(Hermann Broch und Elias Canetti)
Endre Kiss (Budapest)
[BIO]
Nicht nur das normale Voranschreiten einschlägiger Forschungsaktivitäten, sondern das Erscheinen des Erinnerungsbandes Augenspiel machte es sehr deutlich, dass die Relation zwischen Hermann Broch und Elias Canetti wesentliche und neue Momente für die Geschichte und Ästhetik des polyhistorischen Romans enthält. Diese Inhalte waren von Anfang an exzellente Beispiele dafür, dass in diesem Zeitalter und im Rahmen dieses Romankonzeptes Literatur und Philosophie (oder generell "Denken") in eine bisher ungeahnte Nähe gerückt sind, welche - gerade wegen der dabei realisierten intellektuellen Komplexität - bald zu einer Grenze der genuin literaturwissenschaftlichen Diskutierbarkeit führen wird. Es ist genau diejenige Komplexität, die auch in ein Niemandsland der Forschung führen kann, wenn auf ihre neuen Probleme nicht ausreichend reflektiert wird. Nicht nur die einzelnen Wissenschaften, auch nicht nur das breitere Lesepublikum, sondern - auf eine sehr überraschende Weise - selbst auch manche der betroffenen Autoren leisten Widerstand, wenn die hier entstehende Komplexität zum Gegenstand einer analytischen Erschließung wird. Kafka und Canetti gelten hier als vollkommen eindeutige Beispiele, zum Teil verweigert sich auch Musil dieser erschließenden Aktivität. Das Gegenbeispiel dabei ist gerade Hermann Broch, dessen ständige Selbstdarstellungen zu dem wissenschaftslogisch sehr markanten Problem der so genannten "affirmativen" Forschung geführt haben.
Diese Komplexität ist in vielen Bezügen aber schon ein Ergebnis, die Frage nach ihr gilt schon auch als eine nach der Lebenswelt, Soziologie und Psychologie dieser literarischen Produktion. Denn es kann Zweifel darüber bestehen, dass es sich dabei um eine neuartige und inkommensurable literarische Produktion handelt. Eine Soziologie der bedeutendsten schöpferischen Leistungen ist stets eine sehr attraktive und umfassende Aufgabe, die als selbstständiges Studium noch überhaupt nicht existiert. Die Akteure dieser einmaligen intellektuellen Produktion sind in ihrer Person und in ihren Zielsetzungen von Anfang an vielfach bestimmt. Sie sind Dichter, Teile des literarischen Lebens, sie stehen aber gleichzeitig über demselben und weisen stets über dasselbe hinaus, sie sind aber gleichzeitig auch von der einmaligen Relevanz des Literarischen bei der Thematisierung, sogar Lösung der grössten Zeitprobleme überzeugt und sind zur gleichen Zeit keine Aussenstehenden, Zyniker oder Naive, sie sind Dichter und Zeitgenossen, sie sind Männer der ästhetischen und geschichtsphilosophischen Synthese mit Anspruch auf essentialistische Gültigkeit, während selbst dieser Gültigkeitsanspruch auch noch kein letztes Ziel darstellt, denn es ist - im Falle sowohl Hermann Brochs wie Elias Canettis - auch schon eine adäquate "Praxis" selbst.
Die methodologischen Schwierigkeiten (die zugleich auch diejenige einer diese Literatur konstituierenden Literaturtheorie sind) bei der Erschließung dieser Literatur sind "nur" eine einzige Konsequenz der einmaligen Beschaffenheiten dieses neuen Phänomens der superkomplexen Literaturproduktion. Dabei erscheint die Problematik einer affirmativen Forschung wieder in einer ganz neuen Beleuchtung. Die ursprüngliche Thematisierung des Affirmationsverdachtes ging davon aus, dass sowohl eine literarische Kritik wie auch eine historische Beschreibung, die die bereits explizit artikulierten Schwerpunktsetzungen des Autors selbst wiederholt, abzulehnen sei. Soweit ist es eine sinnvolle Vorstellung. Wie sieht das nun bei dem Fall der superkomplexen Literaturproduktion aus? Hier haben die autorialen Selbstinterpretationen ihren selbstverständlichen Sinn. Indem sich der Autor nämlich des ungewöhnlichen Schwierigkeitsgrades seines eigenen Werkes bewusst ist, unternimmt er notgedrungen Schritte, dieses Werk der Öffentlichkeit einigermassen zugänglich zu machen. Bei diesem Unternehmen kann er es aber kaum vermeiden, eine Beschreibung zumindest anzudeuten, die andere Interpreten bei ihrer Beschreibung auch in Anspruch nehmen könnten. An dieser Stelle kehrt sich aber die These der affirmativen Interpretation in ihr Gegenteil. Denn es geht schon nicht mehr darum, dass man prinzipiell autoriale Selbstinterpretation als partikulär und pragmatisch, d.h. als "Fremdkörper" ablehnen muss. Die Lage ist vielmehr, dass in diesem Fall auch der Autor kaum andere Instrumente als andere Interpreten in Anspruch nehmen kann, folglich wäre die Ausgrenzung des Autors aus der Interpretation mit derselben eines speziellen Interpreten gleich. Diese These sagt aus, dass die Selbstinterpretation des Autors nicht disqualifiziert werden kann, denn sein Recht kann nicht in Zweifel gezogen werden, in seiner einmaligen Situation selbst zum Verständnis seines einmaligen Werkes beizutragen. Ist es aber so, so ist die Rücksichtnahme auf seine Einsichten in der Sekundärliteratur doch nicht verwerflich.
"Er ist ein König im Papierreich" beschreibt Broch Musil(1) und liefert mit diesem Bild gleich eine sehr treffende und gleichzeitig elastische Beschreibung der soziologischen Position dieser Romanliteratur. Zwischen der wahren "königlichen Hoheit" und dem real existierenden"Papierwelt" spanntsich jener Bogen aus, der die Soziologie dieser Literatur umfasst. Der Kampf wird hier nicht unbedingt und unmittelbar für die Macht geführt, denn diejenigen, die miteinander kämpfen, sowohl für einander wie auch für das breitere Publikum bereits am Anfang des Kampfes Könige sind. Man kann auch nicht sagen, dass man für die Einrichtung eines Imperiums die Mühen des Kampfes auf sich nimmt. Man kämpft für dieVollkommenheit und die Perfektion. Der begehrte Gegenstand des Kampfes ist vorerst ein idealer, er gilt auch dann als perfekt und vollkommen, wenn es nur von ganz wenigen gesehen wird. Denn der Kampf richtet sich nicht gegen eine reale, auch nicht aber gegen eine virtuelle Macht, er ist gerichtet auf die Geltung einer neuenSchöpfung. Die Geltung, die kathartische Evidenz mache diese Papierreiche zu wahren Königreichen, deren Geltung und Dauer es tatsächlich mit der Geltung und Dauer von realen Mächten aufnimmt, diese sogar in der Mehrheit der Fälle - um bei Canetti’s wichtigem Schwerpunkt zu bleiben - hat auch überlebt. Es zwingt sich hier die Aussage auf, letztlich sei es im Falle Mittel-Europas kein Geringerer als eben Adolf Hitler gewesen, der es endgültig vollzog, die ausgedehnten Papierreiche dieser Könige zu zerstören.
Im Banne der gemeinsamen Intention werden die einzelnen Autoren der polyhistorischen Romandichtung einander in eine derartige Nähe gebracht, dass dabei manchmal selbst ihre Individualitäten in Gefahr geraten. Die von Anfang an gemeinsam intendierte Annäherung hat aber das allergrößte Problem eines circulus vitiosus. Man hätte einen Fundus der wichtigsten gemeinsamen Beziehungen notwendig gehabt, um die alternierenden Differenzen auf dieser Basis feststellen zu können, während man diese gemeinsame Basis erst nach einer unter gemeinsamen Aspekten vollzogenen Untersuchung hätte identifizieren und beim Namen nennen können. Zu einer wirklich kontextuellen, aufeinander abgestimmten Untersuchung hätte man also eine gemeinsame Basis notwendig, während die gemeinsame Basis erst auf einer nicht gemeinsamen Untersuchung ins Reich der Erreichbarkeitgerückt worden wäre. Kein Wunder, dass eben die vorhin einmal schon erwähnte Idee der "affirmativen" Forschung in dieser Verlegenheit aufkommen konnte.
Das Problem dieses Kreises besteht, wenn die gemeinsame Basis etwa ideenhistorisch(2), historisch, literatursoziologisch, hermeneutisch oder in weiteren Disziplinen begründet werden müsste. Dies heißt, dass dieser circulus und alle Möglichkeiten seiner Auflösung keine disziplinäre Frage ist.
Wenn auch kein Wundermittel, so kann doch die Erschliessung der in jedem Fall sehr komplizierten Beziehung dieser Autoren zueinander zur Auflösung dieses methodischen Zirkelganges beitragen. Damit wird der Dialog als Zwischenlösung funktionieren.
Der Titel des ersten Texts Hermann Brochs über Elias Canetti, "Einleitung zu einer Canetti-Lesung"(3) ist im Kontext einer Veranstaltungsreihe entstanden, die "Dichter werben für Dichter" hiess.
Das Verb "werben" drückt Brochs Relation zu seinem jüngeren Kollegen sehr treffend aus. Sein Werben um Canetti’s Beistand und Unterstützung bleibt das leitende Motiv seiner Freundschaft, während die Verweigerung dieses Werbens seitens Canetti auf dieselbe Art bestimmend für die ganze Relation bleibt.
Für Broch erscheint Elias Canetti als ein Romandichter, der alle Begabungen enthält, schöpferisch ein vollgültiges Konzept aufzubauen. Er sieht in dem jüngeren Kollegen einen Mitstreiter auf einem sehr sensiblen und seltenen Pfade, wo - mit Nietzsche gesagt- die Luft sehr "dünn" ist. Für Canetti erscheint Hermann Broch als ein sehr merkwürdiges Lebewesen, ein Mensch als ein Stück seiner Sammlung aus der Comédie humaine. Während die engere menschliche Dimension Canettis für Broch gänzlich abgeht, existiert Broch für Canetti mit derselben Einseitigkeit als ein kreatürliches Lebewesen, welchem höchste Aufmerksamkeit gebührt. In Brochs Perspektive erscheint ein Dichter, der seine Romantheorie auf einer nie geahnten Höhe bestätigen könnte, in Canetti’s Sicht wird ein merkwürdig Wesen sichtbar, das ihn vereinnahmen will.
Sehr vieles sagt über diese Beziehung aus, dass die eigentliche Gattung, in welcher sie über und mit einander sprechen, die Rede ist. Sie wechseln im Wesentlichen keine Briefe, sie schreiben auch über einander keine regelrechte Buchbesprechung. Sie halten aber vor einander Reden, durch welche sie den anderen und sich selber vor der literarischen Öffentlichkeit präsentieren. Wie streng geregelt diese Kommunikation ist, zeigt von einer anderen Richtung aus die Tatsache, dass sie - andererseits - über ihre massenpsychologischen Ideen und Forschungen kein Gespräch führen.
Die Sicht des Anderen gründet in den tiefsten Fundamenten des Denkens der beiden Romandichter. Während Hermann Brochs Philosophie (und wir wissen, dass er eine Philosophie in jedem Sinne des Wortes besass) eine eklektische und schöpferische Synthese war, die in ihrem Integrationswillen bis zur Grenze des Denkbaren ging, wird Canetti’s Denken von einer spezifischen, dem Wortlaut voll entsprechenden, nichtsdestoweniger aber nicht im Husserlschen Sinne genommenen "Wesensschau" beherrscht. Seine natürliche "Wesensschau" ist so prägnant, dass er über seine Methodologie (vor allem natürlich lässt sich das an der Masse und Macht demonstrieren) nicht nur nicht nachdenken will, sondern es auch nicht kann.(4)
Diese beiden bestimmenden Grundeinsichten erscheinen in immer anderen Formen in den von einander verfassten Texten. Indem Broch bei Canetti über einen "Aufbau der Gestalt aus der Logik ihres Seins" redet, hat nur eine andere Form für Canetti’s oben charakterisierte elementare "Wesensschau".(5) Indem er aber diese als Grundlage nimmt, fängt gleich an, Canetti in seinen eigenen universalen philosophischen und literaturtheoretischen Eklektizismus aufzunehmen, indem er jenem ähnlich lautende Eigenschaften zuschreibt: "...(die Logik des Seins) ...(ist)...gleichzeitig die übergeordnete Logik der Gesamtheit und (erfährt) von dieser ihre unverbrüchliche und feste Lebensgestaltung..."(6)
Nicht viel anders geht es aber auch bei Canetti. Seine "Wesensschau" erscheint in der Beschreibung jeder Person, die in seinen Autobiographien auftreten. Über Isak Babel schreibt er folgendes "Er wollte alles in Berlin sehen, aber ’alles’ waren für ihn die Leute."
Ebenso war für ihn "Ein nie zu ersättigendes Interesse an jeder Art von Menschen" charakteristisch.(7) Während eines beschriebenen und wesenhaften Handlungsvorganges (in dem es die für Canetti schon aus emotionalen Gründen äußerst wichtige und schon aktuell historische Berliner Begegnung von Karl Kraus mit Bertolt Brecht auseinandergelegt wird) erscheint Brecht in dem Prisma dieser Wesensschau als ein geübter "Pfandleiher", der mit blitzschnellem Blick in jeder Situation und bei jedem Menschen abwägen kann, wie viel Nutzen es ihm (d.h. Brecht) bringen könnte.(8) Diese spezifisch für Canetti charakteristische "Wesensschau" hat, außer einigen bereits reflektierten methodologischen Zügen, auch noch weitere relevante Wurzeln. Augenblicklich muss es sehr metaphorisch klingen, wenn wir hier Canetti’s verborgenen Glauben an die Möglichkeit erwähnen, das Essentielle der Gegenstände transparent machen zu können oder - bislang ebenfalls nur hypothetisch - den Begriff von Canetti’s "versteckten Animismus" ins Spiel bringen- mit dessen Hilfe er sich so effektiv mit jeder Artikulation von primitiven Zivilisationen identifizieren und sie so einmalig verstehen und dechiffrieren konnte.
Dieser grundlegende Unterschied macht sich auch in den Auffassungen über das Pathologische sichtbar. Es ist sicherlich nicht das einzige Motiv, aber es ist gerade die "Wesensschau" bei Canetti, die in ihrer konsequenten Zielgerichtetheit die Schwelle zwischen dem Normalen und dem Pathologischen so spezifisch verwischt. Diese Einsicht (und wenn man im späteren keine Angst vor diesem Terminus hat), diese "Technik" des unsichtbaren Überganges zwischen Gesundem und Normalem ist letztlich einer der bestimmendsten Züge der Canetti’schen Gestaltpoetik, der um so nachdrücklicher in den Vordergrund treten kann, weil pathologische Fixierungen ohne die geringsten Probleme auch als eine Art "Wesensschau" aufgefasst werden können.
Die tiefe "philosophische" Differenz zwischen den beiden besteht darin, dass bei Broch der "Dämmerzustand" diejenige condition humaine ist, auf welche eine Romanstruktur aufgebaut werden kann, dieselbe bei Canetti eine Sichtweise der vorhin angedeuteten "Wesensschau" ist. Aus diesem Unterschied ergibt sich aber auch eine schwerwiegende romanpoetische Konsequenz. Während es ohne Schwierigkeiten möglich ist, auf Brochs Grundeinsichten eine authentische und originelle Romanstruktur aufzubauen, folgen bei Canetti aus seiner Wesensschau keine konkreten romanpoetischen Konsequenzen. Das ist der Grund, warum der explizit gemachte Ansatz Canetti’s, eine neue Comedie humaine nach dem Muster von Honoré de Balzac auszuarbeiten, das Wesentliche dieser Wesensschau thematisiert. Während es bei Canetti darum geht, eine Polyphonie durch die Tiefe der Wesensschau der Gestalten zu verwirklichen, ersteht sie bei Broch auf Grund jenes Dämmerzustandes, der schon von Anfang an polyphon, polyhistorisch und simultan ist. Die auf anderen Wegen sich verwirklichende Polyphonie mochte Broch auf die Idee gebracht haben, in Canetti’s Romankonzept steckt eine Grundidee, die seiner eigenen Konzeption des polyhistorischen Romans eigen ist. Wie tief und massiv aber Canetti’s Romanpoetik mit seiner Einstellung zur "Wesensschau" verbunden ist, zeigt exemplarisch die berühmte "Bett-Szene" in Blendung, in welcher Kien in seiner Zwangsvorstellung meint, Therese sei eine andere Person, die gekommen ist, um ihn vor Therese zu retten. Die ganze Situation lässt sich unter diesen Voraussetzungen nur so erzählen, dass Canetti die ganze Ereignisreihe einfach zweimal nacheinander erzählt. Es kann dem Schriftsteller anders nicht gelingen, die beiden Perspektiven, wenn man will, die beiden "Wesensschauen" zur Geltung zu bringen.
Diese "Wesensschau" ist es, die Canetti’s Weg zur methodischen Originalität auch in anderen Vergleichen bestimmt. Die endgültige Aussagen im Bewusstseinsstrom der Gestalten, ihr ständiger Essentialismus, die Alles & Nichts-Sätze, die ständige Radikalität der inneren Spannung sind in Canetti’s dichterischer Wahrnehmung immer da, und zwar nicht nur in seiner "Darstellung der Romanfiguren", sondern auch in seiner Beschreibung der Figuren seiner autobiographischen Schriften. Veza sagt es in einer der Autobiographien: "Die Achtung vor Menschen beginnt dort, dass man sich nicht über ihre Werte hinweggeht"(9), Karl Kraus wird angesprochen durch den Satz "Man erlernt das Hören"(10), John Heartfield " bestand aus spontanen und heftigen Augenblicken(11), wodurch eine Situation entsteht, in welcher "Wesensschau" "Wesensschau" beobachtet. Wie vorhin erwähnt, gehört diese Einstellung zur Wesensschau zu den tiefsten Bestimmungen von Canetti’s Denken und Schreiben, so dass ihre direkte kausale Erschliessung kaum möglich scheint. So viel steht fest, dass Canetti die bewusste oder vielleicht sogar die unbewusste Überzeugung haben sollte, letztlich bestünde das Literarische in der Herstellung von durch Wesensschau geprägten Gestalten. Die Beschreibung der einzelnen Gestalten, sogar die "der" Wirklichkeit soll ein wahreres Bild derselben geben als sie ist, und zwar durch die Heraufbeschwörung von "Wesenheiten", die allein durch eine spezifische Wesensschau erschlossen werden können. Diese Einstellung kann auch unter dem Blickwinkel des Mimesisbegriffs der allgemeinenÄsthetik betrachtet werden, es fällt nur auf, dass eine so direkte Interpretation des Mimesisgedankens im Kontext des polyhistorischen Romans aus dem Kontext herausfällt. Über Leonhard Frank wird etwa folgendes gesagt: "...ein Satz und er hätte sich als Panther der Länge nach über den ganzen Tisch geschwungen"(12), Isak Babel "...kam nicht als Schauspieler seiner selbst..."(13) Mit diesen und ähnlichen Bestimmungen kommt Canetti in den Besitz eines anderen Menschen, wie ein Parodist, der einen schon "hat", wenn er über seine "Maske" und seine "Stimme" verfügt. Nicht zum ersten Mal stellt sich daraus die Frage, ob aus einer solchen Einstellung zur Wesensschau eine Struktur des polyhistorischen Romans überhaupt aufzubauen sei. Gerade in der Broch-Canetti-Beziehung wird immer wieder thematisch, wie auf der Ebene der persönlichen Beziehung oder auf derselben der Romanästhetik dieser Unterschied der "philosophischen" Einstellung reproduziert wird. Brochs Canetti-Strategie ist eindeutig, ihre inhaltliche Verwirklichung schwankt aber zwischen den Ausgangsthesen (die Canetti als einen grossen Kommenden sehen, der einmal die Brochsche Konzeption des superkomplexen polyhistorischen Romans verwirklichen wird) und der konkreten Einsicht in Canetti’s Eigenart einer Kunstphilosophie der Wesensschau. An einer sehr wichtigen Stelle bezeichnet er Canetti’s Dichtkunst als "rationale Darstellung unter einem ethischen Zweck", was seinen eigenen romanpoetischen Grundsätzen ja so ähnlich klingt. Er setzt es aber so fort: "Aber abgesehen davon, dass dies kein Vorwurf ist, denn auch das Rationale wird in der Hand eines Dichters zum Kunstwerk, so wird hier mit solch kalter, jaunbarmherziger Methode mehr als etwas bloss Ästhetisches bezweckt: hier wird die Methode wie in jedem echten Kunstwerk - einem ethischen Zweck unterstellt, und das Ethos der Canettischen Kunst ist die Rückführung des Geschehens auf die Angst..."(14) Dieser Text zeigt exemplarisch Brochs oben angesprochenes Schwanken, denn darüber kann kein Zweifel bestehen, dass diese "kalte, ja unbarmherzige Methode" nicht auf Canetti’s psychologische Eigenschaften oder irgendein schöpferische Wollen zu berufen ist, diese Beschreibung referiert einfach das, was wir als Einstellung zur philosophischen und romanästhetischen "Wesensschau" nannten. Es ist ein organischer Teil von Brochs "Werbung" um Canetti, dass er dessen "Wesensschau" ein ethisches Ziel unterschiebt (was in klarer Form kaum der Fall sein kann) und das in demselben Satz noch mit der "Angst" erklärt. Broch bleibt aber nicht nur bei der Erklärung der "Wesensschau" als einer eigentlich moralischen Initiative gegen Angst stehen, er geht weiter. In einem schon literaturhistorisch konkretisierten Vergleich bringt er diese Einstellung auch mit Canetti’s spezifischer Attitüde der Masse in Verbindung: "Meinen Sie es nicht, dass es sich dabei um eine Kunst nach der Art E.T.A.Hoffmanns oder Edgar Allan Poes handelt. Wenn es zu diesen bei Canetti Beziehungen gibt, so bloß in der karikaturistischen Konturierung der Gestalten. Die Angst, die Canetti erweckt und erwecken will, steht vielmehr in enger Beziehung zu seinem Glauben an die überindividuelle Masse und an das Massenbewusstsein."(15) Wir sehen, Broch tut alles, um Canetti vor einer "bloß literarischen" Interpretation der "Wesensschau" in Schutz zu nehmen, daher die Distanzierung von Poe oder Hoffmann und wir sahen auch, dass diese Deutung ein entscheidendes Moment ist, Canetti für seine Literaturtheorie in Anspruch zu nehmen. Broch kommt aber auch damit noch nicht zu einem Ende. "Wesensschau" wird also zunächst durch seine Einsicht in das Angstphänomen erklärt und unverzüglich auch mit universalistischen ethischen Motiven versehen, sie wird weiter auch intellektuell ausgebaut (Canetti ist ja ein Experte für die Interpretation der Masse), dies alles wird aber durch einen noch weiteren Schritt gleichzeitig weiter intellektualisiert und mit zusätzlichen ethisch-universalistischen Motiven ergänzt: "Es ist gewissermassen eine positiv gewendete Angst. Denn Canettis nahezu hasserfüllte Bevorzugung der grotesken und abseitigen Menschengestalt entspringt der Überzeugung, dass das Individuelle von vornherein bloss Verzerrung sein kann..."(16) Es kann vorkommen, dass Canetti stellenweise tatsächlich diese Motivation hat, es kann trotzdem darüber aber kein Zweifel bestehen, dass in dieser Darstellungsweise seine charakteristische "Wesensschau" in ihrer reinstenForm am Werke ist. Indem Broch Canetti’s gestaltpoetische Intentionen analysiert, scheint er manchmal zu vergessen, in wessen Namen er eigentlich redet. Denn indem er fortsetzt, Canetti im Zuge seiner Werbung um ihn durch seine eigene Begrifflichkeit zu beschreiben, "rettet" er ihn aber gleichzeitig vor dem "Schein", seine im Zeichen der "Wesensschau" konzipierte Gestaltpoetik könnte eine unreflexive und naive, d.h. rein literarische Verfahrensweise geblieben sein. Zu all den genannten Motiven unterschiebt er Canetti damit eine bewusste Strategie (die der seinigen nicht so fern steht): "Was aber Canetti will, ist mehr; indem er seine Gestalten, und damit den Leser, in die Angst des Irrsinns jagt, will er jene tiefste Zerknirschung erreichen, die bloss mit Eckhards ’Abgeschiedenheit’ zu vergleichen ist. Er will den Menschen und seine Individuumhaftigkeit, die nicht nur das Irrsinnige, sondern auch das Sündige ist, immer ist es die alte Idee von der Besessenheit, die wieder aufscheint - , zu jenem letzten Nichts reduzieren, von dem aus erst wieder die Umkehr möglich wird. Und diese Umkehr ist die Rückkehr ins Überindividuelle, ist die Gnade des Meers in das der Tropfen zurückfällt."(17) Dieser letzte Teil in Brochs Präsentation gibt nicht nur eine volle Erklärung der schriftstellerischen Methodik Canetti’s, sondern versieht sie sogar mit einer tief greifenden, wenn nicht eben revolutionären Mission! Die Dialektik dieser Mission ist aber ein intellektueller Besitz von Broch (und hat mit Canetti’s Intentionen gewiss kaum etwas zu tun), es ist aber nicht zu leugnen, dass sie - klassisch-dialektisch - gerade das Essentialistisch oder das Minimalistische in Canetti’s Wesensschau zum Ausgangspunkt des dialektischen Sprunges nimmt.
Die Differenz bleibt aber. Denn wenn der Ausdruck "Wesensschau" bei Broch überhaupt einen Sinn hat, so referiert er ein Ganzes oder, mit Broch zu sagen, die "Totalität". Darauf baut das Konzept des polyhistorischen Romans bei Hermann Broch. Dass aber Canetti mit einer umfassenden Einstellung zur "Wesensschau" ohne Reflexion und dem gemäß auch ohne Metasprachen auskommt, ist klar und dieser grundlegende Unterschied kann zwischen den beiden Konzepten nie aufgehoben werden(18).
Die Äußerungen Canetti’s über Hermann Broch fordern zwar die Anerkennung einer grundlegenden Wesensschau nicht ein, sie insistieren aber mit kritischer Konsequenz auf Momenten in Brochs Romanpoetik und dichterischer Praxis, die in der Konstruktion des Brochschen polyhistorischen Romans grundlegend konstitutiv sind. Canetti zieht diejenigen Hintergründe ohne Aggression, nichtsdestoweniger jedoch konsequent in Zweifel, die hinter Brochs Vorstellungen stehen und dadurch delegimiert er die ganze Konzeption.
Im Kontext der Broch-Joyce-Relation versucht es Canetti überhaupt nicht, die hierzu gehörenden strengen romantheoretischen Momente anzuführen. Es fällt umso intensiver auf, weil gerade Broch es selber war, der im Rahmen seiner Promotionsaktivitäten für seine große Trilogie den Joyce-Bezug unermüdlich ins Gespräch bringt. Die romantheoretischen Momente sind somit für den anderen Romandichter ohne Belang, umso intensiver richtet sich aber sein Interesse auf die menschlich-psychologische Seite dieser Relation. Es versteht sich, dass damit auch der Canetti’sche Zug zur Wesensschau in aller seiner Vollkommenheit erscheint. Für Canetti ist es ein Grund des Wunderns über "Menschliches-Allzumenschliches", dass Broch sich keinen anderen Ruhm und kein tieferes Glück vorstellen kann, als ein deutscher Joyce zu sein.(19) Das Wesen Broch wird von dieser Sympathie gekennzeichnet, die Verbindung zur Romantheorie und dadurch zum eigenen Romanschaffen wird übergangen.
Ähnlich sieht Canetti auch Brochs Relation zu Freud. Wieder ohne Aggression und Ironie deutet er aber ganz unmissverständlich an, dass er es problematisch, wenn nicht gar unangenehm findet, wie Broch zu Freud steht. Ähnlich wie im Falle von Joyce, denkt Canetti wieder nicht in geistigen Zusammenhängen, auch nicht in denen des polyhistorischen Romans. Im Bann seiner Wesensschau wird er nur auf den Charakter der Beziehung fixiert, der ihn in Verwunderung setzt, denn Broch zeigte sich im Zusammenhang von Freud auch bei Inhalten fasziniert, die "...in damaligem Wiener Sprachgebrauch von alltäglichster Banalität gerade war(en)..."(20)
Der Charakter, aber auch die Richtung der beiden Einstellungen sollte als eindeutig gelten. Diese scheinbar zufälligen Akzentsetzungen sind aber gleichzeitig auch Pfeiler von Brochs aktuell mit großem Eifer verbreiteter Konzeption über einen Typus des polyhistorischen Romans, in den er (Broch) ihn (Canetti) mit aller Kraft integrieren möchte.
Die Vielfalt dieser Beziehung erschöpft sich aber nicht in den grundsätzlichen Differenzen der philosophischen Einsichten und in den auf sie aufbauenden Handlungsmustern, sie erscheint auch in dem bewussten Verhalten und in der philosophischen Reflexion. Brochs ganze Strategie erscheint in Canetti’s folgender Charakterisierung, ohne dass es uns aufgegeben wäre, sie mit den vorhin angeführten Thesen unserer Arbeit in detaillierter Weise in Verbindung zu bringen: "Broch gab immer nach, er nahm nur auf, indem er nachgab. Das war kein komplizierter Prozess, das war seine Natur, und ich glaube, es war eine richtige."(21) Schöner hätte man auch jenen Prozess nicht beschreiben können. Es ist wieder eine neue Facette derselben Einstellung, dass Canetti eine Eigenschaft in Brochs Attitüde kritisch unter die Lupe nimmt, die unmissdeutlich auch mit "Wesensschau" zu tun haben: "Die Unwissenheit des Sprechenden, dessen Worte von keiner der herrschenden philosophischen Terminologien gefärbt waren, liess ihn den Gehalt des Gesagten völlig übersehen, auch wenn es seine Eigenart hatte. Es war die Kraft der Absicht, was ihn traf, der der Anspruch auf eine neue Lehre, die einmal dastehen würde, und obschon sie - außer in kümmerlichen Ansätzen - noch gar nicht bestand, empfand er diese Absicht als Befehl und ließ diesen Befehl, als wäre er an ihn gerichtet, in sich nachwirken...(22) Wort für Wort erscheint in diesem Gedanken eine Attitüde, die gegen die Anerkennung einer "Wesensschau" Canetti’scher Prägung gerichtet war (es geht um einen Sprecher, der keine der herrschenden Terminologien beherrscht und dessen Aussagen doch eine Eigenart haben, die "Absicht" eines Sprechers ergriff ihn, freilich nur wenn sie in einer der herrschenden Terminologien ihre Innovation zu verwirklichen suchte...).
Diese grundlegenden Einstellungen haben auch die allgemeine hermeneutische Konsequenz, dass diese Grundattitüden auch für die Interpretation die adäquaten und die optimalen Richtlinien vorschreiben. Es heisst, dass Broch nur durch eine Broch adäquate und Canetti ebenfalls nur durch eine Canetti adäquate Weise verstanden werden kann. Broch kann ohne eine Hypothese nicht verstanden werden, welche seine Entscheidungen für einen universalen Polyhistorismus außer acht lässt, Canetti kann man auch nicht verstehen, wenn man seine tiefliegende Überzeugung, die Literatur soll die menschliche Realität durch Wesensschau neu reproduzieren, ignoriert.
Es versteht sich von selber, dass dieser Tatbestand wieder ein neues Licht auf die Diskussion über die affirmative Forschung wirft. Broch selber kann nämlich durch eine durch Broch geprägte Methode verstanden werden und dasselbe bezieht sich auch auf Canetti. Würde man also die Position der Kritik an der affirmativen Forschung ad absurdum führen, so würde es in aller Klarheit heissen, dass man mit Sicherheit zu falschen Ergebnissen kommt.
Die beiden auf vielen übereinander liegenden Schichten sich reproduzierenden Grundeinstellungen haben aber auch ihre Dialektik. Indem Broch über Canetti feststellt, "Das sind keine wirklichen Menschen mehr...Das wird zu etwas Abstraktem..."(23), kehrt er Canetti’s Wesensschau um. Es ist ja eine wahre Umkehrung, denn hier wächst "Abstraktion" aus einer nicht-abstrakten "Wesensschau" heraus. Konkretes wird, vollkommen legitim, als Abstraktes erlebt. So viel an Konkretheit wird schon dialektisch abstrakt und es lobt Brochs Scharfsinn, dies tatsächlich auch wahrzunehmen. Die Dialektik funktioniert aber auch inumgekehrter Richtung:Canetti’s Wesensschau wird eine methodisch anmutende Abstraktion, Broch "methodisch konstruierte" universalistisch-polyhistorische Gestaltpoetik wird aber (durch Dämmerzustand) auch "Wesensschau", mit Gestalten an der Spitze, die zu den grössten Errungenschaften dieser Romanliteratur gehören.
Ein würdiges Ende dieser einmaligen reflexiven Paar-Beziehung Broch-Canetti liefert Canetti’s berühmte Nobelpreis-Rede. Sie setzt einen Abschluss, der die Könige des Papierreiches auf einen Schlag in wirkliche Könige verwandeln. Elias Canetti, der in seinem grossen psychologischen Werk die Problematik des Überlebens so tief und vielschichtig thematisiert, hat jenen Hermann Broch überlebt, der vergeblich so viele Energien darauf verwendet hatte, ihn für seine Romankonzeption zu gewinnen. Canetti hätte sein Überleben auch so deuten können, dass es gleichzeitig auch das Überleben seiner Konzeption, seiner Philosophie oder seiner Wesensschau ist. Und dieser Überlebende auf dem wirklichen Gipfel seiner Laufbahn (wenn ein Würdiger den grössten Preis bekommt, ersteht ein solcher Gipfel wie von selber) unter anderen auch jenen Hermann Broch als seinen Kollegen und Vorgänger erwähnt, der diesen Preis eher verdient hätte. Stellt man diesen Akt der einmaligen Anerkennung in den Kontext der Beziehung der beiden Romandichter zueinander, so kann man wirklich behaupten, "Dichter werben für Dichter". Ein mit den höchsten Lorbeeren geschmückter Dichter wirbt für einen, dem er Zeit seines ganzen Lebens Widerstand geleistet hatte.
ANMERKUNGEN:
(1) S. Elias Canetti, Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. München-Wien, 1985. 185.
(2) Als umfassender Bezugspunkt gilt dabei die umfassende und alle Romanautoren heimsuchende Nietzsche-Relation. Siehe dazu: Endre Kiss, Philosophie und Literatur des negativen Universalismus. Intellektuelle Monographie über Hermann Broch. Cuxhaven-Dartford, 2001. 12.
(3) Hermann Broch, Schriften zur Literatur 1. Kritik. Frankfurt am Main, 1975. 59-62.
(4) Siehe über Canetti’s unreflektierte, nichtsdestoweniger aber konsequente Methodologie: E. Kiss, On the Methodological Originality of "Crowds and Power" and the Problem of Renaturalizing of the Political Domain. In: Prima Philosophia, Band 17. Heft 1, 2004.19-39.
(5)Schriften zur Literatur 1. Kritik, 60.
(6) Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931. München-Wien, 316.
(7) Ebenda, 302.
(8) Ebenda, 254.
(9)Die Fackel im Ohr, 247
(10) Ebenda.
(11) Ebenda, 301
(12) Ebenda, 320
(13) Ebenda, 321
(14) Schriften zur Literatur/Kritik , 1, 60 (Zweite Sperrung bei Canetti - E-K.)
(15) Ebenda, 60-61
(16) Ebenda, 61.
(17) Ebenda (Sperrung nicht im Original).
(18) Aus den vielen diesbezüglichen Texten s. Schriften zur Literatur 1.Kritik , 85
(19)Das Augenspiel , 200
(20) Ebenda, 249
(21) Ebenda, 30
(22) Ebenda. Sperrung im Original.
(23) Ebenda