Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
Februar 2010 |
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Sektion 7.1. | Kreativität und Gedächtniskulturen Sektionsleiter | Section Chair: Isozaki, Kotaro (Meiji Gakuin University/Japan) |
Formen autobiographischen Schreibens am Beispiel
von Jean Améry, Fred Wander und Anna Maria Jokl
Karl Müller (Universität Salzburg) [BIO]
Email: Karl.Mueller@sbg.ac.at
1. Theoretische Grundlagen
„Zwischen zwei extremen Behauptungen liegt die Wahrheit: Die eine Behauptung lautet: alles Erzählen hat einen selbst-biographischen Kern, die andere: den Gesetzen literarischer Fiktionalität unterliegt wie jede andere Erzählgattung auch die Autobiographie“, schreibt Walter Hinck in seinem Sammelband „Selbstannäherungen“(1), in dem er an etwa vierzig Beispielen bekannter SchriftstellerInnen einen Überblick über die Vielfalt selbsterkundenden Schreibens der Gegenwart bietet.
„Den ersten Satz widerlegt – mit der fiktionalen Ausgestaltung der Figuren, ihrer Gefühle, Gedanken usw. – der historische Roman, in dem allenfalls das Interesse des Autors an bestimmten geschichtlichen Personen und Konstellationen eigenbiographische Wurzeln haben mag. Im anderen Satz wird die Bedeutung des Bezugs auf die konkreten Lebensdaten des erzählenden Ich unterschätzt. Doch spricht manches für den Begriff ‚Autofiktion’, der das fiktionale Element jeder Autobiographie markieren soll.“(2)
Es liegt auf der Hand und entspricht dem Gegenstand, dass wir in Gattungsfragen nicht in Polaritäten denken dürfen, sondern uns auf einer Skala bewegen müssen: „Zwischen dem Geschichtswerk und dem Roman stehen Biographie und Autobiographie, erstere, die Biographie, ein wenig näher an der Geschichte, letztere, die Autobiographie, ein Stückchen weiter in Richtung Roman. Die Biographie ist verifizierbarer als die Autobiographie“, (3) schreibt Ruth Klüger in ihren Überlegungen zum „Wahrheitsbegriff in der Autobiographie“.
Schlagartig erhellt sich das Prinzipielle und zugleich Prekäre des autobiographischen Feldes, denken wir etwa einerseits an Johann Wolfgang von Goethes „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ und andererseits an den aktuellen Fall Binjamin Wilkomirski, das heißt an Bruno Dössekkers „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1945“ (1995).(4) Goethes Reflexionen über seine Selbstbiographie bringen alle nur erdenklichen Aspekte des Genres zur Sprache und verweisen auf die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten der Gattung. Wilkomirskis Buch wird – am Ende der Skala – sozusagen als Sündenfall des autobiographischen Schreibens fassbar, nämlich als eine Aneignung der Prinzipien dieser Redeform für Zwecke, die nur bedingt etwas mit der „’Wahrheit’ der Erinnerung“ zu tun haben dürften, noch dazu vorexerziert auf dem Felde der Holocaust-Erinnerungen: LeserInnen-Täuschung wegen der heimlichen Sistierung des historischen Wahrheitsanspruchs, Fälschung, Lüge?(5)
Bei Goethe können wir jene letztlich traditionsbildenden Reflexionen über die erzählerischen Versuche studieren, sich selbst oder zumindest Teile davon „in seinen Zeitverhältnissen“ (6) sowie im Zusammenhang eines Lebensganzen deutend Gestalt zu verleihen. Im Vorspann zu „Dichtung und Wahrheit“ heißt es:
„Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt, daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“(7)
Goethe betont in seinen Überlegungen prinzipiell die darstellerischen Freiheiten des/der Autographen/in, aber tastet eine einzige Voraussetzung nicht an – die Selbstverpflichtung des/der AutorIn und die LeserInnen-Erwartung, die mit dieser korrespondiert, bzw. den LeserInnen-Anspruch auf unbedingte „Wahrhaftigkeit der Glaubwürdigkeit, Echtheit, Aufrichtigkeit oder Authentizität.“(8)
Fundament der selbst-deutenden, der selbst-ausleuchtenden, der selbst-bilanzierenden oder selbst-konstruierenden Lebensdarstellungen, also der „Selbstbesinnung des Ich“ und zugleich „Vergewisserung seiner Geschichte“, ist die Erinnerung (die erinnernde Vergegenwärtigung), gefiltert durch die „natürlichen Filter des Gedächtnisses wie Vergessen, Verdrängung, Verflachung und Veränderung sowie (unbewusste) Ergänzung, Substitution, Verschmelzung des Erinnerten.“(9) Goethe sagt dazu im ersten Buch seiner „Selbstbiographie“:
„[…] aus dergleichen Betrachtungen und Versuchen [nämlich: den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen], aus solchen Erinnerungen und Überlegungen entsprang die gegenwärtige Schilderung [Dichtung und Wahrheit], und aus diesem Gesichtspunkt ihres Entstehens wird sie am besten genossen, genutzt und am billigsten beurteilt werden können.“(10)
Nur aus „euphonischen“, d. h. klanglichen Gründen hatte Goethe das Wort „Dichtung“ in einer sehr spezifischen Bedeutung an den Anfang des, wie er sagte, „paradoxen“ Untertitels seiner Erinnerungen gesetzt,(11) auf dass sich die Zunge nicht am Zusammenprall der Laute zwischen „und“ und „Dichtung“ abmühen müsse. Dies rief freilich sofort erhebliche Missverständnisse hervor. Denn einige meinten nun, die „Dichtung“ sei bei Goethes neuem Werk „die Hauptsache“, während „die Wahrheit nur adspergiert [sei], wie die Philologen reden, da doch umgekehrt Wahrheit der Stoff und die Form nur Dichtung“(12) sei. Die „erzählten einzelnen Fakta“ von Goethes Selbstbiographie, so notierte Johann Peter Eckermann (1792-1854) eine Goethe-Äußerung am 30. 3.1831, „dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen ... Ich dachte, es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens.“(13) Goethes Reflexionen über die Textsorte der Autobiographie thematisieren die zentralen Bausteine des Genres. Nichts von Goethes einschlägigen Reflexionen ist in der Zwischenzeit obsolet geworden. Kein moderner theoretischer Text zur Gattung und zur Geschichte der „Autobiographie“ oder zum „autobiographischen Schreiben“, zur „Autofiktion“, zur „Autognyography“ oder zur „Nouvelle Autobiographie“ kann es sich leisten, im Kern hinter Goethes Überlegungen zurückzufallen.(14)
Dem berechtigten Misstrauen der Leserschaft gegenüber „Vertraulichkeiten aus meinem Leben“ und gegenüber einem Publikum, das „an der Wahrhaftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel hege“, begegnete Goethe mit einem offenen, ja offensiven Wort: Er bekennt sich dezidiert „zu einer Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not.“(15) Denn das „eigentliche Grundwahre“, man könnte auch sagen, „die ‚Wahrheit’ der Erinnerung“ einer Lebensdarstellung, auf die es ihm in seiner Selbstbiographie ankomme, sei „ohne die Rückerinnerung und also die Einbildungskraft“(16) nicht zu haben. Immer sei „das dichterische Vermögen“(17) und in der Folge auch die sprachliche Darstellungsform in ihrem Konstruktionscharakter von Relevanz, so „daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. […] Dieses alles, was dem Erzählenden und der Erzählung angehört, habe ich hier“, so heißt es weiter in einem Brief an König Ludwig I. von Bayern, „unter dem Worte: Dichtung, begriffen, um mich des Wahren, dessen ich mir bewußt war, zu meinem Zweck bedienen zu können.“(18) Ausschlaggebend ist also die Vorstellung Goethes, dass es die Einbildungskraft, die Imagination, die gewissenhaft deutende Erinnerung, also die „Dichtung“ ist, die das „eigentliche Grundwahre“(19) erfassen könne. Niemals sistiert Goethe jedoch den Wahrheits- und Authentizitätsanspruch und damit den referentiellen Bezug zur historischen Wirklichkeit bzw. zu seiner eigenen Autorenpersönlichkeit. Zwischen ihm als dem Autor und, so könne man formulieren, seinem autobiographischen Ich, das sich im selektierenden und gestalterischen Erinnerungs- und Schreibprozess konstituiert, unterscheidet er dezidiert. Man könnte auch – mit Bernadette Rieder und in Anlehnung an Gerhart Baumann – formulieren: „Im Leben Vorgeformtes und Offengebliebenes erhält im Schreiben Ganzheit und Sinn. Das schließt nicht aus, dass das Leben selber sinnhaft ist, aber es berücksichtigt auch die konstruktive und synthetisierende Leistung des Schreibens.“(20)
In einem von Johann Peter Eckermann am 30. März 1831 notierten Gespräch meinte Goethe außerdem: „Es sind lauter Resultate meines Lebens, und die erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen […] Ein Faktum unseres Lebens gilt nicht insofern es wahr ist, sondern insofern es etwas zu bedeuten hatte.“(21)
Goethe unterscheidet also präzise zwischen „Dichtung“ und „Erdichtung“, zwischen der erzählerischen Erfassung des „Wahren“, und der „Erdichtung“, also des akzentuiert Fiktiven, eines bewusst Ausgedachten ohne historiographischer, empirisch nachprüfbarer Wirklichkeitsreferenz: „Ich“, so heißt es in einer Aufzeichnung des Kanzlers Friedrich von Müller (1779-1849) vom 13. 6. 1825, „reizte ihn sehr lebhaft an, doch noch etwas über die Zustände Tiefurter Lebens zur Zeit der Herzogin-Mutter zu entwerfen. ‚Es wäre nicht allzuschwer, erwiderte er, man dürfte nur die Zustände ganz treu so schildern, wie sie sich dem poetischen Auge damals darstellten; Dichtung und Wahrheit, ohne daß Erdichtung dabei wäre’“.(22)
Es handelt sich beim autobiographischen Schreiben nach Goethe eben um eine „Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not“: Dies ist ein sehr moderner Gedanke, der auch von der sich seit den 1980er Jahren intensivierenden und in viele Richtungen ausufernden Autobiographie-Forschung nicht übertroffen wurde, auch wenn neuere Forschungsrichtungen so tun, als müssten sie die Welt neu entdecken.(23) Die Autobiographie-Forschung bedient sich aber oft nur einer spezifischen, oft schwer verständlichen Terminologie. Günter Niggl fasst den derzeitigen Stand der Dinge sachgerecht auf folgende Weise zusammen: „Fragen der Ich-Identität, der Konstitution und Konstruktion des Subjektes und Probleme des autobiographischen Erzählens, mündend in die Frage nach dem eigentümlichen Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion, von Realität und Textualität in der Darstellung des Ich und des eigenen Lebens“ seien heute vorrangig, wobei „die neueren Arbeiten zum Abbau dieser Spannung [Wirklichkeit versus Fiktion, Realität versus Textualität] tendieren, und zwar zugunsten der Fiktionalität“, und sogar die „früher unbezweifelte Bindung des autobiographischen Erzählers an empirische Gegebenheiten und sein damit verbundener Authentizitätsanspruch in Frage“(24) gestellt wird.
Niggl zeigt, wie ein dekonstruktivistischer Modernismus das Kind mit dem Bade ausschüttet, indem er in der Debatte um die Autobiographie „das Band zur empirischen Welt [prinzipiell] gelöst“, ja „jede Verbindung zwischen dem Text und der von ihm beschriebenen und gedeuteten realen Welt“(25) zerschneidet. Für die meisten Autobiographen, die Verfolgung, Vertreibung, Exil und Holocaust erfahren haben, sind dies freilich haarspalterische Zuspitzungen. Ruth Klüger etwa schreibt in ihrem Essay „Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie“:
„Eine Autobiographie muß vom Anspruch, nicht vom Inhalt her, definiert werden, als ein Buch, in dem Autor und Erzähler nicht zu unterscheiden sind. Eine Autobiographie, in der Lügen stehen, ist noch immer eine Autobiographie, wenn auch eine verlogene, und kein Roman. […] Autobiographie ist eine Art Zeugenaussage.“(26)
Ruth Klüger fragt sich „nur“, „wie“ man denn „Zeugnis“ ablegen könne, und zwar „in den Ketten des eigenen Körpers, des eigenen Wahrnehmungsvermögens?“(27) Sie findet dafür auch – in Anspielung auf ein Gedicht von Ingeborg Bachmann – das eindringliche Bild vom/von der Autobiographen/in als einer Person, die „eine erlebte eingefleischte Wahrheit“ (28) beschreibe.
In Abweichung davon stellt dekonstruktivistisches Räsonieren die Einheit von „Autor, Erzähler und Protagonist“ in Frage, jene Einheit, die jede Autobiographie gewissermaßen in einem Kontrakt, im sogenannten „autobiographischen Pakt“ festsetzt sowie zugleich im Lektürekontrakt(29) zwischen einem Autor/einer Autorin und seiner/ihrer Leserschaft prinzipiell vereinbart. Dieser Pakt, der einerseits durch den Autor mit seinen Wahrheitsbezeugungen unterschiedlicher Art unentwegt beglaubigt wird, so dass er damit gleichzeitig sozusagen Nachprüfbarkeits-Verantwortung übernimmt, und der andererseits seinen Vertragspartner, den Leser, in die Gewissheit versetzt, dass er nicht belogen wird oder besser, dass die „Lügen“ nichts anderes seien als etwas vom Autor/Erzähler subjektiv Geglaubtes und keinesfalls absichtliche Täuschung – dieser Pakt sei nichts anderes als ein rhetorisches Mittel (Prosopopőie)(30) in einem Maskenspiel, ein „Geben und Nehmen von Gesichtern“, wie bei allen anderen Textkonstrukten auch, und zwar ohne jede empirische Referenz, wie dies von Jacques Derrida behauptet wird.
Damit hatte der mit Augenmaß ausgestattete Goethe nichts zu tun. Denn, wenn er auch den modernen Terminus des „autobiographischen Ichs“ nicht verwendet, der in der Konstruktion einer „Selberlebensbeschreibung“ (Jean Paul)(31) eine entscheidende Rolle spielt, meint er doch mit jenem wägenden Wort von der „Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not“ dasselbe. Bernadette Rieder schreibt zutreffend:
„Eine Möglichkeit, sich dem Problem der Fiktionalisierung und damit der Distanz zwischen dem realen Autor und dem Erzähler terminologisch zu nähern, ohne den Anspruch der Nichtfiktionalität und damit der Referenz des Erzählens auf den Autor aufzugeben, ist die Rede vom ‚autobiographischen Ich’. Das autobiographische Ich ist eine Instanz zwischen dem Autor-Ich und dem Erzähler (der meist in Ich-Form auftritt). Nicht das Autor-Ich wird in der Autobiographie dargestellt, sondern das autobiographische Ich. Das autobiographische Ich ist ein relativ stabiler Personen- und Lebensentwurf, der die Spannung zwischen erzählendem und erlebendem Ich, die aus der Distanz zwischen dem Zeitpunkt der Erlebnisse und dem Zeitpunkt des Erzählens entsteht, ausgleicht. […] Das autobiographische Ich leistet also auch den Ausgleich zwischen den von [Michaela] Holdenried bezeichneten Polen Fiktionalisierung und Beglaubigung. Vom Autobiographen selber muss das autobiographische Ich ebenso scharf unterschieden werden wie das erlebende vom erzählenden Ich auf der Textebene. Der Autor ist noch viel mehr und anderes als das Personenbild, das die Autobiographie bietet. Der Autor hat eine Identität in jedem Moment seines Lebens (synchron) und eine durch die Zeit (diachron). Die Identität des autobiographischen Ich ist punktuell und gemacht.“(32)
Es kann hier kein Aufriss der historischen und aktuellen theoretischen Debatten über die Grundlagen und die Gattung der Autobiographie geleistet werden. Erst kürzlich hat Günter Niggl in seinem Sammelband „Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung“ (1. Aufl. 1989; 2. Aufl. 1998) die wichtigsten internationalen Stationen (VertreterInnen und Positionen) dieser Debatte seit dem 19. Jahrhundert mit ausgewählten Texten zusammengestellt.(33)
Bernadette Rieder hat in ihrer Innsbrucker Dissertation (2006) in komprimierter Form die Eckpunkte dieser Debatten nachgezeichnet: Alle Debatten zur Autobiographie und ihrer Gattungs-Geschwister („fingierte Autobiographie“, „autobiographischer Roman“, „Autofiktion“, „Semiautobiographie“, „Bekenntnisdichtung“, „Memoire“, „Lebenserinnerung“, „Selberlebensbeschreibung“, „Autognyographie“ oder wie immer auch die Termini lauten mögen.) kreisen um einige Basisaspekte:
„Die Autobiographie ist […] weder das reine Abbild einer Lebensgestalt, die real schon vorhanden ist, noch ist die Lebensgestalt ausschließlich das Produkt des autobiographischen Schreibens. Die Autobiographie ist eine Neugestaltung vorhandener Gestalt(en) im zweispurigen [Erinnern und Neuerleben] autobiographischen Prozess.“(35)
Vom Autographen darf man also „erstens eine interessante und erschöpfende Auswahl aus dem Stoff seines/ihres Lebens“ erwarten (Erinnerung, Recherche), „zweitens die Explizierung des Lebens-Scripts (Gestaltung), drittens eine Bevorzugung dessen, wovon nur er/sie Zeugnis ablegen kann.“(36)
Wer von der Autobiographie „historische Richtigkeit“ erwartet, geht fehl oder missversteht diese Redeform prinzipiell. Die „Wahrheit“ ist nicht zu haben, höchstens der historische Abdruck einer subjektiven Wahrnehmung, die sich freilich mit anderen Wahrnehmungen decken oder überlappen kann. Und was schließlich – als für kurze oder längere Zeit – als historische Wahrheit etwa einer Epoche oder eines Lebens gilt, ist das Ergebnis eines komplizierten Auswahlprozesses, das von gesellschaftlichen Kräften bestimmt wird, die zumindest für eine begrenzte Dauer die Kraft zur hegemonialen Dominanz erobert haben.
Ich denke, es besteht Konsens darüber, dass nicht nur Autographen dichten, sondern auch Klio dichtet, wie es bei Hayden White (1986) heißt.(37) Die modernen HistorikerInnen wissen heute, dass Autobiographien oder jene Produkte, auf denen das Label „autobiographisch“ steht, mehr oder weniger unverlässliche Gebrauchswertversprechen darstellen, so wie die modernen Literaturwissenschaftler wissen, dass autobiographische Texte im Sinne von Goethes „Dichtung und Wahrheit“ auch eine historische Wahrheit jenseits des Nachprüfbaren, jenes „eigentliche Grundwahre“,enthalten und nicht bloße Texturen sind.
2. Topoi und autobiographisches Schreiben
In der literaturwissenschaftlichen Autobiographie-Forschung hat sich eine ihrer Richtungen in jüngerer Zeit verstärkt den aus der antiken Rhetorik bekannten Figuren, den Topoi zugewandt, die abstrakte, aber jeweils individuell anzueignende Muster oder Gliederungsformeln für die Darstellung eines Lebensweges anbieten – gewissermaßen strukturierende und leitende „Fixpunkte für feste Überzeugungen, vagierende Gedanken und halbbewußte, affektive Erinnerungen“, „Rubriken und ‚Fundgruben’ der auktorialen Argumentation und der lektorialen Selbsterinnerung“, im besten Sinne „Allgemeinplätze, auf denen Fremd- und Eigenerfahrungen ausgetauscht und vergleichbar werden.“(38)
Erst kürzlich hat Bernadette Rieder diese Form der Annäherung an autobiographische Texte am Beispiel von mehreren deutsch-jüdischen Autobiographien aus Israel(39) operationalisiert und damit die systematische Vergleichbarkeit autobiographischer Produktionen bzw. Konstruktionen ermöglicht. Mit dieser methodischen Annäherung an die Stoffmassen gewinnt sie – trotz oder gerade wegen der topoihaften Gemeinsamkeit der Texte – Einblick in die mikrokosmischen Spezifika der einzelnen Texte, sieht deren spezifischen Schwerpunktsetzungen, Akzentuierungen und Ausblendungen – also das autobiographische Konstrukt zwischen Benennen und Verschweigen, Ent- und Verhüllen. Ziel ist es, jenseits des rein Stofflich-Inhaltlichen gerade nicht das Gemeinsame, das Konventionalisierte, sondern die Spezifik des Erzählten, dieses „eigentliche Grundwahre“ autobiographischer Leistung, wie es Goethe bezeichnete, benennen zu können. Die Ergebnisse selbst können sodann weiteren Vergleichen unterworfen werden.
Rieder unterscheidet dabei sachgerecht zwischen „stoffbedingten“ und „genrebedingten“ Topoi und nennt zum Beispiel im Bereich des Stoffbedingten folgende Aspekte, die auf die eine oder andere Weise oder überhaupt nicht thematisiert werden, so dass sich im Vergleich letztlich die individuellen Profile, die subjektiven Antlitze der Autographen konturieren:
Im Bereich der „genrebedingten“ Topoi listet sie folgende Aspekte auf:
Rieders Fluchtpunkt ist jenes „eigentliche Grundwahre“ Goethes, sozusagen der Grundantrieb und jene Intention der autobiographischen Arbeiten, auf die diese zusteuern bzw. warum sie überhaupt die Mühe des erinnernd-vergegenwärtigenden und selbstdeutenden Erzählens auf sich nehmen.
3. Die Thematisierung des autobiographischen Schreibens bei Jean Améry, Fred Wander und Anna Maria Jokl
Welch eine quantitative und qualitative Karriere der literarischen Selbstbiographik spätestens seit dem 18. Jahrhundert können wir feststellen! Im Zuge der Zunahme selbst-reflektierender Individualisierung und selbst-erkundender Identitätsvergewisserung, offenbarer Dringlichkeit lebensgeschichtlicher Bilanzierung sowie offensichtlich oft not-wendender Selbsterhellung im Kontext jüdischer Gedächtnis- und Erinnerungskultur hat sich autobiographisches Schreiben zu einer reichen und vielfältigen Schreibform entwickelt.(41)
Die seit den 1960er Jahren erschienenen einschlägigen Texte Jean Amérys, Fred Wanders und Anna Maria Jokls sind sowohl was ihre sprachliche als auch ihre lebenserkundende und theoretisch-reflektierende Qualität über das „autobiographische Schreiben“ selbst, insbesondere über das „autobiographische Ich“, betrifft, bemerkenswerte Exempel einer sehr umfangreichen jüdischen Leistung auf dem Felde von „Wahrheit und Dichtung bzw. Dichtung und Wahrheit“.
Einige im engeren Sinne autobiographische Schriften Amérys, Wanders und Jokls sollen vorerst auf die Konkretisierung einiger weniger Topoi hin betrachtet werden. Es soll zuerst die Dimension des sogenannten Meta-Narrativen herausgegriffen werden. Anschließend soll auch auf das „eigentlich Grundwahre“, wie es Goethe nannte, eingegangen werden, also auf das die Texte Grundierende, auf den geistigen Kern, in dem nicht zuletzt auch die Thematisierung des Jüdischen eine wichtige Rolle spielt.
Es geht um Jean Amérys – man kann mit gutem Recht sagen –Trilogie, die zwischen 1966 und 1980 erschienen ist, nämlich um seine Sammlung „Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten“ (1966/1977), weiters um den Band „Unmeisterliche Wanderjahre (1971/1985) und um „Örtlichkeiten“ (1980).(42) Nicht in mein Korpus aufgenommen habe ich Jean Amérys nicht minder autobiographisch geprägte Texte „Über das Altern. Revolte und Resignation“ (1968/1977) und „Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod“ (1976/1978).(43)
Weiters beziehe ich mich auf Fred Wanders überarbeitete und 2006 wieder erschienenen „Erinnerungen“ mit dem Titel „Das gute Leben oder Von der Fröhlichkeit im Schrecken“, ein Text, der unter dem Titel „Das gute Leben“ erstmals 1996 publiziert wurde(44), sowie auf Anna Maria Jokls „Wiederbegegnungen“ mit dem Titel „Die Reise nach London“ (1999) und ihre „Kurze Biographie“, die im Sammelband von autobiographischen Mikrotexten mit dem Titel „Essenzen“ (1993/erw. Aufl. 1997)(45) erschienen ist.
Während Jean Amérys und Fred Wanders Darstellungen einen Bogen über alle Lebensabschnitte schlagen, geht Anna Maria Jokl fragmentarischer vor. Amérys Lebensbogen wird in drei unterschiedlich akzentuierten Formen präsentiert und beginnt mit der Thematisierung der KZ-Erfahrung des Intellektuellen „An den Grenzen des Geistes“ und „Die Tortur“, also nicht mit Kindheit und Jugend. In Anna Maria Jokls „Die Reise nach London“ (1999) spielen etwa Herkunft, Familie, Kindheit und Jugend fast keine Rolle. Fred Wanders „Das gute Leben“ zeigt vergleichsweise die herkömmlichste Form einer beinahe chronologischen Darstellungsform – natürlich sind Rück- und Vorgriffe oder Exkurse nicht ausgeschlossen.
Zweifellos ist es Jean Améry, der sich, immer im Umkreis der Entstehung seiner verschiedenen Texte zwischen 1966 und 1980, am ausführlichsten äußert und die differenziertesten Reflexionen zur autobiographischen Schreibweise anbietet: „Das, was ich [als Betroffener] schreibe, kann nicht Geschichtsschreibung sein, sondern ein Stück geschichtlicher Zeugenschaft, mehr will es auch nicht sein.“(46) Als sich Améry nach dem Frankfurter Auschwitz-Prozess entschloss, über seine eigenen „Erlebnisse im Dritten Reich“ zu schreiben, hatte er vorerst eine „nachdenklich-essayistische Arbeit“(47), also etwas nicht dezidiert Persönlich-Authentisches geplant. Er wollte „dem Leser in distinguierter Objektivität gegenübertreten“(48), was sich aber schnell als unmöglich erweisen habe. Denn im Schreibprozess selbst(49) sei ihm seine Arbeit zu einer „durch Meditationen gebrochene[n], persönliche[n] Konfession“(50) geraten, in der sich schließlich das „’Ich’ […] als der einzig brauchbare Ansatzpunkt“(51) herausgestellt habe. Auf dem Klappentext der Erstausgabe konnte man von „so etwas wie einer zeitgeschichtlich-politischen Autobiographie“ lesen, „nacherzählt“ in „großer Eindringlichkeit“ und zugleich mit „objektiver Kühle des Moralisten.“(52) Für Améry waren zwar schmerzlich vergegenwärtigte Erfahrungen die Quellen, aber das Schreibergebnis dennoch nicht bloß subjektivistischer „Erlebnisbericht“, sondern etwas, was überindividuellen Erkenntnis-Anspruch erhob: „Wichtiger freilich als der Erlebnisbericht“, so heißt es, „ist in diesem Buche die philosophische Verarbeitung“ einer Opfer-Existenz, genauer, der jüdischen Opfer-Existenz(53) – „über alles Dokumentarische, Historische und auch individuell Psychologische hinaus“.(54) Diesen Gedanken führt Améry schließlich in allen seinen nachfolgenden theoretischen Reflexionen über die mit „federnder Intelligenz“(55) vorgetragenen Versuche seiner „Selbstbefragung“(56) weiter. Dabei hält er immer die Balance zwischen dem Beharren auf dem „Entschluß zur unverschleierten Subjektivität“ und dem Anspruch auf die Wiedergabe von „Typischem“.(57) So findet Améry auch seine Gattungsbezeichnungen: In Anspielung auf Goethes „Roman“ spricht er von seinen „Unmeisterlichen Wanderjahren“ als „Fragmenten einer Biographie des Zeitalters“. Er redet von der unzertrennlichen Einheit von „autobiographischer“ und zugleich „zeitbiographischer“ Selbstbefragung(58) und kommt schließlich zur Formulierung „essayistisch-autobiographischer Roman.“(59) Dies wird der Zentralbegriff für seine autobiographischen Versuche. Diese Gattung darf jedoch nach Améry sogar ein höheres Maß von „Wahrheit“ als jede herkömmliche „Geschichtsschreibung“ beanspruchen:
„Ich war dabei. Kein noch so geistvoller junger Politologe soll mir seine begrifflich verquerten Geschichten erzählen, die nehmen sich hochgradig albern aus für jeden, der Augenzeuge war. Die Geschichtsschreibung sieht allemal nur Einzelaspekte und vor lauter Bäumen den Wald nicht, den deutschen Wald des Dritten Reiches. Damit aber wird die Geschichte selber als Begriff untauglich, und mir fällt nur noch ein Satz von Claude Levi-Strauss aus seinem Buch ‚La pensée sauvage’ ein, wo er sagt, es löse am Ende alles historische Geschehen sich auf in Ketten nur physikalischer Prozesse und es habe das Wort Geschichte kein eigentliches Objekt.“(60)
In dem anlässlich einer Neuausgabe erweiterten Vorwort von 1976/1977 wird das autobiographische Schreiben schließlich sogar gegen jede Form „abklärenden“, historiographischen Umgangs mit einer angeblich vergangenen Geschichte gesetzt: „Nichts ist ja aufgelöst, kein Konflikt ist beigelegt, kein Er-innern zur bloßen Erinnerung geworden. […] Ich rebelliere: […] gegen eine Gegenwart, die das Unbegreifliche geschichtlich einfrieren läßt und es damit auf empörende Weise verfälscht.“ (61)Autobiographisches Schreiben wird sogar zum ausgezeichneten Ort einer Geschichtsschreibung, in der jenseits von herkömmlich vermittel- und überlieferbaren Fakten – man könnte sagen – der Geschmack und der Geruch einer Epoche, eines Zeitalters kraft sprachlich-literarischer Imaginierung aufbewahrt sein kann. Es gibt unzählige Stellen in Amérys Büchern, bei denen dieser Geschmack eines historischen Augenblicks mit zutreffenden Wörtern umkreist und fühlbar wird. In seinem letzten autobiographischen Buch „Örtlichkeiten“ (1980) etwa heißt es über Erlebnisse im Paris der Nachkriegszeit:
„Frage, die sich gleich stellt beim ersten Anschauen, Anhören [eines Films]: Wird man das je erinnern können, diese Kinostunde mit der schönen Simone [Signoret] und dem jugendlichkraftvollen Yves [Montand]? Wird man je wieder die Ergriffenheit, die sich einstellt bei den Worten ‚das Meer löscht im Sande die Fußspuren der entzweiten Liebenden aus’ genau so zu verspüren vermögen? Wird Paris, das Paris dieser après-guerre-Tage bestehen bleiben? Oder wird kühle Vernunft eines Tages sagen, es sei das alles […], wird das alles dermaleinst sich ausnehmen wie überständige, schleunigst zu liquidierende Romantik?“(62)
Ähnliche Gedanken bewegen auch den Autographen Fred Wander in „Das gute Leben“, wenn er davon spricht, dass es „nicht darauf an[kommt], mit Akribie die Dinge des Lebens zu beschreiben, sondern auf die Gestaltung und die magische Wirkung, die dem Künstler bewusst ist! Auf intellektuelle und moralische Kraft kommt es an, auf verborgene Zusammenhänge und tiefere Wahrheit.“(63)
Es ist, als ob Goethes Wort zitiert würde.
Jean Améry hat sich wie fast niemand sonst dem „Morast aufgestockter, aber niemals ruhender Erinnerung“(64) gestellt und ist den „enttauchenden“ Erinnerungen mit nicht nachlassender Skepsis und Selbstkritik begegnet. Die historische Wahrheit will er, wie er ironisch formuliert, den vielen „Herren vom Fach“, die Geschichte „treiben und schreiben“(65), nicht überlassen. Der Autograph Améry hat nicht nachgelassen, das Erinnerte von allen Seiten zu prüfen, es sozusagen zu beäugen und zu beschnuppern, weil er wusste, wie die eigenen Bilder der Erinnerung mitbestimmt werden von unbewusst aufgesaugten Eindrücken jeglicher Art, nicht zuletzt von Bildern aus Kunst, Film und Literatur. Amérys Texte sind deswegen nicht zuletzt eine subjektiv-objektive Literaturgeschichte der Epoche seit den 1930er Jahren:
„War das Paris? Diese von dem miserablen Regisseur Wirklichkeit nach den Rezepten des filmischen Frührealismus gedrehte Filmsequenz? Diese von einem nicht weiter um Feinheiten bemühten, sich gleichfalls Wirklichkeit nennenden Autor niedergeschriebene Erzählung? Dieses verblassende Bild, das sich so schlecht hält gegen die Erosionsarbeit der Zeit?“(66)
Keine „enttauchenden“ Erinnerungen – auch nicht jene aus dem KZ, dem Lager, der Tortur, der Flucht oder des Widerstandes – sind davon ausgenommen, es gibt keinen Behauptungssatz, der nicht durch einen anderen oder andere gestört und relativiert, der nicht in das Unterfutter der Wirklichkeit leuchten würde. Das macht die beeindruckende und glaubwürdige Authentizität von Amèrys Selbst- und Epochenerkundungen aus.
Auch Fred Wanders „Das gute Leben“ (1996/Neufassung 2006) ist nicht bloß ein bedrängender, ungenau chronologisch gestalteter Erlebnisbericht in 77 bzw. 78 Kapiteln und vier Teilen, sondern reflektiert grundsätzliche Probleme und Darstellungsfragen autobiographischen Schreibens, betreibt also topoihafte Meta-Narration. Insbesondere beschäftigt sich Wander mit dem Gedächtnis als Ort der Erinnerung und verwischt dabei die Grenzen der Genres bewusst. Autobiographie und Geschichtenerzählen sind für ihn zwei Seiten einer Medaille, was nicht zuletzt von den bis ins Wörtliche gehenden Übereinstimmungen zwischen Roman- und Erzählungswerk, etwa den Romanen „Der siebente Brunnen“ (1971), „Ein Zimmer in Paris“ (1975) oder „Hotel Baalbek“ (1991) und der Autobiographie Wanders bestätigt wird. „Nur an einem Buch [schreibe er]“, bekennt Fred Wander in seinem Text „Selbstbefragung“ (1994)(67), in dem zentrale Dimensionen der Identität Wanders sowie der Kern seiner Poetologie zur Sprache kommen. Wanders Werk, auch das autobiographische, wird als ein „tief philosophisches“(68) erkennbar, das den Anspruch hat, „in sich die Menschheit als Ganzes zu erleben“(69) –, „eine Art Universität“, in der neben der Philosophie „mit Fächern wie Soziologie, Philologie [...], Psychologie [...] eine ganze Wissenschaft über die Menschen“ vertreten ist, wie es schon im Jahre 1951 in der zu Unrecht bis heute vergessenen Kurzgeschichte „Linie 31 spricht aus Erfahrung“(70) skurril zugespitzt heißt:
„Glauben Sie, [weil ich eine Straßenbahn bin –] daß ich nichts zu sagen habe? Im Gegenteil. [...] In Wahrheit bin ich eine Art Universität. Und ich führe die verschiedensten Fakultäten, die zum Beispiel: Soziologie, Philologie, Philosophie, Psychologie ... [...] Oh, ich habe ein gutes Gedächtnis. [...] wollte man mich nur anhören, ich könnte eine ganze Wissenschaft über die Menschen aufstellen. [...] Aber ich will ja keine Statistik geben. Ich bin nicht für das Bürokratische. Ich kann sehr dramatische Geschichten erzählen oder Geschichten voll süßer Heiterkeit [...]. Ich höre alles. Und ich merke mir alles. [...] Ich habe Menschen sterben sehen, das ging schnell ... Und dann, dann war alles wieder wie gewöhnlich. Vielleicht werden sie mich einmal abschaffen. Man sagt, ich bin eine veraltete Erscheinung.“ (71)
Vieles, was das spätere Werk Wanders mitbestimmt, ist hier schon angedeutet – z. B. die Thematisierung von „Gedächtnis“ und „Erinnerung“, einerseits das Geschichtenerzählen als Ergebnis detaillierter Beobachtung und andererseits das schreibende Autobiographieren als Dokument historischer Zeugenschaft bei gleichzeitiger Reserve dem bloß Dokumentarischen gegenüber.
„Schreib also die Wahrheit! Aber was ist die Wahrheit, was heißt das, ein authentischer Lebensbericht? Eine fotografisch genaue Abbildung der Vergangenheit kann es nicht geben […]. Martin Walser sagt dazu: ‚Das Wort Autobiographie kann … nur jemand benutzen, der von der unwillkürlichen Verklärungskraft der Sprache wenig Ahnung hat … Man kann nicht etwas derart weit Zurückliegendes beschreiben, ohne zu erleben, dass es längst Fiktion ist […]. Daß das jetzt in Sprache erwachen soll, ist eine Phantasie.’ […] Es kommt nicht darauf an, mit Akribie die Dinge des Lebens zu beschreiben, sondern auf die Gestaltung und die magische Wirkung, die dem Künstler bewusst ist! Auf intellektuelle und moralische Kraft kommt es an, auf verborgene Zusammenhänge und tiefere Wahrheit.“(72)
Die genaueste Reflexion zur Funktionsweise des Gedächtnisses findet sich in Wanders „Das gute Leben“ (1996). Es heißt dort und erklärt an dieser Stelle zugleich, warum Wander über den schmerzlichen Verlust der Tochter Kitty und seiner Frau Maxie in seiner Autobiographie nur indirekt berichtet:
„Erinnerung kann tödlich sein, wenn sie dich ungeschützt überwältigt und bis an die Grenzen des Wahnsinns treibt. Aber auch das Gegenteil ist wahr. Wo jene geheime, intuitive Strategie des Vergessens, die List des Unbewußten dir die Erinnerung verhüllt, wo dieser uns rätselhafte Mechanismus, jene Schleuse, die immer nur so viel Wasser durchläßt, als die Ufer halten können – , wenn diese Schleuse alles zurückhält und dein Gemüt austrocknet, auch dort ist Vernichtung! Denn ohne Erinnerung und Vorstellungskraft ist der Mensch kein Mensch, sondern ein Zombie, ein Wesen, das von seiner Seele verlassen wurde.“(73)
Auch Anna Maria Jokls „Die Reise nach London“ (1999) und ihre „Kurze Biographie“, publiziert in ihren Kürzest-Erinnerungen mit dem sprechenden Titel „Essenzen“ (1993/1997), besitzen ein reflektorisches autobiographisches Element. Es sind diesmal weniger Gattungs- oder Formfragen oder die theoretischen Auseinandersetzungen über Gedächtnis und Erinnerung, die von Jokl expliziert werden. Ihr besonderes Räsonnement gilt dem Stoff selbst, dem „Leben“, und – bei einer Psychoanalytikerin nicht verwunderlich – der Rolle des Unbewussten, als einer Lektüreanleitung zum besseren Verstehen. Jokls Fragen gelten den hinter allen Vorkommnissen virulenten, aber nicht eindeutig zu fixierenden Prägefaktoren des Lebens: z. B. „Gene Zufall Kindheitsprägungen Verflechtungen mit anderen Kraftlinien“,(74) ja sogar Sternenkonstellationen. Sie findet zwei beeindruckende Bilder, zum einen das Bild vom Teppich oder eines subkutanen Geflechts, eines Myzels,(75) und zum anderen das Bild der Hieroglyphe:(76)
„Es gibt keine Ereignisse mit Anfang und Ende. Es ist wie ein Gewebe, wo die Anzahl und Farben der Fäden von Anfang an gegeben sind, nicht aber, wann sie ins Muster treten.“(77) – „Wäre jede Phase [sechs Leben] eine Glasplatte, mit ihrem besonderen Zeichen eingeätzt, alle übereinandergelegt und von oben mit einem Blick durchschaut – somit der Zeitablauf aufgehoben –, mag eine Hieroglyphe der Epoche sichtbar werden.“(78)
In Jokls „Die Reise nach London“ hat die Myzelauffassung formale Folgen insofern, als die einzelnen Kapiteln der autobiographischen Aufzeichnungen jeweils einen Lebens-Faden, zum Beispiel eine Liebesbegegnung, private und/oder berufliche Glückserfahrungen wie auch Schläge, so etwa antisemitische Erfahrung(79), ins Licht rücken. Aus der erinnernden, vergegenwärtigenden Distanz enträtseln sich teilweise die Hieroglyphen eines Lebens, von dem Jokl sagt, es habe aus sechs, myzelartig ineinander geflochtenen Leben bestanden, die jeweils einen geographischen Brennpunkt gehabt haben: Wien, Berlin, Prag, London, Berlin-Berlin, Jerusalem – nur „irgendwann kurz dazwischen – beispielhaft doppeldeutig – Zürich“.(80) Es ist dabei kein Zufall, dass Jokl die Namen der Städte, in denen sie gelebt hat, beistrichlos aneinanderreiht, myzelhaftes Geflecht andeutend.
4. Das „eigentliche Grundwahre“
Mehrfach schon war vom Goetheschen „eigentlichen Grundwahren“ der autobiographischen Bemühungen die Rede, das heißt von den jeweils spezifischen Ziel- und Fluchtpunkten bzw. individuellen formalen Vermittlungsleistungen der AutographInnen. Verschieden und eigenständig sind die Arbeiten Jokls, Wanders und Amérys – trotz der Teilübereinsimmungen, was ihre Erfahrungen von Verfolgung, Vertreibung, Flucht, Exil, Widerstand, KZ und Folter, Überleben, Weiterleben betrifft.
Jokls autobiographischer Text enthält einige Elemente, die sich nicht im sachlich Berichtsmäßigen erschöpfen, sondern Bedeutungsdimensionen aufmachen, die als Metaphern für die Grundbotschaft dienen. Das ist bei Jokl zum Beispiel ein Baum in Kensingten Gardens, den die Berichterstatterin anlässlich ihres nach 27jähriger Abwesenheit im nie geliebten Zufluchtsort London wieder aufsuchen will, ihn aber nicht mehr findet, aber den sie „in all den Jahren nicht vergessen“(81) hatte, weil er zum Symbol geworden war. Die Erzählung pendelt zwischen gestern und heute:
„Von dem mächtigen Stamm war [nach einem deutschen Luftangriff auf London] weniger als ein Meter stehengeblieben, das helle Innere lag zersplittert offen wie eine riesige Wunde mit spitzen Holzfasern. Das war von der Glorie übriggeblieben. Im Herbst aber sproßen [sic!] aus der klaffenden Baumwunde unnatürlich große Blätter […]. Rührend und ehrfurchtseinflößend gleichzeitig, wie der Baum sich gegen den tödlichen Schlag, dessen Ursache nichts mit seinem Sein zu tun hatte, behauptete und damit eine bizarre, aber unverwechselbare Gestalt annahm.“(82)
Dieses Unverwechselbare und Bizarre wird Teil der Identität der Anna Maria Jokl, so dass sie über ihren West-Berlin-Aufenthalt ab 1951 sagen kann, der eine Folge des nach der antisemitischen Züricher C.G. Jung-Erfahrung jetzt „zweiten Schlags“ war, nämlich der von der DDR-Führung zu verantwortenden antizionistischen, de facto aber antisemitisch fundierten Ausweisung aus Ost-Berlin: „Um den zerstörerischen Kräften der Epoche standzuhalten, musste ich zum Baum in Kensingten Gardens werden.“(83) Der gespaltene und neu austreibende Baum der Londoner Exilszeit wird zum Lebenssymbol, das den autobiographischen Text – als eine ästhetische Klammer – begleitet und zugleich das Myzelhafte des Lebensbegriffs Jokls mitmeint.
Anna Maria Jokls „Die Reise nach London“ hat Bernadette Rieder mit dem Attribut „unabhängig angekommen“(84) zusammengefasst. In der Tat sind alle Berichte, Beobachtungen, Anekdoten und Reflexionen von dieser Bedeutung grundiert – es ist das Essentielle: „Die Beweise ihrer Unabhängigkeit findet die Autobiographin bei praktisch allen Topoi“, schreibt Bernadette Rieder, „sie beziehen sich auf ihre Intellektualität, ihre Partnerschaften und Bekanntschaften, ihre Alltagsgestaltung, ihre Berufsentwicklung, ihre gesellschaftliche und jüdische Identität, ihre Weltanschauung und schließlich ihre freie Entscheidung für Israel.“(85) Mehrdeutig steht denn auch am Ende von Jokls an Exkursen, Assoziationen und Zeitsprüngen reichen Reiseberichts die Kapitelüberschrift „Ende einer Reise“ – das Ende der Londonreise, am Ende der Lebensreise zugleich. Die Reisen münden zusätzlich in einem endlich geborgenen Ankommen in Israel: Die folgende winzige Anekdote bekommt Gewicht und Symbolträchtigkeit für ein Leben – die „erzählten einzelnen Fakta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit zu bestätigen ... Ich dachte, es steckten darin einige Symbole des Menschenlebens“(86), so heißt es bei Goethe –: „Im Gewirr des entgegenkommenden Menschenstroms stieß ich mit einem Mann zusammen und sagte nicht ‚Pardon’, sondern erstaunlicherweise ‚Slicha’. Hebräisch. Pardon auf hebräisch. Kurz darauf rief El Al zum Rückflug nach Israel auf.“(87)
Wie liegen die Dinge bei Fred Wander? Seine Autobiographie „Das gute Leben oder Von der Fröhlichkeit im Schrecken“ (2006) ist im Kern eine penible Selbstrecherche nach allen nur denkbaren Prägestöcken der „Überlebenskunst“,(88) weniger eine Untersuchung nach den Bedingungen Joklscher Unabhängigkeit und Eigenständigkeit, wenn das auch nicht ausgeschlossen ist(89), als ein Beitrag zur Überlebenskunst – und dies nicht nur angesichts der KZ-Erfahrungen. Von welchen Vorkommnissen, Begebenheiten, Menschen, Begegnungen, Beobachtungen und Büchern auch immer berichtet wird, sie dienen gewissermaßen zu einer anthropologisch-philosophischen Vertiefung, in der zum Beispiel Vorstellungen eines satirisch heiteren Sehens, eines pariahaften Schlemihldaseins und anarchischen Individualismus als unausrottbares Erbe der jüdischen Vorfahren und Vorstellungen eines kontinuierlichen, aber auch augenblickshaften Sich-Verwandelns eine große Rolle spielen.
Wanders Autobiographie läuft zugleich – im Unterschied etwa zu Jokl – auf ein Lob eines diasporischen jüdischen Lebens hinaus. Eine ganze Philosophie wird dazu vom Autobiographen entwickelt. Um sie kreist Wanders Denken unablässig. Schlemihl ist in der Wanderschen Lesart der jüdische Typus „ein[es] Pechvogel[s], der aber ein paradoxes Glück kennt“, „eine Art Lebenskünstler, der aus jedem Nachteil einen Vorteil zu machen versteht, aus einer Schwäche eine Kraft und aus seinem Außenseitertum eine Art Freiheit“(90), gehört in dieser Welt der „Polarität“ zwischen den „Ansässigen eines Landes und den Zugereisten, den Heimatlosen, den Fremden“ der Klasse der „Fremden, Außenseiter, Flüchtlinge“(91) an, die aufgrund ihrer Lebenssituation gezwungen sind, „ein geschärftes Bewusstsein zu entwickeln, eine besondere Sensibilität der Augen.“(92) Es sind diese Schlemihle, die „in der Welt der Gegensätze“ in Form eines „in der Tiefe wirkenden [Prozesses]“ gegen „Verengung“, „Verkrampfung“ „Erstarrung und Versteinerung“ auftreten, nach „neue[n] Welten suchen, die erstarrten Lebensformen durchdringen, von innen aufbrechen“, wie es auch in einer Rede Wanders über „Offene Fragen zur Heimatlosigkeit der Juden“(93) heißt, die er 1995 an der Universität Wien gehalten hat.
Unweigerlich stellt sich die Assoziation „Widerstand“ ein – als eine „Metapher für Leben“(94), wie sich Wander, „einer, der bei den Toten war“(95), in dieser seiner Feier des Lebens ausdrückt. In untrennbarem Zusammenhang damit steht Wanders Diaspora-Identität und sein Nachdenken über das Judentum – als ein Jude, der bis heute unentwegt „in der Verstreuung“(96) lebe. „Selbstverständlich suche ich in allem, was ich schreibe, einen Standpunkt, mir selbst und den anderen mein Judentum zu erklären, meine Sicht auf das Schicksal der Juden“, so heißt es schon in seiner „Schreib-Auskunft“ (1991). Weit davon entfernt, auf die eine oder andere Weise die instrumentalisierbare Legende oder den Mythos des auserwählten Volkes der Juden zu nähren, meint er in den jüdischen Schlemihls – etwa als Dichter, Künstler, die im „Wissen um Tod und Endlichkeit [...] das innere Auge für die Schönheit und die wahren Werte des Daseins, für die Wunder des Lebens“(97) öffnen können –, geradezu Symbole für deren „Rolle in diesem Drama der Menschwerdung“(98) sehen zu dürfen.
Ähnlich wie Jean Améry befindet sich auch Fred Wander in einem Dialog mit seinem erinnerten Ich – es ist ein Du, das wiederholt auftaucht, an das Fragen gestellt oder Aufforderungen gerichtet werden und mit dem sich Erinnerungen zum Beispiel an nicht-geschriebene Bücher verbinden: „ … und ich sage mir – du wirst die Insel nicht finden, wenn du nicht selbst die Insel bist im Lichte der Utopie!“(99)
Schließlich: Wie steht es um Jean Amérys Ziel- und Fluchtpunkt seiner so überaus reichen autobiographischen Selbsterkundungen? Die Améry-Forschung ist sich einig: Was Gerhart Scheit in Übereinstimmung mit Alfred Andersch und Irene Heidelberger-Leonard schreibt, trifft sicherlich den Punkt: Da ist von einem „Stilisierungswillen“ Amérys hinsichtlich eines „Psychodramas“ etwa in bezug auf „Unmeisterliche Wanderjahre“ die Rede, von einem im Nachhinein faszinierend entworfenen Selbst, in dem sich die geistigen Zeitläufte widerspiegeln.(100) „Autobiographie ist bei Amèry ‚vor allem Autokritik’, schreibt Alfred Andersch. […] Die Autobiographie als Ideen-Roman – darin verrät sich am stärksten die französische Schule.“(101)
Amérys Arbeiten sind selbstkritische, ja sogar selbstabrechnende, präzis das identifikatorische Ich, das liebevoll-vertraute Du, das fern-fremde Er und Man verwendende Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Seele und des Geistes seit den 1920er Jahren. Sie münden letztlich in bewegende Beschreibungen jüdischer Fremdheit, Unerwünschtheit, Unerlaubtseins und Gastexistenz – über die Jahrzehnte hinweg. Da ist ein Berichterstatter, der etwas erzählt, was in keinem einzigen Geschichtsbuch außer in seinem eigenen steht, und doch ist das Jahrhundert präsent in diesem Ich, Du, Er, Man.
„ Ungewiß ist nur, was der Erinnernde ihnen [den jungen Leuten und Wissenschaftlern von heute] noch zu sagen hat. Er ist kein dialektischer Geschichtsphilosoph, kein fleißig Ziffern aufreihender Soziologe, kein bemühter Historiker. Nur ein Mensch, der einen Blick zurückwirft und sagt vorbei – und nie wieder. Wird man ihn anhören wollen? Wenn ja, ist’s recht. Wenn nein: tant pis!“(102)
Das ist zwar großzügig gedacht von Jean Améry, aber in Wahrheit wäre es mehr als bedenklich, die „Wahrheit“ der Erinnerung Jean Amérys nicht mehr hören zu wollen. Dis trifft auch auf Fred Wander und Anna Maria Jokl und ihre beeindruckenden autobiographischen Schriften zu.
Anmerkungen:
7.1. Sektionstitel
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