Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | Februar 2010 | |
Sektion 8.9. | Transformationen der Germanistik. Neue Wege, neue Grenzen, neue Tendenzen in der Forschung und im Unterricht Sektionsleiterinnen | Section Chairs: Andrea Horváth und Eszter Pabis (beide: Debrecen) |
Kulturelle und ästhetische Fremdheit
als Herausforderung der Literaturwissenschaft
Eszter Pabis (Universität Debrecen) [BIO]
Email: epabis@puma.unideb.hu
„Einmal fragte ihn ein Kind: Bist du jetzt der Toggeli?,
wahrscheinlich weil die Gelbsucht langsam sein Gesicht verfärbte.
Als Ritter Konrad oder Grisler, selbst Vater, belustigt und
ohne
Ritter-Allüren fragte,
was denn ein Toggeli wäre, lief das Kind mit Entsetzen
davon, und er begriff nur, dass er nicht hätte lachen dürfen.
Das Kind schrie, als habe der Herr Vogt es mit der Peitsche misshandelt.
Später fragte er den jungen Rudenz, was das Kind wohl gemeint habe;
Rudenz erörterte, als hätte das Kind etwas Ungehöriges
oder Treffendes gesagt, und gab sich weltmännisch,
indem er versicherte, es gebe heutzutage keine Toggeli mehr.“
(Max Frisch: Wilhelm Tell für die Schule(1))
Seit über zehn Jahren wird im Zusammenhang mit einer „kulturwissenschaftlichen Neuorientierung“ traditioneller philologischer Fächer über produktive Grenzüberschreitungen zwischen der zur kulturwissenschaftlichen Leitdisziplin gewordenen Kulturanthropologie und der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft diskutiert. Zu den Schnittflächen kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Fragehorizonte gehört zweifelsohne die Erfahrung der Fremdheit – im kulturellen und im ästhetischen Sinne. Fremdheit ist nämlich einerseits ein klassisches, ästhetisch-philosophisches Konzept, ein hermeneutischer Grundbegriff, der aber in letzter Zeit im Kontext des Postkolonialismus und Poststrukturalismus als eine Erfahrung zwischen und innerhalb von Kulturen, Subjekten und Sprachen rekonzeptualisiert wurde. Vorrangiges Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, einen Einblick in das komplexe Verhältnis von literarischem Erzählen und der Fremdheit zu gewähren, wobei ich auf dreierlei, voneinander kaum trennbare Aspekte näher eingehen werde. Erstens, auf das Verhältnis zwischen dem literarischen Text und dem Fremden im Sinne des Befremdlichen, das nicht primär als Referenz, als Thema gewisser Textstellen zu verstehen ist, sondern eher mit der Sprachlichkeit, der Figurativität literarischer Sprache zusammenhängt. Zweitens richtet sich mein Augenmerk auf die Beziehung zwischen der Literaturwissenschaft und dem Fremden, d.h., auf die Spannung zwischen der hermeneutischen und der xenologischen Annäherung an die Fremdheit und vor allem auf die viel diskutierte Frage der „Aneignung“ und „Auslöschung“ des Fremden im Prozess des Verstehens als vermeintliche Grundlage einer – von der kulturwissenschaftlichen Xenologie oder interkulturellen Fremdheitsforschung aus ethischen Gründen verworfenen – „Horizontverschmelzung“(2). Im dritten Teil wird schließlich die Frage gestellt, inwieweit die Kategorie des Fremden in textnahen Interpretationen literarischer Texte sichtbar gemacht werden kann.
1. Die Fremderfahrung ist der Ausgangspunkt, die Voraussetzung der Auslegung der hermeneutischen Praxis. Gadamer verortet die Hermeneutik in dem Dazwischen, in der Spannung „zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition“ (Gadamer 1960: 300). Die Angewiesenheit auf die Erschließung und Vermittlung durch Hermes begründet er in Wahrheit und Methode damit, dass „alle Überlieferung, Kunst, sowohl wie alle anderen geistigen Schöpfungen der Vergangenheit, Recht, Religion, Philosophie, usw., ihrem ursprünglichen Sinn entfremdet“ (Gadamer 1960: 170) sind und in Anschluss an Hegel stellt er als Wesen der Bildung jene Heimkehr zu sich selbst aus dem Anderssein, die Entfremdung voraussetzt, dar (Gadamer 1960: 19-20). Fremd und entfremdet wäre der literarische Text in diesem Kontext einerseits wegen der Schriftlichkeit, die an sich schon Selbstentfremdung ist (Gadamer 1960: 394), eine entfremdete, vom Sinn des Gesagten abgelöste Rede. Fremdheit bezieht sich infolge dieser Medialität der Schrift, der Schriftfähigkeit der Sprache also auf die Distanz, das Spannungsverhältnis zwischen dem dekontextualisierten, schriftlich fixierten Text anderer Zeiten und dem Gegenwartshorizont (auf ihre „Überwindung“ durch den Entwurf des historischen Horizontes als Grund des hermeneutischen Verhaltens und seine Ablehnung in der Xenologie komme ich unter dem nächsten Punkt zu sprechen(3)). Die Fremdheit des Textes ist aber weitaus mehr als eine notwendige Eigenschaft, die aus der Schriftlichkeit und dem zeitlichen Abstand resultiert. Sie weist auch auf die Grundstruktur der hermeneutischen Erfahrung hin, d.h., die hermeneutische Erfahrung und die Erfahrung des Fremden sind strukturell analog(4). In beiden Fällen ist die Unzugänglichkeit, die Getrenntheit von dem fremden und fernen Gegenüber der Grund und die notwendige Voraussetzung für jene Selbstentfremdung, jenes Fraglichwerden der Identität und Selbstverständlichkeit, die in dem dialogischen Prozess des Verstehens nicht (nur) eine Gefahr, sondern vielmehr eine Chance darstellt. Daher geht Ernő Kulcsár Szabó auch davon aus, dass die Sprachlichkeit der Literatur jene primäre Alteritätserfahrung verkörpert, die allen andern zugrunde liegt (Kulcsár Szabó 2003: 51). In diesem Sinne bedeutet auch jegliche literarische Versprachlichung des Fremden (seine „Thematisierung“, die Auseinandersetzung mit ihm) gleichzeitig seine Verfremdung und Entschlüsselung.(5)
Wenn man im obigen Sinne ästhetische und kulturelle Fremdheitserfahrungen in ihrem Zusammenhang in Betracht zieht, ergeben sich weitere konkrete Aspekte dieser Abhängigkeit von sprachlichen und kulturellen Differenz- und Alteritätsphänomenen. In diesem Kontext wäre auch auf Saids Gedanken hinzuweisen, nach dem die Mehrfachkodierung des literarischen Textes dem Pluralismus des Bezugsrahmens Welt entspricht(6). In diesem Sinne meint auch Monika Schmitz-Emans: „Das Befremdliche der Fiktion ist […] die freie Gestaltung dessen, was in und an der Wirklichkeit befremdet. […] Das Fingieren befremdlicher Wesen und Ereignisse dient vielfach dem Verweis auf die grundlegende Befremdlichkeit der Welt“ (Schmitz-Emans 2003: 26). Zu diesen Alteritätsphänomenen in der narrativen Konfiguration des literarischen Textes gehören die Intertextualität, die Mehrsprachigkeit und die Fremdsprachigkeit.
Die Mehrsprachigkeit der Texte kann qualitativ und quantitativ sehr unterschiedlich sein, denn einige Texte operieren nur mit fremdsprachigen Einschüben, die Sprachmischung kann aber auch für den narrativen Diskurs konstitutiv sein, und die verschiedenen Sprachen des Textes können miteinander auch im dialogischen (oder auch antagonistischen und/oder komplementären) Verhältnis stehen (Schmitz-Emans 2004). Auf jeden Fall weisen mehrsprachige, polyphone Textstellen (die nicht nur in der Mundart- oder Migrantenliteratur eine mehr als illustrative Rolle spielen) auch auf die Vielfalt der Sprachen und Sprachgrenzen hin. Die Fremdsprachigkeit, die Fremdheit der fremden Sprache ist in der Hermeneutik darüber hinaus die unmittelbarste Form, der Prototyp der Fremdheit. Gadamer äußerte dazu: „Die Fremdsprachlichkeit bedeutet nur einen gesteigerten Fall von hermeneutischer Schwierigkeit, d.h., von Fremdheit und Überwindung derselben.“ (Gadamer 1960: 391). Die Dialogizität, Mehrstimmigkeit (oder Polyphonie) des Romans interpretiert auch Bachtin als poetische Transformationen der gesellschaftlichen, geschichtlichen Redevielfalt. Die intertextuelle Verbindung von der Redevielfalt oder Polyphonie explizit narrativer, literarischer Texte mit der Pluralität und/oder Fragmentarität persönlicher und kollektiver Identitäten steht auch im Hintergrund aktueller Theorien der Hybridität. Von entscheidender Bedeutung ist diesbezüglich noch, dass die in den Begriffen der Hybridität und Polyphonie implizierten binären Oppositionen wie jener von dem Fremden und dem Eigenen durch die Ablösung der Grenzziehung zwischen ihnen durch jene innerhalb der sprachlichen Repräsentation zu überschreiten sind. Durch diese Rekonzeptualisierung von Hybridität und Polyphonie als innerkulturelle, intrasubjektive oder innersprachliche Phänomene(7) wird die polare Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden vermeidbar. (Der postkoloniale Theoretiker Bhabha interpretiert in diesem Sinne die Bedeutungen der performativen bzw. konstativen Aspekte der Sprache, die Spaltung des Subjektes in ein ausgesagtes Subjekt und ein Subjekt der Aussage, den Widerstreit zwischen seiner Repräsentation in der symbolischen Ordnung und seinem diskursiven Hervorbringen im Akt narrativer Performanz, in Bezug auf die Nation. In der Schaffung der Nation als Narration seien, so das Ergebnis seiner Ausführungen, zwei unvereinbare Strategien zu unterscheiden, in denen das Volk als apriorisches pädagogisches Objekt oder als repetitiv aufrechterhaltenes Subjekt der narrativen Performanz erscheint. – Bhabha 2000) Die Interdependenz der ästhetischen und der kulturellen Fremdheitserfahrung, die Interpretation der Fremdheit als nicht mehr nur interkulturelle und intersubjektive, sondern als intrakulturelle, intrasubjektive, ja als innersprachliche Erscheinung, als hermeneutische Grunderfahrung - diese Verbindung bestätigt schließlich auch die These, dass „bis zum heutigen Tage etwas von dem alten Fundament der Mimesis-Theorie bestehen“ blieb (Gadamer 1960: 38):
Es ist eben niemals nur eine fremde Welt des Zaubers, des Rausches, des Traumes, zu der der Spieler, Bildner oder Beschauer hingerissen ist, sondern es ist immer noch die eigene Welt, der er eigentlich übereignet wird, indem er sich tiefer in ihr erkennt. Es bleibt eine Sinnkontinuität, die das Kunstwerk mit der Daseinswelt zusammenschließt und von der sich selbst das entfremdete Bewusstsein einer Bildungsgesellschaft nie gänzlich löst. (Gadamer 1960: 138)
Zu den obigen, ästhetischen und kulturellen Alteritätsphänomenen wäre auch die poststrukturalistische Frage nach dem Verhältnis des Repräsentierten und des Zeichens zu ergänzen. Fremdheit oder Entfremdung sind ferner auch im Sinne der „Abweichung“, der Differenzqualität der poetischen Sprache insbesondere im Russischen Formalismus zentrale Konzepte: das Ästhetische und Literarische definierten sich nach der Formalen Schule durch die „Verfremdung“ (ostranenie), die Entalltäglichung, die Desautomatisierung der Sprache und des Wahrnehmens, wo das Fremdmachen eigentlich wieder als Voraussetzung des Bemerkbar- und Wahrnehmbar-machens zu betrachten ist.
2. Hermeneutisches Verstehen und Fremdverstehen erweisen sich im Lichte der obigen Überlegungen zweifelsohne als strukturanalog: die Fremdheitserfahrung ist die hermeneutische Grundsituation der Begegnung der Fremdheit des zu verstehenden Textes und der damit keinesfalls vereinbaren Vertrautheit des Verstehenden. Fremdheit ist in diesem Sinne nicht nur als die Fremdheit des ästhetischen Zeichens oder als jene kultureller Differenzen und Alteritätsphänomene zu deuten, deren Austragungsort auch der literarische Text ist. In der Gadamerschen Hermeneutik wird der Begriff vielmehr auf den fremden Horizont des fernen, schriftlich fixierten Textes bezogen oder als phänomenologisch notwendige Kategorie für das Du, das andere Gegenüber. Diese unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der Fremdheit sind wohl die Ursachen für jene Ablehnung von Gadamers Konzept der Horizontverschmelzung, die in den Augen vieler Fremdheitsforscher mit der Aneignung, der Auslöschung des Fremden identisch sei. Am treffendsten formuliert die typische Kritik der Xenologie an der Hermeneutik Alois Wierlacher:
[D]as Gelingen geschichtlichen Verstehens besteht für ihn [Gadamer] letztlich in der Herstellung einer horizontverschmelzenden „Einheit“ des „Einen und Anderen“, die der Auflösung des Anderen im Einen bedenklich nahe kommt. […] Wenn Verstehen als Horizontverschmelzung definiert wird, ist das „allgemeine Problem“ aller Hermeneutik in der Tat die Frage, „wie […] eine Fremdheit überwunden“ und zu eigen gemacht werden könne. (Wierlacher 1985: 10)
Gewissen Positionen wirft Wierlacher sogar vor, durch Bemühung um die Vereinnahmung des Fremden „Denkmuster europäischen Kolonialverhaltens“ zu tradieren (Wierlacher 1985: 11), um anschließend für die zu entwickelnde Verstehenslehre interkultureller Germanistik als „Hermeneutik der Distanz“ zu plädieren, die das Fremde nicht ausschaltet, sondern mit Empathie und Sympathie betrachtet und in seiner Andersheit erkennbar macht (ebd.). Nun, Gadamer betrachtet die Überwindung der Fremdheit als hermeneutische Schwierigkeit, er bestimmt als höchste Aufgabe des Verstehens die Überwindung der Entfremdung (Gadamer 1960: 391, 394) und stellt in Anlehnung an Hegel fest: „Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes, dessen Sein nur Rückkehr zu sich selbst aus dem Anderssein ist“ (Gadamer 1960: 20). Im Prozess der Horizontverschmelzung, im wirkungsgeschichtlichen Vorgang des Verstehens wird aber das Fremde nicht einfach überwunden und dadurch aufgehoben oder auf das Eigene willkürlich zurückgeführt bzw. mit dem gegenwärtigen Horizont unvermittelt vermischt: Gadamer lehnt diese als „fraglos selbstverständliche Einigkeit“, oder „naive Angleichung“ (Gadamer 1960: 300, 311) des Spannungsverhältnisses zwischen Text und Gegenwart, zwischen der „historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition“ (ebd.) explizit ab. Im Verständigungsgeschehen wird die Fremdheit, die es in reiner Form, unabhängig von dem Verstehenshorizont sowieso nicht gibt, nur in dem Sinne „überwunden“, dass es zum Teil jenes „selbstkritischen“, von sich selbst entfremdeten (in seiner Identität und Vertrautheit von der Fremdheit „bedrohten“), sich verwandelnden verstehenden Bewusstseins wird, das primär sich selbst (und nicht den Anderen) versteht (Gadamer 1960: 299), für die Andersheit des Textes empfänglich ist und sich vom Text etwas sagen lässt (Gadamer 1960: 273). Zum hermeneutischen Verhalten gehört notwendig auch „der Entwurf eines historischen Horizontes, der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet. Das historische Bewusstsein ist sich seiner eigenen Andersheit bewusst und hebt daher den Horizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont ab“ (Gadamer 1960: 311). Waldenfels, der auch damit argumentiert, dass die Fremdheitsforschung ihren Gegenstand im Augenblick seiner semiotischen Annäherung, des interpretativen Zugriffs paradoxerweise aufhebt (das Fremde bleibt nicht mehr fremd, sobald es angeeignet, d.h. verstanden, auf das eigene zurückgeführt wird), erkennt auch an, dass die Unüberwindlichkeit der Fremdheit zu den Grundvoraussetzungen hermeneutischer Philosophie gehört (Waldenfels 1999: 71). Die Fremdheit, wie sie in der angewandten Wissenschaft der kulturwissenschaftlichen Fremdheitsforschung oder der interkulturellen Hermeneutik verstanden wird, bezieht sich primär auf die kulturelle Distanz (Wierlacher sprach an der zitierten Stelle charakteristischerweise über das „fremde Land und seine Texte“). In der gadamerschen Hermeneutik bedeutet Fremdheit demgegenüber vielmehr die zeitliche Distanz der zu verstehenden Texte. Die Konsequenz dieser unterschiedlichen Betrachtungsweisen der Fremdheit in der „traditionalen“ literarischen und in der fremd- oder interkulturellen Hermeneutik ist, dass die Kategorie im Sinne der „vertikalen“ Distanz von Anfang an eine relative ist („Fremdheit“ und „Vertrautheit“, die gegenwärtige Weltsicht und der Vergangenheitshorizont konstituieren einander gegenseitig, das Verstehen vollzieht sich in einer Vorurteilsstruktur). In der Interpretation der Fremdheit im „horizontalen“ Sinne(8), d.h., als kulturelle Differenz bleiben aber diese gegenseitigen Transformationen, die Koexistenz des Anderen und des Eigenen im wirkungsgeschichtlichen Vorgang des Verstehens „vertikal“ fremder Texte verborgen oder eher irrelevant. Angestrebt wird daher beim Umgang mit literarisch vermittelten kulturellen Fremderfahrungen, wo, so Wierlacher, die hermeneutische Situation der kulturellen Identität, die kulturelle Überschneidungssituation nicht vorliegt (Wierlacher 1985: 18), ein Verstehen im Sinne des „Vertrautwerdens in der Distanz, die das Andere als Anderes und Fremdes zugleich sehen und gelten lässt“ (Wierlacher 1985: 20). Dieser Verstehensbegriff wird im Sinne von Plessners Theorie der Exzentrizität des Verstehens definiert. Demnach wäre, so Heike Kämpf, das Fremde als strukturelles Moment des Verstehens zu entdecken: Fremdheit sei nämlich nicht durch eine Auslegung zu beseitigen (Kämpf 2003: 9), vielmehr gehe es hier darum, dass das Fraglichwerden des Verstehens, die Fremdheit im Sinne „der prinzipiellen Entzogenheit des Zu-Verstehenden“ auch im hermeneutischen Prozess als zentral betrachtet wird. Diese ethisch-normative Argumentation, dieses „Ernstnehmen“ des bewahrbaren Fremden als Ziel ist aber im Grunde genommen nur auf jene Form der Fremdheit anwendbar, die Waldenfels als „radikale Fremdheit“ definiert, deren Vereinnahmung von vornherein unvorstellbar ist, da sie sich nur zeigt, indem sie sich entzieht, nur als das Unzugängliche zugänglich ist.(9) Dieses Fremde kann weder hermeneutisch noch semiologisch ergriffen werden, es lässt sich nur performativ, als „Anspruch, Anruf, Anreiz“ annähern: Im Lichte von Waldenfels’ Überlegungen zur Phänomenologie als Xenologie wird Fremdheit zusammen mit dem Eigenen als situationsabhängiges, einmaliges Produkt des unausweichlichen, performativen Ereignisses der Begegnung mit dem Unzugänglichen und Nichtassimilierbaren verstanden(10). Dadurch sind wir aber auch nicht fern von der Position einer onthologischen Hermeneutik angelangt, die davon ausgeht, dass der Sinn des Kunstwerks (das übrigens von der hermeneutischen Tätigkeit der Rezipienten abhängig zustande kommt und in diesem Sinne performativ konstruiert wird) dem des Spiels ähnlich ist („Wir gingen davon aus, dass das Kunstwerk ein Spiel ist, d.h., dass es sein eigentliches Sein nicht ablösbar von seiner Darstellung hat und dass doch in der Darstellung die Einheit und Selbigkeit des Gebildes herauskommt“ – Gadamer 1960: 127).
3. Zu den theoretischen Ansätzen, die die Sprachlichkeit, die Figurativität des literarischen Textes im Zusammenhang mit kulturellen Alteritätsphänomenen erläutern, und dabei das dialektale Aufeinanderstoßen von ästhetischer und kultureller Fremdheit und Vertrautheit erläutern, gehört zweifelsohne Michael Böhlers Konzept einer Ästhetik der Differenz. Er schlägt hier vor, den Unterschied zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ (inner)sprachlich zu interpretieren (Böhler 1991). Als ein Medium der grundlegenden sprachlichen Differenz, die die deutschsprachige Literatur der Schweiz bestimmt, versteht er die mediale Diglossie in der Deutschschweiz: das Spannungsfeld zwischen der hochdeutschen Schriftsprache und dem gesprochenen alemannischen Dialekt des Schweizerdeutschen. Das gesprochene Schweizerdeutsch und die geschriebene Hochsprache werden als Medien des Eigenen, das gesprochene Schriftdeutsch und die geschriebene Mundart hingegen als jene des Fremden behandelt. Texte schweizerdeutscher Schriftsteller – vor allem, wenn sie auf ihre sprachliche Polyphonie hin befragt werden -, lassen daher, so Böhler, die Differenz zwischen dem Geschriebenen und Gesprochenen (dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten) und jene Aneignung des Fremden zum Vorschein kommen, die auch den hermeneutischen Prozess des Verstehens bestimmen. Der literarische Text des schweizerdeutschen Schriftstellers wird bei Böhler zum offen rhetorischen Medium oder Austragungsort der hermeneutischen Spannung von Eigenem und Fremden (Böhler 1991: 248), er wird aber auch jenem dritten Ort oder third space ähnlich, wo Eigenes und Fremdes intensiv aufeinander stoßen und ihre Dichotomie überwunden wird. Böhlers Ansatz zur Differenzästhetik verbindet schlussendlich kulturelle Alteritätsphänomene mit der poststrukturalistischen Fragestellung nach dem Bruch im Verhältnis der Sprache zum Repräsentierten und der „spurenmässigen Mitpräsenz des abwesenden Anderen oder des ausgegrenzten Fremden im Eigenem“ (Böhler 1991: 78). Die Schweizer Literatur trage nämlich in polyphonen, mehrsprachigen Texten, so das Ergebnis seiner Ausführungen, die Differenz zwischen dem Eigenen und Fremden ästhetisch aus: in Spuren der Abwesenheit der gesprochenen Sprache, als „Gleichzeitigkeit des sprachlich je verschiedenen von Mundart und Schriftsprache“(Böhler 1991: 91).
Die differenzästhetische Annäherung interpretiert hier Bachtins Begriff der Polyphonie nicht unbedingt im Sinne einer Stimmenvielfalt, sondern als Rede- oder eher Sprachvielfalt, die aber durchaus als Medium und Untersuchungsbereich von Auseinandersetzungen widerstreitender Weltsichten fungieren kann. Ein typisches semantisches Feld, das die „Spuren“ der Mundart in der Schriftsprache im literarischen Text auszeichnet, wäre beispielsweise das vertraute Schema Muttersprache – Vatersprache, das bekannterweise in Dürrenmatts vielzitiertem Text „Persönliches über Sprache“ auf die Literaturproduktion in der Deutschschweiz bezogen wird. Das „fremde“ Wort, d.h. die geschriebene Mundart in der innersprachlichen Polyphonie von Prosatexten kann in diesem Sinne tatsächlich, wie es auch Böhler annimmt, die Subversion der „logozentrischen Repression“ des Hochdeutschen vergegenwärtigen, auch wenn diese Fragestellung auf keinen Fall zu verabsolutieren ist. Polyphone Textstellen weisen mehr aus, als die mit dem Schema „Muttersprache-Vatersprache“ bezeichnete Dichotomie. In ähnlicher Weise ist somit auch die Unterscheidung zwischen einer – möglicherweise subversiven - gesprochenen „Muttersprache“ und der – gegebenenfalls Eindeutigkeiten festschreibenden - geschriebenen (und daher per se verfremdeten) „Vatersprache“ kein „schweizerisches“, d.h. in einem realen und konkreten historisch-kulturellen Kontext lokalisierbares, sondern ein allgemein sprachliches Phänomen. Sprachliche hybride Textstellen in der deutschsprachigen Prosa der Schweiz bringen folglich jene Polyphonie oder Redevielfalt, Multiperspektivität und Dialogizität zum Vorschein, die (auch nach Bachtin) jeder sprachlichen Äußerung innewohnt. Die Differenzästhetik ist deutlich produktiv einzusetzen auch bei der Interpretation der neueren deutschsprachigen Prosa der Schweiz, die tendenziell mit Mehrsprachigkeit operiert und mit der Pluralität der Stimmen eine Vielfalt alternativer Sinnzuschreibungen konstituiert, wie Tim Krohns Quatemberkinder und Beat Sterchis Roman Blösch. Die differenzästhetische Verbindung sprachlicher und kultureller Identitäts- und Alteritätsphänomene betrachtet die Schweiz nicht als apriorische Entität, sondern als ein sprachlich und sozial entworfenes Konstrukt und den literarischen Text als einen Ort des Zusammenspiels des Fremden und des Eigenen, dessen polyphone Stellen keinen Gegenstand eines assimilierenden Verstehens darstellen, sondern eine performative Bedeutungskonstruktion erfahren lassen.
Als konkretes Interpretationsbeispiel für alle oben diskutierten Ansätze und Formen der Fremdheit eignet sich die im Motto zitierte Textstelle aus Max Frischs Wilhelm Tell für die Schule. Friedrich Schillers Drama, der wichtigste Prätext von Wilhelm Tell für die Schule, kann als eine paradigmatische Geschichte der erfolgreichen, nationalen Identitätskonstruktion gelesen werden. Die identitätsstiftenden Konstruktionsfaktoren der Nation – die Naturalisierung und Sakralisierung der Gemeinschaft, die Betonung der Kontinuität mit den Vorvätern, die Strategien der individuellen „Bekehrung“ zur Nation und der Homogenisierung der Gemeinschaft – werden im Text von Frisch durch ironische Imitation subvertiert. Die relevantesten Mittelder Demontage des Tell-Mythos und der Subversion substantialistischer Identitätskonstruktion sind der Fokuswechsel (in Frischs Text dominiert die Perspektive des Vogtes), die Parodie der Kontinuität und der Faktizität (im Anmerkungsapparat) sowie die Konfrontation der als Satire und als Romanze erzählten Geschichten des Gründungsmythos der Schweiz. Da ein relevanter Teil des Textes intern fokalisiert ist, d.h. im Gegensatz zum Titel aus dem Blickwinkel des Habsburgischen Vogtes erzählt wird, erscheinen die zentralen Topoi der Narration der Schweizer Nation und des schillerschen Textes, die Alpen und das Hirtenvolk, destruktiv uminterpretiert. Im Perspektivenwechsel wird eine spielerische Umkehrung der künstlichen Opposition des Nationalmythos, die selbstbestätigende Trennung zwischen der Fremdheit der Österreicher und der Vertrautheit der Innerschweizer vollzogen, die die Tell-Geschichte nicht nur des national integrativen Potentials beraubt, sondern auch wesentlich entpolitisiert. Gessler tritt nämlich aus seiner (in Schillers Text fixierten) öffentlichen Rolle des Vertreters eines Kollektivums und einer Ideologie aus, und enthüllt sich als privates Individuum, das schließlich der „nachträglichen Ideologisierung” (Frisch 1965: 363) zum Opfer fällt:
Persönlich hatte er kein Interesse daran, dass Habsburg sich dieses Tal von Uri untertan machte, im Gegenteil. das hätte bedeuten können, dass er, Ritter Konrad oder Grisler, auf Lebenszeit in dieses Tal versetzt worden wäre - ein Gedanke, der ihn bei hellichtem Tag rücklings aufs Bett warf.... (Frisch 1970: 429).
Bereits die narratologischen Merkmale des Textes lassen (und das ist auch ein prägnantes Beispiel für die Überschneidung ästhetischer und kultureller Fremdheitserfahrungen) also die Willkürlichkeit der Fremdmarkierung erfahren, und die Fremdheit erschöpft sich in diesem Kontext nicht in der Figur des feindlichen Fremden, des Österreichers. („Ritter Konrad oder Grisler“, dessen Identität von Anfang an fraglich, instabil und apolitisch ist - „selbst Vater, belustigt und ohne Ritter-Allüren”-, erscheint in der Perspektive der Kinder als „Herr Vogt“.) Die Kinder sprechen Konrad freiwillig an: im Gegensatz zu den anderen Schweizern im Text, die nach dem Schillerschen Prätext handeln („Fragte er [Konrad] unterwegs einen Hirten nach dem Wetter, so redete dieser plötzlich mit seinem Vieh” – Frisch 1970: 415].) Sie identifizieren ihn mit der sagenhaften Figur des Toggeli und handeln auch demgemäß, denn sie laufen weg. Die Toggeli-Geschichte, auf deren Wichtigkeit sogar optisch hingewiesen wird (die Fußnote, in der die Toggeli-Sage erzählt wird, ist dreimal so lang wie der Haupttext), berichtet über eine Holzfigur namens Toggeli, die zum Leben erwacht und an den Hirten, die sie gefertigt und gedemütigt haben, grausam Rache nimmt. Die Sage aus Uri erzählt, wie die Grenzen des Körpers im Sinne einer Ausdehnung verletzt werden: Frankenstein ähnlich erwacht das leblose Material zu menschlichem Leben und entwickelt sich dabei von einer passiven Zielscheibe des Spottes zu einem aktiven Rächer. Konrads Geschichte ist auch als eine Geschichte der Verletzung von Körpergrenzen zu lesen, diese werden bei ihm aber eingeengt: die kanonische Sinngebung, die Determiniertheit durch die Prätexte versieht die private („dickliche”) Figur mit der fremden, „öffentlichen” Identität des Vogtes (des „Ritters”). Der „dickliche Ritter” steckt im Text nicht mehr in der schillerschen Rolle des aktiven Tyrannen sondern wird als passiver, privater Mensch zum Opfer der Rache. „Bist du jetzt der Toggeli?” – fragen ihn die Kinder: jetzt bekommt Konrad die Rolle des Sündenbockes. Hiermit wird nicht nur die aus dem Stück Andorra bekannte Feindbild-Rhetorik aufgezeigt, sondern auch die Situationsabhängigkeit, die Unfixiertheit der jeweiligen Identität und Alterität. Die literarisch zugängliche Erfahrung kultureller Fremdheit bedeutet hier also einerseits Fremdheit im nationalen Diskurs, die „politische“ Fremdheit des „Ausländers“ und andererseits die (in der mythologischen Erzählung der Sage bereits versprachlichte, und daher einigermaßen „domestizierte“) Fremdheit des befremdlichen schrecklichen Geistes: die private Figur Konrads wird als fremder Vogt und als Toggeli wahrgenommen. Diese Fremdheitserfahrungen sind aber notwendigerweise auch ästhetische, denn die Episode spiegelt metaphorisch die hermeneutische Situation, die Grundstruktur der hermeneutischen Erfahrung, nämlich die Unverständlichkeit als Ausgangspunkt des Verstehen-wollens durch Fragestellung. Konrad „fragte, was denn ein Toggeli wäre […] was das Kind wohl gemeint habe“, er braucht einen Sinnvermittler (Hermes), den jungen Rudenz, der seine Frage aber nicht beantwortet, die Fremdheit des Ausdrucks Toggeli bleibt für die Figur unüberwindbar. Die Textstelle entlarvt also die hermeneutische Struktur der Fremdheitserfahrung, und sie lässt auch eine Vielzahl von Überfremdungen zum Vorschein kommen, die auch dem erwähnten differenzästhetischen Ansatz zugrunde liegt. Zu diesen gehört am auffälligsten die Differenz zwischen dem schriftdeutschen Text und dem mundartlichen Ausdruck (Toggeli), und die in schriftlicher Form verfremdeten dialektalen Ausdrücke des Fußnotentextes („Häuseli, magsch au ä Bitz?“, „Und bigoscht hindärä!“, usw. – Frisch 1970: 434). Bereits der umfangreiche Fußnotenapparat erfüllt aber eine verfremdende Funktion, da die Fußnoten statt Erklärung deren Unmöglichkeit entdecken (die Grenze zwischen den Fußnoten und dem Haupttext ist nur optisch wahrzunehmen: Figuren und Schlussfolgerungen in Fußnoten der früheren oder späteren Kapitel erscheinen im Bewusstsein der Figuren im Haupttext, und die Anmerkungen sind in der Regel länger als der Haupttext, der – im Gegensatz zu den provozierten „faktischen” Narrativen – ohne Fußnoten schwer zu verstehen ist.). Die determinierende Funktion des schillerschen Prätextes, die Relevanz der Intertexte (der Chroniken) und die rhetorischen Verfahren der Satire gehören aber auch zu jenen Aspekten der Fremdheit, die „sich nicht ohne weiteres dem sprachlichen Verständigungsgeschehen eingliedern lassen“.(11) Dadurch „illustriert“ der Text von Frisch die erwähnten Primate der ästhetisch-sprachlichen Fremderfahrung und entdeckt auch die Wechselwirkung sprachlicher und kultureller Alteritätsphänomene.
Literatur:
Anmerkungen:
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-02-19