Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. September 1999

Die literarische Charaktergestaltung im Österreichischen Roman der 1930er Jahre (Musil, Broch, Canetti)

Alexandr W. Belobratow (St. Petersburg)

Im Romanwerk der österreichischen Schriftsteller zwischen zwei Weltkriegen im allgemeinen und in Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", Hermann Brochs "Schlafwandler" und Elias Canettis "Blendung" im besonderen, also in den Büchern, die in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre verfaßt bzw. gedruckt wurden und wesentliche Züge in der Entwicklung der europäischen Welt und des europäischen Menschen in einem begrenzten und doch überaus inhaltsreichen und schicksalhaften historischen Zeitraum darstellen, scheint das Problem der literarischen Charakterschilderung nicht ohne Interesse zu sein, wobei die besondere Aufmerksamkeit nicht nur auf die Herausbildung der literarischen Kunstgriffe und Erzählstrategien in der Gestaltung eines fiktionalen Charakters, sondern auch auf deren Symbiose und Verflechtung mit der ethischen Orientierung der österreichischen Romanciers, ihrer Überempfindlichkeit in Sachen der moralischen Selbstbestimmung des Individuums und der Gesellschaft, ihrem "Lebensgefühl" gelenkt werden soll.(1)

Lidija Ginzburg, die in ihrem Buch das Problem der literarischen Charaktergestaltung allseitig analysiert, hebt plausibel die grundlegende Rolle der ethischen Komponente in der Literatur hervor, wobei die Forscherin auch auf die gestaltende Funktion der ethischen Orientierung, auf deren Einwirkung auf die Herausbildung des künstlerischen Modells des Charakters im literarischen Text hinweist: "Die Eigenschaften einer literarischen Figur gehen durch das Prisma der Ethik hindurch."(2)

Im österreichischen Roman der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wird die ethische Grundhaltung von vielen Autoren als dominierend aufgefaßt, als andere Eigenschaften eines Kunstwerks übersteigend ("Kunst als ästhetischer Genuß", "Kunst als Spiel", "Kunst als dargestellte Realität" usw.). Franz Kafka hat mit zwanzig Jahren in einem Brief an seinen Freund mit einer fast krankhaften Überspitztheit jene Einstellung zur Literatur formuliert, die seine literarische Generation im allgemeinen vererbt hatte:

Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben.
Wir brauchen Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.
(3)

Robert Musil als Rezensent der "Neuen Rundschau", einer der wichtigsten literarischen Zeitschriften in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg, schreibt 1913 noch in einem ganz ironischen Ton über die

literarische Gottessuche auf allen Wegen. Begrifflich allerdings nicht ganz genau genommen, bald ist es Gott, bald die Seele, bald All, Chaos ...; überall aber als das Gemeinsame steigt der neue innere Mensch religiös erweckt aus der Tinte.(4)

Durch die Erfahrungen der welthistorischen Katastrophe von 1914-1918, gefolgt vom Untergang der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, von den revolutionären und gegenrevolutionären Ausbrüchen im Nachkriegseuropa, kommt der österreichische Romancier zur Suche nach "dem Wesentlichen der einzelnen Kunst. ( ... ) Für die Dichtung (und für keine andere Kunst) ist es zum Beispiel in dem Satz gegeben: exempla docent. Lehre in Beispielen."(5) Im dichterischen Bewußtsein von Musil und einigen seiner Zeitgenossen (Broch, Canetti) scheint der Glaube an die moralische Prädestination der Kunst zu dominieren, wobei diese Einstellung die deutliche Hinwendung zur aufklärerischen Literatur und Philosophie aufweist.(6)

Für Broch

(hatte) der Krieg sich als ein sinnloses blutiges Aufeinanderprallen kontradiktorischer Wertsysteme gezeigt, von denen jedes einzelne mit dem Anspruch auf absolute Alleingeltung aufgetreten war; doch dieser Zustand der Wertzerrissenheit und Wertvernichtung war durch den Frieden keineswegs gemildert, sondern eher verschärft worden; sozialistische, nationalistische, konservative Strebungen kämpften chaotisch untereinander und ließen den Abgrund des Blutgrauens ahnen, in weichen die Welt noch weiter gleiten sollte: angesichts solchen Wertzerfalls war es kein Wunder, daß sich das alte Problem der absoluten Werte aufs neue und mit aller Intensität anmeldete.(7)

Diese geistige Situation bewirkt, wie schon oftmals unterstrichen, die ethische Grundorientierung von Brochs Literaturmodell.(8) In der polemisch zugespitzten Verteidigung der ethischen Kunstwerte widerspiegelt sich bei Broch vieles: die Überwindung der Faszination von Ideen der "reinen Kunst" in seinen literarischen Anfängen, Polemik mit der Trivialliteratur, die in den zwanziger Jahren eine besonders gewichtige Rolle zu spielen begann, die Abneigung gegen die literarischen Kreise, die die Ideologie und Ethik der einzelnen sozialen Gruppen, Klassen bzw. Nationen als übergreifend betrachteten und die allgemeinmenschlichen Werte negieren.

In der Sekundärliteratur werden bei der Analyse des literarischen Charakters hauptsächlich zwei besonders verbreitete Zugriffe bei der psychologischen Charakterisierung einer literarischen Figur hervorgehoben: "der typisierende und der individualisierende Psychologismus".(9) Natalja Lejtes weist in ihrem Beitrag auch darauf hin, daß die "Mythologisierung der Psychologie als eine der Möglichkeiten der künstlerischen Erforschung der tiefgreifenden Bindungen von Dingen und Erscheinungen, ihres allgemeinmenschlichen Sinnes"(10) in der Literatur des 20.Jahrhunderts vorherrscht, wobei die psychologische Charakteristik eines literarischen Helden die Züge des Allgemeinen aufweist, in die Schicksale der Menschheit hineinprojiziert wird.

In den charakterologischen Modellen, die von österreichischen Romanciers jener Zeit erzeugt werden, ist die Bestrebung zur Intellektualisierung des Psychologismus besonders hervorzuheben. Eine Menschengestalt wird in ihren Werken in erster Linie als "Gedankengestalt", als "Gedankensystem" (so Musil) präsentiert, das sich eigentlich auf allen Ebenen der Entfaltung und Auffassung des literarischen Helden im Roman, in allen Bestandteilen widerspiegelt, die in ihrer Einheit den literarischen Charakter bilden. Dabei erweist sich die Absage an die platte Wirklichkeitsnachahmung, an die "Lebensähnlichkeit" des literarischen Charakters, an seine Determiniertheit durch äußere Bedingungen als grundlegend. Mit Musils Worten: "Jene Dichter, die auf die komplette Lebendigkeit ihrer Gestalten so großen Wert legen, gleichen jenem etwas umständlichen lieben Gott der Meologen, der den Menschen einen freien Willen verleiht, damit sie ihm den seinen tun."(11)

Im "Mann ohne Eigenschaften" von Musil scheint die Situation des Individuums in jener Zeit besonders tief und facettenreich dargestellt zu sein, wobei auch die Möglichkeit und die Grenzen ihrer literarischen Gestaltung auf die markanteste Weise analysiert werden. Ulrich, die Hauptfigur des Romans von Musil, bemerkt in einem Gespräch mit Walter und Clarisse (Kap. 54): "Es steht nicht mehr ein ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern ein menschliches Etwas bewegt sich in einer allgemeinen Nährflüssigkeit."(12) Dabei, wie der "auktoriale" Erzähler am Anfang des Romans bemerkt:

(hat) ein Landesbewohner mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder hinaustreten, um mit andern Bächlein eine andre Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun andern Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit andern Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte.(13)

In der Situation des allumfassenden Wertezerfalls, des Verschwindens des allgemeingültigen ethischen Koordinatensystems geht die Zerstückelung, die Atomisierung der Ethik vor sich. Es kommt zur Verwandlung des ganzen Volkes, jeder gesellschaftlichen bzw. professionellen Gruppe, ja, auch jedes Menschen in den Gefangenen seines eigenen Wertsystems.(14) Bedeutenden Veränderungen unterliegt auch das charakterologische Schema einer literarischen Figur: es kommt einerseits zur Destruierung des literarischen Charakters, zur immer deutlicheren Umstrukturierung einer handelnden Person in eine reflektierende, andererseits werden harte äußere Grenzen für die Entfaltung der Individualität gebildet, das Individuum wird fast restlos in ein System der sozialen Rollen und "Berufscharaktere" integriert.(15) Hermann Broch, der in seiner Romantrilogie "Die Schlafwandler" den Prozeß der Verkümmerung des heilen menschlichen Seins bis in die nackte Funktionalität hinein anhand seiner Romanfiguren darstellt, sieht die Hauptbesonderheit des "Denkstils dieser Zeit" in seiner "brutalen und agressiven Logik" und "Radikalität", im Zerfall des allgemeinen Wertsystems in Teilsysteme, durch autonome Bewußtseinssysteme und Logik vertreten: Logik des Militärs, des Wirtschaftsführers, des Malers, des Revolutionärs usw. Die Zerstörung des Wertesystems führt den Menschen zur "Unterwerfung unter den Einzelwert, der zu seinem Berufe geworden ist, nichts bleibt ihm übrig, als zur Funktion dieses Wertes zu werden, - ein Berufsmensch, aufgefressen von der radikalen Logizität des Wertes, in dessen Fänge er geraten ist."(16) Dieser Vorgang des Abhandenkommens der echten menschlichen Eigenschaften und des Charakters wird im österreichischen Roman jener Jahre facettenreich vertreten. "Natürlich sind sie alle ohne Eigenschaften" - bemerkt Musil zu seinen Romanfiguren. Und fügt dabei hinzu: "Aber an Ulrich ist es irgendwie sichtbar."(17)

Mit der Analyse eines der Schlüsselbegriffe von Musils "Mann ohne Eigenschaften" befaßten sich viele Forscher."(18) Dabei stimmen die Bewertungen von Ulrich und seiner Haupteigenschaft - der "Eigenschaftslosigkeit" - bei weitem nicht überein. Diese deutliche Diskrepanz kann sowohl durch die Mehrdeutigkeit und das Symbolhafte einer literarischen Figur als auch durch die jeweils gewählte methodologische Einstellung dem Romanhelden gegenüber erklärt werden, wobei Ulrich entweder im Koordinatensystem eines überlieferten (realistischen) Charakters bzw. im Kontext der philosophisch-utopischen Problematik des Romans aufgefaßt wird, die in seinen Gedankenexperimenten im Text entfaltet werden. Es wäre wohl plausibler, diese beiden Stränge in der Konzipierung eines literarischen Charakters zu berücksichtigen.

Ulrichs Eigenschaftslosigkeit kann als eine Antwort des denkenden Menschen auf die Unmöglichkeit, seine Ich-Konzeption in einer Welt zur Geltung zu bringen, empfunden werden, wo der eigentliche Wert des Menschen nicht durch sein geistiges bzw. ethisches Potential, sondern durch seine Popularität, seinen Reichtum, seine Stellung in der gesellschaftlichen Hierarchie bestimmt wird.

1923 veröffentlichte Musil sein "Märchen vom Schneider", eine Art satirische Skizze, wo es um die Situation eines geistigen Menschen in der gegenwärtigen Welt ging. Der Hauptheld des "Märchens", ein Schriftsteller, der mit einer Zeitbombe seine Zeit in die Luft sprengen wollte, weil diese ihm nicht folgt, wird von einem Gericht verurteilt:

( ... ) der Richter lächelte und fragte: ‘Haben Sie Geld gemacht?’ ‘Nie’, rief ich froh aus, ‘das ist doch verboten!’ ( ... ) ‘Sie sind angeklagt, weil Sie kein Geld machen’, sagte der Richter ( ... ) Es fehlt ihm die Gelddrüse, haben die Sachverständigen erklärt, er entbehrt deshalb die moralischen Regulative ( ... ); außerdem leidet er an Gedankenflucht, er kann sich nicht merken, was andre schon hundertmal gesagt haben, sondern sucht immer neue Ideen.(19)

In der Novelle wird die Situation der Hauptfigur von Musils "Mann ohne Eigenschaften" skizziert, der kein Geld machen will und auf der Suche nach neuen Ideen ist. Die Eigenschaftslosigkeit Ulrichs stellt eine Alternative zur Welt der Eigenschaften ohne Mensch dar.

Die überholten Formen der zwischenmenschlichen Beziehungen, "das Seinesgleichen, dieses von Geschlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle(20) werden von vielen österreichischen Autoren jener Zeit als der Entfaltung des Individuums im Wege stehend empfunden.

Am Anfang unseres Jahrhunderts denkt ein junger Schriftsteller, Rilkes Hauptfigur in seinen "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1910), über die Depersonalisierung der Hauptformen menschlichen Daseins nach: "der Wunsch, einen eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott, das ist alles da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur anzuziehen."(21) In Canettis "Blendung" (geschrieben 1931, gedruckt 1935) empfindet sich der Hauptheld des Romans, Professor Peter Kien, der in einer der Wiener Straßen spazierengeht, "unter Tausenden (als) ein Charakter, der Zufällen widersteht."(22) Wenn Rilke eine Figur darstellt, die sich nach einer für immer verlorengegangenen Echtheit des Charakters sehnt, wird in Canettis Roman diese Eigenheit, Eigentümlichkeit eines "Charakters" schon als ein fruchtloser und den Menschen zum Untergang führender Versuch der hermetischen Existenz in der Welt der absoluten Einsamkeit gezeigt. "Herr seines Schicksals ist der Mensch allein" dieser Satz wird von Peter Kien oftmals wiederholt. Dabei ist die "Eigenheit", "Eigentümlichkeit" seines Charakters schon längst zur Phrase verkommen, stellt bloß einen Komplex von falschen Vorstellungen über die Welt und sich selbst dar, ein System der starren Überzeugungen, die den Helden folgerichtig zu einem tragischen Ende führen.

Am vielseitigsten wird der Prozeß der doppelten Zerstörung des Individuums in Brochs "Schlafwandler" verfolgt: einerseits wird der menschliche Charakter zerstückelt, durch die sozialen Rollen und Funktionen ersetzt, andererseits gerät der Mensch mit seinem Denksystem in die Zwänge der vom Leben schon vorgeprägten, überlieferten Existenz- und Denkweise. Der "Romantiker" Joachim von Pasenow, seiner inneren Anlage nach dem vorigen Jahrhundert zugehörend, besitzt eine unüberwindbare Angst vor möglichen Veränderungen in seinem Leben, vor dem Weg, den sein Freund Bertrand für sich gewählt hat. Es scheint Joachim vollkommen problematisch zu sein, die Militäruniform abzulegen und von den begrenzten, doch klaren Lebensprinzipien eines preußischen Offiziers und Adeligen Abschied zu nehmen.(23) Der Buchhalter August Esch, der zu einer ganz anderen sozialen Schicht gehört und in einer anderen Epoche lebt, ist "ein Mensch impetuoser Haltungen" und existiert in einer anarchischen Situation, die durch den Prozeß des Verlustes von allen Werten geprägt ist. Und doch leidet auch er unter der Hilflosigkeit und der Unmöglichkeit, einen "Buchungsfehler" in dieser verkehrten Welt aufzufinden und zu korrigieren. Er strebt auch zur Eindeutigkeit und Klarsichtigkeit des Lebens: "er möchte eine Welt formen, deren Eindeutigkeit so stark ist, daß seine eigene Einsamkeit daran festgebunden wäre wie an einem eisernen Pfahl."(24) Der "sachliche" Held im dritten Teil der Romantrilogie stellt jene Stufe in der Entwicklung des Individuums dar, die Broch als "Nullpunkt der Wertatomisierung"(25) bezeichnet. Huguenau lebt von jeglichen moralischen Gesetzen und Vorstellungen frei, er ist ein freier Tatmensch, und darin, wie ein Broch-Forscher bemerkt, liegt eines der Paradoxa dieses Romans: "Der einzige wirklich freie, wertfreie Mensch benutzt seine Freiheit zu betrügen, zu erpressen und zu morden."(26)

Bei Musil strebt Ulrich, der "Mann ohne Eigenschaften", danach, mit allen möglichen Mitteln seine Individualität und innere Freiheit zu retten, ein sinnvolles Leben zu leben, das von "Seinesgleichen" unberührt bleiben soll. Er führt doch seinen Kampf um den "inneren Menschen" in der Zeit der Krise des Individualismus, in der Welt, in der das Persönliche total verschwindet und der Mensch als ein anonymer Teil eines ungeheuerlichen gesellschaftlichen Mechanismus fungiert. In Musils Roman wird der Prozeß der Entfremdung Ulrichs von seinen sozialen Rollen dargestellt. Seine Taten und sein Denksystem scheinen keine Verbindung mit den Funktionen eines gesellschaftlichen Systems zu besitzen, sie konfrontieren mit den allgemeingültigen Lebens- und Verhaltensweisen.

Musil schafft in seinem Roman das Modell eines Menschen mit dem "Möglichkeitssinn", der absolut frei und offen jedem Gedanken, jeder Idee gegenübersteht, der äußerlich und innerlich frei zu sein scheint. Zugleich ist in der "Eigenschaftslosigkeit" von Musils Helden, die, mit Dietmar Goltschnigg, "die Selbstbehauptung des Individuums gegenüber der Außenwelt ermöglicht"(27), auch eine andere, ironisch beleuchtete Seite zu bemerken. Ulrich ist überzeugt: "Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere, und das Belanglosere im Wirklichen."(28) Das Sozium entwickelt dabei andere Strategien und befaßt sich mit Ulrich nicht wie mit einem "potentiellen Menschen", sondern wie mit einem Individuum, das eine mehr oder weniger begrenzte Anzahl von sozialen Merkmalen und Eigenschaften aufweist, die mit seinem materiellen Vermögen, Beruf, Alter usw. verbunden sind.

"Ein Fürst des Geistes" wird auf der Straße verhaftet und in eine Wachstube gebracht, wo er nach der üblichen Weise verhört wird: "Er glaubte, in eine Maschine geraten zu sein, die ihn in unpersönliche, allgemeine Bestandteile zergliederte, ehe von seiner Schuld oder Unschuld auch nur die Rede war."(29)Ulrichs Lage wird deutlich ironisch beleuchtet, indem er, nach der vollständigen inneren Freiheit strebend, eine soziale Maske anhaben, ein Verzeichnis seiner gesellschaftlichen Eigenschaften vorweisen soll, um die äußere Freiheit nicht zu verlieren. "Die innere Autorität des Geistes war dabei in einer äußerst peinlichen Weise ohnmächtig gegenüber der äußeren Autorität des Wachtmeisters."(30)

Ulrichs Lage ist dabei in gewissem Sinne der Situation von Moosbrugger ähnlich, in der dieser gegenüber den Machtstrukturen, dem Gericht und Gesetz während des Prozesses bleibt. Über die Persönlichkeit des Verbrechers kann der Richter Schlüsse anhand aller schriftlichen Angaben über Moosbruggers Leben und frühere Verbrechen und Fehltritte ziehen:

Dieser Richter faßte alles in eins zusammen, ausgehend von den Polizeiberichten und der Landstreicherei, und gab es als Schuld Moosbrugger; für den aber bestand es aus lauter einzelnen Vorfällen, die nichts miteinander zu tun hatten und jeder besaß eine andere Ursache, die außerhalb Moosbruggers und irgendwo im ganzen der Welt lag. In den Augen des Richters gingen seine Taten von ihm aus, in den seinen waren sie auf ihn zugekommen wie Vögel, die herbeifliegen. Für den Richter war Moosbrugger ein besonderer Fall; für sich war er eine Welt, und es ist schwer, etwas Überzeugendes über eine Welt zu sagen. Es waren zwei Taktiken, die miteinander kämpften, zwei Einheiten und Folgerichtigkeiten.(31)

Die Kluft zwischen dem "inneren Menschen" und äußeren Begebenheiten seines Lebens im Fall Moosbrugger ist besonders extrem und pathologisch gestaltet, und doch wird im Prozeß über den wahnsinnigen Mörder die begrenzte Zurechnungsfähigkeit der offiziellen Moral, der Gesetzgebung und der Wissenschaft aufgedeckt. Musil bewertet jene Grundsätze und Praktiken, die als eine Basis für so eine "geistige Konstitution" dienen und für die Regelung der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft verwendet werden, als eine "pedantische Genauigkeit:

Die Genauigkeit (...), mit der der sonderbare Geist Moosbruggers in ein System von zweitausendjährigen Rechtsbegriffen gebracht wurde, glich den pedantischen Anstrengungen eines Narren, der einen freifliegenden Vogel mit einer Nadel aufspießen will, aber sie kümmerte sich ganz und gar nicht um die Tatsache, sondern um den phantastischen Begriff des Rechtsguts.(32)

Die Hauptfigur von Canettis Roman ist in einer Art pedantischer Genauigkeit dargestellt, über die Musil geschrieben hat. Sie erscheint wie eine der Masken im schauererregenden Reigen von "echten Charakteren", der Helden, deren Betragen und Wertvorstellungen durch ihre "Denksysteme" streng determiniert sind, die miteinander keine Berührungspunkte aufweisen. In "Die Blendung", wo die Frage nach dem katastrophalen Zustand dieser verwilderten Einsamkeit des modernen Menschen am schärfsten gestellt wird, untersucht Canetti auch die Möglichkeit, diesem Vorgang der Stereotypisierung des menschlichen Charakters, seiner Verwandlung in eine versteinerte Form entgegenzuwirken. Peter Kien, die "heile Persönlichkeit", spricht mit Wut über die schöne Literatur, über Romane:

sie zersetzen den besten Charakter. Man lernt sich in allerlei Menschen einfühlen. Am vielen Hin und Her gewinnt man Geschmack. Man löst sich in Figuren auf, die einem gefallen. Völlig überläßt man sich fremden Zielen und verliert für länger die eigenen aus dem Auge. Romane sind Keile, die ein schreibender Schauspieler in die geschlossene Person seiner Leser treibt. Je besser er Keil und Widerstand berechnet, um so gespaltener läßt er die Person zurück.(33)

Die österreichischen Romanciers jener Zeit haben in ihren Werken versucht, "Keil und Widerstand" möglichst besser und künstlerisch genauer zu berechnen, wodurch sie zu neuen Verfahren in der Konzipierung literarischer Charaktere kommen, neue Menschenmodelle in ihren Romane schaffen konnten, mit dem Hauptbestreben, eine neue "Lehre in Beispielen" für ihre Leser zu finden.

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Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 3.Jg., Nr.3/1994. S. 18-22.

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Anmerkungen:

(1) Siehe dazu auch: Alexandr W. Belobratow: "Eine Expedition nach der Wahrheit". Erzählsituation und ethische Haltung im österreichischen Roman zwischen zwei Weltkriegen. In: "Sein und Schein - Traum und Wirklichkeit": Zur Poetik österreichischer Schriftsteller/innen im 20.Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1994, S. 52-62.

(2) Lidija J. Ginzburg: Über den literarischen Helden. Leningrad 1979, S. 31 (russ.).

(3) Franz Kafka: Briefe 1902-1924. Frankfurt a.M. 1989, S. 27f.

(4) Robert Musil: Gesammelte Werke in 9 Bd. Reinbek 1978. Bd. 9, S. 447.

(5) Robert Musil: Tagebücher. In 2 Bd. Reinbek 1976. Bd. 1, S. 489.

(6) Siehe dazu: Albrecht Schöne: Zum Gebrauch des Konjunktivs bei Robert Musil. In Euphorion, Jg. 55 (1961), S. 196-220.

(7) Hermann Broch: Kommentierte Werkausgabe. Frankfurt a. M. 1975, Bd. 10/2, S. 198.

(8) Siehe dazu: Monika Ritzer: Hermann Broch und die Kulturkrise im frühen 20.Jahrhurdert, Stuttgart 1988, S. 82-190.

(9) Albert V. Karelskij: Entwicklung des realistischen Psychologismus im europäischen Roman der 1830er - 1860er Jahre. In: Methodenprobleme in den philologischen Wissenschaften. Moskau 1987, S. 213 (russ.).

(10) Natalja S. Lejtes: Das Individuum und die Welt. In: Woprosy literatury. 1987, H.4, S. 153 (russ.).

(11) Robert Musil: GW. Bd. 8, S. 988.

(12) Ibid., Bd. 1, S. 217.

(13) Ibid., S. 34.

(14) Hermann Broch: KW. Bd. 9/2, S. 177.

(15) In der Soziologie wird das Problem der Darstellung des literarischen Charakters in der Literatur so erfaßt: "Das souveräne Ich verschwindet, indem es sich einerseits in einer unendlichen Reflexion, andererseits in den unzähligen Rollen und Masken auflöst." Siehe: Igor S. Kon: Auf der Suche nach sich selbst. Moskau 1980, S. 137 (russ.).

(16) Hermann Broch: KW. Bd.1, S. 496, 498.

(17) Robert Musil: GW. Bd. 5, S. 1831.

(18) In der russischen Germanistik haben darüber Dimitrij Satonskij, Tamara Motyljowa, Vladimir Admoni, Tatjana Switelskaja, Dawid Dawlianidze geschrieben.

(19) Robert Musil: GW. Bd. 7, S. 628f.

(20) Ibid., Bd. 1, S. 129.

(21) Rainer Maria Rilke: Werke in 3 Bd. Leipzig 1978. Bd. 3, S. 632.

(22) Elias Canetti: Die Blendung. München 1963, S. 14.

(23) Hermann Broch: KW. Bd. 1, S. 28.

(24) Ibid., S. 595.

(25) Ibid. S. 712.

(26) Eric W. Herd: Hermann Brochs Romantrilogie "Die Schlafwandler". 1930-1932. In: Hermann Broch. Frankfurt a.M. 1986, S. 72.

(27) Dietmar Goltschnigg: Die Bedeutung der Formel "Mann ohne Eigenschaften". In: Vom "Törleß" zum "Mann ohne Eigenschaften". Salzburg 1973, S. 326.

(28) Robert Musil: GW. Bd. 1, S. 69.

(29) Ibid., S. 159.

(30) Ibid., S. 160.

(31) Ibid., S. 75.

(32) Ibid., S. 247f.

(33) Elias Canetti: Op.cit., S. 41.


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