Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2. Nr. November 1997

Tätigkeit des Lehrstuhls für Weltliteratur an der Universität L’viv (Lemberg) im Kontext von allgemeinen Prinzipien und Traditionen des Unterrichtens von Geschichte und Theorie der Literatur

Viktoria Sljusarenko (L’viv/Lemberg)

Die Geschichte unseres Lehrstuhls beginnt 1944 mit der Erneuerung der Vorlesungen an der Universität L’viv (Lemberg). Damals hieß er "Lehrstuhl der westlichen Literaturen" und war an die philologische Fakultät angeschlossen. Seit 1948 wurde er "Lehrstuhl für ausländische Literaturen" genannt.

Zu der Zeit leitete ihn Oleksij Tschytscherin – einer von den letzten Vertretern der alten russischen Aristokratie. Nach der Absolvierung der historisch-philosophischen Fakultät der Moskauer Universität 1922 unterrichtete er an verschiedenen Moskauer Schulen und veröffentlichte seine erste wissenschaftliche Arbeiten über die "Kultur des Wortes in der Schule", "künstlerische Erziehung" und Literatur als Kunst des Wortes". Seine Veröffentlichungen beziehen sich auf verschiedene Gebiete der Humanitären Wissenschaft: Pädagogik, Methodik und Literaturwissenschaft. Das Vereinigungselement für alle diese Veröffentlichungen ist ein großes Interesse für das Wort.

Zu der Zeit der Sowjetsrepressionen wurde die fruchtbare Arbeit des Wissenschaftlers zwangsmäßig unterbrochen. Er verbrachte vier Jahre in einem stalinistischen Lager in Sibirien. Danach wechselte er die Arbeitsplätze an mehreren Hochschulen und setzte seine wissenschaftliche Forschung fort. 1945 bestand er die Promotionsprüfung. Seine Doktorarbeit hieß: "Die Entstehung vom Roman in Rußland und im Westen um die Wende vom XVIII zum XIX Jahrhundert". 1946 wurde Tschytscherin wieder verfolgt und zog dann nach Lemberg um, wo er die letzten 43 Lebensjahre verbrachte.

Die Lemberger Periode erwies sich als die produktivste Zeit in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Schon in den ersten Jahren seines Aufenthalts in L’viv arbeitete er mit mehreren ukrainischen, russischen und polnischen Verlagen zusammen. 1957 habilitierte Tschytscherin mit seiner Dissertation "Die Roman-Epopöe in der Literatur des kritischen Realismus". 1958 wurde diese Arbeit als einheitliches Buch "Die Entstehung von der Roman-Epopöe" veröffentlicht. In den nächsten Jahren erschienen nacheinander in Moskauer Verlagen die Bücher "Ideen und Stil", "Rhythmus einer Gestalt", "Studien zur Geschichte des russischen Literaturstils", die zusammen mit seinen anderen Werken zu einer Grundbasis für die literaturwissenschaftliche Schule der Erforschung des Autorenstils geworden sind.

Diese Schule wurde 1968 als ein konstantes Seminar für Stilistik-Probleme an der Fakultät für Fremdsprachen gegründet. An diesem Seminar waren viele Wissenschaftler, Lektoren und Doktoranten von verschiedenen Hochschulen der Ukraine beteiligt. Das Seminar wurde zu einer richtigen Schule für die Vorbereitung der Fachleute im Unterrichten von Literaturgeschichte. Der Lehrstuhl für ausländische Literaturen wurde zu einem wichtigen wissenschaftlichen Zentrum der Studien über die Probleme der Literaturwissenschaft.

Im Rahmen von diesem Seminar stellte Dr. Tschytscherin seine Ideen über die Einheit von Mikroelementen des Stils in der Makrostruktur des Werkes, über die Besonderheiten der Komposition, über die stilistische Bedeutung von den grammatischen Formen, über die "versteckte Macht des Wortes" für das Verstehen des allgemeinen Werkkonzeptes dar.

Er verfügte über eine hohe Kultur der Textanalyse, die auf einem einheitlichen Verständnis basierte, und bei der das intuitiv-künstlerische Wahrnehmen als Ausgangspunkt diente. Der Zusammenhang vom Ganzen, Einzelnen und Intuitiven bei der Erfassung von einem Literaturwerk war ein von den interessantesten und wenig erforschten Problemen der Literaturwissenschaft und der Stilistik.

Die Texte von den mehr als 180 schriftlichen wissenschaftlichen Arbeiten von Tschytscherin bilden ein reiches Material nicht nur für die weiteren Erforschungen, sondern auch für das Erlernen des Phänomens von Oleksij Tschytscherin.

Die Vielseitigkeit der erforschten stilistischen Probleme beeindruckt den Leser: das Zeitbild in der Dichtung, der Rhythmus einer Gestalt in Prosa, die Fragen der Entwicklung und der Produktivität des Stils, angefangen von der altrussischen Literatur bis zu unserer Zeit, sowie die ausführliche Analyse der Meisterschaft von Wortkünstler der Weltliteratur.

Die Studenten von Tschytscherin haben einen einmaligen Eindruck von seinen Vorlesungen in Erinnerung. Die hervorragende Intelligenz und Begabung zum assoziativen Denken im Kontext des weltweiten literarischen Prozesses, Lektorentalent und die Farbigkeit seiner Redeart, das vollkommene Kennen des tatsächlichen Materials und individuelle Interpretation, schließlich auch das auswendige Vorlesen des konkreten Textes – dadurch zeichneten sich die glänzenden Unterrichtsstunden von Tschytscherin aus.

Tschytscherin und seine Nachfolger waren Begründer der Unterrichtsprinzipien und Traditionen des Lehrstuhls für die Literaturgeschichte in Lemberg und auch an vielen anderen Hochschulen. Einige Unterrichtsprinzipien möchte ich Ihnen vorführen:

  1. Jede Vorlesung verlangt gewisse Hingebung: starke Konzentration, Aufmerksamkeit und einen inneren Aufschwung. Der Lektor soll bereit sein, kreativ zu arbeiten und Neues zu entdecken. (Er kommt zwar vorbereitet zur Vorlesung , hält sich aber nicht starr an seinem Vorlesungsplan).
  2. Das wichtigste in der Geistesrichtung des Lektors ist die recht herzliche Zuwendung und Liebe zum Auditorium, eine Absicht mit ihm zusammen mitzudenken. Eben deshalb kann man nicht eine Vorlesung, d.h. die Kommunikation mit einer lebendigen und aktiv denkenden Person durch ein Lehrbuch ersetzen.
  3. Die Hauptaufgabe einer Vorlesung besteht nicht in der Mitteilung bestimmter Informationen, sondern darin, die Zuhörer zu der notwendigen Gedankenfolge zu bringen und ein selbständiges Denken bei Ihnen zu erwecken.
  4. Man muß bei den Zuhörern folgende Eigenschaften formieren:
    * wirksame Wahrnehmung eines poetischen Textes;
    * Historismus des Verstehens der Gesetzmäßigkeit des Literaturprozesses und vom Platz jedes einzelnes Werkes in dem allgemeinen Panorama der Geschichte und Literaturgeschichte;
    * Solches Verstehen einer literarischen Gestalt, in dem ein direkter Übergang nicht nur von der sozialen Wirklichkeit zur Kunst, sondern auch umgekehrt von der Kunst zum Begreifen des realen Lebens.
  5. Eine vertiefte und wirksamen Wahrnehmung eines Werkes ist am besten mit einer konkreten Analyse zu erreichen, mit dem Vorlesen von bestimmten Episoden des Werkes. Bei jedem, der es gelesen hat, soll die Vorlesung eine neue Stellung zum Werk erwecken, aber auch dem, der es nicht gelesen hat, muß alles verständlich sein. In dem Fall soll die Vorlesung den Wunsch, dieses Werk zu lesen, erwecken.
  6. Die Spitze der Analyse eine poetischen Gestalt soll dem Auditorium gerecht werden: Der Lektor spricht nicht nur über Balzac oder Bredel, über ihre Personagen, sondern auch über diejenigen, die ihm zuhören. Nur die Vorlesung ist gelungen, die persönlich jeden von den Zuhören berührt. Nicht nur Nachrichten mitteilen, sondern das Auditorium beeinflussen, sein Selbstbewußtsein wachsen lassen - das ist die Hauptaufgabe einer Vorlesung. Kommunizieren mit dem Auditorium ist das wichtigste in ihr.

In den Jahren der Leitung von Prof. Tschytscherin wurde im Lehrstuhl ein allgemeiner Kurs von Vorlesungen über die ausländischen Literaturen erarbeitet. Er wird mit einer Einführung in die Literaturwissenschaft eingeleitet (als Vorbereitung und Grundlage für Literaturstudien). Danach kennzeichnet er sich durch den systematischen Charakter und Chronologie und schließt sich im 5. .Studienjahr mit Vorlesungzyklus in der Theorie der Literatur ab.

Jede Periode wird von verschiedenen Fachleuten vorgetragen.

Die Kurse beginnen mit der antiken Literatur an, danach folgen das Mittelalter, die Renaissance, das XVII., XVIII., XIX. Jahrhundert bis zu unseren Tagen. Die Literaturentwicklung wird als unaufhörlicher Prozeß gesehen. Die Einbeziehung der Literaturen verschiedener Nationen erfordert ihre Gegenüberstellung und Aussonderung von gemeinsamen und unterscheidenden Merkmalen, die mit den kulturellen Traditionen und historischen Umständen verbunden sind. Zu klären sind auch die Wechselwirkungen, die jede von ihnen in die allgemeine Entwicklung sowohl der Literatur als auch der Literarturwissenschaft eingebracht hat. So legt man ein Fundament, man schafft ein Gerüst, auf dem man in der Zukunft selbständig die Literaturstudien bauen kann, jedes Werk in den nationalen und Weltkontext einordnend. So entsteht der Historismus als methodologisches Prinzip.

Hierfür wurde ein bestimmter Standard für die Materialauswahl erarbeitet. Als traditionelle Bestandteile für solche Kurse gelten die deutsche, englische, französische, amerikanische ( ab dem 19.Jh.) Literaturen und in den bestimmten Abschnitten — österreichische, italienische, spanische, norwegische, belgische, tschechische, polnische und anderen Literaturen.

An der Fakultät für Fremdsprachen werden außer diesem allgemeinen noch die Vorlesungskursen über die einzelnen nationalen Literaturen (je nach der zu erlernenden Sprache) und sogenannten Sonderkurse und Sonderseminare vorgetragen. Ihre Thematik hängt von den wissenschaftlichen Interessen der Lektoren ab. Zur Zeit gibt es im Lehrstuhl für Weltliteratur der Iwan-Franko-Universität Lviv folgende :

 

SONDERSEMINARE :

  1. Die Methodik und Praxis einer Kunstwerksanalyse (W. W. Dmytruk)
  2. Die Kunstwerksanalyse im Aspekt des Zeit-Raumes (N. Ch. Kopystjanska, S. P. Fiskowa)
  3. Die Methodologie einer wiss. Forschungsarbeit (Methodik und Praxis des Schreibens von Semesterialarbeiten)(alle Lektoren)

 

SONDERKURSE:

  1. Die Gattungstypologie des modernen österreichischen Romans (S. P. Fiskowa)
  2. Die Literaturrichtungen und literaturwissenschaftliche Theorien und Schulen des 19. und 20. Jh. (N. Ch. Kopystjanska)
  3. Die Geschichte der französischsprachigen Literaturen (J. I. Krawetz)
  4. Die Entwicklung des amerikanischen Romans in der Zeit zwischen beiden Weltkriegen (W. W. Dmytruk)
  5. Die Hauptrichtungen der Entwicklung des englischen Romans der 60-90er Jahren der 20 Jh. Die Probleme der Methode und der Gattung (A. M. Hawryluk)
  6. Welt- und Menschmodelle in der französischen Literatur des 20. Jhs. (O. M. Kamajewa)
  7. Spanische Dramaturgie des «goldenen Jahrhunderts» (16. - erstes Drittel des 17. Jhs.) (G. L. Rubanowa)

Für das Unterrichten im Großen und Ganzen existieren bestimmte allgemeine Normen, Traditionen und Programme , aber da der Lehrstuhl für Weltliteratur 5 verschiedenen Fakultäten bedient (Fremdsprachen, Journalistik, philologische, philosophische und für internationale Beziehungen), gilt für jede eine eigene Unterrichtsspezifik und Fachunterordnung. Zum Beispiel wird an der Journalistikfakultät besondere Aufmerksamkeit der Publizistik geschenkt, an der philosophischen Fakultät der Verbindung zur philosophischen Modellen und Systemen usw.

Gerade an den letzten ist zur Zeit Interesse gestiegen, sowie für solche Erscheinungen wie Modernismus und Postmodernismus, die früher verbotent waren.

Immer noch nicht ausreichende, aber bedeutend größere Aufmerksamkeit schenkt man heute der österreichischen Literatur, die früher, leider, in unseren Lehrbücher nur mit einzelnen Autoren der 19.-20. Jh. vertreten war. Heute ist der obenerwähnte Seminar "Die Typologie des modernen österreichischen Romans" von Dr. Fiskowa unter den Studenten-Germanisten sehr populär geworden. Sie publizierte auch etliches über die Verbindung der Literatur und Musik. Unter den anderen über die "Musikalische Architektonik und das System von Leitmotiven im Roman von H. Broch "Die Unschuldigen" und die "Musikalische Zeit im Roman von F. Werfel "Verdi. Roman einer Oper".

Frau Prof. Kopystianska, die auf unserer Konferenz anwesend ist, hat sich längere Zeit mit dem Schaffen von Franz Kafka beschäftigt und einige wissenschaftliche Studien über ihn veröffentlicht. Z.B. "Die Besonderheiten der Funktion von räumlichen Details bei Franz Kafka".

Frau Prof. Kopystianska führt die wissenschaftliche Betreuung für mehrere Studenten, Aspiranten und Dissertanten durch. Unter den anderen für Dissertation von Aspirantin Laryssa Zybenko "Der Mythus, Raum und die Zeit im Roman von Christoph Ransmayr 'Die letzte Welt'" und für meine zukünftige Studie über Autorschronotop in der "getarnten Autobiographie" von Stefan Zweig "Erasmus von Rotterdam".

Wie Sie wohl gemerkt haben, sind hier oft die Begriffe von Zeit-Raum oder Chronotop aufgetaucht. Und nicht umsonst, weil sie neben den Fragen der Genologie und Aspekten der Genreforschung den größten Platz in der wissenschaftlichen Arbeit von Frau Prof. Kopystianska nehmen. Sie hat mehrere Schüler und Nachfolger, man kann heutzutage über das Schaffen von einer Schule für die Studien über Genre, Genresystem von Zeit und Raum in den theoretischen, historischen und methodologischen Aspekten sprechen. Diese Schule wird immer breiter und überschreitet bereits den Rahmen der Iwan-Franko-Universität. Nach den Gastvorlesungen von Frau Prof. Kopystianska in den Universitäten von Moskau (Rußland), Bern (Schweiz), Pscheschow (Slowakei), Brno (Tschechei) hat sich eine Gruppe von Wissenschaftlern gebildet, die sich mit den Problemen des Zeit-Raumes beschäftigen. Das Ziel des Projektes ist der Austausch von Problemen, von bibliographischen Daten und das Schaffen eines Wörterbuches der von Wissenschaftlern benutzten Begriffe. Diese Schule ist offen für alle, die zusammenarbeiten möchten, und das System des Internet wird sehr hilfreich dabei sein.

Wie gesagt, der Lehrstuhl für Weltliteratur der Lviver Iwan-Franko-Universität versucht immer, seine Tätigkeit zu erweitern und hofft auf die neuen Möglichkeiten und Ideen, die eventuell im Rahmen dieser Konferenz entstehen.

© Viktoria Sljusarenko (L’viv/Lemberg)

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