leichenteile symbolisieren die Uneinheitlichkeit der deutschen Kleinstaaterei und dieses grausame Symbol beinhaltet den politischen Imperativ, die nationale Einheit Deutschlands im Kampf gegen den absoluten Feind zu verwirklichen. (31) Als Chefideologe begeht Hermann keine Tötung selbst. Als absoluter Souverän inthronisiert, verstrickt er vielmehr Freunde wie Feinde in mörderische Intrigen. Stehenden Fußes befiehlt er seinen Handlangern bestialische Hinrichtungen an untreuen Verbündeten, wehrlosen Kriegsgefangenen und Hochverrätern durchzuführen, auch nachdem die Schlacht gegen die Römer schon entschieden worden ist und ein legitimer Befreiungskrieg solcherlei hartes Vorgehen nicht rechtfertigt.
Kleist geht es nicht allein um eine Ästhetik der Grausamkeit im Dienste politischer Propaganda. Neben Situationskomik – die Römer verirren sich in den germanischen Urwäldern – und ebenso idiotischen wie mörderischen Wortspielen – die Germanen führen die Römer mit homophonen Ortsnamen wie Pfiffikon und Iphikon an der Nase herum –, lassen sich gerade in Kleists Ästhetik der Bestialität grotesk-komische Elemente und Momente nachweisen. Hermanns skandalöser politischer Betrug erscheint im Drama als leichtes ästhetisches Spiel.
VARUS tritt verwundet auf.
Da sinkt die große Weltherrschaft von Rom
Vor eines Wilden Witz zusammen,
Und kommt, die Wahrheit zu gestehn,
Mir wie ein dummer Streich der Knaben vor! (32)
Wenn überhaupt, dann weckt Hermanns betrügerisches Souveränitätsspiel im Publikum ein Lachen aus, das ihm im Halse stecken bleiben sollte. Kleist geht es darum, die Überlegenheit der Germanen über die Römer darzustellen und sein ideales Publikum über die Erniedrigung und Verachtung des absoluten Feindes zu amüsieren. Kleists ästhetische Radikalität ist trotz des ihr innewohnenden politischen Extremismus anzuerkennen, stößt er doch in ästhetische Freiräume vor, in die sich keiner vor und nach ihm gewagt hat. Freilich liegen diese jenseits des Klassizismus, Humanismus und Idealismus, samt des philosophischen und rechtlichen Diskurs der universellen Moral. (33) Kleist lässt Hermann sein schrilles Lied der absoluten Feindschaft singen, wonach die Germanen alle Römer liquidieren müssen – ausnahmslos, immer und überall. Insbesondere müssen sie jene töten, die sich durch Zivilcourage und Altruismus auszeichnen und gemäß den ethischen und moralischen Normen und Werten des Humanismus, Klassizismus und Idealismus Bewunderung und Hochachtung verdienten, da deren Heldentaten den Fanatismus, die Kriegslust und den Hass der Germanen auf die Römer mildern könnten. „Was! Die Guten! Das sind die Schlechtesten! | Der Rache Keil Soll sie zuerst, vor allen anderen, treffen!“ (34) Dementsprechend bestialisch behandeln Hermann und seine Handlanger äußere und innere Feinde. Sie drücken ihre Verachtung für ihren absoluten Feind mit ungewöhnlicher Durchtriebenheit und glänzender Lässigkeit aus. (35) Die Scharfrichter verspotten und erniedrigen ihre Opfer, bevor sie sie bestialisch töten. Das lässt sich an vier Beispielen veranschaulichen.
Hermann instrumentalisiert die Liebesaffäre seiner Ehefrau Thusnelda mit dem römischen Gesandten Ventidius für seine politischen Geheimzwecke. Er spielt ihr einen womöglich gefälschten Brief ihres Liebhabers an die römische Kaiserin zu, worin sich der Absender damit brüstet, seiner Herrin eine der Germanin gestohlene goldene Locke als Siegestrophäe überreichen zu dürfen. Die Verschmähte rächt sich an ihrem untreuen Verehrer derart, dass sie vorgeblich ein Rendezvous mit ihm verabredet, jedoch tatsächlich in einen Hinterhalt lockt, wo eine ausgehungerte Bärin ihn zerreißt. Den bestialischen Racheakt inszeniert Kleist als perfide Verwechslungskomödie. Der zu Tode geängstigte Freier wimmert: „Die zottelschwarze Bärin von Cheruska, | Steht, mit gezückten Tatzen, neben mir!“ (36) Das Liebesdreieck ist nicht nur Nebenhandlung sondern geradezu Haupt- und Staatsaktion. Kleist fügt die schockierende Szene nämlich an genau der Stelle ein, wo man das Titelereignis, die Hermannsschlacht, erwarten würde. Das Drama der absoluten Feindschaft kulminiert in dieser Szene und das folgende Fanal der Rache findet hier seinen Auftakt. (37)
Es ist historisch verbürgt, dass sich der römische Feldherr Varus durch einen nach römischen Begriffen ehrenhaften Selbstmord einem ehrenlosen Tod entzogen hat. In Kleists Geschichtsdrama scheitert sein verzweifelter Selbstmordversuch, da seine Heldenbrust ironischerweise härter ist als sein Schwert, in das er sich wirft. Während die eiserne Brust als klassische Metonymie für militärisches Heldentum gelten kann, verspottet Kleist sowohl antikes Römertum als auch klassisches Heldentum. Das ist jedoch nur der Anfang der Erniedrigung der römischen Feinde durch die Germanen. In einer grotesk-komischen Situation duellieren sich die Germanen Fust und Gueltar, um zu entscheiden, wer von beiden den römischen Feldherrn töten darf. Beide hatten mit den Römern im Bündnis gestanden, bis sie Hallys Leichenteile erreichten. Nun stehen sie unter Rehabilitationsdruck. Einerseits schont sie Hermann, denn „Das sind“, wie er weiß, „die Wackersten und Besten, | Wenn es um die Römerrache geht.“ (38) Andererseits bricht er in souverän spielerisches Gelächter aus, als Fust, der Sieger des Duells, sich bei ihm dafür entschuldigt, ihm den „Siegeskranz“ (39) entwunden zu haben. Hermann geht es weder um den Sieg noch um den Ruhm. Ihm ist vielmehr die erniedrigende Tötung des absoluten Feindes reiner Selbstzweck.
Demgemäß bestraft Hermann den römischen Feldherrn Septimius doppelt, als der wehrlose Kriegsgefangene ihn an die „Siegerpflicht“ (40) erinnert, dass selbst der absolute Souverän das nackte Leben eines wehrlosen Kriegsgefangenen zu schonen hat.
HERMANN indem er auf ihn einschreitet
Du weißt, was Recht ist, du verfluchter Bube
Und kamst nach Deutschland, unbeleidigt,
Um uns zu unterdrücken?
Nehmt eine Keule doppelten Gewichts,
Und schlagt ihn tot! (41)
Hermanns Logik zufolge macht sich Septimius doppelt schuldig: erstens auf persönlich Weise wegen seiner Teilnahme an dem illegitimen Eroberungskrieg der Römer gegen die Germanen und zweitens, wie Hermann ihm unterstellt, wegen seiner hochmütigen Überzeugung, der Eroberungskrieg sei legitim. Diese Vorwürfe sind jedoch selbstwidersprüchlich, insofern als Hermann die Besatzung nicht nur hingenommen, sondern geradezu provoziert hatte und insofern sein revanchistischer Gegenzug auf die Besetzung und Vernichtung Roms zielt. Paradoxerweise straft er seine Feinde dafür ab, dass sie dasselbe Ziel verfolgen wie er selbst.
Schließlich folgt nach gewonnener Schlacht und heldenhafter Staatsgründung durch Hermann die Hinrichtung des Hochverräters Aristan, der auf seine Souveränitätsrechte als unabhängiger Fürst genauso pocht wie Hermann auf seine als König von Germanien. Auch hier verstrickt sich der absolute Herrscher in das Souveränitätsparadox. Denn er straft Aristan ab, weil dieser auf seine individuelle Autonomie und absolute Souveränität beharrt, während er selbst individuelle Autonomie und absolute Souveränität nicht nur beansprucht, sondern gewaltsam exerziert.
Der König von Germanien übt das „Heroenrecht zur Stiftung der Staaten“, das laut Hegel „nur im ungebildeten Zustand“ existiert, (42) nicht nur einmal aus, sondern er übt es nach der Staatsgründung weiterhin aus. Er führt keinen räumlich, zeitlich und logisch begrenzten Ausnahmezustand herbei, währenddessen es um den Sieg der Germanen im Befreiungskrieg gegen die Römer geht. Er führt vielmehr den absoluten Ausnahmezustand herbei, der keinen anderen Zustand, als Gegensatz voraussetzt oder als Ziel setzt, sei es ein idealer Ur- oder Naturzustand, sei es ein realer Normal- oder Rechtszustand. In diesem Extremfall ist der absolute Ausnahmezustand paradoxerweise identisch mit dem Normalzustand. Daher lassen sich Hermanns Souveränitätsakte im absoluten Ausnahmezustand nicht als Rückfall aus dem totalitären Staat – von Normal- oder Rechtszustand sollte hier nicht die Rede sein – in den Naturzustand beschreiben, denn durch ihn gründet er den pangermanischen Staat allererst und inthronisiert sich als absoluten Souverän von Germanien. Die Bewegung verläuft vielmehr andersherum: der extreme Ausnahme- bzw. urtümliche Naturzustand dauert im Staat trotz der Staatsgründung fort.
Wissensgeschichtlich gesehen verfechtet Kleist in altpreußischer Tradition den antiliberalen und autoritären Militärstaat an dessen Spitze der absolute Monarch steht und über seine Untertanen herrscht, die ihm als Staatsdiener, sei es als Beamte, sei es als Soldaten, dienen und keine Bürger- und Menschenrechte genießen. Kleist verwirft den liberalen Verfassungs- und Rechtsstaat freier und gleicher Bürgern samt der politischen Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der Tradition der Französischen Revolution. Er favorisiert Fürsten- vor Volkssouveränität, Autokratie vor Demokratie, den Machtstaat vor dem Rechtsstaat, die militärische Gemeinschaft vor der Zivilgesellschaft, den absoluten Ausnahmezustand vor dem relativen Rechtszustand, Notstandsgesetze vor Bürger- und Menschenrechten, Untertanengeist vor individueller Freiheit. Paradoxerweise erhält für Kleist der Fürstenstaat im absoluten Ausnahmezustand, in dem sich ein Volk gegen seine Besatzer erhebt, ein räumlich, zeitlich und logisch begrenztes „demokratisches Ansehen“ (43) wie nach seinem eigentümlichen Verständnis von Demokratie wohl ausgerechnet die Hally-Szene verdeutlichen soll. Das machttechnische Problem für den Fürsten besteht nach Kleist darin, einen allgemeinen Volksaufstand gegen die Besatzungsmacht zu entfachen und ihn gleichzeitig zu begrenzen, damit er sich nicht gegen ihn selbst wendet.
Die ästhetische Innovation und der politische Skandal der Hermannsschlacht liegt darin, dass der totale Krieg gegen den absoluten Feind, veranschaulicht durch die barbarischen Racheakte gegen äußere und innere Feind als ausnahmslose Norm postuliert werden. Wenn wir nur der ästhetizistischen Faszination an der Schönheit des radikalen Bösen nicht erliegen, verdient das Propagandastück auch heute noch unsere Aufmerksamkeit, denn es sagt uns die hässliche Wahrheit über absolute Feindschaft und totalen Krieg, den politischen Konflikt zwischen den selbst ernannten Freiheitskämpfer und den autokratischen Mächten der globalen Modernisierung im Kampf um Freiheit und Sicherheit, individuelle und nationale Identität und moralische Universalität.
Georg Büchner, Dantons Tod:
Souveränitätsparadoxe der Volksherrschaft im permanenten Ausnahmezustand
Die Französische Revolution lässt sich als Versuch beschreiben, Volkssouveränität in der politischen Praxis umzusetzen. Die frühmoderne Demokratie verwirklicht jedoch nicht ihr Ideal der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, sondern gerät in einem permanenten Ausnahmezustand, wie Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod demonstriert. (44) Die Revolutionsregierung hebt die Gewaltenteilung und die verfassungsmäßigen Bürger- und Menschenrechte auf und setzt Notstandsgesetze in Kraft. Die konkurrierenden politischen Fraktionen bezichtigen sich gegenseitig des Hochverrats und liefern sich ans Messer, während das Volk in wirtschaftlichem Elend dahin lebt und sich durch revolutionäre Phrasen und das Unterhaltungsprogramm auf dem Guillotinetheater verführen lässt. Das symbolpolitische Theater in den Pariser Straßen, im Jakobinerklub und Nationalkonvent sowie vor dem Revolutionstribunal kulminiert im Guillotinetheater auf dem Revolutionsplatz. Die beiden Hauptfiguren, Danton und Robespierre, stellen sich als politische Schauspieler dar, die ihre öffentlichen Auf- und Abtritte politisch mehr oder minder innovativ und effektiv inszenieren. In Wahrheit füllen sie jedoch historisch, politisch und dramaturgisch vorgegebene Charakterrollen aus. (45)
Die Revolutionsregierung inszeniert demokratische Rechtsausübung als ein makaberes Spektakel. Im Mittelpunkt des Revolutionstheaters steht die Guillotine. Durch sie werden nicht nur Todesurteile auf mechanische Art und Weise vollstreckt. Als ästhetisch-politische Theatermaschine zeigt sie Volkssouveränität in Aktion, wodurch sich die jakobinische Revolutionsregierung selbst legitimiert. (46) Das schreckliche Guillotinetheater konstituiert und repräsentiert die Einheit zwischen dem souveränen Volk als der konstituierenden Macht und der souveränen Regierung als der konstituierten Macht. Das Pariser Volk erlebt sich dabei ästhetisch sowie politisch zugleich als Autor und Adressat, Souverän und Subjekt, Herrscher und Untertan. (47) Es agiert auf der Bühne, es singt die Marseillaise und tanzt die Carmagnole auf dem Revolutionsplatz. Als anonyme Masse ohne politische Richtung lässt es jedoch in einem Augenblick Danton und im anderen Robespierre hochleben. Es kommentiert das Spiel im Spiel mit Applaus und Buhrufen. Es platziert sich als Teilnehmer und Beobachter der blutigen Politshow im ästhetischen Diskurs, wenn es das symbolpolitische Guillotinetheater, die letzten Worte und Galgenreden nach ihrem Unterhaltungswert beurteilt und dabei unter Verwendung der ästhetischen Leitunterscheidung zwischen langweilig und interessant vom modernen Innovationspostulat ausgeht. (48)
Das politische Ritual der Aufopferung der kriminalisierten Oppositionellen als Staatsfeinde sinkt jedoch zu einem bloß symbolpolitischen Souveränitätsakt herab. Die Revolutionsregierung betrügt das Volk, raubt ihm seine verfassungsmäßigen Bürger- und Menschenrechte und hindert es derart daran, seine unmittelbaren Interessen durchzusetzen und die Wirtschaftskrise zu lösen. Das makabere Spektakel lenkt die Aufmerksamkeit des Volkes von der Wirtschaftskrise auf die theatralisch inszenierte Volkssouveränität um. In einer Szene drängelt sich eine Mutter mit ihren Kinder durch die Volksmenge auf dem Revolutionsplatz: „Platz! Platz! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muss sie zusehen machen, daß sie still sind. Platz!“ (49) Danton bemerkt in einer seiner redegewandten Volksansprachen dazu richtig: „Ihr wollt Brot und sie werfen Euch Köpfe hin. Ihr durstet und sie machen euch das Blut von den Stufen der Guillotine lecken. (50)
Theoretisch könnte die Revolutionsregierung das einmalige Revolutionsereignis, die Ausübung der Volkssouveränität durch die Gründung der französischen Republik, mit Hilfe des Guillotinetheaters unendlich oft wiederholen, unterläge die Theatermaschine nicht einem ästhetische gleichwie politischen Abnutzungseffekt. Das Guillotinetheater ist ästhetisch gesehen zugleich Metapher und Metonymie für Volksherrschaft. Einerseits wird Volkssouveränität in Aktion gezeigt. Andererseits ist der „erhabene Augenblick“, (51) in dem sich die „Majestät des Volkes“ (52) manifestiert, räumlich, zeitlich und logisch begrenzt. Der politische Effekt des öffentlichen Spektakels erschöpft sich im Augenblick seines Erscheinens. Dadurch steht die Revolutionsregierung unter ästhetischem und politischem Wiederholungszwang.
Paradoxerweise wird die Errichtung der Republik durch die Inkraftsetzung des permanenten Ausnahmezustands in eine ungewisse Zukunft verschoben. Statt Volkssouveränität verwirklicht sich durch das Guillotinetheater immer wieder nur Staatssouveränität. Aus diesem Teufelskreis kann die Revolutionsregierung nicht willkürlich ausbrechen, hat sie den permanenten Ausnahmezustand doch im Namen und unter dem politischen Druck des Volkes ausgerufen. Sie hat daher ein Problem technischer Art zu lösen. Sie muss die Häufigkeit der öffentlichen Hinrichtungen derart dosieren, dass sie den Volkszorn gegen die Konterrevolutionäre zugleich weckt und befriedigt. „Das Volk ist ein Minotaur, der wöchentlich seine Leichen haben muss, wenn er sie nicht auffressen soll.“ (53) Sie kann die innere Souveränität über Staat und Gesellschaft nur solange verteidigen, wie sie die symbolpolitische Theatermaschinerie am Laufen hält. Deshalb darf das Guillotinetheater seine Abschreckungskraft nicht verlieren. Ansonsten könnte die Revolutionsregierung selbst auf dem Schafott landen. „Der Guillotinethermometer darf nicht fallen, noch einige Grade und der Wohlfahrtsausschuss kann sich sein Bett auf dem Revolutionsplatz suchen.“ (54)
Das Guillotinetheater ist jedoch unvermeidlich einem ästhetischem und politischen Abnutzungseffekt unterworfen. „Es ist auch gar nichts Pikantes mehr dran; es ist ganz gemein geworden.“ (55) bemerkt ein resignierter Dantonist im Gefängnis. Da die Revolutionsregierung nur so lange von Rechts wegen souverän ist, wie sie dem allgemeinen Willen des souveränen Volkes dient, ist sie in der Tat nicht souverän. Vorgeblich übt sie Souveränität im Namen des Volkes aus, unterliegt jedoch dem selbstmörderischen, mörderischen Mechanismus der Guillotinenpolitik. Im permanenten Ausnahmezustand fällt sie in eine unlösbare Dauerkrise der politischen Selbstlegitimation. Während der Hedonismus der Dantonisten den Volkszorn auf sich zieht, sieht der moralische Rigorismus der Jakobiner in der Praxis anders aus als in der politischen Theorie. Die revolutionäre Rhetorik ist mit performativen Selbstwidersprüchen durchzogen. Die Schreckensherrschaft wird beispielsweise zur Tugendherrschaft stilisiert oder zu einer vorgeblich physikalischen Naturgesetzen folgenden Naturkatastrophe verklärt. Dadurch werden die durch den Staatsapparat legalisierten politischen Morde als vernachlässigbare Nebenwirkungen der fortschreitenden Menschheit verharmlost.
Büchner gewährt einen Blick hinter die Kulissen des symbolpolitischen Revolutionstheaters, das die Jakobiner veranstalten. Dort werden die Zuschauer Zeugen von illegalen Manipulationen des Gerichtsverfahrens. Um die Oppositionspolitiker zu kriminalisieren und zu Staatsfeinden zu erklären, verfassen die Jakobiner phantasievolle Anklageschriften, finden und erfinden belastendes Beweismaterial, machen gegenstandlose Beschuldigungen, diktieren dem Nationalkonvent und Revolutionstribunal politisch motivierte Entscheidungen. Das ist nicht bloß eine „Verletzung der Formen“ (56) sondern „Machtmissbrauch“ (57), Verfassung- und Gesetzesbruch, ein politisches wie moralisches Verbrechen.
Die Jakobiner wähnen sich selbst zwar im Besitz der absoluten Wahrheit und Macht. In Erhabenheitspose erstarrt beansprucht Robespierre Unfehlbarkeit, was sich in der folgenden rhetorischen Frage ausdrückt: „Wer sagt denn, daß ein Unschuldiger getroffen sei?“ (58) Büchner dramatisiert hingegen überzeugende Gegenbeispiele, die den „Unbestechlichen“ widerlegen. Private und politische Opportunisten instrumentalisieren das Revolutionstribunal für ihre privaten Zwecke. Den grotesken Höhepunkt bildet ein Ehemann, der ankündigt, er plane sich von seiner Ehefrau mithilfe der Guillotine scheiden zu lassen. Offensichtlich könnten dem Revolutionstribunal unschuldige französische Bürger zum Opfer fallen.
Die Revolutionsregierung beansprucht die Republik der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zu verwirklichen. Zu diesem Zweck hebt sie die Verfassungsordnung auf, ruft den Ausnahmezustand aus und setzt Notstandsgesetze in Kraft. Derart wird der Ausnahmezustand auf Dauer gestellt. In Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller werden jedoch die Rechte Einzelner verletzt. Die Verwirklichung der Tugendrepublik sinkt zur Schreckensherrschaft herab. Während der Schreckensherrschaft begeht die Revolutionsregierung politische und moralische Verbrechen unter dem Deckmantel der Legalität. Der performative Akt, durch den die Republik gegründet werden soll, verstrickt sich in Selbstwidersprüche. Die Revolutionsregierung entbehrt der rechtlichen Kohärenz und verspielt ihre politische Legitimität.
Die Schreckensherrschaft perpetuiert, wogegen sie gerichtet war: Unfreiheit, Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Die inhaftierte Oppositionspolitiker erkennen die Absurdität des Souveränitätsparadox: „Pars ist eine Schlachtbank. […] die Guillotine republikanisiert.“ (59)
Souverän ist weder das französische Volk noch die die jakobinische Revolutionsregierung geschweige denn die dantonistische Opposition, die von der Revolutionsregierung erfolgreich kriminalisiert und politisch entmachtet und ermordet wird. (60) Die Umsetzung der Volkssouveränität führt zwar nicht in die Ochlokratie (Pöbelherrschaft) wie bei Grabbe, die Schreckensherrschaft führt jedoch ebenfalls nicht in die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die kurzfristige Machterhaltung durch politischen Mord an der Opposition entwickelt vielmehr eine selbstmörderische Dynamik. Langfristig gesehen liquidiert sich die Revolutionsregierung selbst. Obwohl sie für einen Augenblick Gesetz gebende, Gesetz ausübende und Recht sprechende Gewalt auf sich konzentriert, nimmt sie dennoch nicht das politische Machtzentrum des Staates ein. In einer Schlüsselszene (III/6) bildet sich nämlich eine neue Fraktion um die jakobinischen Hardliner Collot und Barrère. Im Wohlfahrtsausschuss konspirieren diese beiden zynischen Machtpolitiker gegen die Jakobiner Robespierre und St. Just. Ohne Volksmandat oder parlamentarisches Legitimität werden sie die Ersetzung der Revolutionsregierung eigenmächtig vorbereiten und durchführen, was schließlich – ohne in Büchners Stück wohl aber Grabbes Epochendrama thematisiert zu werden – zur Machtübernahme durch das Direktorat führen wird und später Napoleon zum Steigbügel dienen sollte.
Während Kleists erhabenes Heldendrama als politischer Traum vom gesamtdeutschen Soldatenkönig nach dem historischen Gegenbild Napoleon als Konzentration der absoluten, singulären und unteilbaren Souveränität interpretiert werden kann, zeigt Büchners die literarischen Gattungen vermischenden und multiperspektivisch angelegte Dramaturgie, das die Souveränität des Staates im permanenten Ausnahmezustand der Revolution nicht stabilisiert werden kann, vielmehr pluralisiert wird und von Faktion zu Faktion übertragen wird. Dieses Souveränitätsspiel dauert solange fort, bis durch einen dezisionistischer Souveränitätsakt vollendete Tatsachen geschafft werden. Einerseits vollstreckt Napoleon durch seinen Staatsstreich die Französische Revolution, indem er die Grundlage für die Modernisierung von Wirtschaft, Recht, Staat, Verwaltung und Armee legt. Andererseits verrät er deren politischen Ideale der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, indem er das karolingische Kaiserreich restauriert und den Neuadel gründet. (61)
Christian Dietrich Grabbe: Napoleon oder die hundert Tage
Souveränitätsparadoxe der Herrschafts- und Regierungsformen in sukzessiven Ausnahmezuständen
Grabbes Meisterwerk Napoleon oder die hundert Tage (1830) (62) ist trotz der Zentralität der Titel- und Hauptfigur nicht nur ein Figurendrama sondern auch ein breit angelegtes Epochendrama über die krisenhafte Umbruchzeit der Französischen Revolution. Der poeta doctus zeichnet über die ersten drei Akte ein großes Gesellschaftspanorama, in dem die unterschiedlichsten gesellschaftlichen und politischen Kräfte miteinander um die politische Macht wett streiten, bevor nach einem radikalen Hiatus (IV/4) die Entscheidung im vierten und fünften Akt auf dem Schlachtfeld fällt. Konterrevolutionäre Kräfte wie der restaurativ-konservative Royalismus und Aristokratismus sowie revolutionäre Kräfte wie der radikaldemokratische Jakobinismus oder der demokratische Republikanismus und liberale Verfassungspatriotismus konkurrieren mit dem janusgesichtigen französischen Kaisertum. Im begrenzten Zeitraum der hundert Tage kehrt Napoleon, der Wiedergänger der absoluten Souveränität, noch einmal aus dem Exil in Elba nach Paris zurück und greift ein letztes Mal nach der Macht, bevor er ins Exil nach St. Helena verbannt wird.
Grabbe präsentiert neben der breit angelegten, theatralischen Inszenierung der Titelfigur in der Rolle des absoluten Souveräns auch eine witzige Bourbonensatire, die dunklen Abgründe der jakobinischen Terrorherrschaft und die geheimen Schleichwege des liberalen Verfassungspatriotismus. Die theatralische Selbst- und Fremdinszenierung bzw. -desillusionierung verschiedener Staats- und Regierungsformen wird dabei unter Verwendung verschiedenster ästhetischer Register bewerkstelligt, die von der dramatischen Ironie und politischen Satire über die Ästhetik der Grausamkeit bis zur Ästhetik der Erhabenheit reichen.
Dabei handelt es sich jeweils um Miniaturdramen im Drama, die als solche innerästhetisch, d.h. formal und strukturell, markiert werden. Durch interne ästhetische Reflexion auf das Medium Theater kommt eine virtuelle Teilung der Bühne in Vorderbühne und Hinterbühne zustande. Auf der Vorderbühne beobachten dramatische Nebenfiguren in der Rolle von Zuschauern die Handlungen der Hauptfiguren auf der Hinterbühne, stellen es als Spiel im Spiel heraus und kommentieren es affirmativ oder kritisch mit direkter oder indirekter Ansprache an das Theaterpublikum bzw. den Leser des Dramentextes. Diese multiperspektivische Brechung, die weniger von Kleist als vor allem von Büchner und Grabbe entwickelt wurde, könnte als ein Vorläufer des Brechtschen epischen Theaters gelten.
In den ersten beiden Akten wird die politische Selbstinszenierung der bourbonischen Königsfamilie um Ludwig XIII. dargestellt sowie aus adliger Perspektive affirmativ und aus bürgerlicher kritisch kommentiert. Einerseits geben sich die Adligen dem illusionären Glanz des wiedererrichteten ancien régime hin und loben die vorgebliche Volksnähe des königlichen Herrschers. Man feiert sich selbstaffirmativ den modernen bzw. modischen Ideen der französischen Revolution folgend als Nation. Genau das belächeln die Bürger als symbolpolitisches Theater und begleiten es mit ihren kritischen, bitter ironischen bis offen zynischen Kommentaren. Beispielsweise entlarven sie durch fortgeschrittenes Alter und Fettleibigkeit verursachte körperliche Hässlichkeit hinter dem, was die Adligen an dem König als unwillkürliche Grazie herausstellen. Der König hat jedoch nicht nur sein politisches Ansehen beim französischen Volk verspielt. Er gerät komischerweise mit einem Schweizer Gardisten in Konflikt, als er aus dem Protokoll des symbolpolitischen Zeremoniells ausbrechen will, um seine Volksnähe zu verdeutlichen. Paradoxerweise muss er sich als absolut souveräner Oberbefehlshaber den Anweisungen seines pflichtbewussten Untertanen beugen, der ihn ironischerweise als Sicherheitsbeamter vor seiner leichtfertigen Selbstgefährdung in Volksnähe schützt. In seiner politischen Satire gibt Grabbe die Bourbonen der Lächerlichkeit preis. Selbst ein naives Publikum erkennt, dass die Macht der Bourbonen von innen ausgehöhlt ist. Auf Elba wartet Napoleon wie ein „Löwen im Käfig“ (63) nur auf den günstigen Augenblick, um sie zu usurpieren.
In das Machtvakuum, das die Bourbonen nach ihrer Flucht zurücklassen, stoßen jedoch zunächst die ultrarevolutionären Kräfte um den radikalen Jakobiner Jouve. Im Namen der Nation begehen die revoltierenden Volksmassen wegen Hochverrats gegen die Nation Mord und Totschlag an opportunistischen Kleinbürgern. Grabbe fügt das brutale Intermezzo, das übrigens frei erfunden ist, anachronistisch in sein Gesellschaftspanorama ein, um derart sein historisches Epochenporträt der Französischen Revolution zu vervollständigen. Während der zynische Dramatiker und ein unkritisches Publikum pure Lust an der Ästhetik der Grausamkeit haben könnte, erkennt ein kritisches Publikum, dass nackte Gewalt politisch sinnlos ist. Die Terrorherrschaft beansprucht zwar demokratische Volkssouveränität zu verwirklichen, sie nimmt jedoch in der Tat die Gestalt der Lynchjustiz bzw. Ochlokratie oder Pöbelherrschaft an. Paradoxerweise untergräbt sie somit gerade durch den gewaltsamen Revolutionsakt die politischen Ideale, die ihm zugrunde liegen. Im Gegensatz zu Büchner verzichtet Grabbe bei der dramatischen Darstellung der volksherrschaftlichen Souveränitätsparadoxe nicht auf die Ästhetik der Grausamkeit.
Die bürgerlichen Revolutionäre und ehemaligen napoleonischen Minister Carnot und Fouché glauben, dass sie Napoleons Allmacht durch eine republikanische Verfassung begrenzen könnten. Laut ihrem verschwörerischen Geheimplan soll diese ausgerechnet der französische Kaiser in Kraft setzen und schützen. Den Scheinkonflikt mit den machtlosen Verfassungspatrioten löst das souveräne Staatsoberhaupt mit einem ebenso nonchalanten wie cäsarischen Machtwort: „Aber, aber, glauben Sie, meine Herren, Charten und Konstitutionen sind zerreißbarer als das Papier, auf welches man sie druckt.“ (64) Damit sind die Ideen der französischen Revolution endgültig vom Tisch und der unangefochtene und scheinbar unanfechtbare Militärdiktator kann sich wieder seiner aggressiven Kriegspolitik widmen, die Angriffskriegen mit blitzartigen Überraschungsangriffen zuvorkommt. Die Selbsteinschränkung absoluter Souveränität lässt sich innerstaatlich weder juristisch noch politisch erzwingen. Das kann lediglich durch freiwilligen Vollzug gelingen oder durch revolutionäre Gewalt von Innen oder militärische Gewalt von Außen, wie das folgende Schlachtendrama vorführt.
Nichtsdestotrotz beschafft sich Napoleon erst einmal eine politische Selbstlegitimation, indem er ad hoc eine konstitutionelle Zusatzakte in einem theatralisch spektakulären Verfahren auf dem Pariser Marsfeld in Kraft setzt. Er schafft damit zwar einerseits die bourbonische Monarchie, samt Feudalismus und Klerikalismus ab, richtet aber andererseits sein von ihm bereits einmal wiedererrichtetes französisches Kaisertum ein weiteres mal in der Tradition des fränkischen Kaisers Karl dem Großen wieder ein. Gleichzeitig stimmt er Volk und Arme auf die bevorstehende Schlacht gegen die englisch-preußischen Koalitionstruppen ein. Bezeichnenderweise ist es der bereits erwähnte Jakobiner Jouve, der das symbolpolitische Theater als solches durchschaut und kritisch kommentiert. „’s ist alles Komödie.“ (65) „Der alte Brei in neuen Schüsseln.“ (66)
Im Gegensatz zu den alteuropäischen Monarchien deren traditionelle Herrschaftsform auf der von Gottes Gnade gegebenen Majestät des Königs gründet, feiert sich Napoleon selbst als historischen und politischen Selbsterschaffer. Seinem Kammerherrn weist er an: „Künftig läßt du in jedem offiziellen Schreiben das ‚Wir’ und das ‚von Gottes Gnaden’ aus. Ich bin Ich, das heißt Napoleon Bonaparte, der sich in zwei Jahren selbst schuf.“ (67) Im Schlachtendrama porträtiert Grabbe Napoleon gemäß der Ästhetik der Erhabenheit. Wir sehen den französischen Kaiser nicht nur als absolut souveränen sondern auch autochthonen Autokraten. Er schwingt sich zum gottähnlichen Herrn über Europa auf, wobei er in dem alten Kontinent bloß einen „kindisch gewordenen Greis“ sieht, den er mit der „Zuchtrute“ disziplinieren wird. (68) Er greift nach der Weltherrschaft. Wir sehen ihn vor Schlachtbeginn noch auf einer Kanone schlafen, auf dem Schlachtfeld als ruhmreichen Kriegshelden wie eine diskursive Kampfmaschine einen Befehl nach dem anderen ausgeben, inmitten des Schlachtgetümmels eine seiner typischen Erhabenheitsposen einnehmen, zu Pferd mit dem Säbel in der Hand seiner Armee vorauseilen, tapfer kämpfen und sogar als gewöhnlichen Soldat in die Schlacht eingreifen. All dessen ungeachtet tritt er jedoch zuletzt feige und ehrlos von der Bühne der Weltgeschichte ab, jedoch ironischerweise nicht ohne, den Befehl an die Kaisertruppe zu geben, für die französische Nation an seiner statt ehrenvoll zu sterben.
Im Gesellschaftspanorama hatte Grabbe vorgeführt, unter welchen sozialen und historischen Bedingungen heroische Idolatrie entsteht. (69) Durch die theatralische Selbstreflexivität und multiperspektivische Dramaturgie werden die Selbst- und Fremdinszenierungen absoluter Souveränität jedoch zugleich innerästhetisch relativiert. Während des Schlachtendramas bleiben kritische Kommentare von Nebenfiguren aus und das Publikum wird wie in Brechts epischem Theater in das ästhetische Spiel miteinbezogen. Es hängt von den Zuschauern ab, ob sie kritische Distanz zu oder affirmative Identifikation mit heroischen Idol einnehmen. Trotz der mythisierenden Tendenzen gibt es jedoch auch zahlreiche Ansatzpunkte für eine entmythisierende Interpretation, wie die begrenzte Zeitdauer der hundert Tage im Titel des Dramas bereits anzeigt. Napoleons Selbstinszenierung als Figur der absoluten Souveränität ist bloß das Endspiel einer kurz wiederauflebenden Karriere, sozusagen das letzte Fünftel des fünften Aktes nach der klassischen Form der Geschichtstragödie. Das Paradox besteht darin, dass die politische Souveränität des Staates ästhetisch gesehen bloß theatralische Zurschaustellung des individuellen Staatsschauspielers ist.
Dasselbe gilt allerdings auch im Hinblick auf Grabbes politischen Traum vom gesamtdeutschen Soldatenkönig nach französischem Vorbild, den schon Kleist in seinen vaterländischen Dramen auf sehnlichste Art und Weise geträumt hatte. Wie wir wissen wurde dieser Traum im Verlaufe des 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst zum deutsch-französischen und dann zum gesamteuropäischen Alptraum. Der preußische Anspruch auf absolute Souveränität – Grabbes Drama endet mit dem lakonischen Schlachtruf „Vorwärts, Preußen!“ (70) – ist ebenso fragwürdig wie der napoleonische. Er steht ihm, was Militarismus und Imperialismus betrifft, in nichts nach. Zusammenfassend lässt sich resümieren, dass in Grabbes Epochendrama weder König noch Kaiser, weder Volk noch Verfassung die absolute Souveränität des Staates dauerhaft stabilisieren kann, vielmehr wechseln die Regierungs- und Herrschaftsformen einander in sukzessiven, räumlich, zeitlich und logisch begrenztem Ausnahmezuständen ab. Freilich sagt dies mehr über die unepochale Epoche des Vormärz als über die Französische Revolution aus. Die Sattelzeit erscheint in Kleists Hermannschlacht als absoluter Ausnahmezustand, der in keinen anderen Zustand überführt werden soll, sei es idealer oder realer Ur-, Natur-, Normal-, oder Rechtszustand. Eine Generation später erscheint sie bei Büchner und Grabbe hingegen differenzierter als permanenter Ausnahmezustand der lediglich in einen momentanen Normal- bzw. Rechtszustand überführt werden. Brecht und Heiner Müller sind den poetischen und politischen Phantasien, symbolischen und theatralischen Inszenierungen von absoluter Souveränität im Hinblick auf die totalitären Diktatoren des 20. Jahrhundert nachgegangen. Das Souveränitätsparadox, das darin besteht, dass vereinzelte Gesetzesbrüche oder gar die Aufhebung der Rechtsordnung Voraussetzung und Bedingung für den Erhalt der Rechtsordnung sind, bleibt unlösbar. Die frühmodernen Geschichtsdramen machen sichtbar, dass politische Selbst- und Fremdinszenierungen der absolute Souveränität rhetorische Phrasen und Floskeln, theatralische Gesten und Posen, ästhetische Spiele und Spektakel verwendet, um das ihnen zu Grunde liegende Souveränitätsparadox unsichtbar zu machen.
Literatur
Anmerkungen:
6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
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