TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier)

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Medien im Ausnahmezustand.

Performanz und Simulakrum im Bild des Jugoslawienkrieges

Tanja Zimmermann (Universität Erfurt) [BIO]

Email: tanja.zimmermann@uni-erfurt.de

 

Die Kriege um den Zerfall Jugoslawiens nach 1991 wurden ohne Kriegserklärung begonnen und über weite Strecken als Bürgerkriege geführt. (1) Milošević interpretierte die Streitigkeiten vor dem Hintergrund der völkerrechtlichen Position des zerfallenden Staates. Die Führungen anderer ehemaliger Republiken Jugoslawiens beriefen sich im Gegensatz dazu auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das die Sezession in ihren Augen legitimiere. Dieser Konflikt öffnete einen rechtsfreien Raum, in dem die gewaltsamen Aktionen von den einen als Bürgerkrieg, von den anderen als zwischenstaatliche Auseinandersetzung betrachtet wurden. Nicht einmal die Genfer Konvention war für die Gegner, die einander als „Terroristen“ bezeichneten, bindend. Die europäischen Staaten waren sich nicht nur über das militärische Vorgehen und über humanitäre Hilfeleistungen uneins, sondern auch über die völkerrechtliche Interpretation der Kriege. Auf den Sitzungen des Haager Tribunals trat das Versagen der französischen und niederländischen UNPROFOR-Truppen zu Tage. Dadurch wurde eine heftige, bis heute andauernde Diskussion über das Selbstverständnis und die Rolle Europas ausgelöst. Dennoch wurde dieser Krieg als typische Form von bewaffneten Konflikten nach dem Kalten Krieg betrachtet. Der Krieg im Ausnahmezustand avancierte auf dem Balkan zum Normalfall kriegerischer Auseinandersetzungen.

In der Schrift Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“ (1990) unterstreicht Jacques Derrida, dass der Krieg nicht infolge eines Rechtsbruchs, sondern als Anomalie im Inneren der Sphäre des Rechts selbst entsteht. (2) Die militärische Gewalt im Dienst des Staates erfolge stets gesetzmäßig und erhalte dadurch das Recht. Angesichts der paradoxen Rechtmäßigkeit des Krieges würden Pazifisten in einen Widerspruch mit dem Recht geraten, weil sie sich im Gegensatz zu den Kriegführenden auf kein vorhandenes Gesetz berufen könnten. Der Krieg markiert laut Derrida die Schwelle zweier Rechtssysteme – des vorgängigen im Vergehen und des neuen im Entstehen, des Rechts der Erhaltung und des der (Be)gründung. Die Suspension des Gesetzes ereigne sich in dem Augenblick, da das alte Gesetz im Begriff sei, von einem neuen ersetzt zu werden, das durch die Ausübung von Gewalt begründet werde.

Dieser Augenblick der Suspension, des Schwebens oder In-der-Schwebe-Haltens, diese Epoché, dieses rechts(be)gründende oder das Recht umstürzende, revolutionäre Moment sind im Recht eine Instanz des Nicht-Rechts (des Unrechts). […] Dieser Augenblick ereignet sich stets und ereignet sich nie in einer Gegenwart. Es ist der Augenblick, da die Begründung des Rechts im Leeren oder über dem Abgrund schwebt, an einem reinen performativen Akt hängend. (3)

In Derridas dekonstruktivistischer Lektüre ist jedes Gesetz unzertrennlich mit der autoritäreren Gewaltausübung verbunden, die am Anfang einer jeden Staatsgründung steht und ex post legitimiert wird. (4) Um die Bedingungen des Gesetzes zu verstehen, muss man sich nach Derrida zumindest die minimale Kenntnis jener Sprache aneignen, in der das Gesetz verfasst wurde, denn die Durchsetzung des Gesetzes sei mit der Auferlegung einer Sprache bzw. deren Lesbarkeit verbunden. (5)

Man hat das Recht, die legitimierende Macht oder Autorität und all ihre Lesevorschriften zu suspendieren, man kann dies im Zuge des treuesten, wirksamsten, treffendsten Lesens tun, eines Lesens, das natürlich zum Unlesbaren in Bezug tritt, zuweilen – aber nicht immer, um eine andere Leseordnung zu (be)gründen, einen anderen Staat. (6)

Anders als dem Gesetz, das sich der Sprache bemächtigt, schreibt Derrida der performativen Kraft des Gesetzes, seiner Ausübung, einen „mystischen“ Charakter zu, der aus dem Bereich der Sprache heraustrete. Wie der Mystiker auf die apophatische Sphäre jenseits der Sprache als reine Evidenz hinweise, trete auch die Tat, die dem Gesetz folgt, aus dem Bereich der Sprache heraus. Gerde die Bindung des Gesetzes an den reinen performativen Akt, seine Begründung durch Gewaltanwendung, verorte das Gesetz im Transzendentalen. Seine Transparenz erhalte es nie in der Gegenwart, sondern erst in der Zukunft, wenn es verständlich und interpretierbar werde.

Die Lesbarkeit wird also ebenso wenig neutral wie gewaltfrei sein. Eine „gelungene“ Revolution, eine „gelungene“ Staatsgründung (in dem Sinne etwa, in dem man von einem „felicitous performative speech act“ redet) wird im nachhinein hervorbringen, was hervorzubringen sie im vorhinein bestimmt war: Interpretationsmodelle, die sich zu einer rückwirkenden Lektüre eignen, die geeignet sind, der Gewalt, die unter anderem das fragliche Interpretationsmodell (das heißt den Diskurs der Rechtfertigung) hervorgebracht hat, Sinn zu verleihen – die geeignet sind, die Notwendigkeit und besonders die Legitimität dieser Gewalt hervorzuheben. (7)

Derrida spricht in seiner Schrift zwar niemals über den Ausnahmezustand. Dennoch korreliert sein Begriff der „Unlesbarkeit“ mit Giorgio Agambens linguistischer Umschreibung des Ausnahmezustandes als langue, die er Ferdinand de Saussures Cours de linguistique générale (1916) entliehen hat. (8) Die langue, die Sprache als grammatikalisches System, bezeichnet laut Saussure die (virtuelle) Potentialität eines Kollektivs – das Reservoire aller bestehenden Regeln. (9) Den Begriff der Potentialität entwickelt Agamben bekanntlich aus seiner originellen Aristoteles-Interpretation. Erst durch die parole (die Rede), den aktuellen, akzidentiellen und individuellen Sprachgebrauch, wird die Sprache im Vollzug einer konkreten Realisierung, der Auswahl und der Kombination aus dem Repertoire der langue, aus ihrer Potentialität in die Aktualität überführt. Erst durch ihre Aktualisierung im Fluss der Rede kann die Sprache Referenz erreichen und performative Kraft entfalten. Mit der Sprache in ihrer Potentialität vergleicht Agamben in Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995) den Zustand des Rechts im Ausnahmezustand, in dem das Gesetz zwar existiert, seine aktuelle Anwendung jedoch suspendiert ist.

Hier zeigt die Sphäre des Rechts ihre Wesensnähe zu jener der Sprache. So wie ein Wort im tatsächlichen Vollzug der Rede die Macht, einen Ausschnitt der Wirklichkeit zu bezeichnen, nur insofern erlangt, als es auch, wenn es selbst nicht bezeichnet, Bedeutung hat (das heißt langue im Unterschied zu parole, als Wort in seinem schieren lexikalischen Bestand, unabhängig von seinem konkreten Einsatz in der Rede), so kann auch eine Norm sich nur deshalb auf einen Einzelfall beziehen, weil sie in der souveränen Ausnahme als reine Potenz gilt, in der Aufhebung jeglichen aktuellen Bezugs. Und so wie die Sprache das Nichtsprachliche als dasjenige voraussetzt, mit dem sie in virtueller Beziehung bleiben muss (in Form einer langue, oder genauer eines grammatikalischen Spiels, einer Rede, deren aktuelle Beziehung unbestimmt in der Schwebe gehalten wird), um es dann im Vollzug der Rede bezeichnen zu können, so setzt das Gesetz das Nichtrechtliche (zum Beispiel die schiere Gewalt als Naturzustand) als das voraus, womit es im Ausnahmezustand potentiell verbunden bleibt. Die souveräne Ausnahme (als Zone der Ununterscheidbarkeit zwischen Natur und Recht) ist die Voraussetzung der juridischen Referenz in der Form ihrer Aufhebung. (10)

In seinem späteren Buch Ausnahmezustand (2003) definiert Agamben diesen paradoxen Rechtszustand des Unrechts als den „Stillstand der gesamten Rechtsordnung“ – in einer Situation, in der das bestehende Recht nicht angewandt und dadurch außer Kraft gesetzt wird. (11) Wie die Elemente der langue zwar eine potentielle Bedeutung haben, die erst durch die aktuelle Realisierung in der parole ihre Wirksamkeit entfalten, wird auch das bestehende Recht erst durch die aktuelle Interpretation erst wirksam.

Wie die linguistischen Elemente in der langue nebeneinander bestehen ohne jede reale Denotation, wie sie im Diskurs aktualisiert wird, so gilt im Ausnahmezustand die Norm ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit. […] Wie zwischen Sprache und Welt, so gibt es auch zwischen Norm und Anwendung keinen inneren Zusammenhang, der es erlaubte, das eine aus dem anderen unmittelbar abzuleiten. (12)

Dem Ausnahmezustand – „einer Zone, in der die Anwendung des Rechts suspendiert wird“ – entspricht laut Agamben der Zustand des Menschen als homo sacer – des gebannten und verlassenen Menschen, des Vogelfreien jenseits des Rechts, dem gegenüber ein jeder als Souverän handeln kann. (13) So manifestiert sich für Agamben im Bosnien-Krieg, in dem ethnische Säuberungen durchgeführt wurden, keine Rückkehr in den ursprünglichen Naturzustand, sondern eine Vermischung des Rechts mit dem Unrecht als Symptom für das Vordringen des Ausnahmezustandes in die politische Normalität. Während im Ausnahmezustand in früheren Zeiten, etwa in Lager- oder Ghetto-Situationen, die Grenzlinie zwischen den vom Recht ausgeschlossenen Minderheiten als Ausnahme und der Normalität von Majoritäten deutlich gezogen war, sei im Jugoslawien-Krieg die Grenze zwischen den Zonen verwischt, der rechtsfreie Raum auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt worden. (14) Als Beispiel dieser Entgrenzung führt er die neue Form des Krieges um das „nackte Leben“ in Bosnien an – die ethnischen Vergewaltigungen, in denen politische zu biologischen Gewaltakten geworden seien. (15)

Das Phänomen der „Entsemantisierung“ und der „Suspendierung der konkreten Praxis“ im Ausnahmezustand, in dem die Gesetze ihre performative Kraft nicht mehr entfalten können, begrenzt sich laut Agamben nicht nur auf die Justiz, sondern erfasst alle sozialen Institutionen. (16)

Im Folgenden möchte ich versuchen, die Phänomene der Suspension, die den Ausnahmezustand kennzeichnen, auf das Funktionieren der Medien zu übertragen. Denn von einer ähnlichen Aufhebung von Denotation und Aktualisierung wurde auch die Kriegsberichterstattung aus Bosnien erfasst. In den Memoiren der Journalisten, in medienwissenschaftlichen Studien und politischen Auswertungen liest man über mannigfaltige Arten der „Entsemantisierung“ der Information und der „Suspendierung“ ihrer Aktualität auf unterschiedlichen Ebenen – von der ersten Aufzeichnung bis zu ihrer Verwendung durch politische Institutionen. Fotos wurden von ihrer aktuellen Referenzen abgekoppelt wurden und verwiesen in einem Spiel der Ähnlichkeit auf andere, frühere historische oder gar fiktionale Bilder: bekannte fotografische und filmische Darstellungen der Shoah wurden in den Darstellungen der Opfer aufgerufen, (17) aus den Tätern wurden Nazis, (18) in fotografischen Aufnahmen wurde auf das traditionelle ikonografische Repertoire der religiösen Malerei zurückgefriffen, (19) Kriegsreportage und Werbung wurden vermischt, (20) Fernsehreportagen wurden ohne Kenntnisse der politischen Hintergründe gedreht, (21) die Kriegsbilder wurden schließlich durch die Veröffentlichung privater Aufnahmen im Internet in Frage gestellt, (22) und ohnehin wurden Reporter durch vorgefertigtes Material, dessen Quellen verschwiegen oder verfälscht wurden, irregeführt, (23) Bildunterschriften gefälscht, (24) Information einseitig durch die PR-Agenturen ausgewählt oder gar hergestellt. (25) Die politischen Entscheidungsinstanzen, die selbst zur Irreführung beigetragen hatten, beriefen sich dann regelmäßig auf genau diese selbst produzierte „Aktualität“. In der Propagandawelt kollabierte die Referentialität des Dokumentarischen.

Selbst die Kriegsberichterstattung verfing sie sich im autoreflexiven Text über sich selbst und scheiterte an der Aktualisierung ihres eigenen Diskurses. Sie rückte den Metatext – die metasprachlichen Kommunikationsbedingungen, den Kode – um mit Roman Jakobson zu sprechen (26) – in den Vordergrund. Diesen Zustand der gescheiterten Denotation illustriert der Streit zwischen Susan Sontag und Jean Baudrillard über die performative Macht bzw. Ohnmacht der Medien, der angesichts der dauernden Präsenz des Krieges in „Echtzeit“ in den Medien entbrannte. Sontag, die im April 1993 zum zweiten Mal in das belagerte Sarajevo reiste, um dort Samuel Becketts Theaterstück Warten auf Godot zu inszenieren, beobachtete mehrere Phänomene, die von der Krise der Kriegsberichterstattung zeugten. (27) Als Beispiel führt sie die Reportage des berühmten BBC-Journalisten Alan Little über ein schwer verletztes, verwaistes bosnisches Mädchen an, dem nur noch die Behandlung in einem ausländischen Krankenhaus das Leben retten konnte. Bald hätten viele andere Journalisten dieselbe Story aufgegriffen. Unter dem Druck der Presse wurde das Mädchen durch die Intervention von John Major ins Ausland gebracht. Sontag beklagt, dass die Story weder eine Mediendebatte über den schlechten Zustand des Krankenhauses von Sarajevo noch über das Ausbleiben der von der Bevölkerung ersehnten humanitären Intervention eingeleitet habe. Vielmehr hätten die Reporter der konkurrierenden Zeitungen und Sender den „Medienzirkus“ angegriffen, „der das Leiden eines Kindes ausbeutet“. (28) Während einer zweiten Phase der Berichterstattung konzentrierten sich diejenigen Medien, die erst verspätet auf die Story einstiegen, nun statt auf die ursprüngliche Berichterstattung über das Mädchen auf eine sekundäre Story – die vermeintliche „moralische Obszönität“ der Kollegen als Metatext. Sontags Beispiel deckt die Zirkularität eines Kriegsdiskurses auf, der mit der Aufdeckung der Story hinter der Story das Ereignis von seiner Referenz abgekoppelt und in einen Text, ein Bild oder eine Performance transformiert, welche an Stelle des Ereignisses sozusagen sentimentalisch kommentiert werden. (29)

Bei der Inszenierung von Becketts Warten auf Godot beobachtet Sontag ferner, dass sie selbst zur „Nebenattraktion“ für Korrespondenten und Journalisten geworden sei, „die gekommen sind, um über einen Krieg zu berichten“. Manche hätten ihr Engagement als „Eigenreklame“ aufgefasst, als Marketingstrategie, um Preis und Auflage ihrer Bücher in die Höhe zu treiben. Durchweg hätten sie dabei diejenigen, um die es ging oder hätte gehen sollen – die Einwohner von Sarajevo, aus dem Auge verloren.

Wenn man die Aufrichtigkeit seiner Intentionen beteuert, verstärkt das den Verdacht, wenn es denn einen Verdacht gibt. […] Allein schon über das zu sprechen, was man tut, erscheint als – oder wird vielleicht, unabhängig von den Absichten – eine Form von Eigenreklame. Doch das entspricht ja nur den Erwartungen der zeitgenössischen Medienkultur. […] Du willst, dass von ihnen die Rede ist, und es zeigt sich, dass – im Medienland – von dir die Rede ist. […] Es zeigt sich darin etwas von der Art und Weise, in der solche Dauerbrenner wie die Bosnien-Story übermittel werden und Reaktionen hervorrufen. (30)

Sie bedauert, dass „der Ansturm der Interviews in den ersten zwei Wochen bedeutete, dass die meisten Storys fertig waren, noch ehe die Schauspieler ihren Text gelernt hatten und ihre Konzeption des Stückes sich zu bewähren begann“. (31) In diesem Fall fabrizierte die Kriegsberichterstattung die zweite Story, die Inszenierung von Warten auf Godot, nicht im Nachhinein, sondern sie ging dem Ereignis sogar voraus.

Die Schuld an der ermüdenden und unwirksamen Kriegsberichterstattung schiebt Sontag letztlich nicht den Reportern und den Medien zu, sondern der ausbleibenden politischen Aktion. Anders als Derrida, der aufgrund der Iterierbarkeit der Sprache die Wiedergabe des singulären Ereignisses für eine paradoxe unmögliche Möglichkeit hält – entweder einer konstativen Mitteilung im Nachhinein oder einer performativen Mitteilung als ein zweites Ereignis (32)– beklagt Sontag nicht die Wiederholung der Bilder in den Medien. Vielmehr schiebt sie die Schuld der Geschichte, die sich wiederholt, dem Ausbleiben des Ereignisses, der Friedensverhandlungen und der Intervention zu. (33)

Zwar hat der Krieg seine Natur nicht völlig verändert und er ist nicht bloß oder in erster Linie Medienereignis, aber die Berichterstattung der Medien ist ein wichtiger Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit, und manchmal wird allein die Tatsache dieser Berichterstattung zur Story an sich. […] Ich glaube das Standardargument von Kritikern des Fernsehens nicht, dass das Betrachten schrecklicher Ereignisse auf einem kleinen Bildschirm diese Ereignisse ebenso sehr in die Ferne rückt wie sie sie real macht. Es ist die fortgesetzte Berichterstattung über den Krieg bei gleichzeitig fehlenden Aktionen, ihn zu beenden, die uns zu bloßen Beobachtern macht. Nicht das Fernsehen, sondern unsere Politiker haben Geschichte zu etwas gemacht, das man immer schon gesehen zu haben meint. Es ermüdet uns, stets dasselbe Programm anzuschauen. Wenn es unwirklich scheint, dann deshalb, weil es so entsetzlich und zugleich offenbar so unabänderlich ist. (34)

Der Stillstand der Geschichte, in dem sich die Einwohner von Sarajevo schon mehr als zwei Jahre befänden, lasse ihnen die Realität als irreal erscheinen. In diesem Stillstand drifte die Zeit für die Menschen in Sarajevo auseinander, entweder in die mittelalterliche Vergangenheit oder in eine science-fiction-artige Zukunft.

Selbst die Menschen in Sarajevo sagen manchmal, dass es ihnen unwirklich vorkommt. Sie befinden sich in einem Zustand des Schocks, der sich nicht abschwächt, der die Form einer rhetorischen Ungläubigkeit annimmt. (‚Wie konnte das passieren? Ich kann immer noch nicht glauben, dass es passiert.) Sie sind ernsthaft erstaunt über die serbischen Gräueltaten und über das öde und ungewohnte Leben, das sie jetzt zu führen gezwungen sind. ‚Wir leben im Mittelalter’, sagte jemand zu mir. ‚Das Ganze ist Science Fiction’, meinte ein anderer Freund. (35)

Für Sontag, die nach Bosnien und die Herzegowina kam, um dort tätig zu sein, zu handeln, ist Sarajevo dagegen „der realste Ort auf der Welt“.

Die Leute fragen mich, ob mir Sarajevo während meines Aufenthalts jemals unwirklich erschienen wäre. Die Wahrheit ist die, dass mir Sarajevo, seit ich zum erstenmal hingefahren bin – ich habe vor, diesen Winter dorthin zurückzukehren und Der Kirschgarten mit Nada als Madame Ranevskaja und Velibor als Lopchin zu inszenieren –, als der realste Ort auf der Welt erscheint. (36)

Denn „diesmal wollte sie nicht nur Zeuge sein, das heißt, auf Besuch kommen, vor Angst zittern, sich tapfer fühlen, herzzerreißende Gespräche führen, immer entrüsteter werden, abnehmen“. Sie kehrte zurück, „um sich einzumischen und etwas zu tun“. (37) Sontags Auffassung von Performanz (38) umfasst nicht nur die Inszenierung des Theaterstücks auf der Welt-Bühne und die Beeinflussung der Öffentlichkeit, sondern durch ihre zweieinhalbjährige Präsenz vor Ort auch einen körperlichen Nachvollzug ihres politisch-humanitären Programms. Indem sie Beckett inszeniert und politisch aktualisiert, scheint sie zwar zu akzeptieren, dass die Welt eine Bühne ist, jedoch nicht im Sinne der medialen Verdoppelung im „Spiegel“ oder im „Spiel“, wie in Guy Debords „Gesellschaft des Spektakels“ oder in Baudrillards „simulakraler Hyperrealität“, sondern aus der Perspektive des Mit-Erlebens und Zusammen-Seins.

Jean Baudrillard, der am 19. Dezember 1993 eine simultane Programmübertragung aus Strassburg und Sarajevo, Le Couloir pour la parole (Ein Korridor für das Wort), auf dem Kanal Arte verfolgt hat, (39) hat hernach nicht nur die Sendung in „Echtzeit“ als Symbol der europäischen Teilnahme angegriffen, sondern auch Susan Sontag als Repräsentantin des mediatisierten Westens, dem es an einem tieferen Realitätssinn ermangele. (40)

Doch Susan Sontag, aus New York angereist, muss wohl besser als jene wissen, was Realität ist, da sie sie ja dazu bestimmt hat, deren leibhaftige Verkörperung zu sein. Oder vielleicht einfach deswegen, weil es eben die Realität ist, was ihr selbst und dem Westen insgesamt am meisten fehlt. Man muss sich aufmachen und sich dort wieder eine Realität besorgen, wo Blut fließt. […] – gerade diese Menschen möchte Susan Sontag von der „Realität“ des Leidens überzeugen, wobei sie natürlich jene Realität stark macht, sie theatralisiert und inszeniert, damit sie im Theater des westlichen Werte, zu denen auch die Solidarität gehört, als Referenz dienen könne. (41)

Wie die Sendung in Arte, so versuche auch Sontag, die Einwohner von Sarajevo von einer Realität zu überzeugen, obwohl sie mit ihnen zusammen in einer mediatisierten, gespenstischen Hyperrealität lebe.

Und deshalb sind sie [die Einwohner von Sarajevo] es, die leben, und wir sind diejenigen, die tot sind. Deswegen kommt es zuallererst darauf an, mit unseren und für unsere eigene Augen die Realität des Krieges zu retten, und gewissermaßen diese (anteilnehmende) Realität denen aufzudrängen, die unter ihr leiden, inmitten von Krieg und Elend jedoch nicht wirklich an sie glauben. (42)

Erst die mediale Hyperrealität, die das Leben in Sarajevo zu einer ‚Doku-Show’ transformiert, ermöglicht es ihnen laut Baudrillard, die unmöglichen Zustände in Sarajevo als ‚Helden’ auszuhalten und zu überleben.

In ihren Kommentaren gab Susan Sontag zu, dass die Bosnier selbst nicht wirklich an das Elend glaubten, das sie umgibt. Letztendlich hielten sie diese ganze Situation für irreal, sinnlos und undurchschaubar. Es ist die Hölle, aber eine gewisse hyperreale Hölle, die durch die ermüdenden medialen und humanitären Aktivitäten noch hyperrealer geworden ist, da diese die Haltung der ganzen Welt ihnen gegenüber noch unverständlicher macht. Auf diese Weise leben sie mit dem Krieg wie mit einer Art Gespenst – glücklicherweise übrigens, denn sonst könnten sie das Ganze niemals ertragen. Und dieser Gedanke stammt nicht von mir, sondern sie selbst sagen das. (43)

Im Jahre 1995 vergleicht Baudrillard in einem Interview mit Caroline Bayard und Graham Knight Sontags Engagement für Bosnien mit dem heroischen Akt in einer Tragödie. (44) Wie die literarischen Heroen Opfer der Auswirkung ihrer eigenen Handlungen seien, so habe auch Sontag die Folgen ihrer Tat nicht vorausgesehen. In ihrer Aktion sieht Baudrillard sogar eine Art Selbstmord. (45)

And it is a heroic act, in the sense that heroism has always been without illusions. Real heroes are always in that sense tragic. They do not exactly foresee the result of their actions. […] To me, an act does not have meaning by itself, except in an absurd context. Maybe suicide does, maybe in fact what we are looking at here is a form of suicide. (46)

Baudrillard scheint Sontag zur Heldin eines ausweglosen Trauerspiels zu machen, in dem der Selbstmord der einzige Handlungsakt ist, der sich in der absurden Welt der Simulation den Wiederholungen entzieht. Folgt man Baudrillard, so vollzieht sich ihre Performanz letztlich ausschließlich an ihrem eigenen Körper, ohne eine Chance, in der Öffentlichkeit etwas zu bewirken.

Wie die Berichterstattung über das verletzte bosnische Mädchen der Erst-Story über das Ereignis eine Zweit-Story – die Meta-Story über die Bedingungen der Kommunikation – ‚aufgepfropft’ hat, so macht sich auch Baudrillard Sontags bekannten Essay über ihren Aufenthalt in Sarajevo in ‚parasitärer’ Weise zunutze.47 Er deutet Sontags performativen Akt als ein persönliches Doku-Drama in der unmittelbaren (immediaten) und zugleich vermittelten (mediatisierten) „Echtzeit“. Wie in der Kriegsberichterstattung das Ereignis durch den Verweis auf seine mediale Gemachtheit die Materialität und korporeale Präsenz einbüßt, so reduziert auch Baudrillard Sontags performativen Akt zu einer leeren (und dadurch tragischen, theatralischen) Geste. Das über mehr als zwei Jahrzehnte hindurch entwickelte Modell des Simulakrums (48)– der Absorption der Realität und der Performanz durch die Mediatisierung, der beide schließlich stets vergeblich nacheilen – verschmilzt Baudrillard in dieser Spätphase seiner Theoriebildung mit Paul Virilios „Dromologie“ des „rasenden Stillstandes“ und der „Echtzeit“. (49)

Now we are, as Paul Virilio has put it, living in real time, and real time means fatality. Actions have no antecedent, even when they refer to other revolutionary periods, they do not have any finality, even in a long term context, as no one knows where this is coming from and it all happens within real time. And such a real time manages to set it all up in a state of total ephemerality. Susan Sontag’s act is limited. It cannot operate incognito, it is automatically mediatised, that is for sure. […] Information is not what it used to be a long time ago. In the past, something would take place, then one would know it had taken place, then others would hear about it. Now, one knows everything before it has even taken place, and incidentally, it does not even have the time to take place. Mediatisation is a precession; you could call it the precession of simulacra within time. (50)

Nach dieser Logik kreist Susan Sontags Aktion wie die nicht mehr nach-richtlichen Nachrichten überaktiv in einem circulus vitiosus des Wiederholungszwangs, ohne dass das Ereignis eintreffen könnte. Nur durch die Herbeiführung eines Risses im zeit-räumlichen Informationskontinuum, die jedoch Sontag nicht gelungen sei, könne, so Baudrillard, die Aktion wieder in die Geschichte eindringen. (51)

Subjects such as Susan Sontag cannot intervene anymore, even symbolically. […] If one cannot create repercussions, reverberations for such an act to bring it back within history, so that it “were an event”, then there is no point in doing it. I would invoke and suggest that if one does this, chooses to do this, it has to be an event. Not that it should be important, but it should create a rupture within the information continuum. (52)

Ein solcher Riss wäre – entsprechend Baudrillards Theorie der Simulakren – theoretisch nur dann möglich, wenn ein Ereignis seiner medialen Aufzeichnung zeitlich tatsächlich vorangehen würde, wenn es also seine Originalität gegenüber seiner Reproduzierbarkeit verteidigen könnte: „one would need to precede the precession itself, to anticipate those simulacra, otherwise the clockwork, the system will be present before we are there. The simulacra will be ahead of us everywhere“. (53) Doch mit Virilo gesprochen, kann ein Ereignis seine Gegenwart nicht mehr „hier und jetzt“ einholen, weil es bereits in einem „kommutativen Anderswo“ stattgefunden hat. (54)

Für Baudrillard ist Sontags Aktion von Anfang an nachträglich und in der Metalepse gefangen – wie der Held in Paul Wegeners Doppelgänger-Film Der Student von Prag (1913, 1926).

This was the situation of the Prague student and his double. His double was always there before him. Whenever he would go and meet someone for a duel for instance, the other had come before him, his adversary had been killed. So there was no reason for him to exist. We now live in such a system. (55)

Die Konsequenz von Baudrillards Denken – die metaleptische Austauschbarkeit der Ereignisse mit ihren Simulakren – führt letztlich so weit, dass er in der gespenstischen „Echtzeit“ auch den Unterschied zwischen Opfer und Täter in einer gemeinsamen Komplizenschaft fallen lässt.

Within such events, victims and executioners become in some way complicitous. It is monstrous, but real. Between the hostage and hostage-takers a form of complicity establishes itself. (56)

Susan Sontag reagierte auf Baudrillards Worte erst im Jahre 2001 in einem Interview mit Evans Chan, in dem sie ihn zu den „schamlosen Zynikern“, in eine Reihe mit Ilya Ehrenburg, Romain Rolland und Peter Handke, eingeordnet hat.

Baudrillard is a political idiot. Maybe a moral idiot, too. If I ever had any thought about functioning in a typical way as a public intellectual, my experiences in Sarajevo would have cured me forever. Look, I did not go to Sarajevo in order to stage Waiting for Godot. I would have had to have been insane to do such a thing. I went to Sarajevo because my son, a journalist who had begun covering the war [David Rieff], suggested that I make such a trip. While there for the first time in April 1993, I told people I would like to come back and work in the besieged city. When asked what I could do, I said: I can type, I can do elementary hospital tasks, I can teach English, I know how to make films and direct plays. “Oh,” they said, “do a play. There are so many actors here with nothing to do.” And the choice of doing Godot was made in consultation with the theatre community in Sarajevo. The point is that doing a play in Sarajevo was something I did at the invitation of some people in Sarajevo, while I was already in Sarajevo, and trying to learn from Sarajevans how I might be, in some small way, useful. […] My visit wasn’t intended to be a political intervention. If anything my impulse was moral, rather than political. I’d have been happy simply to help some patients get into a wheelchair. I made a commitment at the risk of my life, under a situation of extreme discomfort and mortal danger. Bombs went off, bullets flew past my head.... There was no food, no electricity, no running water, no mail, no telephone day after day, week after week, month after month. This is not “symbolic”. This is real. And people think I dropped in for a while to do a play. Look, I went to Sarajevo for the first time in April 1993 and I was mostly in Sarajevo till the end of 1995. That is two and a half years. The play took two months. I doubt if Baudrillard knows how long I was in Sarajevo. I’m not a Bernard-Henri Levy making his documentary Bosna. In France they call him BHL; in Sarajevo they called him DHS--deux heures a Sarajevo--two hours in Sarajevo. He came in the morning on a French military plane, left his film crew, and was out of there in the afternoon. They brought the footage back to Paris, he added an interview with Mitterrand, put on the voice-over, and edited the film there. When Joan Baez came for twenty-four hours, her feet never hit the sidewalk. She was going around in a French tank and surrounded by soldiers the entire time. That’s what some people did in Sarajevo. (57)

 

Sontag verwirft Baudrillards Event-Etikettierung mit der persönlichen Motivierung ihrer Reise und der Dauer ihrer Präsenz vor Ort. Mit ihrer Präsenz vor Ort und ihrer Tätigkeit in Sarajevo verteidigt sie den performativen Charakter ihres Handelns, das Baudrillard zu einer ‚Performance’ verkürzen möchte. Gerry Coulter sieht in diesem Streit die Opposition von Moderne und Postmoderne am Werk. (58) Sontag sei, als Repräsentantin der Moderne und der amerikanischen „optimistischen“ intellektualistischen Tradition von Frederick Douglas und Noam Chomsky, nicht bereit, sich auf eine öffentliche Debatte mit dem französischen Vertreter der Postmoderne einzulassen: „To accept that the world has taken a Baudrillardian turn into the violence of the virtual, the digital, and integrated reality of the hyperreal, was more than she could allow – even while she lived it with the media in Sarajevo.” (59) Obwohl am eigenen Körper erlebt, hätte sie die Realität der Simulakren nicht zugelassen. Doch mit Blick auf die ‚second stories’ der Medienberichterstattung scheint es genau so wahrscheinlich, dass Sontag mit ihrem Schweigen verhindern wollte, dass Baudrillard aus ihrer ‚Erst-Story’ wieder eine ‚Zweit-Story’ macht, die durch die Medien kursieren würde.

Ein weiteres Feld der Auseinadersetzung zwischen der Performanz und dem Simulakrum ist die Theorie der Fotografie geworden. Für Baudrillard ist die Fotografie – eine immaterielle Licht-Schrift – kein Medium der Objektivität, sondern eines der Transposition der Realität in einen trompe l’œil-Effekt (60) mittels des fotografischen Objektivs (objectif). (61) Die Stille und die angehaltene Bewegung im Foto mache aus der Realität ein Bild par excellence. Das Foto erfasse nicht die Welt, sondern sei die Resistenz gegen sie – die Resistenz gegen den Lärm, die Bewegung und die moralischen Imperative. Gerade deswegen ist das Foto für Baudrillard ein “Drama” – im theatralischen Sinne ein „dramatic move to action (passage à l’acte), which is a way of seizing the world by ‘acting it out’”. (62) Indem die Welt ins Foto eintrete, werde sie aus ihrer Realität exorziert und ordne sich den Signifikationsprozessen unter. Aus diesem Grund würden die Fotografen und Fotojournalisten, die versuchen, Realität und Objektivität in ihren Fotos zu fangen, als bevorzugtes Motiv „Opfer“ und „Tote als solche“ wählen. Doch indem sie das tun, so Baudrillard, zeigten sie nicht das, was es gibt, sondern gerade das, was es nicht geben sollte – die Realität des Leidens als hyperreal.

So-called “realist” photography does not capture the “what is”. Instead, it is preoccupied with what should not be, like the reality of suffering for example. It prefers to take pictures not of what is but of what should not be from a moral or humanitarian perspective. Meanwhile, it still makes good aesthetic, commercial and clearly immoral use of everyday misery. These photos are not the witness of reality. They are the witness of the total denial of the image from now on designed to represent what refuses to be seen. The image is turned into the accomplice of those who choose to rape the real (viol du reel). The desperate search for the image often gives rise to an unfortunate result. Instead of freeing the real from its reality principle, it locks up the real inside this principle. What we are left with is a constant infusion of “realist” images to which only “retro-images” respond. (63)

Laut Baudrillard, für den alle Fotos Täuschungen sind, weigern sich fotografische Dokumentalisten, die Bildhaftigkeit des Fotos anzuerkennen. Obwohl sie behaupteten, in ihren „realistischen“ Fotos Repräsentationen der Welt zu zeigen, würden sie in Wirklichkeit die Welt ihrer Realität berauben und sie in verspätete „Retro-Bilder“ verwandeln. Die seit der Entstehung der Fotografie immer wieder ausgedrückte Überzeugung, dass das Fotografieren einen räuberischen Gestus beinhalte, wird verkehrt: Für Baudrillard greift der Fotograf nicht in die Realität, um ihr etwas wegzunehmen und für sich zu behalten, sondern um sie zu verhüllen und auszuschalten. Er ist wie der Maler Parrhasios, der mit seinem gemalten Vorhang – einem trompe l’œil – eine noch effektivere optische Täuschung erzeugt hat, als sein Konkurrent, der Maler Zeuxis, der mit den naturnah gemalten Trauben nur Vögel, nicht aber den Betrachter täuschen konnte.

Auch Susan Sontag äußert sich in ihrem frühen Buch Über Fotografie (1977) gegen die Gewaltfotos, denen sie einen obszönen, nahezu pornografischen Wert zuschreibt. (64) Ihr wiederholtes Anschauen würde allmählich die fragile ethische Aussage angreifen und Tabus brechen. Allein der Text, die Bildunterschrift oder der Kommentar, der das Bild konkretisiert, präzisiert und spezifiziert – zum singulären Ereignis macht – könne dem wiederholenden Erscheinen eines Fotos abhelfen und es aus seiner Allgemeinheit in eine bestimmte historische Situation überführen. (65) In ihrem späteren Buch über die Kriegsfotografie Das Leiden anderer betrachten (2003) verteidigt Sontag das Betrachten der Gewaltfotos, solange diese ihre performative Kraft – die Verfolgung einer nicht verjährten Kriminaltat als visuelle Zeugenaussage – noch nicht verloren hätten. (66)

Insofern konnte man sich verpflichtet fühlen, diese Bilder zu betrachten, so grausig sie waren. Denn gegen das, was sie zeigten, ließ sich in diesem Augenblick etwas tun. Andere Fragen kommen ins Spiel, wenn uns bislang unbekannte Fotos mit Schrecken aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit konfrontieren.(67)

Liegen die Taten weit zurück – wie auf den Fotos der schwarzen Lynchopfer – macht einen das Betrachten solcher Fotos laut Sontag zu bloßen Zuschauern. Die Taten sind in diesem Fall bereits musealisiert worden und besitzen ausschließlich einen Ausstellungswert. Indirekt antwortet sie in ihrem Buch auch Baudrillard, indem sie in der Kriegsfotografie „ein Mittel [sieht], etwas ‚real’ (oder ‚realer’) zu machen, das die Privilegierten und diejenigen, die einfach nur in Sicherheit leben, vielleicht lieber übersehen würden.“ (68) Vor allem sollten „moderne Weltbürger, Adepten der risikofreien Nähe, die Gewalt aus dem eigenen Fernsehsessel, fernab der Gefahr als Spektakel konsumieren“, heimgesucht und herausfordert werden. (69) Denn diese „geübten Zyniker“ versuchen, so Sontag, „innere Bewegung um jeden Preis zu vermeiden“ und zweifelten die Aufrichtigkeit der Fotos an. Kosmopolitische Diskussionen über Gräuelbilder legten den Schluss nahe, dass solche Bilder wenig bewirkten und ihrer Verbreitung etwas Zynisches anhafte. Solche Diskussionen würden dazu führen, dass „die Bemühungen derer, die in Kriegsgebieten Augenzeugen sein wollen, inzwischen so häufig als ‚Kriegstourismus’ verspottet werden, dass davon auch die Diskussionen über die Kriegsfotografie als Beruf nicht unberührt geblieben sind“. (70) Dieses Misstrauen beobachtet Sontag „an den beiden Endpunkten des Spektrums: bei den Zynikern, die nie auch nur in die Nähe eines Krieges geraten sind, und bei den Kriegsmüden, die das Elend, das fotografiert wird, selbst erdulden“. (71)

Für die radikalere – die zynische – Variante dieser Kritik gibt es an dieser Stelle nichts zu verteidigen: der riesige Magen der Moderne hat die Realität verdaut und alles in Gestalt einer Masse von Bildern wieder ausgespuckt. Einer sehr einflussreichen Zeitdiagnose zufolge leben wir in einer ‚Gesellschaft des Spektakels. Jede Situation muss in ein Spektakel verwandelt werden, damit sie für uns wirklich – das heißt, interessant – wird. Die Menschen selbst sind bestrebt, Bilder aus sich zu machen – Prominente mit einem ‚Image’ zu werden. Die Wirklichkeit hat abgedankt. Es gibt nur noch Repräsentationen: die Medien.

Das alles ist phantasievolle Rhetorik. Die allerdings auf viele sehr überzeugend wirkt, denn auch dies gehört zu den Merkmalen der Moderne, dass den Menschen die Vorstellung gefällt, sie könnten ihr eigenes zukünftiges Erleben vorwegnehmen. (Diese Ansichten finden sich in den Schriften von Guy Debord, der glaubte, er habe es mit einer Illusion, einem Schwindel zu tun, und in denen von Jean Baudrillard, der behauptet, davon überzeugt zu sein, dass heute nur mehr Bilder, simulierte Realitäten existieren; es scheint sich hier um eine französische Spezialität zu handeln.) Oft heißt es, der Krieg, wie alles andere, was real zu sein scheint, sei médatique. So lautet auch die Diagnose einiger bekannter Franzosen, die während der Belagerung von Sarajevo zu einer Stippvisite in die Stadt gekommen waren – unter ihnen André Glucksmann: gewonnen oder verloren werde dieser Krieg nicht durch etwas, das sich in Sarajevo oder in Bosnien ereigne, sondern durch das, was in den Medien vor sich gehe. Oft wird behauptet, die ‚westliche Welt’ neige mehr und mehr dazu, den Krieg selbst als Schauspiel zu betrachten. Meldungen über den Tod der Vernunft, den Tod des Intellektuellen, den Tod der Literatur – anscheinend ohne viel Nachdenken von vielen für bare Münze genommen, die herauszufinden versuchen, was in Politik und Kultur heute so falsch, so leer, so balsamiert anmutet.

Dabei ist die These von der Wirklichkeit, die zum Spektakel geworden sei, auf atemberaubende Weise provinziell. Sie universalisiert die Sehgewohnheiten einer kleinen, gebildeten Gruppe von Menschen, die im reichen Teil der Welt leben, wo man die Nachrichten in Unterhaltung verwandelt hat – jenen ausgereiften Sehstil, der eine der großen Errungenschaften des ‚modernen’ Menschen und eine Voraussetzung für die Demontage traditioneller Formen von Parteipolitik ist, in der es noch wirkliche Meinungsunterschiede und wirkliche Debatten gibt. Sie nimmt an, dass jeder Mensch Zuschauer ist, uns suggeriert – absurderweise und völlig unseriös, dass es wirkliches Leiden auf der Welt gar nicht gibt. (72)

Sontag leitet die Krise der Referenz als „französische Spezialität“ von Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels (La société du spectacle, 1967) her, der bereits mit Blick auf die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts das Schwinden der Realität hinter einer theatralisierten Scheinwelt der Gesellschaft diagnostizierte, in der alle Handlungen zu tautologischen Rollenspielen würden. Wie sich die Realität für Debord in Surrogaten und für Baudrillard in hyperrealen Simulakren auflöst, so betrachtet Sontag auch deren „phantasievolle Rhetorik“ und die „Sehgewohnheiten“ als reine, von der Realität entbundene Wahrnehmungsprojektionen. Der Realitätseffekt, den Sontag fordert, zielt nicht auf eine Reproduktion der Realität, sondern auf deren Performanz – die Wirksamkeit der Fotos in der Gesellschaft und bei den Entscheidungsträgern. Fotos sollen den Betrachter „heimsuchen“, ihm als living deads oder revenants die vergangene oder abwesende Präsenz immer wieder vergegenwärtigen – ihn zur Trauerarbeit und zur daraus resultierenden Handlung herausfordern. Durch die anhaltenden Ansprüche der Fotografie wird die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Präsenz und Absenz, durchlässig. Obwohl geisterhaft, sind Fotos für Sontag keine Simulakren im Sinne Baudrillards, sondern trotz allen Unterschieden eher mit Derridas „Gespenstern“ vergleichbar, weder lebendig noch tot – sondern das Gedächtnis einer Politik „out of joint“. (73)

Die medientheoretische Auseinandersetzung zwischen Performanz und Simulakren hinterließ ihre Spuren nicht nur in der Kriegsberichterstattung und in der Theorie der Fotografie, sondern auch in den Kommentaren der Fotojournalisten zu ihren eigenen Fotos und der Fotografie als solcher. Dem Begleittext James Nachtways zu seinem fotografischen Buch Inferno (1999) kommt hier ein exemplarischer Wert zu. (74) Der Fotograf beschwört darin seine Rolle als Zeuge und die Rolle seiner Fotos als Zeugenaussage: „I have been a witness, and these pictures are my testimony“. (75) Ihren performativen Charakter unterstreicht er durch die Überzeugung, dass ihre Veröffentlichung in den Massenmedien die Aufmerksamkeit („awareness“) der Rezipienten wecken und ihnen helfen soll, sich Meinungen zu bilden. Fotos sollen an dem fortlaufenden Dialog zwischen Information und Reaktion teilnehmen, denn sie seien weniger von Worten abhängig und näher an der rauen, unmittelbaren Erfahrung (“a photograph can enter the mind and reach the heath with the power of immediacy”). (76) Der Betrachter soll seine Emotionen in Sätzen artikulieren und diese an politische und humanitäre Institutionen weiterleiten. Die Fotos sollen als visuelles Archiv zur Bildung des kollektiven Gedächtnisses und der kollektiver Verantwortung beitragen: „I want my work to become a part of visual history, to enter our colletive memory and our collective conscience.” (77) Damit seine Fotografien eine maximale performative Kraft entfalten könnten, will Nachtway seinen fotografischen Stil an die Aufnahmen in „Echtzeit“ („flow of events“, „increments of time preceding and following the decisive moment“) und an filmische Montageeffekte („various moments and perspectives“) anpassen. (78)

With Inferno I am seeking a deeper and broader treatment of events – something with narrative, cinematic quality; something that possesses a structure integral to the single image but also a connection between images. It is an attempt to go beyond a collection of so-called ‘best pictures’ and to replace it with a sense of the flow of events: ongoing, real, existing beyond the presence of the photographer. I have tried to apprehend the increments of time preceding and following the decisive moment and to take into account the repetitions and accumulations of details that inform reality. It is an attempt to create a path that viewers can negotiate in order to come to a personal understanding of events by piecing them together from various moments and perspectives. (79)

Der Forderung nach filmischen Effekten folgend, werden Fotos zu Serien verknüpft und oft über zwei Buchseiten reproduziert. Dadurch wird auch die Notwendigkeit einer Wahl zwischen dem dramatischen Augenblick („highest drama“) und dem Erfassen des Wesens der Geschichte („essence of a story“) umgangen. (80) Die verstärke Wirksamkeit geht mit der Simulation der „Echtzeit“ einher, die dem Betrachter ermöglichen solle, sich eine eigene Story vorzustellen („a personal understanding of events“). Dabei oszillierten sie zwischen Performanz und Simulakrum, zwischen der ‚Erst-Story’ des Reporters und der imaginierten ‚Zweit-Story’ des Betrachters. Der Widerspruch von Performanz und Simulakrum schreibt sich in den Kommentar der Kriegsfotografen ein.

Auch in der Bildproduktion rekurriert der Fotoreporter trotz seiner Beschwörung, Zeuge der Geschichte zu sein, zugleich auf fiktive Bilder der „Hölle“, wie Dantes Inferno, dessen Zitat aus dem dritten Gesang Nachtways Fotobuch als Motto vorangestellt ist.

Through me is the way to the sorrowful city.
Through me is the way to join the lost people.
(Inscription at the entrance to Hell)

There sights, lamentations and loud wailings
Resounded through the starless air;
So that from the beginning it made me weep.

Dante Alighieri, The Divine Comedy: Inferno (81)

Nachtways Fotografien aus den Bosnien- und Kosovo-Kriegen bilden zusammen mit anderen Fotografien des Schreckens aus Rumänien, Indien, Sudan, Ruanda, Zaire, Tschetschenien und Somalia neun Abschnitte, deren Struktur die neun Höllenkreise von Dantes Inferno evoziert. Auch das doppelseitige Titelbild, der den Eintritt ins Krankenhaus von Grosny während der russischen Bombardierung im Jahre 1995 zeigt, scheint das dokumentarische Foto vor Ort mit Dantes literarischer Vorlage zu überblenden (Abb. 1). In der nebligen Nacht steht vor der Mauer eine dunkle Gestalt mit dem Rücken zum Betrachter, deren Schatten an die Wand fällt. Das Foto ist in die verrätselnde Beleuchtung eines explodierenden Sprengkörpers getaucht, die nicht nur die Person mit mehrfach sich vergrößernden Schatten umgibt, sondern auch den Schatten der Äste eines Baumes auf die Mauer wirft. Die Konsistenz der Objekte wird unsicher, da es unentscheidbar ist, ob die Gestalt vor einer Mauer steht oder ob die Mauer eigentlich der Eingang in eine unklare Region der Umrisse und Schatten ist.

Abb. 1: James Nachtway, Eingang ins Krankenhaus in Grosny während der russischen Bombardierung, 1995 (aus: James Nachway, Inferno, New York 1999, Titelbild)

Abb. 1: James Nachtway, Eingang ins Krankenhaus in Grosny während der russischen Bombardierung, 1995
(aus: James Nachway, Inferno, New York 1999, Titelbild)

Solche Effekte konnten nur durch lange Nachbearbeitung der Fotografien (Ausschnitt, Beleuchtung) im Fotostudio erreicht werden, die Christian Frei in seinem oskarnominierten Dokumentarfilm James Nachtwey. War Photographer (2002) festgehalten hat. (82) Aus dem Zeugen im juristischen Sinne – dem Augenzeugen vor Ort – wird Nachtway zum Zeugen im biblischen Sinne – zum Aufschreiber und Nach-Erzähler im Nachhinein.

Die gespaltene double-bind-Position des performativen ‚acting’ einerseits und des simulakralen Verhüllens des Ereignisses andererseits drückt Nachtway in zwei Fotos aus, die als metapoetischer Kommentar zur Fotografie der 90er Jahren gelesen werden können. Das eine Foto mit einem hinter den Leisten einer Rolllade versteckten Scharfschützen hat der Fotograf selbst aus dem Blickwinkel eines Scharfschützen im Verborgenen aufgenommen (Abb. 2). Die räumliche Distanz zum Schießenden, der dem Fotografen keine Aufmerksamkeit schenkt, und sein schattenhaftes Spiegelbild in einer Türscheibe verstärken die Präsenz eins versteckten Betrachters. Das Spiegelbild wird zur Metapher und Metonymie eines zweiten Fensters mit einem zweiten schießenden Mann. Die performative Kraft der Kameraaufnahme wird durch die traditionelle Analogie des Schießens mit dem ‚Foto-Schießens’ ausgedrückt. Über die Legitimität solcher Aufnahmen, die um den Preis der unterlassenen Hilfeleistung, wenn nicht einer mindestens vorgetäuschten Komplizenschaft möglich wurden, ist bekanntlich heftig debattiert worden.

Abb. 2: James Nachtway, Kroatischer Milizionär schießt aus dem Schlafzimmer auf die muslimischen Nachbarn in Mostar, 1993-94   (aus: James Nachtway, Inferno, New York 1999, Abb. 198)

Abb. 2: James Nachtway, Kroatischer Milizionär schießt aus dem Schlafzimmer auf die muslimischen Nachbarn in Mostar, 1993-94
(aus: James Nachtway, Inferno, New York 1999, Abb. 198)

Während dieses Foto den Akt des Fotografierens aktualisiert und mit dem Schießen aus der Waffe synchronisiert, geht das andere Foto mit den Frauen im Lager unter der transparenten Plastikplane in umgekehrter Richtung vor (Abb. 3).

Abb. 3: James Nachtway, Kosovo-Flüchtlinge unter der Plastikplanen, 1999 (aus: James Nachway, Inferno, New York 1999, Abb. 434)

Abb. 3: James Nachtway, Kosovo-Flüchtlinge unter der Plastikplanen, 1999
(aus: James Nachway, Inferno, New York 1999, Abb. 434)

Hinter diesem modernen Schleier als Supplement der entzogenen Wahrnehmung (83) verbirgt sich das Fiktive und das Imaginäre. Die Frauen in bunter Bekleidung, erstarrt in ihren verschwommenen Silhouetten, machen den Betrachter unschlüssig, ob er vor sich Frauen auf der Flucht oder ein Bildklischee des Orients sieht. Nachtway rekurriert mit seinem Foto auf das traditionelle Bildmotiv der verschleierten muslimischen Frauen im Harem, die er zur Metapher des Simulakralen macht. Wird das Foto mit dem verdoppelten Scharfschützen zum Metabild der fotografischen Performanz, so werden die zum Gemälde erstarrte Frauen unter der Plastikplane zum Metabild des Simulakrums. Der Aktualisierung der Kriegsfotos läuft ein reziproker Prozess der De-Aktualisierung entgegen, in dem die gesteigerte Performanz mit dem Simulakralen zusammenfällt.

 


Anmerkungen:

1 Zum jugoslawischen Krieg in den einzelnen Teilrepubliken vgl. Melčić, Dunja (Hg.) 2007. Der Jugoslawien-Krieg, Wiesbaden, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage.
2 Derrida, Jacques 1991. Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“. Aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M., 84-87.
3 Ebd., 78.
4 Ebd., 77. „Die Staatsgründung markiert das Aufkommen eines neuen Rechts, sie tut es immer unter Anwendung von Gewalt. Immer: selbst dann, wenn sich nicht jene spektakuläre Völkermorde, Ausstöße, Ausweisungen, Deportationen ereignen, die häufig die Gründung von Staaten begleiten: von kleinen oder großen, alten oder modernen Staaten, von Staaten, die in unserer Nähe oder in großer Entfernung gegründet werden.“
5 Ebd. 11, 43.
6 Ebd., 81.
7 Ebd., 79f.
8 Agamben, Giorgio 2002. Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. (it. Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino 1995), 83, 84, 95.
9 Saussure, Ferdinand de [1916] 1967. Cours de linguistique générale. Publié par Charles Bally st Albert Sechehaye. Avec la collabortaion de Albert Reidlinger, Paris, 30f.
10 Agamben [1995] 2002, 30f.
11 Agamben, Giorgio 2004. Ausnahmezustand (Homo sacer II.1). Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll, Frankfurt a.M. (it. Stato di eccezione, Torino 2003), 41ff. Zu Agambens Konzept des Ausnahmezustands: Menke, Bettine 2003. Die Zonen der Ausnahme. Giorgio Agambens Umschrift ‚Politischer Theologie’, In: Jürgen Brokoff/Jürgen Fohrmann (Hg.), Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert, Paderborn u.a., 131-152.
12 Agamben [2003] 2004, 47, 51.
13 Agamben [1995] 2002, 83, 84, 95.
14 Ebd., 48f. „In dieser Perspektive muss das, was sich in Ex-Jugoslawien abspielt, und ganz allgemein die Auflösung der traditionellen staatlichen Organismen in Osteuropa nicht als eine Wiederkehr des Kampfes aller gegen alle im Naturzustand betrachtet werden, der das Vorspiel zu neuen sozialen Verträgen und neuen nationalstaatlichen Ortungen wäre; vielmehr ist es das Zutagtreten des Ausnahmezustandes als permanente Struktur der juridisch-politischen Ent-Ortung und Verschiebung. Es handelt sich also nicht um einen Rückfall der politischen Organisation in überwundene Formen, sondern um vorwarnende Ereignisse, die wie blutige Boten den neuen nómos der Erde ankündigen, der (wenn das Prinzip, auf dem er gründet, nicht erneut in Frage gestellt wird) dazu tendiert, sich über den ganzen Planeten auszubreiten.“
15 Agamben [1995] 2002, 196. „Da wäre der Körper der bosnischen Frau von Omarska, ein perfektes Beispiel für die Schwelle der; oder, in einem scheinbar entgegengesetzten, aber eigentlich analogen Sinn, die militärischen Interventionen aus humanitären Gründen, bei denen kriegerische Aktionen mit biologischen Zielen wie Ernährung oder Seuchenbekämpfung unternommen wurden Ununterscheidbarkeit zwischen Biologie und Politik.“
16 Agamben [2003] 2004, 47. „Im Allgemeinen kann man sagen, dass nicht nur Sprache und Recht, sondern alle sozialen Institutionen sich durch einen Prozess der Entsemantisierung und der Suspendierung der konkreten Praxis im unmittelbaren Bezug zur Realität herausgebildet haben.“
17 Das Foto der bis auf die Rippen abgemagerten bosnischen Flüchtlinge hinter dem Stacheldraht im Flüchtlings- und Sammellager Trnopolje, veröffentlicht in der britischen Tageszeitung The Guardian am 5. August, auf der Umschlagseite des Daily Mirror am 6. August 1992 und an demselben Tag ausgestrahlt von Independent Television News (ITN), diente als Beweis für die Existenz der von Serben betriebenen Konzentrationslager im ersten Kriegsverbrecherprozess in Den Haag im Herbst 1996. Die Recherchen des deutschen Journalisten Thomas Deichmann, der unbearbeitete Fotos des britischen Nachrichtendienstes untersuchte, haben gezeigt, dass sich nicht die Bosnier, sondern der Fotoreporter hinter dem Stacheldraht befunden hatte. Als die britische Zeitschrift LM (Hg. Hume, Michael/Guldberg, Helene) über die gefälschte Präsentation der ITN berichtete, wurde sie verklagt und am 12.03.2000 wegen Verleumdung verurteilt. Zu den Hintergründen des Fotos, der Recherche Thomas Deichmanns und des Prozesses: Horn, Christiane 1998. Bilder erzählen ihre eigene Geschichte. Eine Reportage mit Folgen, in: Novo 34, Mai/Juni, 30-33 (http://www.novo-magazin.de/itn-vs-lm/novo34-2.htm, Zugriff: 29.10.2007).
18 Hume, Mick 2000. Nazifying the Serbs, from Bosnia to Kosovo, in: Hammond, Philip/Herman, Edward S. (Hg.) 2000. Degraded Capability. The Media and the Kosovo Crisis. Foreword by Harold Pinter, London, 70-78; Hammond, Philip 2007. Media, War and Postmodernity, London-New York, 52.
19 Werkmeister, Karl Otto 2005. Der Medusa Effekt. Politische Bildstrategien seit dem 11. September, Berlin, 43f.
20 Becker, Jörg/Beham, Mira 2006. Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod, Baden-Baden, 53-57. Erwähnt sei das blutige T-Shirt eines gefallenen kroatischen Soldaten als Werbung für die United Colours of Benetton, ein Werk des Fotografen Oliviero Toscanini aus dem Jahre 1994.
21 Paterson, Gow, James/Paterson, Richard/Preston, Alison (Hg.) 1996. Bosnia by television, London.
22 Paul, Gerhard 2004. Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn, 407-431.
23 Rumiz, Paolo 2000. Masken für ein Massaker. Der manipulierte Krieg. Spurensuche auf dem Balkan, München.
24 Becker/Beham 2006, 40-46, 53-57.
25 Schneider, Wolfgang (Hg.) 1997. Bei Andruck Mord. Die deutsche Propaganda und der Balkankrieg, Hamburg; Bittermann, Klaus (Hg.) 2000. Meine Regierung. Vom Elend der Politik und der Politik des Elends. Rot-Grün zwischen Mittelmaß und Wahn, Berlin; Zu Informationsmanipulationen im späteren Kosovo-Krieg im Jahre 1999: Hammond/Herman 2000; Locquai, Heinz 2000. Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999, Baden-Baden (= DSF 129, Hg. Dieter S. Lutz); Richter, Wolfgang/Schmähling, Elmar/Spoo, Eckart (Hg.) 2000. Die Wahrheit über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Schriften des Internationalen Vorbereitungskomitees für ein Europäisches Tribunal über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, Schkeuditz; Elsässer, Jürgen 2004. Kriegslügen. Vom Kosovokonflikt zum Milosevic-Prozess, Berlin.
26 Jakobson, Roman [1960] 1971. Linguistik und Poetik, in: Ihwe, Jens (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, Frankfurt a.M., 142-178.
27 Sontag, Susan 1993. Godot in Sarajevo. Eine Theaterinszenierung unter dem Belagerungszustand, in: Lettre international 23, 4-9. Zweite deutsche Übersetzung: Dies., Warten auf Godot in Sarajewo [1993], in: Dies. 2007. Worauf es ankommt. Essays. Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius, Frankfurt a. M., 386-416.
28 Sontag [1993] 2007, 414.
29 Zum Begriff des „sentimentalischen“ Bildes vgl. Busch, Werner 1993. Das sentimentalische Bild. Die Krise der Kunst im 18. Jahrhundert und die Geburt der Moderne, München.
30 Sontag [1993] 2007, 412.
31 Ebd., 412.
32 Derrida, Jacques 2003. Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. Aus dem Französischen von Susanne Lüdemann, Berlin 2003 (fr. Une certaine possibilité impossible de dire l’événement, in: Alexis Nouss (Hg.), Dire événement, est-ce possible? Séminare autor de J. Derrida, Paris 2001, 79-112), 18-22.
33 Für Derrida (2003, 50) ist das Ereignis eine Singularität und daher eine Ausnahme: „Ein Ereignis ist immer außerordentlich, das ist eine mögliche Definition des Ereignisses. Ein Ereignis muss außerordentlich sein, eine Ausnahme von der Regel. Sobald es Regeln oder Normen und infolgedessen Kriterien gibt, um dies oder jenes, was geschieht oder nicht geschieht, zu bewerten, gibt es kein Ereignis mehr. Das Ereignis muss außerordentlich sein, und diese Singularität der ungeregelten Ausnahme kann nur Symptomen stattgeben.“
34 Sontag [1993] 2007, 412, 413, 415.
35 Sontag [1993] 2007, 415.
36 Ebd., 415, 416.
37 Ebd., 386.
38 Zum Begriff der Performanz: Wirth, Uwe (Hg.) 2002. Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.; Butler, Judith 2006. Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M.
39 Baudrillard, Jean 1995. Kein Mitleid mit Sarajevo, in: Lettre international 31, 91f.; Engl. Ders., No pity for Sarajevo, in: Ders. 2000. Screened out, Translated by Chris Turner, New York, 45-50; Ders. 1994.: No reprieve for Sarajevo (Liberation, 8. Januar 1994), veröffentlicht am 28.9.1994, in: http://www.egs.edu./faculty/baudrillard/baudrillard-no-reprieve-for-sarajevo.html. Übers. von Patrice Riemens. Ed. Arthur and Marilouise Kroker (Zugriff: Juni 2007).
40 Zur Resonanz Bosniens bei den amerikanischen und westeuropäischen Intellektuellen als narzisstische Selbstbeschäftigung auf der Suche nach dem Sinn: Hammond 2007, 49-53.
41 Ebd., 91.
42 Ebd., 91.
43 Ebd., 91.
44 Bayard, Caroline/Knight, Graham 1995. Vivisecting the 90s: An Interview with Jean Baudrillard, in: www.ctheory.net/articles.aspx?id=66, 3.8.1995, Ed. Arthur and Marilouise Kroker (Zugriff: Juni 2007).
45 Ebd.
46 Ebd.
47 Zum Begriff des Parasitären bei Austin und Derrida: Wirth, Uwe 2004. Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung, in: Fehrmann, Gisela/Linz, Erika/Schumacher, Eckhard/Weingart, Brigitte (Hg.), Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln, 18-33.
48 Zur Entwicklung von Baudrillards Theorie der Simulakren: Butler, Rex 1999. Jean Baudrillard. The Defence of the Real, London-New Dehli.
49 Virilio, Paul 1980. Politik und Geschwindigkeit. Ein Essay zur Dromologie, Berlin; Ders., 1993. Revolutionen der Geschwindigkeit, Berlin; Ders., 1997. Rasender Stillstand, Frankfurt a.M.; Ders., 1999. Fluchtgeschwindigkeit, Frankfurt a.M.; Ders., 2000. Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung, München; Ders. [1991] 2002. Desert Screen. War at The Speed of Light. Translated by Michael Degener, London-New York.
50 Bayard/Knight 1995.
51 Ebd.
52 Ebd.
53 Ebd.
54 Virilio 1999, 21.
55 Bayard/Knight 1995.
56 Bayard/Knight 1995.
57 Chan, Evans 2001. Against Postmodernism, et cetera-A Conversation with Susan Sontag, in: http://www3.iath.virginia.edu/pmc/text-only/issue.901/12.1chan.txt (11.06.2007)
58 Coulter, Gerry 2005. Passings. Cool Memories of Susan Sontag. An American Intellectual, International Journal of Baudrillard Studies 2/2, 2005, in: http://www.ubishops.ca/baudrillardstudies/vol2_2/coulter.htm (Zugriff: 12.06.2007)
59 Ebd.
60 Zum trompe l’oeil-Effekt: Baudrillard, Jean 1988. „The Trompe l’œil“. In: Bryson, Norman (Hg.) 1988, in: Bryson, Norman (Hg.), Calligram. Essays on New Art History from France. Cambridge (= Cambridge New Art History and Cristisism), 53-62.
61 Baudrillard, Jean [1999] 2000. Photography, or the writing of light. Über. von Francois Debrix, in: www.ctheory.net/articles.aspx?id=126, 4.12.2000, Hg. Arthur and Marilouise Kroker (fr. La photographie ou l’écriture de la lumière: Littéralité de l’image, in: Ders., L’Echange impossible, Paris 1999, 175-184).
62 Ebd.
63 Ebd.
64 Sontag [1977] 2004, 26.
65 Ebd., 22f. „Die Bilder, die das moralische Gewissen mobilisieren, beziehen sich immer auf eine bestimmte historische Situation. Je allgemeiner ihre Aussage ist, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie etwas bewirken.“
66 Ebd, 104.
67 Sontag [2003] 2005, 106.
68 Sontag, [2003] 2005, 14.
69Ebd., 104, 129.
70 Ebd., 129.
71Ebd., 129.
72 Sontag [2003] 2005, 126-128.
73 Derrida, Jacques 2004. Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. (fr. Spectres de Marx, Paris 1993); Zu Derridas „Hantologie”: Žižek, Slavoj (Hg.) 1994. Mapping Ideology, London - New York; Sprinker, Michaell (Hg.) 1999. Ghostly Demarcations. A Symposium on Jacques Derrida’s Specters of Marx, London-New York.
74 Nachtway, James 1999. Inferno, New York.
75 Ebd., 469.
76 Ebd., 469.
77 Ebd., 469.
78 Ebd., 469.
79 Ebd., 469.
80 Ebd., 469.
81 Ebd., s.p.
82 Frei, Christian 2002. James Nachtway. War Photographer, DVD.
83 Zu den verschiedenen Funktionen des Schleiers als Supplement: Wolf, Gerhard 2002. Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München; Enders, Johannes/Wittmann, Barbara/Wolf, Gerhard (Hg.) 2005. Ikonologie des Zwischenraums. Der Schleier als Medium und Metapher, München.

6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive

Sektionsgruppen | Section Groups | Groupes de sections


TRANS   Inhalt | Table of Contents | Contenu  17 Nr.
INST

For quotation purposes:
Tanja Zimmermann: Medien im Ausnahmezustand. Performanz und Simulakrum im Bild des Jugoslawienkrieges - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-8/6-8_zimmermann17.htm

Webmeister: Branko Andric     last change: 2010-03-29