Wenzeslav Konstantinov (Sofia)
Als die Weltpresse am 15. Oktober 1981 die Nachricht verbreitete, der neue Nobelpreisträger für Literatur sei der Schriftsteller Elias Canetti, versetzte die Entscheidung der Schwedischen Königlichen Akademie die Berichterstatter in Verlegenheit: der in London und Zürich lebende, damals 76-jährige Autor war nur einem beschränkten Leserkreis bekannt, man begeisterte sich für seine Autobiographie "Die gerettete Zunge" und wußte einiges vom Theaterskandal, den die erste Aufführung des Dramas "Komödie der Eitelkeit" - dreißig Jahre nach dem Entstehen - in Braunschweig hervorgerufen hatte.
Die Verwirrung entstand auch dadurch, daß niemand mit Sicherheit sagen konnte, welcher Nationalität der Erwählte angehörte. Gewiß war jedoch, daß Elias Canetti in Rustschuk, Bulgarien geboren war: dies war wohl der Grund dafür, daß man ihn für einen bulgarischen Schriftsteller hielt und in die Sparte "Bulgarische und rumänische Romane und Novellen" eines repräsentativen Romanführers(1), eingeordnet hatte.
Die Kritik hielt Canetti für einen "lebenden Klassiker", nannte ihn "einen der letzten großen Humanisten", und verstand darunter "einen Intellektuellen, der jahrzehntelang an seinem Pult arbeitete, Universalhypothesen ersann und schließlich vor dem Wagnis nicht zurückschrak, eine einheitliche Deutung des ganzen Weltsystems aus eigener Kraft aufzustellen".(2) Man sprach den Namen Elias Canetti in einem Atemzug mit den Namen von Robert Musil, Hermann Broch und Franz Kafka aus, sah in ihm den Fortführer der großen Traditionen im österreichischen Roman. Schon 1962 hatte Erich Fried bemerkt:
In Österreich, das er 1938 verließ, ist Canetti der weiteren Öffentlichkeit kaum bekannt. Mit Ausnahme der Wenigen, die die Lektüre der "Blendung" auch nach Jahrzehnten nicht vergessen haben, wissen hier fast nur Schriftsteller und andere schöpferische Menschen, um was es sich handelt, wenn dieser Name fällt. Das ist umso erstaunlicher, weil die Substanz von Canettis Werk so sehr die Wiens ist. In die Reihe der großen Satiriker Wiens, die sich durch die Namen Abraham a Santa Clara, Johann Nestroy und Karl Kraus abstecken läßt, gehört als zeitlich letzter Elias Canetti.(3)
Auch Herbert Zand hatte dazu Stellung genommen: "In ihm ist österreichische Erfahrung lebendig, er kann uns besser als andere mitdenken."(4)
Im 1977 erschienenen ersten autobiographischen Buch "Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend" unterstreicht Canetti jedoch ausdrücklich, gerade die Erlebnisse im bulgarischen Heimatort seien entscheidend für seine geistige und künstlerische Entwicklung. "Rustschuk, an der unteren Donau, wo ich zur Welt kam, war eine wunderbare Stadt für ein Kind. [...] Alles was ich später erlebt habe, war in Rustschuk schon einmal geschehen."(5) Und dann: "Ich kann nur eines mit Sicherheit sagen: die Ereignisse jener Jahre sind mir in aller Kraft und Frische gegenwärtig - mehr als sechzig Jahre habe ich mich von ihnen genährt."(6)
Um die Zugehörigkeit Elias Canettis zu einer Nationalliteratur zu prüfen und zu ergründen, müßte man allerdings zuerst die Fragen beantworten: In welchen Verhältnissen standen die Familie Canettis und er selbst zu Bulgarien und zu Österreich? Welche Rolle spielte die bulgarische Donaustadt Rustschuk im geistigen Werdegang des Denkers und Schriftstellers Elias Canetti? Welche sind die schicksalsträchtigen Schlüsselerlebnisse in der Kindheit, die ihn geprägt und den lebendigen Kern seines Schaffens ausgemacht haben? Welche sind jene "disparaten Elemente", die er in sich trug, die in den frühen Jahren zerstreut und unverbunden in ihm herumlagen, um in einem späteren, entscheidenden Moment zu einem "unsichtbaren Kristall" zusammenzuschießen, der "nie mehr aufzulösen ist, von dessen harter, spürbarer, ja vielleicht schmerzlicher Form alles bestimmt sein wird".(7) (So Canetti in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Großen Österreichischen Staatspreises im Jänner 1968.)
ZUR FAMILIENGESCHICHTE
Die Vorfahren kamen aus der spanischen Stadt Cañete, die zwischen Cuenca und Valencia liegt. Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurden die spanischen Juden durch das Edikt von Isabella der Katholischen und Ferdinand von Aragonien aus Spanien vertrieben.(8) Beim letzten großen Exodus im Jahre 1492 - dem Jahr des Falls von Granada und der Entdeckung Amerikas - soll die Familie Canettis, die damals Cañete hieß, zusammen mit 35.000 anderen hebräischen Familien Spanien verlassen haben. Elias Canetti bemerkt selbst dazu:
Viele dieser Juden wurden in der Türkei gut aufgenommen. Der türkische Sultan fand nützliche Untertanen in ihnen. Sie hatten allerhand Fertigkeiten; es gab Ärzte unter ihnen, Finanziers, Handwerker, die besondere Dinge beherrschten. Sie wurden gut behandelt, und sie verbreiteten sich über das ganze damalige türkische Reich, haben aber ihre spanische Sprache behalten, und zwar das Spanisch jener Zeit. Meine Familie väterlicherseits war während einiger Jahrhunderte in Adrianopel angesiedelt, das türkisch Edirne heißt, und mein Großvater wanderte von dort nach Bulgarien, und da kam ich dann zur Welt.(9)
Zu Beginn des 19. Jahrhundert italienisierte einer der Vorfahren des Schriftstellers den ursprünglichen Nachnamen, indem er aus Cañete Canetti machte. Beide Brüder von Canettis Großvater, Abraham und Moiss Canetti, wanderten schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts nach Rustschuk. Ihre Namen wurden 1869 im Konstantinopeler "Journal israelite" erwähnt, als der Kaiser Franz Josef auf der Reise nach Konstantinopel in Rustschuk Halt machte und von einer Deputation, an der die Brüder Canetti teilnahmen, empfangen wurde. Kurz darauf ist Abraham Canetti zum Konsul von Österreich-Ungarn in Rustschuk ernannt worden.
Noch weiter läßt sich die Familiengeschichte des Schriftstellers mütterlicherseits zurückverfolgen. Die Mutter, Mathilde Canetti, war eine Enkelin des angesehenen jüdischen Historikers und Aufklärers Abraham ben Israel Rosanes, genannt Abir. Ihm verdankte man in Rustschuk 1869 die Eröffnung der ersten jüdischen weltlichen Schule in Bulgarien. Seine Vorfahren sollen ursprünglich von der nördlich von Barcelona gelegenen katalanischen Stadt Rosas gekommen sein.(10)
Beide Großeltern des Schriftstellers stammten aus Adrianopel. Der Großvater, der ebenfalls Elias Canetti hieß, war Großhändler und besaß ein Geschäft in Rustschuk, in dem man Kolonialwaren en gros verkaufte. Canetti erinnert sich:
Ein eifriges und zugleich zärtliches Wort, das ich oft hörte, war 'la butica'. So nannte man den Laden, das Geschäft, in dem der Großvater und seine Söhne den Tag zubrachten. [...] Es lag an einer steilen Straße, die von der Höhe der reicheren Viertel Rustschuks stracks zum Hafen hinabführte. An dieser Straße lagen alle die größeren Geschäfte; das des Großvaters befand sich in einem dreistöckigen Haus, das mir stattlich und hoch erschien, die Wohnhäuser auf dem Hügel oben waren einstöckig.(11)
Bulgarische Lokalforscher konnten feststellen, daß das eigentlich zweistöckige Handelshaus im Jahre 1898 gebaut wurde und sich in der alten Handelsstraße "Slawjanska" (früher: "Mitarna") Nummer 12 befindet. "Es ist ein massiver Bau, dessen Vorderfront mit Ornamenten, einer Frauenfigur, einem aus Stein gemeißelten Familienmonogramm und Balkons mit geschwungenen schmiedeeisernen Geländer verziert ist".(12) Die Firma "Elias Canetti & Söhne" hatte Niederlassungen im ganzen Land und nahm am Handelsleben Bulgariens nach dessen Befreiung von der türkischen Fremdherrschaft im Jahre 1878 aktiv teil. Der Schriftsteller selbst dazu: "Der Großvater, der seine Kinder als unerbittlicher Patriarch regierte, steckte jeden seiner Söhne früh ins Geschäft, in jeder größeren Stadt Bulgariens sollte es eine Filiale davon geben, unter der Obhut eines seiner Söhne."(13)
Der Vater des Schriftstellers, der Kaufmann Jacques Canetti, wurde 1882 in Adrianopel geboren und kam noch als Kind mit der ganzen Familie nach Rustschuk.(14) Die Mutter, Mathilde Canetti, geb. Arditti, kam 1885 schon in Rustschuk zur Welt. Sie entstammt "einer der ältesten und wohlhabendsten Spaniolen-Familien in Bulgarien" und ihr Vater, der hochmütige Nissim Arditti, "widersetzte sich einer Ehe seiner Jüngsten, die seine Lieblingstochter war, mit dem Sohn eines Emporkömmlings aus Adrianopel".(15) So Elias Canetti.
Die drei Familien - Canetti, Arditti und Rosanes - sollen eine bedeutende Rolle im Gesellschaftsleben des alten Rustschuk gespielt haben. Bekannt ist auch ihre Tätigkeit zugunsten der Sache der nationalen Befreiung Bulgariens.(16)
Nach der Geburtsurkunde, die im Stadtrathaus des heutigen Russe von Lokalforschern entdeckt wurde, erblickte Canetti das Licht der Welt am 12. (jetzt: 25.) Juli 1905 um 1 Uhr mittags in seinem Elternhaus in der Gurkostraße 33 (jetzt: 13). Das Gebäude sowie das Haus des Großvaters und jenes der Tante Sophie Eljakim - alle einstöckig und mit einem gemeinsamen Hof - sind bis heute erhalten geblieben.(17)
In Rustschuk verlebte Elias Canetti die ersten sechs Jahre seines Lebens. Um die Jahrhundertwende herrschte da eine babylonische Verwirrung von Sprachen, Nationalitäten, Menschentypen. In seinen Memoiren notierte Canetti:
Es lebten dort Menschen der verschiedensten Herkunft, an einem Tag konnte man sieben oder acht Sprachen hören. Außer den Bulgaren, die oft vom Lande kamen, gab es noch viele Türken, die ein eigenes Viertel bewohnten, und an dieses angrenzend lag das Viertel der Spaniolen, das unsere. Es gab Griechen, Albanesen, Armenier, Zigeuner. Vom gegenüberliegenden Ufer der Donau kamen Rumänen. [...] Es gab, vereinzelt, auch Russen.(18)
Und dann: "Die übrige Welt hieß dort Europa, und wenn jemand die Donau hinauf nach Wien fuhr, sagte man, er fährt nach Europa, Europa begann dort, wo das türkische Reich einmal geendet hatte."(19)
Bulgarisch lernte Canetti mit den Bauernmädchen, die bei ihnen im Haus lebten und zu seinen frühesten Spielgefährten wurden. Von ihnen hörte er die ersten Geschichten von Menschen und Tieren, die ihn tief beeindruckten; die Bauernmädchen erzählten ihm bulgarische Volksmärchen, in denen Wölfe, Werwölfe und Vampire vorkamen, die seine Phantasie zuerst erfüllten.(20) Nach Jahren notierte Canetti: "Ich kann kein Buch mit Balkanmärchen in die Hand nehmen, ohne manche von ihnen auf der Stelle zu erkennen. Sie sind mir in allen Einzelheiten gegenwärtig [...]."(21)
Unter den Dienern, die man im Hause hatte, gab es Leute verschiedener Nationalitäten, z.B. einen Tscherkessen, später einen Armenier. Die beste Freundin der Mutter war eine Russin. Einmal wöchentlich zogen Zigeuner in ihren Hof, die den Jungen mit Furcht und Bewunderung erfüllten. Rustschuk war ein alter Donauhafen und hatte als solcher Menschen von überall angezogen. Von der Donau war in der Familie, aber auch auf dem Hof, immerwährend die Rede. Man erzählte Geschichten über die besonderen Jahre, in denen die Donau zufror; von Schlittenfahrten über das Eis nach Rumänien hinüber; von hungrigen Wölfen, die hinter den Pferden der Schlitten her waren. Später erinnerte sich Canetti: "Als Kind hatte ich keinen Überblick über diese Vielfalt, aber ich bekam unaufhörlich ihre Wirkung zu spüren."(22) Und dann: "Es wird mir schwerlich gelingen, von der Farbigkeit dieser frühen Jahre in Rustschuk, von seinen Passionen und Schrecken eine Vorstellung zu geben."(23)
So kann einerseits festgestellt werden, daß die Beziehungen der Familie Canetti zu Österreich schon in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts aufkeimten. Anderseits aber erlebte Elias Canetti selbst im alten bulgarischen Rustschuk eine Welt, die durch ihre verhängnisvollen Ereignisse mit der Zeit für ihn an Bedeutung gewann und die Hauptmotive seines Werkes bestimmen sollte. Welche sind sie?
DER WELTUNTERGANG
Als Canetti etwa fünf Jahre alt war, erschien der große Halley'sche Komet. Ganz Rustschuk geriet in schreckliche Aufregung, alle sprachen vom Kometen, bevor man ihn sah, der Junge hörte, das Ende der Welt sei gekommen. "Ich stellte mir nichts darunter vor", notierte Canetti,
wohl aber merkte ich, daß die Leute verändert waren, zu flüstern begannen, wenn ich in die Nähe kam und mich mitleidig ansahen. Die bulgarischen Mädchen flüsterten nicht, sie sagten es alles heraus und von ihnen erfuhr ich, auf ihre derbe Art, daß das Ende der Welt gekommen sei. Es war der allgemeine Glaube in der Stadt und er muß eine Weile vorgeherrscht haben, da es sich mir, ohne daß ich mich selbst vor etwas Bestimmten fürchtete, so tief einprägte. [...] Eines Nachts hieß es, jetzt sei der Komet da und jetzt werde er auf die Erde fallen. Ich wurde nicht schlafen geschickt, ich hörte jemand sagen, das hätte jetzt keinen Sinn, die Kinder sollten auch in den Garten kommen.(24)
In einem späteren Interview erzählte Canetti weiter:
Es herrschte eine mittelalterliche Weltuntergangsstimmung. Diese Vorstellung, daß die Welt nun untergehen würde, weil da so ein ungeheuerer Komet am Himmel stand, der - als ich ihn sah - ein Viertel des Himmels bedeckte, hat sogar meine Eltern erfaßt, die aufgeklärte Menschen waren. [...] Und ich glaube, daß mein Sinn für Apokalyptisches, für drohenden Untergang, durch dieses Erlebnis stark mitbestimmt wurde.(25)
Das Empfinden für Apokalyptisches und Untergang, das im alten Rustschuk aufkeimte, fand einen künstlerischen Ausdruck zwanzig Jahre später in Wien. Im letzten Teil der Lebensgeschichte "Das Augenspiel" schildert Canetti die seelische Verfassung, die ihn im Winter 1931 zum Thema des Weltuntergangs zurückgebracht hatte:
Der Untergang war nun in mir angelegt und ich kam nicht von ihm los. Durch die 'Letzten Tage der Menschheit' hatte er sich seit sieben Jahren schon vorgeprägt. Aber jetzt hatte er eine sehr persönliche Form angenommen, die den Konstanten meines eigenen Lebens entsprang. [...] Die Bedrohung der Welt, in der man sich fand, empfand ich nie stärker als damals. [...] Jedes Gespräch, von dem ich im Vorbeigehen Teile hörte, schien ein letztes. [...] Aber es hing auf das engste mit den Bedrohten selbst zusammen, was ihnen geschah. Sie hatten sich in die Situation gebracht, aus der es kein Entrinnen gab. Sie hatten sich die besondere und absonderlichste Mühe gegeben, so zu sein, daß sie ihren Untergang verdienten.(26)
In seinem Studentenzimmer in Hacking verfaßte der 26-jährige Canetti das Drama "Hochzeit", schrieb "in besessener Eile" Szene um Szene, und jede führte zum Untergang. Die Figuren wurden von ihm angeprangert und über alle Szenen hielt er seine "Peitsche". "Es war wie ein Strafgericht, das alles einbezog, und am schwersten gestraft war der, der es sich über die anderen anmaßte"(27), notierte später Canetti. Er stellte eine Hochzeitsfeier wie einen Totentanz dar. Ein Erdbeben, das zunächst als Gesellschaftsspiel von den betrunkenen Gästen inszeniert wurde, ist plötzlich Wirklichkeit. Nun erst erlebt man, was jeder in einem solchen Fall tatsächlich täte. Selbstsucht und Gier gewinnen die endgültige Herrschaft. Das Haus, um das alle werben, bricht schließlich zusammen und zieht alle mit in den Abgrund. Der letzte Laut, den man im Finsteren vernimmt, ist der eines Papageis: "Haus. Haus. Haus." Das hört sich wie "Chaos. Chaos. Chaos." an, kann aber für "Welt. Welt. Welt." stehen.
Uraufgeführt wurde das Stück erst mehr als dreißig Jahre später im November 1965, und zwar wieder in Braunschweig und wurde wieder von einem Theaterskandal begleitet, der zu einer Strafanzeige "wegen Erregung geschlechtlichen Ärgernisses" führte. Einer der Verteidiger des Stückes, der Philosoph Theodor Adorno, bemerkte nach der Aufführung:
Das [...] Stück, das allein schon als ein literarhistorisches Mittelglied zwischen dem damals abgeklungenen Expressionismus und dem gegenwärtigen absurden Theater größtes Interesse verdient, ist [...] von einer fast moralisierenden, im übrigen gänzlich unzweideutig hervortretenden Absicht.(28)
Mit dem ersten Drama schuf Elias Canetti eine beklemmende Vision einer sich selbst zerstörenden Gesellschaft, die er in Wien nach dem Sturz der alten Monarchie vorgefunden zu haben glaubte. Er verfaßte sein Drama unter dem Einfluß von Karl Kraus, George Grosz und Büchner, doch spürte er den Stachel seines Sinns für Apokalyptisches, der durch die frühen Erlebnisse im bulgarischen Heimatort einst entwickelt wurde.
DAS FEUER
Im alten Rustschuk erlebte der Schriftsteller den ersten großen Brand in seinem Leben, und dieses Ereignis beeindruckte ihn tief. Canetti erinnert sich:
Eines Tages war der Gartenhof voller Rauch, einige unserer Mädchen liefen auf die Straße und kamen bald aufgeregt zurück, mit der Nachricht, daß ein Haus in der Nachbarschaft brenne. Es stehe schon ganz in Flammen, es brenne ganz herunter. Gleich leerten sich die drei Häuser um unseren Hof und mit Ausnahme der Großmutter [...] rannten alle Bewohner hinaus in die Richtung des Feuers. [...] Ich lief also zum offenen Hoftor hinaus auf die Straße, die mir verboten war, und geriet in den eiligen Strom der Menschen. [...] Da sah ich zum erstenmal ein brennendes Haus. Es war schon weit heruntergebrannt, Balken stürzten ein und Funken sprühten. Es ging gegen Abend, es wurde allmählich dunkel und das Feuer schien immer heller. Aber was mir weit mehr Eindruck machte als das brennende Haus, waren die Menschen, die sich darum bewegten. Sie sahen klein und schwarz aus dieser Entfernung aus, es waren sehr viele und sie rannten alle durcheinander. Manche blieben in der Nähe des Hauses, manche entfernten sich und diese trugen alle etwas auf dem Rücken. Diebe!' sagten die Mädchen, ,Das sind Diebe! Sie tragen Sachen aus dem Haus fort, bevor man sie erwischt!' [...] Dieser Anblick, der mir unvergeßlich blieb, ist mir später in die Bilder eines Malers aufgegangen, so daß ich nicht mehr sagen könnte, was ursprünglich war und was von ihnen dazu kam. Ich war neunzehn, als ich in Wien vor den Bildern Brueghels stand. Ich erkannte auf der Stelle die vielen kleinen Menschen jenes Feuers aus der Kindheit. Die Bilder waren mir so vertraut, als hätte ich mich immer unter ihnen bewegt. [...] Der Teil meines Lebens, der mit jenem Feuer begann, setzte sich unmittelbar in diesen Bildern fort, als wären keine fünfzehn Jahre dazwischen gelegen. Brueghel ist mir der wichtigste Maler geworden, aber ich habe ihn mir nicht wie vieles später durch Betrachtung oder Nachdenken erworben. Ich habe ihn in mir vorgefunden, als hätte er schon lange, sicher, daß ich zu ihm kommen müsse, auf mich gewartet.(29)
Als Elias Canetti am 15. Juni 1927 den Brand des Justizpalastes in Wien beobachtete, war er zu diesem Ereignis durch das Feuer-Erlebnis in Rustschuk innerlich bereits vorgeprägt. Wenige Jahre später, als Canetti den Plan eines Romans entwarf, gab er dem Protagonisten zuerst den Namen Brand. Das fertige Manuskript trug den Titel "Kant fängt Feuer", und als das Buch erscheinen sollte, gab Canetti dem Roman den Titel, den er seither trägt: "Die Blendung". Es ist die Geschichte eines isolierten Büchermenschen, eines Sinologen von Beruf, der eine vulkanisch unsichere Existenz führt, zum Schluß Feuer an seine riesengroße Bibliothek legt und in den apokalyptischen Flammen, mit seinen Büchern auf immer vereint, selbst zugrunde geht.
Nach dem Erscheinen der "Blendung" Ende 1935 in Wien, schrieb Thomas Mann in einem Brief an den jungen Autor: "Ich bin tief angetan vom Reichtum dieses Romans, von dem Debordierenden seiner Phantasie, der gewissen erbitterten Großartigkeit seines Wurfes, seinem künstlerischen Mut, der tiefen Trauer und stolzen Kühnheit."(30) Hermann Broch sprach von der "abstrakten Seelenlandschaft dieser Dichtung" und von einem "Aufbau der Gestalt aus der Logik ihres Seins, die gleichzeitig die übergeordnete Logik der Gesamtheit ist und von dieser ihre unverbrüchliche und feste Lebensgeltung erfährt."(31) Im Schicksal der Hauptfigur des Romans erblickte die Kritik eine "mächtige Metapher für den Untergang des zivilisierten Europa".(32) Wenn man bedenkt, daß nur vier Jahre nach der Veröffentlichung des Buchs der Zweite Weltkrieg ausbrach, der auch eine Zerstörung der Kultur brachte, erwies sich diese Einschätzung als richtig und die künstlerischen Visionen Canettis wurden zu einer bitteren Prophezeiung.
Das letzte Werk der Wiener Periode, das Canetti unter dem Eindruck der Machtergreifung durch Hitler in Deutschland schrieb, war die "Komödie der Eitelkeit". Dargestellt werden die Folgen eines staatlichen Ediktes, das die Zerstörung aller Spiegel, aller Photographien und Bildnisse von Menschen befiehlt und hohe Strafen auf ihren Besitz setzt. Der erste Teil der Komödie ist eine Art Jahrmarkt, der in einzelnen Zügen den alten Wiener Wurstelprater heraufbeschwört. Die Menschen schleppen die neuverbotenen Gegenstände herbei. In einer Schießbude zerstören sie mit eigener Hand ihre Spiegel; die Photographien aber kommen alle in ein mächtiges Feuer, das den Mittelpunkt des Jahrmarkts bildet. Fünf Jahrzehnte später bemerkte Canetti in seinem Buch "Das Augenspiel" dazu:
Mehr und mehr bezieht sich alles auf das Feuer; erst aus der Ferne, dann näher und näher, bis eine Figur schließlich selbst zum Feuer wird, indem sie sich hineinstürzt. Die Besessenheit jener Wochen fühle ich heute noch in den Knochen. Es war eine Hitze in mir, als wäre ich diese Figur, die zu Feuer wird.(33)
Und dann: "Alle Feuer, die mich von Kind an beeindruckt hatten, sind in das Feuer der Bilderverbrennung eingegangen."(34) Im Jahre 1962 schrieb Erich Fried, ohne von Canettis Erlebnissen im alten Rustschuk und von seinen Passionen gewußt zu haben, zum Inhalt der "Komödie der Eitelkeit": "[...] die Charaktere des Stückes stellen sich während des Zerstörungsaktes vor. Die Art dieser Charaktere und der Aufbau des ersten Teiles erinnern an eines der großen Bilder von Breughel."(35)
DIE MASSE
Sein erstes Massen-Erlebnis hatte der Schriftsteller auch im alten Rustschuk; da sah er zum ersten Mal große Menschenmengen, die sein Interesse fürs ganze Leben gewinnen sollten. Jeden Freitag kamen Zigeuner in den Hof seines Vaterhauses. Der Junge war von panischem Schrecken vor ihnen erfüllt, denn die bulgarischen Mädchen im Haus hatten ihm erzählt, die Zigeuner stählen Kinder, und er war überzeugt davon, daß sie es auf ihn abgesehen hätten. Trotz dieser Angst aber konnte er sich ihren prächtigen Anblick nicht entgehen lassen. Nach Jahren erinnerte sich Canetti:
Sie kamen wie ein ganzer Stamm, in der Mitte hoch aufgerichtet ein blinder Patriarch, der Urgroßvater, wie man mir sagte, ein schöner, weißhaariger alter Mann [...]. Der ganze Aufzug hatte etwas unheimlich Dichtes, so viele Menschen, die sich bei ihrer Fortbewegung nah beisammen hielten, bekam ich sonst nie zu Gesicht; und es war auch in dieser sehr farbigen Stadt das Farbigste [...]. Mir kamen diese Zigeuner wie etwas Zahlloses vor, [...] immerhin hatte ich noch nie so viele Menschen im großen Hof gesehen [...], ich war besessen von ihnen [...].(36)
Einen starken Massen-Eindruck bekam Canetti auch beim Erscheinen des Halley'schen Kometen über Rustschuk. Alle Kinder aus den drei Familienhäusern und der Nachbarschaft standen zwischen den vielen Menschen im Gartenhof herum und alle, Erwachsene wie Kinder, starrten zum Himmel hinauf. "Es dauerte sehr lange", notierte Canetti später,
niemand wurde es müde und die Menschen standen weiter dicht beisammen. Ich sehe weder Vater noch Mutter dabei, ich sehe niemand von denen, die mein Leben ausmachten, vereinzelt. Ich sehe sie nur alle zusammen, und wenn ich das Wort nicht später so häufig gebraucht hätte, würde ich sagen, ich sehe sie als Masse: eine stockende Masse der Erwartung.(37)
Die Masse erlebte Canetti auch beim Brand des Hauses in der Nähe. In einem Interview äußerte er sich 1972 dazu: "Da sah ich zum ersten Mal eine Unzahl von Menschen um ein brennendes Haus versammelt und habe den Zusammenhang von Feuer und Masse gespürt, ohne zu wissen, was das bedeutet."(38)
Als Canettis Familie 1911 nach Manchester übersiedelte, war der Sechsjährige zur Aufnahme von Massen-Eindrücken schon im Heimatort vorbereitet. In England sollte der Junge die Massenerregung infolge des Untergangs des Ozeandampfers "Titanic" erleben.
Man ging auf die Straße", erzählte später Canetti, "und ich erlebte nun zum ersten Mal, daß wildfremde Leute, die nie miteinander sprachen, auf der Straße beisammenstanden, andere kamen dazu; es bildeten sich Gruppen. Also das, was man vielleicht heftiger erlebt, wenn eine Masse entsteht, wenn Leute von überall zusammenströmen, das war schon im Ansatz da.(39)
Ähnliche Massen-Eindrücke hatte Canetti dann in Wien 1914 beim Ausbruch des Weltkrieges, als er die Begeisterung in der kaiserlich-königlichen Hauptstadt miterlebte.
Da waren die Straßen, die Plätze alle voll von singenden Menschen, man sah überhaupt nur volle Straßen. Es war eine glückliche, jubelnde Masse [...]. Und ich weiß nicht, ob es Trotz war oder vielleicht auch eine kindliche Ahnungslosigkeit, ich glaube, es war eine Art Trotz, daß ich, als man Heil dir im Siegerkranz nach einer solchen Kriegserklärung laut deutsch sang, [...] plötzlich mit voller Stimme mit meinen beiden kleinen Brüdern God save the King zu singen begann. Da erlebte ich nun eine andere Art von Masse. Obwohl wir neun, fünf und drei Jahre alt waren, gingen die Leute auf uns los und wir wurden regelrecht verprügelt.(40)
Nach dem Krieg und dem Sturz der Monarchie lebte Canetti drei Jahre in Frankfurt, wo er das Realgymnasium besuchte. Das war die Zeit der Inflation, da sah er zum ersten Mal Arbeiterdemonstrationen und fühlte sich sehr von ihnen angezogen. Es war nach der Ermordung des deutschen Außenministers Walter Rathenau im Jahre 1922. "Ich spürte", sagte Canetti später, "eine physische Anziehung zu der Masse hin. Das hat einige Jahre nachgewirkt, und ich glaube, der Entschluß, herauszubekommen, was Masse eigentlich ist, war akut auf diese Erlebnisse in Frankfurt zurückzuführen."(41)
1924 bezog Canetti die Universität in Wien. Er besuchte die Vorlesungen von Karl Kraus und verbrachte die Abende mit Schreiben. Als er etwas über 20 Jahre alt war, kam ihm eines Tages der erste Gedanke zu einem Werk über die Masse. "Es war wie eine Erleuchtung. Ich beschloß, mein Leben der Erforschung der Masse zu widmen. Ich war von diesem Gedanken wie besessen, nichts vermochte mich davon abzubringen. Mit List und Zähigkeit, gegen den Widerstand aller, die anderes von mir erwarteten, hielt ich daran fest."(42) Das größte äußere Erlebnis in dieser Richtung war für Canetti der 15. Juli 1927, der Tag, an dem der Wiener Justizpalast in Flammen aufging. Das Gebäude wurde nach einem Fehlurteil von den Arbeitern in Brand gesteckt. Die Polizei schoß auf sie, es gab 90 Tote. Canetti, der dabei war, erinnerte sich nach Jahren: "Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm."(43)
Die Anziehungskraft der Masse hatte Elias Canetti noch im alten Rustschuk, in der Kindheit, empfunden. Nun, zwei Jahrzehnte danach, machte er es sich zur Aufgabe, herauszufinden, was Masse ist und ein Buch darüber zu schreiben.
DIE MACHT
In seinen frühen Jahren in Rustschuk lernte der Schriftsteller auch die Faszination und die Tyrannei der Macht kennen. Sie wurde durch die Person seines Großvaters, des alten Elias Canetti, verkörpert. Er war ein Selfmademan, der sich heraufgearbeitet hatte; von einem "betrogenen Waisenkind", das jung auf die Straße in Adrianopel gesetzt wurde, hatte er es zu beachtlichem Wohlstand gebracht.(44) In seinem Großgeschäft in Rustschuk führte er "ein strenges Regiment"; sein Bruder Tschelebon, den der kleine Canetti besonders gern hatte, war aus Mitleid als Diener beschäftigt.(45) Der Großvater war
wo immer er erschien, sofort im Mittelpunkt, in seiner Familie gefürchtet, ein Tyrann, der heiße Tränen weinen konnte, wenn es ihm behagte, am behaglichsten fühlte er sich in Gesellschaft der Enkel, die seinen Namen trugen. Unter Freunden und Bekannten, ja in der ganzen Gemeinde, war er für seine schöne Stimme beliebt, der besonders Frauen erlagen. Wenn er eingeladen war, nahm er die Großmutter nicht mit, ihre Dummheit und ihr ewiges Gejammer waren ihm lästig. Da war er dann immer bald von einem großen Kreis umringt, erzählte Geschichten, in denen er viele Rollen spielte, und bei besonderen Gelegenheiten ließ er sich erbitten zu singen.(46)
So waren alle Menschen in der Spaniolen-Gemeinde im alten Rustschuk dem Großvater Canetti verfallen(47), der stolz auf seine Herkunft war und auch im Ausland den Namen seiner Stadt mit feurigem Nachdruck aussprach - da war sein Geschäft, das Zentrum seiner Welt, da waren die Häuser, die er mit wachsendem Wohlstand erworben hatte.(48) In der Familie aber wuchs die Rebellion gegen den Haustyrannen; als der jüngste Bruder des Schriftstellers zur Welt gekommen war, wurde er gegen den Wunsch des Großvaters nach dem neuen König von England Georg genannt und die Wahl dieses anstatt eines biblischen Namens war eine offene Kriegserklärung an den Familiendiktator. Canetti notierte dazu:
zwei Brüder der Mutter hatten in Manchester ein Geschäft gegründet, das rasch florierte, der eine von ihnen war plötzlich gestorben, der andere bot meinem Vater an, als sein Kompagnon zu ihm nach England zu kommen. Für die Eltern war das eine erwünschte Gelegenheit, sich von Rustschuk, das ihnen zu eng und zu orientalisch war, und von der noch viel beengenderen Tyrannei des Großvaters zu befreien. Sie sagten auf der Stelle zu, aber die Sache war leichter gesagt als getan, denn nun begann ein erbitterter Kampf zwischen ihnen und dem Großvater, der um keinen Preis einen seiner Söhne hergeben wollte [...]. Den Vater, der noch ins Geschäft mußte, überfiel er mit seinem Zorn, der schrecklich war und von Woche zu Woche schrecklicher wurde. Als er sah, daß er nichts ausrichten konnte, wenige Tage vor der Abreise, verfluchte er ihn feierlich im Gartenhof, seinen Sohn, vor den anwesenden Verwandten, die entsetzt zuhörten. Ich hörte sie, wie sie untereinander darüber sprachen: nichts gäbe es, sagten sie, das furchtbarer sei, als einen Vater, der seinen Sohn verfluche.(49)
Damals noch, nach dem plötzlichem Tod des Vaters in Manchester, gerade am Tag des Ausbruchs des ersten Balkankrieges im Oktober 1912, glaubte der Junge, sein Vater sei durch diesen Fluch getötet worden, und er haßte die grausame Macht des Großvaters, der seinen Sohn überlebte.(50)
Später, nach der Beendigung des Studiums in Wien, als andere Mächte in Europa im Aufsteigen waren, fühlte sich Elias Canetti "vom Gedanken besessen zu begreifen, was denn Macht eigentlich sei".(51) Um 1931 erkannte er "nach einem heftigen Zusammenstoß mit den Cäsarenbiographien des Sueton"(52), daß das Buch über "Die Masse", das er schreiben wollte, ohne eine ergänzende Studie der Macht wertlos bleiben müßte, und erweiterte seinen Plan. Nach Hitlers Einmarsch in Wien 1938 übersiedelte Canetti nach London und hier wandte er seine ganze Kraft einem Werk zu, das die große Arbeit seines Lebens werden sollte, der Untersuchung von "Masse und Macht", die ihm vier Jahrzehnte später den Nobelpreis für Literatur brachte.
"Der Weltuntergang", "Das Feuer", "Die Masse", "Die Macht" - dies sind vier Hauptmotive im Gesamtwerk von Elias Canetti. Die Beweggründe zu diesen Motiven entstanden alle im alten Rustschuk, der kleinen bulgarischen Donaustadt um die Jahrhundertwende. Sie bildeten jene sehr bunte, reiche "Provinz des Menschen", erfüllt von Liebe und Eifersucht, Egoismus und Mut, Zärtlichkeit und Angst, in der Canetti aufwuchs und seine ersten, schicksalsträchtigen Erlebnisse hatte. Hier entwickelte er seine Neugier und seine Empörung, seinen Stolz und sein Erbarmen, die Begeisterung für das Weltgeschehen und die Raschheit im Erfassen - lauter Eigenschaften, die er später als Schriftsteller benutzten konnte. Im bulgarischen Heimatort lernte Canetti, daß der einfachste, der dümmste oder der schlechteste Mensch einen so nah angehen und faszinieren müsse wie der komplizierteste, der klügste oder der beste. Hier gewöhnte er sich daran, mißtrauisch und vertrauensvoll zu sein, beide Haltungen auf die Spitze zu treiben und alles mit Passion aufzunehmen. In Rustschuk keimte in ihm eine Eigenschaft, die er nach Jahren für die wichtigste eines Schriftstellers hielt, "nämlich das Bedürfnis für alles, was man empfangen hat und was die geistige Substanz ausmacht, etwas zu hinterlassen, das gut genug ist, um zu dauern und zur Substanz späterer Menschen zu werden".(53)
In der Kindheit noch entwickelte Canetti seine Begabung zur Verwandlung, so daß er später sagen konnte: "[...] seit meinem zehnten Lebensjahr ist es eine Art Glaubenssatz von mir, daß ich aus vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewußt bin [...]. Sie waren das Brot und das Salz der frühen Jahre. Sie sind das eigentliche, das verborgene Leben meines Geistes."(54)
Ist dies alles aber ein ausreichender Grund dafür, daß man Elias Canetti für einen bulgarischen Schriftsteller hält? Kaum. Dazu hat der Autor selbst einmal Stellung genommen. Vor der Wiener Erstaufführung von "Komödie der Eitelkeit" (1979) erklärte Canetti im Interview, das eine bulgarische Journalistin mit ihm führte:
Ich bin allerdings kein Österreicher. Meine Eltern sind spaniolische Juden, geboren bin ich in Rustschuk, Bulgarien. Ich habe in vielen Ländern Europas gelebt, nun lebe ich in London und Zürich, halte mich jedoch für einen österreichischen Schriftsteller, denn die Figuren meiner Werke sind meistens Wiener und sogar der Wiener Dialekt überwiegt in meinen Theaterstücken.(55)
Am 18. Februar 1992 konnte ich als sein bulgarischer Übersetzer Elias Canetti in seiner Züricher Wohnung am Römer Hof besuchen. Der bald 87jährige vielgewürdigte Nobelpreisträger mied die Öffentlichkeit und hatte seit zwanzig Jahren kein Interview mehr gegeben. Er bereitete eben seine nächste Sammlung mit Aufzeichnungen zur Publikation vor und edierte die Bücher seiner 1963 verstorbenen Frau Veza Canetti. Aus der zugesprochenen einen Stunde seiner kostbaren Zeit wurde ein sechsstündiges Gespräch über Menschen und Städte, über Literatur und Mythen, über Landschaften und Vogelarten, vor allem aber über Bulgarien und den Heimatort. Auf meine Frage, ob er nicht gedenke, einmal nach Rustschuk zurückzukommen, gab Elias Canetti die Antwort:
Für jeden Menschen gibt es etwas Heiliges - nicht im religiösen Sinne, ich bin Atheist, sondern als Substanz, als Kern des Daseins. Meine Geburtsstadt ist für mich dieses Heilige, das ich als ein sehr festes Bild immer im Bewußtsein trage. Ich habe Angst, wenn ich nach Rustschuk zurückkäme, nach so vielen Jahren, dieses heilige Bild verändert vorzufinden. Das ist, was mir die Lust an einer Rückreise, vielleicht die Donau hinunter, wegnimmt.(56)
Die Zugehörigkeit Elias Canettis zur österreichischen Literatur erschließt sich also in der Wechselbeziehung zwischen den frühen Erlebnissen im "heiligen" bulgarischen Heimatort Rustschuk und den späteren sozialen und künstlerischen Erfahrungen im Wien der Zwischenkriegszeit.
Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Jura Soyfer. Internationale Zeitschrift für Kulturwissenschaften. 5.Jg., Nr.3/1996. S. 15-21.
Anmerkungen:
(1) Der Romanführer. Hrsg. v. Johannes Beer. Stuttgart 1969, Bd. 14, S. 458-459
(2) Luciano Zagari: Epik und Utopie. Elias Canettis Die Provinz des Menschen. In: Literatur und Kritik, 1979, H.136-137, S. 423.
(3) Erich Fried: Das Werk Elias Canettis. In: Elias Canetti, Welt im Kopf, Graz 1962, S.7-8.
(4) Herbert Zand: Stimmen unsere Maßstäbe noch? Versuch über Elias Canetti. In: Literatur und Kritik, 1968, H.21, S. 37.
(5) Elias Canetti: Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. München 1977, S. 10-11.
(6) Ebd., S. 19.
(7) Vgl. dazu Elias Canetti: Unsichtbarer Kristall. In: Literatur und Kritik, 1968, H.22, S. 65.
(8) Vgl. dazu Roberto Corcoll Calsat: Elias Canetti und Spanien. In: Hüter der Verwandlung, Beiträge zum Werk von Elias Canetti. München 1985, S. 114-120.
(9) Gespräch mit Joachim Schickel. In: Elias Canetti: Die gespaltene Zukunft. München 1972, S. 106-107.
(10) Vgl. dazu Salvator Israel: Zur Familie und zu den Verwandtschaften von Elias Canetti (bulg.). In: Ewrejski westi, 24.12.1981, Nr. 24, S. 3.
(11) Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 14.
(12) Genadi Georgiew: Im Geburtsort Elias Canettis. In: Bulgarien heute, 1982, H.3, S. 26.
(13) Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 62.
(14) Ebd., S.322.
(15) Ebd., S. 37.
(16) Vgl. Salvator Israel, a.a.O., S. 3.
(17) Vgl. dazu Wassil Doikow: Weiches ist das Geburtshaus von Elias Canetti? (bulg.). In: Otetschestwen front, 13.5.1982, Nr. 11354, S. 4.
(18) Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 10.
(19) Ebd., S. 11.
(20) Ebd., S. 17-18.
(21) Ebd., S. 18.
(22) Ebd., S. 10.
(23) Ebd., S. 11.
(24) Ebd., S. 33-34.
(25) Rupprecht Slavko Baur: Gespräch mit Elias Canetti. In: Literatur und Kritik, 1972, H.65, S. 273.
(26) Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. München 1985, S. 9-10.
(27) Ebd., S. 11.
(28) Zitiert nach Manfred Durzak: Elias Canettis Weg ins Exil. Vom Dialektstück zur philosophischen Parabel. In: Literatur und Kritik, 1976, H. 108, S. 460.
(29) Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 39-40.
(30) Thomas Mann, Briefe (Oktober 1935).
(31) Zitiert nach Erich Fried, a.a.O., S. 10.
(32) Zitiert nach Manfred Durzak: Versuch über Elias Canetti. In: Akzente, 1970, H.2, S. 187.
(33) Das Augenspiel, a.a.O., S. 101.
(34) Ebd., S. 102.
(35) Erich Fried, a.a.O., S. 16.
(36) Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 22-23.
(37) Ebd., S. 35.
(38) Gespräch mit Joachim Schickel, a.a.O., S. 107.
(39) Ebd., S. 109.
(40) Ebd., S. 110-111.
(41) Ebd., S. 112.
(42) Zitiert nach Erich Fried, a.a.O., S. 19.
(43) Elias Canetti: Das erste Buch: Die Blendung. In: Canetti lesen. Erfahrungen mit seinen Büchern. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. München 1975, S. 127.
(44) Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 37.
(45) Ebd., S. 15.
(46) Ebd., S. 28.
(47) Ebd., S. 30.
(48) Ebd., S. 138.
(49) Ebd., S. 50-51.
(50) Ebd., S. 90.
(51) Elias Canetti: Unsichtbarer Kristall, a.a.O., S. 67.
(52) Zitiert nach Erich Fried, a.a.O., S. 19.
(53) Gespräch mit Horst Bienek. In: Elias Canetti: Die gespaltene Zukunft, a.a.O., S. 127.
(54) Die gerettete Zunge, a.a.O., S. 127.
(55) lwaila Wâlkowa: Komödie der Eitelkeit eine Erstaufführung nach 45 Jahren. Gespräch mit Elias Canetti (bulg.). In: Literaturen front, 18.10.1979, Nr. 42, S.8.
(56) Gespräch mit dem Verfasser vom 18.2.1992 (unveröffentlicht).
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