Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1. Nr. September 1997

Das Fremde verstehen – das Verstehen verfremden: Ethnographie als Herausforderung für Literatur- und Kulturwissenschaft

Alexander Honold (Berlin)

Das Fremde verstehen – das Verstehen verfremden? Zugegeben, das Wortspiel klingt reichlich manieriert, zudem ist dieser rhetorische Kniff, die Begriffe kreuzweise ihre Plätze tauschen zu lassen, auch nicht mehr der allerneuste. Worauf es mir ankommt, ist aber, Verstehen und Verfremden tatsächlich etwas näher aneinanderzurücken, ihr längst erprobtes Zusammenspiel zu beleuchten und zu propagieren.

Verstehen, diese altehrwürdige Tugend der Geisteswissenschaftler, fällt methodologisch in die Kompetenz der Hermeneutik, Verfremden dagegen ist eines der Kunstkonzepte der Avantgarde, unter Brecht-Kennern etwa als ‘V-Effekt’ geläufig. Und die Fremdheit selbst, wohin gehört sie? Je nachdem, ob sie abgebaut, oder im Gegenteil gerade erst hergestellt werden soll, müßte sie dementsprechend der Domäne der Hermeneutik oder der Kunst zugeschlagen werden. Dabei gibt es auch dort, wo man zu verstehen glaubt, weiterhin Fremdheit; und selbst dort, wo verfremdet wird, glaubt man auf Verständnis rechnen zu dürfen. Den humanistisch Gebildeten fällt dazu vielleicht der Satz ein: »Nichts Menschliches ist mir fremd«. Angenommen, daß auch in diesem geflügelten Klassikerwort die bekannte Logik der Verneinung mit am Werke ist, läßt sich der Satz auch in Gegenrichtung lesen: Wirklich fremd, so ganz und gar fremd kann nur das Menschliche, können nur Menschen einander sein. Und diese Erkentnis ist die Geburtsstunde der Ethnographie. Sie ist die dritte Größe im Spiel der Gegensätze, eine Instanz, die zwischen Verstehen und Verfremden tritt, zwischen Hermeneutik und Kunst.

Die ethnographische Situation(1)

Zwar wird das Prädikat des Fremdartigen und Exotischen gerne auch Pflanzen, Tieren und Landschaftsformen zugeschrieben, aber der exotikos ist dabei stets der Mensch, der sich zu ihnen verfrachten läßt, oder sie zu sich, und der damit jene Fremdheit schafft, die er dann an den Gegenständen seines exotischen Blicks wahrzunehmen glaubt. Selbst die leeren Räume der Wüste und des Eismeers, die grüne Hölle aus Heart of darkness und Apocalypse now, sie sind erst Schauplätze des Fremden, seit der human explorer, der in ihnen nach Spuren seinesgleichen sucht, sie als menschenleer oder feindlich erfährt. Das haben schon Ernst Bloch und Karl Valentin auf verschiedenen Wegen, doch mit vergleichbar prägnantem Ergebnis festgestellt: Man muß unter die Menschen gehen, um Fremde unter Fremden zu treffen.

So hat sich das abendländische Wissen über das Fremde auch nicht in einer Disziplin namens Exotologie gesammelt, sondern in den Menschenwissenschaften, in Anthropologie und Ethnologie, in jüngerer Zeit dann zunehmend in der Ethnographie. Wie die ethnoi, die kleinen und größeren Verbände menschlicher Gemeinwesen, sich organisieren, was sie zusammenhält, das läßt sich an den anderen allemal besser studieren, denn deren Sitten und Gebräuche sind so hervorstechend und unerklärlich wie die eigenen transparent und selbstverständlich. Auch unter Ethnographen selbst ist noch ungeklärt, ob es sich bei der Feldforschung um eine eigene Disziplin oder eher um eine Verfahrensweise innerhalb der Ethnologie handelt. Ethno-Graphie, das Beschreiben von Menschen, scheint eine Art Zwitter aus wissenschaftlicher Empirie einerseits, der die modernen Ethnologen ihre Reputation und Autorität verdanken (diesen Aspekt hat James Clifford betont(2)), und subjektiv erlebter Fremderfahrung andererseits, deren Darstellungsformen eher mit literarischen Texten zu vergleichen sind, wie Clifford Geertz meint.(3) Was die ethnographische Tätigkeit aber zu einem auch für andere Kulturwissenschaften wichtigen Problemfeld macht, ist weder allein auf der Seite der Beschriebenen (Ethnologie) noch auf der des Beschreibenden (Ethnomethodologie) zu finden, sondern erst in der Situation, die beide einander als fremd konfrontiert. Die größere Faszinationsquelle liegt dabei, zumal im Blick auf die literarische Produktivität, nicht im systematisierten Wissen über bestimmte Gesellschaften oder Regionen, sondern auf dem Weg dahin: Was geschieht eigentlich, wenn etwas Unbekanntes oder Unverständliches als fremd wahrgenommen wird?

Wir können freilich dieses Thema nicht rein akademisch und leidenschaftslos abhandeln. Vor dem Hintergrund rassistischer Haßausbrüche und Gewalttaten, wie sie in Deutschland schon seit Jahren zum unfaßbaren Tagesgeschehen gehören, kommt der Debatte um interkulturelle Begegnungen und Formen des Zusammenlebens eine enorme politische Bedeutung zu. Es scheint, wenn man die populistischen Stimmungs- und Meinungsmacher als symptomatische Indizien ernst nimmt, mit dem Begriff des Fremden immer noch vorwiegend eine Ablehnung, mindestens aber eine Abwehr oder Scheu verbunden zu sein. Andererseits aber ist ebensowenig zu übersehen, daß sich im Bedeutungsmerkmal des Exotischen geradezu eine Sehnsucht, ein Wunsch nach dem Anderen ausdrückt. Beide Affekte gehören zusammen und produzieren sich sozusagen gegenseitig. Die Einsicht in diesen Mechanismus von Wunsch und Abwehr hat gerade der Philosoph der Holzwege und der deutschen ‘Tümlichkeit’, hat ausgerechnet Martin Heidegger in seinem charakteristischen ‘sound’ treffend zusammengefaßt: »Denn in der Scheu west allem zuvor eine Zuneigung zum Gescheuten, deren Vertrautheit sich im Fernbleiben verhüllt und ihr Fernes nah hat, indem sie zu ihm hinüberstaunt. [...] Die Scheu entspringt und erwacht nur dort, wo ein Fernes erscheint, dem allein die anfänglich Entfernten eigentlich zugehören. Dieses Ferne zeigt sich zunächst als das Fremde. Dieses befremdet. Aber die Scheu ist nicht Scheu vor dem Befremdlichen, sondern vor dem Eigenen und fernher Vertrauten, das im Fremden als dem Fremden zu leuchten beginnt.«(4)

Im Fremden setzen wie uns also mit dem Eigenen auseinander. Selten ist Heidegger seinen poststrukturalen französischen Adepten, die allesamt Schüler und Klienten des Psychoanalytikers Jacques Lacan waren, näher als mit der Einsicht in diese Ambivalenz. Fremde sind wir uns selbst, lautet dann Julia Kristevas Variation dieser Erkenntnis. Das aber bedeutet, daß die ethnographische Begegnung, als Situation mensch-menschlicher Fremdheit par excellence, eine kulturelle Universale ist, wahrscheinlich die einzige, die wir haben. Wenn uns auch sonst nichts verbinden sollte miteinander, dann zumindest unsere Fremdheit. Und darüber müßte man sich doch verständigen können.

Als Literaturwissenschaftler will ich natürlich darauf hinaus, daß die ethnographische Situation zugleich eine erzliterarische Angelegenheit darstellt: ein Verstehensdilemma, das in einen Schreibakt mündet. Dessen Ästhetik betreibt das poetische Handwerk des Fremdmachens und das hermeneutische des Ent-Fremdens zugleich: Der Satz: »Ich ist ein anderer« ist die Voraussetzung der Erkenntnis: »Der Andere ist ein Ich«(5). Mit dem Interesse für die Wahrnehmungs- und Verstehensformen des Fremden verbindet sich eine landläufige, eigentlich recht alte Erwartung an die Literatur. Unterstellen wir ihr, salopp aber ernsthaft, daß sie etwas ‘zu melden’ hat! Und das hat sie seit jeher zumal dann, wenn sie sich auf die Reise begibt, wenn sie jene neugierigen Erkundungen anstellt, die bei Herodot Historien heißen, Forschungen also, Sondierungen unbekannten Terrains, vielleicht auch des scheinbar allerbekanntesten. Hubert Fichte hat Herodot als Vorbild benannt, inzwischen hat ihn die Forschung zur Reiseliteratur als einen Ahnvater des Autopsie-Prinzips für sich entdeckt(6), bei dem die Autorität des Schreibenden in der Bekräftigung liegt: ‘Ja, ich war dort, und ich sah es mit eigenen Augen’. Auch der gute Erzähler, den Walter Benjamin beschrieb als einen Menschen, der Rat weiß, ist mit einer solchen Vollmacht ausgestattet, wie sie aus der buchstäblichen Erfahrenheit des Weitgereisten erwächst. Allerdings wissen wir auch, daß sich gegenüber diesem Bild einiges geändert hat, denn paradoxerweise hat die wachsende Mobilität ein solches Dortsein im emphatischen Sinne eher schwieriger gemacht - ebenso wie unsere medialen Armaturen das Sehen mit eigenen Augen.

Muß man nicht sogar, ebenfalls dem Verdacht besagter Logik der Verneinung folgend, aus den vielen Beiträgen der letzten Jahre über das »Kulturthema Fremdheit«, die »Frage des Anderen«, die »Poetik der Alterität« und dergleichen mehr – selbst eine »Wilde Völkerkunde« ist im Angebot –, muß man aus all dem nicht den Schluß ziehen, daß dieses Fremde längst aufgehört hat, fremd zu sein? Oder anders herum gefragt: Wie paßt diese Konjunktur, die den großen und überallgemeinen Identitätsdebatten der Vergangenheit nun oft ebenso abstrakte Alteritätskonzepte folgen läßt, in eine Gegenwart, in der die Behauptung kultureller, ethnischer und rassischer Gegensätze wieder zunehmend aggressive Züge annimmt?

Längst passé sind die Zeiten, in denen Fremdheit ein Verhältnis zu kulturellen Phänomenen bezeichnete, die weit weg oder lange her waren; die »manichäischen« Fixierungen(7) von eigener und fremder Welt, wie Abdul JanMohamed das nannte, sind in Bewegung geraten. Wir leben in einer Welt, in der es, wie der schon erwähnte Anthropologe Clifford Geertz formulierte, immer schwieriger wird, einander aus dem Wege zu gehen. Die »Dritte« Welt kommt zurück (und zwar nicht erst, seitdem es keine zweite mehr gibt) - das ist die postkoloniale Situation, auch die der postkolonialen Literaturen(8). Salman Rushdie bekräftigte ihren Anspruch mit dem aufmüpfig umgedrehten Slogan: »the Empire writes back«. Die postkoloniale Literatur hat den Literaturkanon in den angelsächsischen und frankophonen Ländern bereits nachhaltig verändert, und sie beginnt allmählich auch in den deutschsprachigen Regionen den Blick für interkulturelle Konstellationen und Konflikte zu schärfen(9). Gab es da nicht, vor langer Zeit, das hehre Klassikerwort von der Weltliteratur? Wie aber sähe unsere literarische Kultur aus, wenn wir versuchten, diesen Anspruch ernst zu nehmen?

Die postkoloniale Literaturbewegung signalisiert: Diejenigen, die in den europäischen Diskursen über das Fremde jahrhundertelang bloß als Objekte, als Repräsentierte vorkamen, sprechen nun für sich selbst. Das haben sie freilich, ohne auf solche Beachtung zu stoßen, schon immer getan. Die Vorläufer der ethnographischen Tradition, die Reiseberichte und Chroniken, sind voll von den mißverstandenen Spuren solcher Mitsprache. Und in die Richtung einer solchen Spurensuche nach der latenten Anwesenheit der Anderen in den ethnographischen Situationen, von der auch die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte berichtet, gehen die folgenden Überlegungen.

Zwischen Kunst und Wissenschaft – die Begegnung mit dem Fremden

Ein Markstein für die Begegnung mit außereuropäischen Kulturen waren die Forschungs- und Entdeckungsreisen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Für die Wissenschafts- und Kulturgeschichte sind Figuren wie Georg Forster und Alexander von Humboldt darum so aufschlußreich, weil sich in ihnen noch das Bild des Schriftsteller-Gelehrten mit der Aktivität des Forschers und Reisenden verbindet. Modern gesprochen, findet das heroische Zeitalter der Entdeckungen vor allem darin seine Existenzbedingung, daß hier noch keine Ausdifferenzierung der Diskurse und Disziplinen herrscht. Und die Literatur? Sie ist, was man von den deutschen Exkursionsbestrebungen selbst nicht unbedingt sagen kann, immer in vorderster Reihe mit dabei. Literarische Darstellungen und Deutungen »begleiten« die Forschungsreisen und Begegnungen: Wie 1772-75 die beiden Forsters – um eines der prominentesten Beispiele und zugleich eine historische Initialszene aufzurufen – als naturwissenschaftliche Assistenten die zweite der Weltumseglungen Cooks begleiteten und kommentierten, so haben deutsche Gelehrte, Künstler und Schriftsteller seit Ende des 18. Jahrhunderts häufig die hauptsächlich von Frankreich und England ausgehenden überseeischen Exkursionsprojekte flankiert, meist aus der Perspektive teilnehmender Beobachter. Die Konstellation hat emblematischen Charakter in mehrfacher Hinsicht. Wissenschaftlich und kulturell war die deutsche Nation, wiewohl sie historisch lediglich über nachholende, jedoch nicht nachhaltige koloniale Erfahrungen verfügte, an der praktischen Durchführung, der wissenschaftlichen Auswertung und der diskursiven Bewältigung außereuropäischer Exkursionsreisen wesentlich mitbeteiligt.

In einigen Fällen ist diese wechselseitige Austauschbeziehung von wissenschaftlicher Konzeption, empirischen Forschungs- und Erkundungsprojekten und literarischer Darstellung als ein Verhältnis synchroner Kooperation oder unmittelbarer Anregung zu beschreiben. Dies gilt nicht nur für die wohl prominentesten deutschen Weltreisenden Forster und Humboldt, sondern ebenso für die dänische Arabienexpedition unter Beteiligung Carsten Niebuhrs 1761-1767, die auf Veranlassung seines Göttinger Lehrers, des Orientalisten Johann David Michaelis, erfolgte und auch für die Weltumseglung Adelbert von Chamissos an Bord der russischen Brigg Rurik unter dem Befehl Otto von Kotzebues in den Jahren 1815-18. Auch für das spätere 19. Jahrhundert ist die Mitwirkung von Literaten und Geisteswissenschaftlern keine Seltenheit, insbesondere den Vertretern solcher Disziplinen, die wie die Orientalistik oder die Klassische Philologie bereits – avant la lettre – kulturwissenschaftliche Anteile in ihr Erkenntnisinteresse aufgenommen hatten.

Wie werden nun die Fremden bei diesen Begegnungen wahrgenommen, beschrieben und gedeutet? Zu Zeiten des Edlen Wilden war, vor allem unter dem Einfluß des rousseauistischen Paradigmas, die Position des Anderen fast restlos von Geschichtsphilosophie absorbiert. Kulturelle Alterität stand stellvertretend für das verlorene Naive und Natürliche, das Rousseau als utopisch Wiederzugewinnendes, Schiller als elegisch Verlorenes galt. Schon um 1800 läßt sich, auch unter dem Eindruck der weltumrundenden Exkursionen von Bougainville und Cook, eine Tendenz zur Verräumlichung dieses Geschichtsdenkens erkennen; das ‘Andere’ der als entfremdet erlebten Zivilisation darf selbst gerade nicht fremd sein, sondern nur anderswo: sei es in der Fiktion eines vorgeschichtlichen Naturzustandes (Einschiffung nach Tahiti statt Kythera(10) oder, ein wenig später, im Entwurf des zukunftsweisenden Modells Amerika.(11)

Im 19. Jahrhundert wird an der romantischen Besetzung außereuropäischer Regionen weitergeschrieben; wiederentdeckt wird auch die Exotik historischer Stoffe aus der Antike oder den präkolumbischen Hochkulturen, und der Südsee-Topos kippt allmählich vom Paradiesischen ins Primitivistische (für die bildende Kunst bedeutet Gauguin den entscheidenden Übergang). Eine zunehmend dominante Rolle aber übernimmt die Literatur des Kolonialismus. Hier treten deutsche Autoren als rabiate Nachzügler in Erscheinung, die das alte Genre des Abenteuerromans aktualisieren und für politisch-ideologische Zwecke zurichten. Auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Fremden müssen für die Gründerzeit (und fortfolgend) vorwiegend politische Determinanten veranschlagt werden. Unter den Auspizien eines nachholenden Kolonialismus werden vielerorts Lehrstühle für Kolonialgeographie, Völkerkunde und außereuropäische Sprachwissenschaften eingerichtet, hinzu kommt die Gründung naturkundlich-geographischer Gesellschaften(12). All diesen Aktivitäten verdanken mehrere Literaturgenerationen von Raabe über Hofmannsthal bis Kafka konkrete Materialfunde wie auch motivische Anregungen.(13)

Bei den Erkundungsreisen des 19. Jahrhunderts liegt der deutlich erkennbare Bruch zu den Vorläufer-Expeditionen um 1800 in der Verabschiedung der Instanz des reisenden Forscher-Individuums, das in seiner Person divergente Wissensbereiche noch zu synthetisieren vermochte, zugunsten eines ganzen Fächers neuer Spezialdisziplinen, die sich zunächst nach naturkundlichem Muster(14) organisieren. Aber das mit den neugegründeten Kolonialwissenschaften verbundene Paradigma der fremden Völker und Regionen vermochte keine fachübergreifende Einheit zu stiften. Der zugrundeliegende pragmatisch-politische Anlaß, die zusammengestückelten Koloniebesitzungen in Afrika, der Südsee und in China hatten nichts gemein außer der Tatsache, daß sie eben am Tisch der Weltgeschichte zufällig noch übrig geblieben waren. So bedauerte der erste Direktor des Hamburgischen Museums für Völkerkunde, Georg Thilenius, daß es den deutschen Kolonien an jener geographischen und kulturellen Einheit fehle, welche die Einrichtung von Kolonialmuseen im Stile des Kongo-Museums in Tervueren oder des Indischen Museums in London allererst ermögliche.(15)

Einen integrativen, den Fächerkanon der spezialisierten Einzelwissenschaften übergreifenden Diskurs konnte erst die Ethnologie stiften. Ethnologie bzw. Ethnographie wurde nach 1900 auch für Soziologie, Psychologie oder Ikonographie zunehmend zur Leitwissenschaft, da sie am Phänomenkatalog des Fremden beobachten und beschreiben lehrte, was sich im Eigenen durch seine scheinbare Transparenz dem Bewußtsein zu entziehen pflegt. Der Übergang vom Reisenden zum Feldforscher, zum intensiv teilnehmenden Beobachter ist am wissenschaftlichen Werdegang des Naturforschers Franz Boas auf symptomatische Weise nachzuzeichen. Eine unter geophysikalischen Fragestellungen aufgenommene Polarexpedition 1883/84 brachte den Forscher erstmals in Kontakt mit der ethnographischen Problematik; durch die Bella-Coola-Völkerschau 1885/86 in Berlin fand Boas sodann Gelegenheit, die Grundlagen seiner späteren struktural orientierten Ethnologie zu entwickeln, die eine Komplementärform der interpretierenden Kulturbeschreibung darstellt. Es war dann der Ethnologe Bronislaw Malinowski, der mitten im Ersten Weltkrieg bei seinem Forschungsaufenthalt auf den Trobriand-Inseln das Verfahren der »teilnehmenden Beobachtung« zur ethnographischen Maxime erhob.

Zunehmende Bedeutung für die Wahrnehmung des Fremden im kulturellen Bewußtsein erlangte seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die ‘Rückwirkung’ der Exkursionen in Form des nach Europa verbrachten und hier ausgestellten Materials, das von Abschriften(16) und Zeichnungen über gesammelte Kultgegenstände bis hin zu gefangenen Einwohnern der erforschten Gebiete reichte.(17) Zu einer wiederholten und somit nachhaltigen Irritation konnte der nach Europa importierte Kulturkontakt erst im Zeitalter einer sich u.a. in Weltausstellungen bekundenden global-imperialen Gebärde Europas werden. Die wie Tiere vermessenen und ausgestellten Bewohner fremder Erdteile erschienen ihren zahlenden Besuchern einerseits degradiert als Besitz und Beutestück, andererseits provokativ als ein im psychoanalytischem Sinne »unheimlicher« Faszinationspol. Ein Reflex dieser Verunsicherung findet sich in Kafkas Bericht für eine Akademie dargestellt, einer bitteren Parabel auf den Prozeß der Zivilisation. Sie hat ihren entscheidenden Schauplatz im Zwischendeck jenes Hagenbeckschen Dampfers, der den in Afrika gefangenen Affen Rotpeter als Beutestück nach Hamburg verschleppt. »Damals aber war ich zum erstenmal in meinem Leben ohne Ausweg«(18), erinnert sich das Tier, als es schon keines mehr ist. Der Not gehorchend, verwandelt sich dieser Affe in einen teilnehmenden Beobachter, studiert die Menschen und imitiert ihre Sitten und Gebräuche. Noch von den Matrosen lernt er das Spucken und Pfeiferauchen, schließlich sogar den Schluck aus der Schnapsflasche, kurzum, der Fortgang ist ja bekannt: er lernt sich zu benehmen wie ein zivilisierter Mensch. Freilich ist es der pure Zwang, der hier die Mimesis befördert; uns aber ermöglicht diese Spiegelung der ethnographischen Situation, tatsächlich das Fremde im Eigenen zu sehen. Wo die Suche nach dem Authentischen längst ins Leere geht, könnte uns mit Kafkas kleiner Geschichte die Einübung in eine Ethnographie der eigenen Kultur gelingen, gerade dort, wo uns deren Züge so überraschend entgegentreten wie in diesem Bericht für eine Akademie.

Umwege und Medien: Das Fremde in der Moderne

Schon die Kolonialwissenschaften und die Ethnographie des ausgehenden 19. Jahrhunderts bedienten sich zunehmend der neuen Medien.(19) Der Phonograph ermöglichte es erstmals, sonst nur mühsam zu transkribierende Tondokumente ‘authentisch’ einzufangen und zu archivieren. Für das Entstehen einer vergleichenden Musikethnologie spielte das von Carl Stumpf initiierte und von Erich von Hornbostel geleitete Phonogramm-Archiv der Berliner Universität eine herausragende Rolle. Bei ihnen waren u. a. Robert Musil, Johannes von Allesch, aber auch der Reiseschriftsteller und Komponist Hans Helfritz tätig. Der Photoapparat war seit den 1870er Jahren Teil des Gepäcks eines Forschungsreisenden. Der Photographie wurde als Medium der Wirklichkeitsaufzeichnung Objektivität zugeschrieben. Doch läßt sich dem vorhandenen Bildmaterial ablesen, wie die mediale Armatur den Blick eurozentrisch präformiert. Grob lassen sich zwei Gruppen von Bildern ausmachen: die einen dienen der anthropologischen Inventarisierung fremder Rassen, die anderen gehorchen in ihrer Logik eher einer pittoresken Inszenierung des Eingeborenenlebens.(20) Nicht zufällig entsprechen die Aufnahmen fremder Völker zu anthropologischen Zwecken der Vorgehensweise in der Kriminalanthropologie, gilt doch dieser der Verbrecher als ein »Wilder im zivilisierten Lande«.(21)

Ähnlich wie die umfangreichen Photosammlungen, die in deutschen Vökerkundemuseen noch immer meist ungeordnet lagern und deren Aufarbeitung ein Forschungsdesiderat ist, wurden Kunst- und Kulturgegenstände außereuropäischer Völker im Laufe des der Musealisierung verschriebenen 19. Jahrhundert angehäuft. Verstärkt wurde diese Sammelwut noch durch den drohenden »Verlust der ethnischen Originalität«(22), wie ihn der Reiseeifer nicht zuletzt eben dieser Ethnologen heraufbeschwor. Auf die restlose Erschließung des Raumes folgt mit der ethnographischen Feldforschung (insbesondere auch Paradigmen wie dem der teilnehmende Beobachtung) die psychische Exploration des kulturell Fremden.

Die Expressionisten bemächtigten sich des angesammelten ethnographischen Materials, betrachteten es als Formen eines vollkommenen künstlerischen Ausdrucks und bemühten sich um eine Aufwertung der meist als Kuriositäten abgetanen Sammelstücke der Völkerkundemuseen als Kunstwerke.(23) Es sind nicht nur die bildenden Künstler, welche die Völkerkundemuseen aufsuchten und sich wie Picasso oder Matisse in Frankreich von der dort ausgestellten (afrikanischen) Kunst beeinflußen ließen oder wie die deutschen Expressionisten Nolde und Pechstein dann gar selbst in die Südsee reisten, um sich dort inspirieren zu lassen. Auch die Entwicklungen in der Kunstwissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts wären ohne den Kontakt mit den Kunstwerken außereuropäischer Völker nicht denkbar gewesen.(24)

In der Literatur kommt das Fremde zunehmend über gewisse Umwege ins Spiel, und zwar erstens über die Verfremdungen der Wahrnehmungsweise durch das neue Medium Film, zweitens über die Auseinandersetzung mit ethnographischer Fachliteratur und mit der Geschichte des kolonialistischen Blicks, und schließlich als eine über äußere Fremderfahrung katalysierte Ethnographie der eigenen Kultur. Was den ersten Aspekt betrifft, ist zu beobachten, daß die Hochkonjunktur exotistischer Sujets nach der Jahrhundertwende nicht nur die Klischeebildung beförderte, sondern auch den Effekt einer Verselbständigung der dabei zirkulierenden Motive und Handlungsmuster. »Im Umkreis der paar Städtchen und Dörfer sahen sie Rom, sahen Japan, sahen die Südsee«, heißt es über eine Tessiner Künstlerbohème in Hermann Hesses Erzählung Klingsors letzter Sommer von 1920.(25) Ist die fiktionale Literatur das aus den Reiseberichten überkommene Postulat des Authentischen erst los, setzt eine von geographischen wie sozialen Zuordnungen abgelöste Ästhetisierung des Exotischen ein – fremd ist, womit poetische Verfremdungen sich erzielen lassen.

Im Jahrzehnt des Krieges folgen diese Verfremdungstendenzen hauptsächlich dem Anspruch einer Intensivierung und Dynamisierung der Wahrnehmung, mit dem die Schriftsteller durch die neue Konkurrenz des Films konfrontiert wurden. Schon im späten 19. Jahrhundert war Literatur längst nicht mehr die alleinige Vermittlungsinstanz für die Imagination fremder Welten, als Weltausstellungen und Völkerschauen, Zirkus und Zoo die exotischen Menschen und Tiere als plastische Faszinationsobjekte verfügbar machten. Die Lust am Befremdenden, am Abnormen und Schrecklichen wird dann rasch zur neuen Domäne des Films, der diese Phantasien kultiviert und zum Schock-Moment steigert. Der Protest der expressionistischen Literaten gegen die »papierne Passion« setzt insofern auch auf die mediale Fremde und sucht Anschluß an die gestischen und mimischen Energien des Stummfilms, z. B. in Kasimir Edschmids Erzählung Der Lazo, die 1915 schon aus den choreographischen patterns des frühen Western schöpft.(26) Autoren, die sich wie Béla Balázs und Robert Musil auch theoretisch mit dem neuen Medium auseinandersetzen, entdecken in den zerstückten Wahrnehmungsformen des Films eine Nähe zu den Traum- und Halluzinationsbildern animistischer Kulturen. Vergleichbar, so Musil, sei besonders »die magische Rolle von Haaren, Fingernägeln, Schatten« und »Spiegelbild«(27). Auch in Musils eigenen ästhetischen Intentionen spielte die Aufwertung des bildlichen gegenüber dem begrifflichen Erkenntnisvermögen eine große Rolle, die er u.a. mit den Forschungen des Religionsanthropologen Lucien Lévy-Bruhl über das »Denken der Primitiven« zu untermauern versuchte.

Bei anderen Autoren nimmt die Auseinandersetzung mit dem Fremden gleich den Weg eines Studiums ethnographischer Literatur. Alfred Döblins Amazonas-Trilogie(28), Mitte der dreißiger Jahre im französischen Exil entstanden, stellt sich der kolonialistischen Hypothek dieser Tradition in doppelter Weise. Döblin schöpft aus Chroniken, die über die gewaltsame Inbesitznahme Südamerikas durch die Europäer berichten, wie die Indianische Historia Nikolaus Federmanns, der 1529-32 eine von den Welsern finanzierte Expedition in das Landesinnere des heutigen Venezuela befehligt hatte. In Federmanns Erinnerungen wird detailliert beschrieben, wie man durch wohldosierte Geiselnahmen eine zahlenmäßig überlegene indianische Bevölkerung unterwerfen und ausbeuten kann. Neben der kritischen Aufarbeitung der Kolonialgeschichte aber suchte Döblin in der Pariser Bibliotheque Nationale, in der zur selben Zeit übrigens Walter Benjamin über die Pariser Passagen forschte, nach Quellen jedweder Art - ethnographische Untersuchungen, auch Märchensammlungen und Mythen - über das Leben der Indianer des Amazonasbeckens.(29) Der deutsche Emigrant stößt auf Dokumente über die Tupi-Guaraní, von denen auch Lévi-Strauss am Ende der Traurigen Tropen berichtet; ein Stamm auf beständiger Wanderschaft, »von dem Glauben getrieben, daß es irgendwo ein Land ohne Tod geben müsse.«(30) »Die Fahrt ins Land ohne Tod«, so überschrieb Döblin den 1937 erschienenen ersten Band seines Epos, der vor dem Trauma der Kolonialisierung spielt – ein Gegenentwurf, der längst um die Vergeblichkeit seiner Suche weiß.

Manche der ethnographischen Quellen, deren sich die Autoren der Moderne bedient haben, sind mittlerweile bekannt, und doch steht eine umfassende Untersuchung dieses Beziehungsgeflechts noch aus, das die literarischen Imaginationen des Fremden mit den Exotismus-Moden der Zeit, mit den ethnographischen Berichten und den technischen Wahrnehmungs-Implementen Photographie und Film verbindet – und übrigens auch mit der zeitgenössischen Kultur- und Kunsttheorie eines Aby Warburg, Max Weber oder Ernst Cassirer, die ihren Blick auf kollektive Symbolbestände und Mentalitäten am Außereuropäischen schulten. So reiste Aby Warburg 1896 zu den Pueblo-Indianern Neu-Mexikos;(31) Max Weber hingegen zog es zu der großen Indianer-Völkerschau in St. Louis anläßlich der Weltausstellung 1904.(32)

Die frappierendsten Konsequenzen zeitigt die Suche nach dem Fremden im Werk eines heimlichen Ethnographen, eines Autor, der fast sein ganzes Leben am selben Fleck verbrachte und in dessen Werk sich gleichwohl ethnographische Situationen voller Faszination und Verlegenheit durchzeichnen. Er ließ sich vom Eisenbahnbau in Belgisch-Kongo zu einer Geschiche anregen, und er schrieb über Amerika, die traumhaften Karrieremöglichkeiten und die durchrationalisierte Zeitökonomie dortselbst;(33) eine weitere Erzählung berichtet - ins Phantastische gesteigert - über die Deportations- und Folterpraktiken in Französisch Neu-Kaledonien: Die Rede ist wiederum von Franz Kafka, dessen Bericht für eine Akademie wir bereits als kritischen Kommentar zum Exotismus der Jahrhundertwende zu Wort kommen ließen. Nicht alle seiner ethnographischen Themen sind so weit hergeholt wie die eben aufgezählten, die er aus den Erzählungen seiner weitläufigen Verwandtschaft zusammensetzen konnte, oder, im Falle der Strafkolonie, aus einer Publikation des Forschungsreisenden Robert Heindl, der im Auftrag der deutschen Regierung eine Exkursion zu den französischen Strafkolonien unternommen hatte.(34) Phänomene kultureller Fremdheit fand Kafka in Prag schon vor der Haustür; man denke nur an seine intensive Beschäftigung mit der Welt des Ostjudentums, zu deren Verständnis ihm der Zugang gleichwohl versperrt blieb.(35) Anderes landete, man weiß nicht woher, als Strandgut in seinen Oktavheften an wie die folgende Eintragung, ein ethnopsychographisches Streiflicht aus der Welt des Zirkus und der Völkerschauen, die er mit großer Leidenschaft besuchte: »Der Neger, der von der Weltausstellung nachhause gebracht wird und, irrsinnig geworden von Heimweh, mitten in seinem Dorf unter dem Wehklagen des Stammes mit ernstestem Gesicht als Überlieferung und Pflicht die Späße aufführt, welche das europäische Publikum als Sitten und Gebräuche Afrikas entzückten.«(36)

Wer nicht als Kolonisator, sondern als Beutegut um die Welt fährt, der kehrt in sein Dorf zurück als ein im Wortsinne Ver-Rückter, ein exzentrisch gewordener Exot. Was er zurückbringt und seinen entsetzten Freunden darbietet, ist negative Ethnographie, ein Abziehbbild europäischer Projektionen. Hubert Fichte, der manchmal ein bißchen übertreibt, hat aus Kafkas Neger einen brasilianischen Medizinstudenten gemacht, der in Hamburg als Menschenfresser sein Geld verdient. Fichte hat diese Szene in den Erinnerungsroman über seine Mutter eingebaut, in die Geschichte der Naná. Es ist das Jahr 1911, als seine Großeltern mütterlicherseits mit der kleinen Dora die Exotenschau in Hagenbecks Tierhandlung besuchen. »Paul im Gehrock, Ida, einen Paradiesvogel auf dem Kopf, führten ihre Töchter vor den Menschenfresser aus Manaus.« Noch einmal dreht Fichte den Spieß der Geschichte um. »Die Tänze, welche der heimgekehrte Student der Tropenmedizin am Amazonas den entsetzten Stammesbrüdern vortanzte, stellten Paul im Gehrock dar, Ida, einen Paradiesvogel auf dem Kopf, Hildegard und Dora in Mousselinekleidchen.«(37)

© Alexander Honold (Berlin)

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Anmerkungen:

(1) Die folgenden Ausführungen überschneiden sich z.T. mit der ausführlicheren Darstellung dieses Komplexes in meinem Aufsatz: Die ethnographische Situation. In: kulturrevolution Nr. 32/33 (1995): Traurige Tropen – Exotismus, S. 29-34.

(2) Für James Clifford ist die Wissenschaftsgeschichte der Ethnographie nahezu kongruent mit ihrer methodologischen Orientierung an der Feldforschung im Sinne Malinowskis; sie beginnt mit »jener Generation von Ethnographen, welche die wissenschaftliche Validität der teilnehmenden Beobachtung erfolgreich etablierten.« (Über ethnographische Autorität, in: Eberhard Berg/Martin Fuchs [Hrsg.], Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt/Main 1993, S. 109-157, hier: S. 120.)

(3) Clifford Geertz, Die künstlichen Wilden. Der Anthropologe als Schriftsteller. München, Wien 1990.

(4) Martin Heidegger, Gesamtausgabe Bd. II.52: Andenken, S. 171f.

(5) Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie Bd. II. Frankfurt/Main 1975, S. 49. Lévi-Strauss arbeitet bei Rousseau zwei scheinbar gegenläufige, doch im Grunde komplementäre Züge heraus: die Identifikation mit dem Anderen und die Weigerung, sich mit sich selbst zu identifizieren. Vgl. dazu auch Hinrich Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte. Hamburg 1994, S. 44.

(6) François Hartog (Le miroir d'Hérodote - Essai sur la représentation de l'autre. Paris 1980) betont an dem durch Herodot eingeführten Sprachgestus der Autopsie die katalysierende Funktion des Blicks für den Mitteilungsduktus der Reisebeschreibung: »l'œil parle et dit le visible« (S. 261).

(7) Vgl. Abdul R. JanMohamed, Manichean Aesthetics. The Politics of Literature in Colonial Africa. Amherst 1983.

(8) Vgl. Bill Ashcroft/Gareth Griffiths/Helen Tiffin, The Empire writes back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London, New York 1989.

(9) Zur Rezeption postkolonialer Fragestellungen in Deutschland vgl. Das Argument Nr. 215 (1996): Postkoloniale Kritik.

(10) Vgl. Louis-Antoine de Bougainville, Voyage autour du monde. Paris 1966.

(11) Goethes »Amerika, du hast es besser« schlägt jedoch bald schon in »Amerikamüdigkeit« und Zivilisationskritik um.

(12) Zu nennen sind u.a. geographische Gesellschaften, die sich die Förderung natur- und völkerkundlicher Exkursionen zur Aufgabe machten wie die 1828 gegründete Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin (sie wurde zum Vorbild für die Londoner Geographical Society), die Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft in Frankfurt, die Alexander von Humboldt-Stiftung für Naturforschung und Reisen und die Deutsche Gesellschaft zur Erforschung des äquatorialen Afrika.

(13) Im Falle Raabes, der sich selbst das Verdienst zuschrieb, die Buren in die deutsche Literatur eingeführt zu haben, ist auf die von den deutschen Buren-Organisationen eingerichteten bzw. geförderten Periodika und Vereinigungen hinzuweisen, die der kulturellen Unterstützung und sozialen Rückbindung der Südafrikaauswanderer dienen sollten; bei Hofmannsthal sind, aus einer Fülle einschlägiger Rezeptionsvorgänge, besonders die Auseinandersetzung mit den Orient-Reiseberichten Fallmerayers (Fragmente aus dem Orient, 1845) zu nennen; zu Kafka vgl. die folgenden Ausführungen.

(14) Dies gilt insbesondere für den nachhaltigen Einfluß der Naturgeschichte Buffons. Vgl. dazu Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München, Wien, 1985.

(15) So der Artikel Kolonialmuseen in: Heinrich Schnee (Hg): Deutsches Kolonial-Lexikon. 3 Bde. Leipzig 1920, S. 332.

(16) So etwa die von Niebuhr dokumentierten Inschriften der Ruinen von Persepolis 1765, die für die altorientalische Philologie und Epigraphik von unschätzbarem Wert waren.

(17) Ein paradigmatischer Fall sind die beiden von den bayerischen Amazonasforschern Spix und Martius nach München gebrachten »Botokuden«, die seinerzeit der Sprachforscher Johann Andreas Schmeller besuchte und die in der Folge eine fast sprichwörtliche Berühmtheit erlangten; noch Walter Benjamin, der im Wintersemester 1915/16 bei dem Altamerikanisten Walter Lehmann ein Seminar über aztekische Sprache und Kultur besuchte - an dem unter anderen auch R.M.Rilke und der Kulturphilosoph und spätere Indologe Felix Noeggerath teilnahmen - spricht in einem Brief von den Botokuden (Walter Benjamin, Gesammelte Briefe. Band I: 1910-1918, Frankfurt/M. 1995, S. 130, 290).

(18) Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main 1994, S. 108.

(19) Zu nennen wäre hier insbesondere Felix von Luschan, der langjährige Direktor des Berliner Museums für Völkerkunde, der 1878 als erster auf die Bedeutung des Phonographen für die Ethnologie hinwies und vom Wintersemester 1892/93 an am Seminar für orientalische Sprachen wiederholt »Anthropologische und ethnographische Übungen mit Berücksichtigung der Photographie und anderer Reproductionsmethoden« anbot. Zur Photographie vgl. Martin Brauen (Hg.), Fremden-Bilder, Zürich 1982; Klaus Pohl (Hg.), Ansichten der Ferne. Reisephotographie 1850 - heute, Giessen 1983; Markus Schindlbeck (Hg.), Die ethnographische Linse, Berlin 1989; Elizabeth Edwards (Hg.), Anthropology and Photography, 1860-1920, New Haven 1995.

(20) Zu dieser freilich etwas pauschalen Einteilung vgl. auch Thomas Theye, Eine Reise in vergessene Schränke. Anmerkungen zu Fotosammlungen des 19. Jahrhunderts in deutschen Völkerkundemuseen, in: Fotogeschichte 5 (1985) 17, S. 3-20.

(21) Bordier, Revue anthropologique, 1879, zit. in: Abraham Adolf Baer, Der Verbrecher in anthropologischer Beziehung, Leipzig 1893, S. 338.

(22) Adolf Bastian, Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen, Berlin 1881; wiederabgedruckt in: C. A. Schmitz (Hg.), Kultur, Frankfurt/M. 1963, S. 62.

(23) Vgl. etwa Wilhelm Hausensteins flammendes Plädoyer: Von ethnographischen Sammlungen, in: Die weißen Blätter 1 (1913/14), S. 252-255.

(24) So ist es kein Zufall, daß Alois Riegl gerade aus der Beschäftigung mit orientalischen Teppichen mit dem Begriff des Kunstwollens den Gedanken zeit- und kulturspezifischer Grundlagen der Kunst entwickeln konnte - eine Überlegung, die Karl Mannheim wie auch Erwin Panofsky weiterentwickelten in ihren jeweiligen Theorien zur weltanschaulichen Bedingtheit der Interpretation kultureller Äußerungen. Weitere Kunsttheorien, für welche die Bedeutung des Kontaktes mit außereuropäischen Kulturen zu untersuchen wäre, sind u.a. die expressionistischen Arbeiten Wilhelm Worringers und Carl Einsteins; aber auch die den engen kunsthistorischen Rahmen sprengende Kulturtheorie Aby Warburgs.

(25) Hermann Hesse, Jubiläumsausgabe. Frankfurt/Main 1977, Bd. IV, S. 108.

(26) Vgl. Klaus R. Scherpe, Die Wahrnehmung des Fremden 1914/17. In: Weimarer Beiträge 39 (1993), S. 485-498.

(27) Robert Musil, Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films (1925). In: Gesammelte Werke, hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek 1978, Bd. II, S. 1137-1154, hier: S. 1139.

(28) Die berühmte Flußfahrt des Francisco de Orellana, der 1542 den Amazonas als erster bis zur Mündung befuhr, setzte die auch von Döblin aufgegriffenen Mythen der »Amazonen«-Frauenvölker in Umlauf, die dem Strom den Namen gaben.

(29) Zu den von Döblin verwendeten Quellen und zu seinem Schreibverfahren der Umkehrung des ‘fremden Blicks’ vgl. meinen Aufsatz: Land der Zukunft oder verlorenes Paradies. Brasilien im Blick der Exilautoren Alfred Döblin und Stefan Zweig. In: kultuRRevolution Nr. 32/33 (1995): Traurige Tropen – Exotismus, S. 65-68.

(30) Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen. Frankfurt/Main 1978, S. 241.

(31) Vgl. Aby Warburg, Schlangenritual. Ein Reisebericht. Berlin 1988.

(32) Vgl. Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926, 292ff.

(33) Kafkas Sehnsucht, »aus den Bureaufenstern Zuckerrohrfelder oder mohammedanische Friedhöfe zu sehn«, ist, wie Antony Northey dargestellt hat, besonders von den Berichten seines Madrider Onkels Alfred Löwy und dessen jüngeren Bruders Joseph inspiriert (Kafkas Mischpoche. Berlin 1988, S. 11). Joseph war in den 1880er Jahren für eine französische Gesellschaft am (aufgrund einer Korruptionsaffäre dann abgebrochenen) Bau des Panamakanals beteiligt, später in Belgisch-Kongo als Chefbuchhalter bei der Eisenbahngesellschaft; im Oktavheft B nimmt Kafka auf die Erzählungen des Onkels Bezug. Über die Arbeitsbedingungen beim Bahnbau im Kongo war zu erfahren, daß die Schwarzen, die zum Einsatz aus angrenzenden Ländern herbeigeschafft und wie Sklaven behandelt wurden, sich den abfahrenden Dampfern nachwarfen in den Fluß, in der Hoffnung, aufgefischt und nach Hause gebracht zu werden (Northey, op. cit., S. 23).

(34) Im deutschen Kolonialamt war eigens ein Ressort für Deportationsfragen eingerichtet worden. Man schickte 1909/10 zu Informationszwecken den jungen Kriminalisten Robert Heindl zu den Strafkolonien u.a. in Neukaledonien, Australien und China. Sein Bericht Meine Reise nach den Strafkolonien erschien 1912 im Ullstein-Verlag, war also offenkundig für einen größeren Leserkreis gedacht; daß Kafka dieses Buch kannte, darf vermutet werden, zumal einige Kapitel im Vorabdruck in der Prager Tageszeitung Bohemia erschienen waren - unter der Überschrift: »Die Verbrecherinsel« (vgl. Walter Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie« im europäischen Kontext. Stuttgart 1986, S. 81).

(35) Im Tagebuch schreibt Kafka: »Ich heiße hebräisch Anschel wie der Großvater meiner Mutter von der Mutterseite, der als ein sehr frommer und gelehrter Mann mit langem weißem Bart meiner Mutter erinnerlich ist, die sechs Jahre alt war als er starb. Sie erinnert sich, wie sie die Zehen der Leiche festhalten und dabei Verzeihung möglicher dem Großvater gegenüber begangener Verfehlung erbitten mußte«. (Tagebücher 1909-1912, hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main 1994, S. 247) »Diese Stelle verdeutlicht eindringlich, wie fremd und fern das traditionelle Judentum den jungen säkularen Juden [...] geworden ist. Der Ritus wird nicht mehr verstanden und aus einem fast ethnologischen Blickwinkel beschrieben.« (Martin Ritter, Rezension zu K. E. Grözinger, Kafka und die Kabbala, in: Das Argument Nr. 209 (1995), S. 408-410, hier: S. 409.)

(36) Franz Kafka, Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main 1994, S. 188.

(37) Hubert Fichte, Die Geschichte der Nanã. Frankfurt/Main 1990, S. 53.


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