Veronika Spira/Endre Kiss (Budapest)
[BIO]
Tibor Dérys DER UNVOLLENDETE SATZ lässt sich auf vielen Fäden mit seinen zeitgenössischen österreichischen literarischen Phänomenen verbinden, bzw. vergleichen. Wie es auch Wolfgang Kraus aufgrund seiner Gespräche mit Déry einmal bestätigte, hat Déry seinen großen Roman 1934 in einem Wiener Café angefangen und so ist es alles andere als ein Wunder, dass in der Mitte dieses Romans ein entscheidendes Kapitel über den Wiener Aufstand des Karl Marx-Hofes steht.
Dieser Versuch ist die kürzere Fassung einer (in gewissen Partien mit Endre Kiss gemeinsam unternommenen) längeren Studie, die Tibor Dérys großen Roman hauptsächlich unter drei größeren Aspekten untersuchen wird:
1) DER UNVOLLENDETE SATZ wird als ein Versuch gesehen, den österreichischen polyhistorischen Roman (hauptsächlich von der Hermann Brochschen Version) zu politisieren, bzw. die kürzlich, jedoch schon klassisch ausgearbeitete Gattung des österreichischen polyhistorischen Romans vor den aktuellen politischen Entwicklungen zu öffnen;
2) es wird der Versuch unternommen, Tibor Dérys eigene Weltsicht und ARS POETICA zu rekonstruieren;
3) die These von Georg Lukács sowohl über Déry wie auch über den DER UNVOLLENDETE SATZ als über einen "Realisten" oder als über ein "realistisches" Werk wird widerrufen, nicht als eine Intervention gegen eine apodiktische und autoritative. sondern eine Attacke gegen eine falsche und ihrem Gegenstand im entferntesten nicht gerechte Interpretation.
Diese Fassung, wie erwähnt, ist nur eine abgekürzte Version der geplanten größeren Arbeit. Diese geplante Arbeit wird jedoch einen größeren Umfang nicht aus dem Grunde brauchen, weil ihre Thesen vielschichtig oder widersprüchlich oder in diesem Stadium der Forschung noch nicht klar wären, sondern aus dem Grunde, weil sie einen Umfang aufnehmen muss, um das vielschichtige und heterogene Beweismaterial der Thesen voll in sich zu integrieren.
Politisierung des polyhistorischen Roman
DER UNVOLLENDETE SATZ ist auf eine gleichzeitig erkenntliche und nicht-erkenntliche Weise ein seinem Begriffe voll entsprechender polyhistorischer Roman (was gleich auf den Punkt 3) hinweisen kann). Man kann nicht einmal sagen, dass Déry die äußeren Kennzeichen eines "richtigen" polyhistorischen Romans verstecken würde. Das Höchste, was strukturell und "wahrnehmungsästhetisch" über seine Fassung des polyhistorischen Romans gesagt werden kann, ist, dass unter solchen Aspekten seine Romanfassung etwas nüchterner und neusachlicher, für den "oberflächlichen" Leser geradezu "realistisch" ausschaut. Dies lässt sich im Endeffekt nicht nur restlos durch die generelle These der "Politisierung" erklären, man muss auch gleich hinzufügen, dass diese Dekonstruktionen nur sehr relativ sind. Dérys Verfahren weist dadurch auf eine entscheidende Problematik des (österreichischen) polyhistorischen Romans hin, indem er diejenigen Grenzen in Erinnerung ruft, die bei dem normalen Publikum für die schlichte "Wahrnehmung" des polyhistorisierenden Charakters existieren. Sein Beispiel bestätigt die Regel und nicht die Ausnahme: Der in Frage stehende polyhistorisierende Charakter wird viel deutlicher durch äußere, "formale" als durch innere, "gedankliche" Merkmale wahrgenommen. So wurde auch DER UNVOLLENDETE SATZ nicht nur von "Normallesern", sondern auch von dem damals stalinistisch gesinnten Theoretiker des polyhistorischen Romans, Georg Lukács wie als Prototyp des neuen Realismus angesehen, obwohl Déry jegliche Möglichkeit der klassischen Gattung des österreichischen polyhistorischen Romans in DER UNVOLLENDETE SATZ zum Zuge kommen lassen will.
Das unmittelbare Modell, von dem Déry ausging, war Hermann Brochs Trilogie DIE SCHLAFWANDLER. Dass Tibor Déry in den angehenden dreißiger Jahren den Autor der frisch erschienenen und intellektuelle Sensationen erweckenden Trilogie in Wien und Umgebung zweifellos kennen sollte, gilt als zweifellos. Für die längere Fassung dieser Arbeit sollen auch die Spuren im einzelnen erforscht werden, die auf eine mögliche persönliche Verbindung mit Hermann Broch hinweisen. Falls Déry Broch nicht auch persönlich gekannt haben sollte, so muss man unter allen Umständen bedenken, dass der Broch dieser Jahre in aller Öffentlichkeit fast ausschließlich mit der Propagierung und der Interpretation seines neuen polyhistorischen Romans beschäftigt war. Man dürfte ferner aber auch nicht vergessen, dass es diese Jahre sind, als Broch auch seine großen Aufsätze über die einzelnen Dimensionen des neuen Romans schreibt, in denen er im wesentlichen auf JEDE Dimension dieser Romangattung einging (Totalität, der Charakter des Protagonisten, Beziehung der Teile zum Ganzen, Polyphonie, Simultaneität, etc), die dann für Déry nicht nur in der Form des großen Werkes selber, sondern auch schon in der Form der theoretischen Reflexion zugänglich waren. Dies lässt sich nicht nur im Zusammenhang der einzelnen Fragestellungen verifizieren, sondern auch in den einzelnen strukturellen Eigenschaften, Perspektiven des Werkes, aber auch in der schriftstellerischen Diktion auf unmittelbare Weise. Schon jetzt soll genannt sein, was wegen der Fülle des Materials letztlich nur in einer spezifisch diesem Zwecke gewidmeten Monographie hätte beantwortet werden können, dass es die Interpretation der gegenwärtigen Wirklichkeit in ihrer Totalität als menschliches SCHLAFWANDELN ist, was Déry mit Broch verbindet. Folglich wird es bei Déry wieder ähnlich wie bei Broch: Das gedankliche Material erschöpft sich keineswegs durch das Phänomen des Schlafwandelns, dieses ist jedoch das Umfassende, die Schildkröte, die das ganze Welt des Universums auf ihrem Rücken trägt.
Dérys Weltsicht und ARS POETICA
Dérys eigene Auffassung von der Totalität und der Darstellbarkeit derselben im Roman führt eine Modifizierung sowohl der eigenen dichterischen wie auch der allgemein-romanpoetischen Anschauung ein, die assoziationspsychologisch motiviert ist. Romanpoetisch ist es jedoch mit jener Wendung identisch, dass Déry das (bereits) klassische Muster des österreichischen polyhistorischen Romans mit Proust ergänzt. Dieser "Zurück zu Proust" kann auch als ein typisch "ungarisches" Phänomen gedeutet werden, bedenkt man die tiefe aber auch erstaunlich breite Popularität von Proust in der Zwischenkriegszeit in Ungarn. Déry selber macht diese Affinität zu Proust ebenso deutlich, als er im letzten Drittel des Romans die Liebe von dem Protagonisten Lorinc Parcen-Nagy zu Évi Krausz nach dem Muster der Gefühle Swanns zu Odette und zwar auf eine illustrative Eindeutigkeit darstellt.
Es wäre kein polyhistorischer Roman (zur größeren Ehre von Lukács, der in Déry den zum Vorbild gewählten Musterrealisten gesehen hat), wenn der Autor nicht eine diesbezügliche Reflexion in den Roman selbst einbauen würde. Seine Vorstellungen über das Ganze, bzw. seine Darstellbarkeit im Roman fasst Déry folgendermaßen zusammen:
... die Wirklichkeit erobert den Menschen nie in ihrer Totalität, sondern Schritt für Schritt ... beispielsweise zunächst als mit vorangeschicktem Gruß, mit einem Fischerboot, der eben als eine vergegenständlichte Strahl eines schönen maritimen Ensembles, in der Morgendämmerung am Meer vor unser Schiff gleitet... (I/131) (*)
Dieselbe Idee wird so fortgesetzt:
Die Landschaft erschließt uns nur langsam und nicht auf einmal ihre entwaffnenden Details; es kann lange, manchmal sogar jahrelang dauern, bis wir Stufe zu Stufe, Schritt für Schritt nicht bis zum Augenblick kommen, in dem die niedlichen Einzelheiten wie etwa die einzelnen Blumen sich summieren und aus ihnen ... jene Totalität sich herausstellt, die wir beispielsweise Dubrovnik nennen und über die wir sagen, dass wir sie 'lieben'... (I/122).
Déry gelangt im Rahmen dieses Gedankenganges sogar - wie es in einem wirklichen polyhistorischen Roman auch geschehen muss - zu prinzipiellen Verallgemeinerungen:
Das 'Ganze' ist immer ein mehr oder weniger leerer Begriff, der erst dann Farben anzunehmen und sich zu bewegen anfängt, wenn die Leidenschaft eines Diktators es mit den von ihr gesammelten Einzelheiten erfüllt; MAN KÖNNTE SAGEN, ES GÄBE KEINE ANDERE WIRKLICHKEIT NUR DAS DETAIL" (I/122- Herrvorhebung nicht im Original).
Déry spricht hier eine einwandfrei klare Sprache. Indem er (wie wir es zum Teil schon nachwiesen, zum anderen Teil noch nachweisen werden) die Konzeption des klassischen österreichischen polyhistorischen Romans in großen Zügen und zweifellos mit der größten Bewusstheit übernimmt, zeigt er sich mit einem der grundsätzlichsten Pfeiler dieser Konzeption nicht einverstanden. Es geht gerade um das "Ganze", die Joyce-Broch-Musilsche "Totalität", die er auf explizite Weise als ohne die Details "nicht real" und auf eine Weise "totalitär" klassifiziert, indem sie ihre Existenz der einem Diktator ähnlichen Dichter verlangt, der mit seiner "diktatorialen" Leidenschaft aus den einzelnen Details die nicht wirklich existente "Totalität" erschafft. Bei Déry erscheint die Relation der Totalität zu ihren einzelnen Details als eine im Kontext der polyhistorischen Romanästhetik erneuerte Diskussion über "Nominalismus" und "Realismus". Die Totalität hat nach ihm somit eine platonisch-realistische Existenz, wodurch er auch die explizite Romanästhetik Hermann Brochs mitsamt SEINEM Platonismus auf den Kopf stellt.
Dadurch revoltiert Déry gegen die für die polyhistorischen Romanautoren PAR EXCELLENCE charakteristische Auffassung der Totalität, die sich ja aus den diesbezüglichen Stellungnahmen der größten polyhistorischen Romanautoren unschwer auslesen lässt. Es ist aber auch eine Revolte gegen die so oft und mit großer Leidenschaft umschriebene Rolle des polyhistorischen Romanautors, dessen "diktatoriale" Einstellung von Déry explizit in Zweifel gezogen wird. Mit einer vollständigen Erklärung für dieses Phänomen wollen wir an dieser Stelle der Arbeit noch nicht aufs Feld ziehen, in der Ablehnung der diktatorähnlichen Rolle des polyhistorischen Romanautors erscheint jedoch auch eine implizite These, dass in einer Welt des "Schlafwandelns" auch das Bewusstsein des Dichters sich nur auf dieser Ebene bewegen kann und sich qualitativ von den Bewusstseinsqualitäten seiner Protagonisten nicht unterscheiden dürfte. In diesem Fall wird die Legitimität einer Erneuerung der Proustschen Anschauung und Methodik ebenfalls legitim. Es ist auch nicht unwesentlich, dass die dichterische Praxis in DER UNVOLLENDETE SATZ wie restlos diesen Einstellungen gemäss aufgebaut ist. Wie immer bleibt freilich eine ganz andere Fragestellung, welche ästhetischen Maßstäbe und insbesondere welche ästhetischen Werturteile man mit der so erkannten dichterischen Praxis Tibor Dérys eben verbinden will.
Es ist kein Spiel mit den Worten, wenn man nach all dem feststellt: Auch in dem so konzipierten polyhistorischen Roman Tibor Dérys entsteht ein "Ganzes", allerdings eine Totalität, in der die Teile nur lose aneinander hängen und (den Intentionen gemäß) stets auf einander hinweisen, es besteht weder ein diktatorieller Wille, noch eine umfassende weltanschauliche Option seitens des Dichters, der (und die) die Umrisse der Totalität auch in objektivierter Form vor den Leser stellen würde.
Dérys weitere Argumente führen aber auch zur Einsicht in seine strategischen Entscheidungen über DER UNVOLLENDETE SATZ. Denn er schreibt:
Die Geschwisterliebe (!) beispielsweise, ebenso wie die Menschenliebe, die Vaterlandsliebe oder der Klassenhass, bleibt solange ein kraftloser und abstrakter Begriff, bis wir mit diesem oder jenem Detail seines Gegenstandes nicht in persönliche Beziehung kommen... (I/122).
Darüber ließe sich freilich streiten (und dieser Streit muss in der umfangreicheren Fassung dieser Arbeit voll vertreten und ausgearbeitet sein), ob etwa die von Broch intendierte Konzeption der "Totalität" im polyhistorischen Roman auch noch analogisch mit dem Mechanismus umschreiben ließe, wie hier das Abstraktum der Geschwisterliebe in seiner Relation zur konkreten persönlichen Betroffenheit steht (was gleich zu den konkreten Qualitäten der Interpretation Dérys führt). Es steht jedoch ohne Zweifel fest, dass Dérys schriftstellerische Praxis tatsächlich dieser Linie folgt: Lörinc Parcen-Nagy's Liebe zu Évi Kraus, sowie seine Neigung zu Péter Rózsa sind "persönliche Relationen", in denen tatsächlich das große Thema des Romans, die Existenz und der Kampf der Klassen nicht "abstrakt" aufgefasst und interpretiert, sondern in "konkreten persönlichen Relationen" erlebt und gezeigt werden.
Die so interpretierte Beziehung der Teile und des Ganzen ist es aber auch, die für Déry seinen Rückgriff auf Proust ermöglicht, denn die nicht nur relative, sondern auch tatsächliche Autonomie der Details durch Prousts 'madeleine'-Technik mit dem Ganzen verbunden sind, welches ja über keine diktatorische Eigenständigkeit verfügt.
Nach der Übersicht des strukturierenden Prinzips von DER UNVOLLENDETE SATZ als des Politischen und des Klassenkampfes, scheint unser Fazit auch beinahe fertig zu sein: Durch die Politisierung entstand eine Mutation des polyhistorischen Romans, welcher (aus diesem oder aus einem anderen Grunde, lassen wir vorerst dahingestellt) mit einer neuen Auffassung über das Ganze und die Teile auf den Plan trat. Die klare Relevanz der Betonung des Politischen scheint auch noch Georg Lukács in dem recht zu geben, dass es hier um eine neue Fassung des Realismus geht.
Interpretation des Politischen
Auf eine tatsächlich überraschende Weise bricht Déry die Kette dieses Gedankenganges nicht auf der Seite der Romantechnik oder der Romankonstruktion, vielmehr auf der Seite des Interpretation des POLITISCHEN selber. Erst wenn wie diesen Schritt verstehen, können wir auch auf dem romantechnischen Feld die notwendigen Fortschritte erzielen.
Gerade bei dem Arbeiter-Protagonisten Rózsa (der der Vater von Péter und der Mann der zum Symbol der Arbeiterbewegung gewachsenen Frau ist) zeigt Déry seine Interpretation des Politischen klar. Im Rahmen einer längeren analytischen Beschreibung kommt er zur Aussage über Rózsa:
Die Klassenanschauung hatte in ihm (Rózsa) eine mythenbildende Kraft und erschuf in einem so keinen Widerspruch duldenden, reinen Stil ihre Umgebung, wie die Griechen es mit der Landschaft mit olympischen Linien getan haben... (I/196-197).
Nicht die 'Tatsachen' schaffen also die politische Vision, sondern die politische Vision schafft das Wirklichkeitsbild. Das Politische ist nicht Resultat von vielen diskursiven Einzelheiten, es ist ein "Diskurs", der alles weitere bestimmt. Das Politische ist ein "Mythos", höchstwahrscheinlich in dem Sinne wie Déry diese Idee von Georges Sorel verstanden hat.
Dadurch wird alles nochmals in ein anderes Licht gestellt. Die Durchpolitisierung der Welt wird ernst genommen und dargestellt, das Politische wird jedoch keinesfalls als ULTIMA RATIO genommen, denn in ihm wird der neue umfassende Diskurs identifiziert. Dadurch erscheinen auch die Akteure des Politischen nicht als Inhaber von letzten und letztgültigen Positionen, sondern als Partizipanten eines umfassenden Mythos. Selbst Rózsa, dessen Leben bis zum Martyrium mit dem Kampf der Arbeiterklassen verbunden war, sah "in der Tiefe seiner Seele" die Konfrontation der "linken" und der "rechten" Arbeiterschaft als "Spiel" (!) (I/196). Es ist auch so, wenn er "dieses Gefühl mit seinen Erfahrungen nicht in Einklang bringen konnte" (ebenda). Die Brisanz dieser Wendung kann dadurch nur noch größer werden, dass Déry bei der Beschreibung der Funktionalisierung des Klassenkampfes als Mythos auch einen direkten Hinweis auf Odysseus (Ulysses !) gibt, indem er beschreibt, dass Rózsa, wenn er in eine ihm fremde Welt des Bürgertums kam, insofern Odysseus ähnlich geworden ist, dass auch er Angst bekam, wie "Odysseus, wenn er auf fremdem Boden Sorge hatte, die unbekannten penati des gastgebenden Hauses illegitim mit seinen Händen zu berühren" (I/198).
Zu den Autoren Veronika Spira/Endre Kiss
Anmerkungen:
(*) Alle Zitate aus: Déry Tibor: A befejezetlen mondat. I-III. Szépirodalmi Kiadó, Budapest, 1963. Übersetzungen ins Deutsche durch die AutorInnen.
Webmeisterin: Angelika Czipin
last change 22.03.2000