Alfredo Bauer (Buenos Aires)
Die Nation ist kein mystischer, kein "rassischer" und überhaupt kein "idealer" Begriff, sondern nach dem historischen Materialismus zu definieren als "stabile, historisch entstandene Gemeinschaft von Territorium, Sprache und gemeinsamer Kulturausrichtung". "Historisch entstanden", ist ihre "Stabilität" freilich relativ; sie hat ihren Anfang und ihr Ende. Jede nationale Diskriminierung und Unterdrückung müssen wir bekämpfen. Doch widersetzen wir uns dem natürlichen Schwinden nationaler Sprachen durchaus nicht, sofern es auf der Grundlage der Gleichheit geschieht, von allen Seiten alles Wertvolle eingebracht wird und so eine im historischen Sinne höhere Einheit entsteht. Jedenfalls ist es stets die erste Regel, an die nationale Frage wissenschaftlich und nicht gefühlsmäßig heranzugehen. Ohne gemeinsame Sprache gibt es keine konstituierte Nation. Hingegen, das braucht in Lateinamerika nicht erklärt zu werden, gibt es verschiedene Nationen mit gemeinsamer Sprache. Etwa auch die Irische: Kein Ire wird sich, weil er englisch spricht, als Engländer bezeichnen. Ganz zu schweigen von den USA-Bürgem. Und wenn in Lateinamerika gerade die patriotischsten, klarsichtigsten Menschen das Gemeinsame herauszuarbeiten versuchen: eine gemeinsame lateinamerikanische Nation gibt es heute dennoch nicht, wenn auch vielleicht das Hineinwachsen in eine solche im Bereich des Möglichen liegt.
Die objektive Existenz einer Nation ist nicht das Gleiche wie ihre Konstituierung als souveräner Staat; doch steht das eine mit dem anderen in einer dialektischen Beziehung. Was das subjektive Nationalgefühl betrifft, so geht sein Entstehen fast immer der staatlichen Konstituierung voraus, oder es erfolgt im Zuge des Kampfes um die politische Unabhängigkeit. Daß das Nationalbewußtsein erst nach der Bildung eines souveränen Staatswesens entsteht, ist eine sehr seltene Ausnahme. Dies aber ist gerade bei Österreich der Fall gewesen.
Die deutsche Revolution 1848-49 hatte "großdeutschen" Charakter, das heißt, sie schloß Österreich mit ein, und wäre sie siegreich gewesen, so wäre das Volk Österreichs in einer republikanisch konstituierten deutschen Nation aufgegangen. Aber die Revolution endete mit einer Niederlage. Die nationale Zersplitterung wurde erst zwei Jahrzehnte später in Bismarcks "Revolution von oben" unter Preußens Führung überwunden.
Diese Lösung der nationalen Frage war "kleindeutsch", das heißt, sie schloß Österreich nicht mit ein. Es blieb der multinationale Donaustaat als konstitutionelle Monarchie bestehen. Vom Ursprung her durchaus kein "künstliches", rein dynastisches Gebilde, da der Zusammenschluß jener Völker ja zum gegenseitigen Schutz gegen die Türkengefahr erfolgt war, Aber in der zweiten Hälfte des XIX. und am Anfang des XX. Jahrhunderts, nachdem diese Gefahr längst vorbei war und die Gegenoffensive nach Osten schon vor fast 200 Jahren eingesetzt hatte, war der Donaustaat - in dieser Form wenigstens - jedenfalls ein Anachronismus. Die Umwandlung in eine freiwillige Föderation freier Völker, wie sie Dr. Adolf Fischhof, einem der Führer der Achtundvierziger-Revolution, den Führern der tschechischen Nationalbewegung Frantisek Palacky, Frantisek Rieger und Thomas G. Masaryk sowie auch Dr. Viktor Adler, dem bedeutendsten Führer der Wiener Sozialdemokratie vorschwebte, lag durchaus im Bereich des Möglichen. Aber aus einigermaßen komplizierten Gründen war nicht nur die Wiener liberale Bourgeoisie, sondern auch die Sozialdemokratie "deutsch" orientiert und also zu einer echt demokratischen Lösung der nationalen Frage nicht bereit. So wurde diese historisch gegebene, an sich höchst vielversprechende Gelegenheit vertan. Der große Donaustaat brach zusammen und spaltete sich in viele kleine, der imperialistischen Bedrohung gegenüber wehrlose Nationalstaaten.
Einer von diesen war das Gebiet, das von Österreich übrigblieb, 84000 km2 mit einer Bevölkerung von etwas mehr als sechs Millionen Einwohnern deutscher Muttersprache.
Sie waren "ein Volk", ein souveräner Staat geworden, nicht weil sie es gewollt oder auch nur das Mindeste dazu getan, sondern weil es die Umstände und zumal die Großmächte, die aus dem Ersten Weltkrieg als Sieger hervorgegangen waren, so gefügt hatten. Als ein Staat ohne Staats- und Nationalbewußtsein. Die beiden großen Meinungsströmungen lehnten dieses Gebilde prinzipiell ab. Die katholischen Bauern und Kleinbürger trauerten der großen Monarchie nach, in der sie "das Staatsvolk" gewesen waren. Und die Sozialdemokratie, die die Arbeiterschaft vertrat, verlangte die Eingliederung ins Deutsche Reich, wo immerhin eine Revolution im Gange war und große Teile des Volkes in Richtung auf eine soziale Umgestaltung in Bewegung geraten waren.
Später erarbeitete die kleine Kommunistische Partei Österreichs die gut fundierte These einer österreichischen Nation. Das Hauptverdienst gebührt hiebei Alfred Klahr und Ernst Fischer. Es wurde dabei die historische Entwicklung berücksichtigt, zumal die Nichterfüllung "gesamtdeutscher" Gegebenheiten mit demokratisch-fortschrittlicher Ausrichtung in und nach der Achtundvierziger-Revolution sowie das Erstarken des deutschen Imperialismus und seines "Dranges nach Osten", dem eine "deutsche Ausrichtung" Österreichs nur nützen konnte. Inzwischen entwickelte sich auch bei den konservativ-katholischen Massen ein gewisses Nationalbewußtsein, das allerdings sehr von reaktionärer Ideologie geprägt war und später dem "Austrofaschismus" seine soziale Grundlage gab.
Die sozialdemokratische Partei ging verhängnisvollerweise von ihrer deutschen Ausrichtung nicht ab. Erst als in Deutschland Hitler an die Macht kam, gab sie die provisorische, nicht prinzipielle Losung aus, daß die Unabhängigkeit Österreichs zu verteidigen sei.
Diese halbherzige Position der bedeutendsten Kraft der Linken in der nationalen Frage war ein Ausdruck jenes schwachen Nationalbewußtseins, von dem wir gesprochen haben, und sie behinderte zugleich auch seine weitere Stärkung. Wohl gelang es unmittelbar vor Hitlers Überfall große Massen besonders von Arbeitern zur Verteidigung der Unabhängigkeit zu mobilisieren. Als Österreich aber besetzt war, erklärte Dr. Karl Renner, der Haupttheoretiker der Sozialdemokratie in der nationalen Frage, er werde bei der von den Nazis organisierten Volksabstimmung mit einem "freudigen Ja", also für den sogenannten "Anschluß" stimmen.
Es läßt sich leider auch nicht leugnen, daß in Österreich der antifaschistische Widerstand verhältnismäßig schwach war. Hingegen nahmen an den Kriegsverbrechen der Nazis verhältnismäßig viele Österreicher teil. Und selbst die Befreiung durch die Alliierten empfanden große Teile der Bevölkerung durchaus nicht als solche, sondern vielmehr als "Besetzung" durch feindliche Truppen, als unverschuldetes Unrecht infolge der "Niederlage".
Also wiederum die nationale Unabhängigkeit als "von außen oktroyiert" empfunden! Aber freilich entwickelte sich nun doch zum Unterschied zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein österreichisches Nationalbewußtsein in die Breite und in die Tiefe. Seine Wurzeln sind ebenso vielfältig wie in sich widerspruchsvoll. Positiv zu werten ist der Stolz auf eigene Leistung. Nach der Erfahrung des Aufbaus einer Struktur des allgemeinen Wohlstandes konnte die These von der "Lebensunfähigkeit Österreichs" allerdings nicht mehr aufrechterhalten werden. Eindeutig negativ aber ist die Tendenz, sich durch "nationale Absonderung" von der Mitschuld am Nazi-Krieg zu drücken: "Wir sind ja keine Deutschen, haben also nichts Böses getan, sondern vielmehr Böses erlitten wie alle andern Völker Europas".
Ich halte dennoch den Umstand, daß es heute ein österreichisches Nationalbewußtsein gibt, für gut, recht und nützlich, nicht nur für die österreichische Nation selbst, sondern für Europa.
Wo allerdings jetzt tragische Auseinandersetzungen zu erwarten sind, deren Ausmaß und Verlauf wir noch gar nicht absehen können.
Wir müssen nun darauf hinweisen, daß die österreichische National-Literatur wesentlich älter ist als dieses so schwer mit so viel Widersprüchen zustandegekommene Nationalbewußtsein. Ist das ein weiteres Kuriosum? Ich glaube nicht. Die Kunst entspringt letzten Endes viel unmittelbarer den objektiven Gegebenheiten als das Bewußtsein. Sie kann ihrer Tendenz nach mit dem Bewußtsein, auch dem des schaffenden Künstlers selbst, völlig im Widerspruch stehen, wie es u.a. auch Karl Marx am Beispiel Balzac überzeugend bewiesen hat.
In Österreich sind solche Beispiele besonders häufig. Wir haben unter anderem den großen Grillparzer, als Mensch und Bürger eindeutig konservativ, man könnte sagen "reaktionär" orientiert (er sang schließlich auch Lobeshymnen auf den Marschall Radetzky, einen der Henker der Revolution von 1848), nach der Tendenz seiner Dichtung jedoch Wortführer humaner Emanzipation und einer höheren, historisch vorwärtsgewandten Sittlichkeit.
Was die nationale Frage betrifft, können wir ein klassisches Beispiel beibringen. Der Schriftsteller Karl Emil Franzos (1848-1904) hielt sich für "einen Deutschen" und war nicht nur politisch ein aktiver Kämpfer für eine "großdeutsche Ausrichtung", sondern er leugnete auch in seinen theoretischen Schriften die Existenz einer österreichischen Literatur und ebenso die kulturelle und nationale Identität der geschichtslosen Völker" des Ostens. In seinen Erzählungen hingegen schilderte er meisterhaft das farbige Milieu jener Völker und erbrachte so gegen seine subjektive Überzeugung den Beweis ihrer legitimen Identität.
Heute könnte kein vernünftiger Mensch - zumindestens vom XIX. Jahrhundert an - die Existenz einer eigenen österreichischen Nationalliteratur leugnen. Sie in die deutsche einzuordnen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Im Grunde gilt das ja schon für das Jesuiten-Theater und für die Volksstücke des XVII. und XVIII. Jahrhunderts. Und natürlich ist das Biedermeier am Anfang des XIX. Jahrhunderts eine typisch österreichische Erscheinung. Und man mußte schon ein ideologisches Faktotum sein wie Professor Josef Nadler, der Literatur-Papst der Nazis in Wien, um 1943 in Ferdinand Raimunds Märchenspielen das Urbild und die Wurzel eines "deutschen Theaters" zu entdecken.
Diese Leute hatten es ja wirklich schwer. Wo sollten sie denn den Ursprung des deutschen Theaters suchen und finden? Bei Lessing, Goethe und Schiller etwa? Da hätten sie doch einen weltweiten Humanismus mit in Kauf nehmen müssen, der nach der Nazi-Doktrin doch "undeutsch" war. Allein der Kleist, den sie freilich auch verfälschen mußten, konnte ihnen da einigermaßen taugen. Doch reichte er freilich nicht aus. Da nahmen sie eben den Raimund, den sie allerdings, was sie bei Grillparzer gar nicht erst versuchten, weidlich verharmlosten. So sah das Ganze dann auch aus. Wenn man heute die damaligen Tiraden Nadlers hernimmt, so wirken sie einfach lächerlich.
Aber auch später haben die deutschen Wissenschafter, selbst die seriösen und fortschrittlich orientierten, mit der österreichischen Literatur kaum etwas anzufangen gewußt, da sie ihr den Charakter einer eigenen National-Literatur eben meist nicht zuzugestehen bereit waren.
Mit vollem Recht hält Erich Kästner es für charakteristisch, daß das großartige deutsche Theater so gut wie keine Komödien aufweist. Er erklärt damit implizit, daß Johann Nestroy nicht zur deutschen Literatur gehört. Wie denn auch? Ein solcher Riese, der dem Molière, dem Aristophanes durchaus ebenbürtig ist! Und dabei in Sujet und Stil so lokalgebunden, daß der Sinn seiner Stücke wohl noch leichter in Ländern mit einer anderen Sprache "ankommt" als in Deutschland. Man könnte da durchaus das Bonmot prägen, daß sich die deutsche und österreichische Dramatik vor allem durch die gemeinsame Sprache voneinander unterscheiden. Für Anzengruber gilt fast in gleichem Maße das Gleiche.
Dasselbe trifft auf das "kultivierte Theater", auf Prosa und Lyrik ebenfalls zu, wenn es vielleicht auch nicht so sehr in die Augen springt wie beim "Volksstück". Grillparzer, Stifter und Lenau, Stefan Zweig und Schnitzler sind kaum mit Dichtern in Deutschland zu vergleichen. Karl Kraus und Hugo von Hofmannsthal, Anton Wildgans und Karl Schönherr noch weniger. Und wenn man es tut, dann ist es nur "in Gegenüberstellung" möglich, das heißt, daß der "nationale" Unterschied nur noch deutlicher wird. Ganz zu schweigen von Alfred Polgar und Peter Altenberg, von Theodor Kramer und Ernst Waldinger, von Franz Werfel, Josef Roth und Ernst Lothar, von Robert Musil und Jura Soyfer.
Selbst Josef Weinheber, ein bewußter, organisierter Nazi und dennoch - vielleicht das einzige Exemplar dieser Gattung! - ein bedeutender Dichter, ist - wider Willen gewiß! - keineswegs "deutsch", sondern durchaus "österreichisch".
Was die Schriftsteller der Gegenwart anbelangt, gilt allerdings dasselbe. Aber es fällt doch nicht mehr so auf. Weil ja jene absurde Bresche nunmehr geschlossen, jenes tragische historische Versäumnis überwunden und das nationale Bewußtsein auch in Österreich entsprechend entwickelt und ausgeprägt ist.
Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr.2/1996. S. 25-27.
Anmerkungen:
* Gekürzte Fassung eines Vortrages, den Alfredo Bauer im Rahmen eines Spezialkurses über Österreichische Literatur an der Fakultät für Moderne Sprachen an der Universität Ricardo Palma, Uma, Peru am 1. August 1994 hielt.
Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 26.11.1999